Nein! Ich bin kein Prinz Hamlet, nicht dazu bestimmt;
Bin Haushofmeister, treib die Handlung an,
Beginne ein, zwei Szenen, rate dann Dem Prinzen;
ein willfähriges Werkzeug, starr
Vor Ehrfurcht, hocherfreut, wenn oft benutzt,
Sehr höflich, vorsichtig und schächeriich;
Voll großer Worte, doch auch dumm-verdutzt...T. S. Eliot, Jahrgang 1910
Der bisher letzte Eliot, der nach Harvard kam, setzte eine Tradition fort, die 1649 begonnen hatte. Andrews Kindheit war privilegiert. Sogar nach der mit Anstand erfolgten Scheidung seiner Eltern bekam er von ihnen in Hülle und Fülle alles das, was sich ein heranwachsender Junge nur wünschen konnte. Er hatte ein englisches Kindermädchen und eine ganze Sammlung Teddybären. Und solange er denken konnte, war er immer in den teuersten Internaten und Sommer-Camps gewesen. Seine Eltern hatten ihn mit einem Treuhandvermögen ausgestattet, seine Zukunft war also gesichert. Kurz, sie schenkten ihm alles, außer Interesse und Aufmerksamkeit. Natürlich liebten sie ihn. Das war selbstverständlich. Das brauchte gar nicht erst gesagt zu werden. Sie setzten einfach voraus, daß er wisse, für wie fabelhaft und unabhängig sie ihren Sohn hielten. Trotz allem war Andrew der erste in der langen Familiengeschichte, der sich für Harvard nicht gut genug hielt. Wie er selbstironisch sagte: »Man hat mich genommen, weil ich Eliot heiße und meinen Namen buchstabieren kann.« Es war offensichtlich, daß seine Vorfahren riesige Schatten auf sein Selbstvertrauen warfen. Ihm fehlte, wie er meinte, jede Kreativität, und das vergrößerte verständlicherweise noch seinen angeborenen Minderwertigkeitskomplex. An sich war er ein recht gescheiter junger Mann und hatte eine bescheidene Art sich auszudrücken - wie es das Tagebuch ausweist, das er führte, seit er zur Schule ging. Er spielte gut Fußball. Er war Flügelspieler, und seine Flanken dienten so manchem Mittelstürmer als Vorlage zu einem Tor. Das war typisch für ihn; er war glücklich, wenn er einem Freund helfen konnte. Und außerhalb des Spielfelds war er freundlich, aufmerksam und rücksichtsvoll. Seine zahlreichen Freunde hielten ihn einfach für einen prima Kerl, eine Auszeichnung, die er nie für sich beansprucht hätte. Die Universität war stolz auf ihn. Aber Andrew Eliot, Harvard-Jahrgang '58, unterschied sich in einer Beziehung von allen Studenten seines Jahrgangs: Er hatte keinen Ehrgeiz.
Am 20. September, kurz nach fünf Uhr morgens, erreichte ein Greyhound-Bus den schäbigen Busbahnhof in der Innenstadt von Boston und würgte mit den Passagieren einen müden und verschwitzten Danny Rossi heraus. Seine Kleider waren völlig verkrumpelt, und sein rötliches Haar war ungekämmt. Sogar seine Brille war >transkontinental< verschmiert. Mit sechzig Dollar in der Tasche war er drei Tage zuvor von der Westküste abgefahren. Zweiundfünfzig Dollar hatte er noch, denn er hatte sich förmlich durch Amerika gehungert. Sein Koffer enthielt zwei Hemden und einen Haufen Noten, die er auf der Reise studiert hatte. Erschöpft, wie er war, brachte er ihn kaum zur Untergrundbahn in Richtung Harvard Square. Zuerst schleppte er sich zum HolworthyHaus-Eingang Nr. 6, seinem Wohnheim am Yard, dann schrieb er sich so schnell wie möglich ein und fuhr zurück nach Boston, um sich vom kalifornischen Verband der Musikergewerkschaft auf Boston umschreiben zu lassen. »Mach dir nur nicht zu viele Hoffnungen«, warnte ihn die Sekretärin, »bei uns gibt es Tausende von arbeitslosen Pianisten. Die einzigen Jobs, die es gibt, sind fromme Sachen in den Kirchen, und der liebe Gott führt nur einen Bruchteil des Lohns an die Gewerkschaften ab.« Sie zeigte mit dem langen scharlachrot bemalten Fingernagel auf die kleinen weißen Zettel an einer Anschlagtafel und fügte hinzu: »Da, such dir deine Religion aus, mein Kleiner.« Danny studierte die Angebote sorgfältig und kam mit zwei Zetteln wieder.
»Das wäre prima für mich«, sagte er. »Am Freitagabend und am Samstagmorgen Organist im Tempel von Maiden und Sonntagmorgen in der Kirche hier in Quincy. Ist das noch zu haben?« »Aus diesem Grund hängt es da noch, mein Kleiner. Und wie du siehst, gibt es eher Cracker als Brot dafür.« »Schon«, antwortete Danny, »aber ich brauche wirklich Geld, ganz egal, wo ich es verdiene. Kommen da nicht auch jede Menge Anfragen für Parties an Samstagen?« »Mein Gott, du bist ja ganz schön gierig. Große Familie zu versorgen, oder was?« »Nein. Erstes Semester Harvard. Ich muß die Studiengebühren bezahlen.« »Warum haben dir denn die Pfeffersäcke in Cambridge kein Stipendium gegeben?« »Das ist 'ne lange Geschichte«, sagte Danny verlegen. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie an mich denken würden. Ich melde mich jedenfalls wieder.« »Aber klar doch, Kleiner.«
Am Tag davor war Jason Gilbert, Jr. kurz vor acht Uhr in Syosset, Long Island, aufgewacht. Es war, als ob die Sonne noch heller als sonst ins Schlafzimmer schiene. Vielleicht kam das aber auch von den vielen glitzernden Tennistrophäen. Er rasierte sich, zog eine neue Lacoste-Jacke an und schleppte dann das Gepäck, die Tennis- und Squashschläger hinunter zu seinem 50er Mercury Cabriolet. Er freute sich darauf, mit seinem Renner, den er selbst liebevoll wieder hergerichtet und dem er einen Doppelauspuff aus Fiberglas verpaßt hatte, zur Post Road zu donnern. Sämtliche Mitglieder des Gilberischen Haushalts - Mom Dad, Julie, das Hausmädchen Jenny und ihr Mann Maxwell der Gärtner - warteten schon darauf, ihn zu verabschieden. Es gab viele Küsse und Umarmungen. Und ein kurzes Abschiedswort seines Vaters: »Mein Sohn, es ist nicht nöüV dir Glück zu wünschen, denn das brauchst du nicht. Du bist der geborene Sieger — nicht nur auf dem Tennisplatz.« Obwohl Jason es sich nicht anmerken ließ, hatten diese Abschiedsworte auf ihn nicht die beabsichtigte Wirkung, im Gegenteil. Denn es war ihm durchaus nicht wohl dabei von zu Hause wegzugehen und sich mit den wirklich starken Spielern seines Alters messen zu müssen. Da/] er in letzter Minute noch einmal an die großen Erwartungen seines Vaters erinnert wurde, machte ihn nur nervöser. Vielleicht wäre es ein Trost gewesen, hätte er gewußt, daß die Worte seines Vaters an diesem Tag Hunderte von Malen von Hunderten von Eltern wiederholt wurden, die ebenfalls ihre einmalig begabten Sprößlinge nach Cambridge, Massachusetts, schickten. Fünf Stunden später stand Jason vor seiner ErstsemesterWohnstatt Straus, A-52, an deren Tür ein abgerissenes Stück gelben Papiers klebte. »An meinen Mitbewohner: Ich schlafe immer nachmittags, also Ruhe bitte. Danke.« Unterschrieben schlicht mit »D. D.« Jason öffnete leise die Tür und trug sein Gepäck auf Zehenspitzen in das noch freie Schlafzimmer. Nachdem er die Koffer auf das Metallbett gelegt hatte-es quietschte ein wenigsah er aus dem Fenster. Sein Blick fiel auf den hektischen und lauten Harvard Square. Aber das war ihm egal. Er war in bester Stimmung, denn er hatte noch Zeit genug zum Soldier's Field zu schlendern und sich dort nach einem Tennispartner umzusehen. Er griff sich seinen Schläger und eine Büchse Bälle - den weißen Dreß hatte er bereits an. Glücklicherweise erkannte er einen Spieler des llarvardTeams wieder, der ihn zwei Jahre zuvor in einem Sommerturnier geschlagen hatte. Der freute sich, Jason wiederzusehen, war gern bereit, ein paar Bälle zu schlagen und merkte sofort, wieviel besser der Neuankömmling inzwischen geworden war.
Als er zu seiner Bude im Straus-Haus zurückkam, hing da ein neuer gelber Zettel an der Tür: D. D. sei zum Abendessen gegangen, dann zum Arbeiten in die Bibliothek (in die Bibliothek! - sie halten sich noch nicht einmal eingeschrieben!) und würde kurz vor zehn Uhr wieder zurück sein. Falls der Milbewohner plane, später nach Hause zu kommen, möge er bitte so leise wie möglich sein. Jason duschte, zog eine Cordjacke an, aß schnell etwas in einer Cafeteria am Harvard Square und fuhr nach Badcliffe, um die weiblichen Erslsemester in Augenschein zu nehmen. Er kam gegen elf zurück und nahm größte Rücksicht auf das Ruhebedürfnis seines Mitbewohners, den er noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Als er am nächsten Morgen aufwachte, fand er wieder einen Zettel vor: »Ich bin mich einschreiben gegangen. Falls meine Mutter anruft, sag ihr bitte, daß ich gestern abend gut gegessen habe. Danke.« Jason knüllte dieses neueste Kommunique zusammen und ging los, um sich in die lange Schlange der Wartenden einzureihen, die schon einmal um die Memorial Hall herumreichte. Ungeachtet seiner guten Vorsätze, war der schwer faßbare D. D. keineswegs etwa der erste dieses Jahrgangs, der sich einschrieb. Denn Punkt neun Uhr hatte sich das Portal der Memorial Hall geöffnet, um Theodore Lambros Einlaß zu gewähren. Drei Minuten früher hatte Ted das Haus in der Prescot Street verlassen, war hinübergegangen und hatte so einen winzigen, aber unauslöschlichen Platz in der Geschichte des ältesten College Amerikas eingenommen. Er war der Erste. Es war ihm, als hätte er das Paradies betreten.
Andrew Eliots Vater fuhr ihn von Maine im uralten Caravan der Familie nach Cambridge, beladen mit sorgfältig gepackten Koffern voller Tweed- und Shetlandjacken, weißer Collegeschuhe, einer ausgesuchten Sammlung von Slippers und Samtschlipsen, und Unmengen von Hemden mit den verschiedensten Kragen - kurz, Uniformen für Harvard. Wie gewöhnlich redeten Vater und Sohn nicht viel miteinander. Zu viele Generationen Eliots hatten diesen Ritus schon absolviert, um ein Gespräch noch notwendig zu machen. Sie parkten den Wagen am Tor, das der Massachusetts Hall, unter deren früheren >Bewohnern< auch Sol• daten George Washingtons gewesen waren, am nächsten war. Andrew lief in den Yard zum Haus Wig, G-21 und suchte nach seinen alten Schulkollegen, damit sie ihm beim Tragen seiner Sachen halfen. Während sie sein Sack und Pack hineinschleppten, fand er sich für einen kurzen Augenblick mit seinem Vater allein. Mr. Eliot nahm die Gelegenheit wahr, seinem Sohn ein paar profane Ratschläge zu geben. »Ich wäre dir sehr dankbar, mein Junge«, sagte er, »wenn du versuchen würdest, hier nicht durchzufallen. Es gibt zwar unzählige höhere Schulen in unserem großen Land aber es gibt nur ein Harvard.« Andrew bedankte sich respektvoll für diesen scharfsinnigen elterlichen Rat, schüttelte seinem Vater die Hand und eilte fort in sein Wohnheim. Seine beiden Mitbewohner hatten schon mit dem Auspacken seiner Sachen begonnen. Das heißt, mit dem Auspacken der Flaschen, die er mitgebracht hatte. Sie feierten ihr Wiedersehen nach einem Sommer zügellosen Sichauslebens in Europa. »He, ihr seid ja gut«, protestierte er, »ihr hättet mich wenigstens fragen können. Außerdem müssen wir uns jetzt einschreiben.« »Vergiß es, Eliot«, sagte Dickie Newall und nahm noch einen Schluck. »Wir sind doch gerade da vorbeigekommen, und die Schlange geht um den ganzen verdammten Block herum.« »Richtig«, bestätigte Michael Wigglesworth, »alle diese Schwachkopfe wollen die Ersten sein. Aber bekanntlich werden die Ersten die Letzten sein.« »Nicht in Harvard, fürchte ich«, merkte Andrew höflich an, »auf jeden Fall gilt das nicht für Besoffene. Ich stelle mich jetzt an.« »Wußte ich's doch«, kicherte Newall, »mein alter Eliot, Kumpel, du bist wirklich eine Riesenpfeife.« Unbeeindruckt von dieser Spotterei blieb Andrew dabei: »Ich gehe, Boys.« »Nur zu«, sagte Newall und entließ ihn mit einer gnädigen Handbewegung. »Wenn du schnell wiederkommst, heben wir dir was von deinem Whisky auf. Wo ist übrigens der Rest?« Andrew Eliot marschierte also über den Harvard Yard, schloß sich der langen gewundenen Menschenschlange an und ließ sich endlich miteinweben in den bunten Teppich, der The Class of ’58 genannt wurde.
inzwischen waren alle Erstsemester in Cambridge eingetroffen, auch wenn es noch Stunden dauern sollte, bis auch der letzte von ihnen ordentlich eingeschrieben war. Unter einem riesigen farbigen Glasfenster standen in der höhlenartigen Halle die zukünftigen Größen der Welt: Nobelpreisträger, Industriekapitäne, Gehirnchirurgen und ein paar Dutzend Versicherungsvertreter. Zuerst bekamen sie große braune Kuverts ausgehändigt mit zahllosen Formularen, die ausgefüllt werden mußten vierfach für die Gebührenstelle, fünffach für die Registrierung und unerklärlicherweise sechsfach für die Abteilung Medizinische Versorgung. Mit all den Formularen saßen sie nebeneinander an schmalen Tischen, deren Reihen sich schier ins Unendliche zu erstrecken schienen. Unter den Fragebögen war einer vom Philips Brooks House, wo unter anderem nach der Religionszugehörigkeit gefragt wurde - man konnte allerdings die Antwort verweigern. Obwohl keiner von ihnen besonders fromm war, kreuzten Andrew Eliot, Danny Rossi und Ted Lambros jeweils evangelisch, katholisch und griechisch orthodox an. Jason Gilbert hingegen erklärte, daß er keinerlei Religionsgemeinschaft angehöre. Nach der offiziellen Einschreibung gab es ein Spießrutenlaufen durch eine endlose Reihe von wilden, papierschwenkenden >Missionaren<, die die jetzt offiziellen Erstsemester lautstark bedrängten, bei den Jungen Demokraten, Republikanern, Liberalen oder Konservativen Mitglied zu werden, dem Bergsteigerclub, oder den Sporttauchern beizutreten, und so fort. Es gab kaum eine Gegenwehr gegen die zahllosen studentischen Reklamefritzen, die einen lautstark zu beschwatzen versuchten, den >Crimson< (»Die einzige Frühstückszeitung in Cambridge!«), den >Advocate< (»Dann kannst Du sagen, Du hast schon was von diesen Leuten gelesen, bevor sie den Pulitzer-Preis bekommen haben!«) und >Lampoon< (»Wenn man's umrechnet, kostet jedes Lachen einen Penny!«) zu abonnieren. Nur die entschiedensten Geizhälse oder die Ärmsten der Armen kamen da ungeschoren durch. Ted Lambros konnte nirgends beitreten, denn sein Zeitplan war bereits völlig ausgebucht, mit akademischen Veranstaltungen am Tag und kulinarischen am Abend. Danny Rossi schrieb sich beim >Catholic Club< ein, weil er hoffte, religiös orientierte Mädchen seien etwas scheuer und deshalb leichter anzusprechen. Vielleicht waren sie sogar so unerfahren wie er. Andrew Eliot kämpfte sich wie ein erfahrener Urwaldforscher mit der Machete durch dieses Dickicht. Die ihm entsprechenden Vereine und Clubs warben etwas ruhiger und weniger öffentlich um ihre Mitglieder. Und Jason Gilbert schlenderte ruhig durch die bellende Meute, ähnlich seinen Vorfahren bei der Durchquerung des Roten Meeres. Nachdem er schnell entschlossen den >Crimson< abonniert hatte, dies vor allem, um mit Hilfe der Zeitung seine Eltern - später - von den Erfolgen ihres Sohnes zu unterrichten, ging er zurück zum Wohnheim Straus. Wunder über Wunder: Der geheimnisvolle D. D. schlief endlich einmal nicht, zumindest war die Tür des Schlafzimmers geöffnet, und jemand lag auf dem Bett, ein Physikbuch vor der Nase. Jason wagte es, ihn direkt anzusprechen. »Tag, du bist D. D.?« Eine dicke Hornbrille schob sich vorsichtig über den Buchrand. »Wir wohnen zusammen?« kam es nervös zurück.
»Nun ja, man hat mich in Straus A-32 eingewiesen«, antwortete Jason. »Dann wohnen wir zusammen«, schloß der junge Mann logisch daraus. Sorgfältig befestigte er eine Büroklammer an der Stelle, an der er zu lesen aufgehört hatte, legte das Buch zur Seite, erhob sich und' streckte Jason eine kalte, etwas feuchte Hand entgegen. »Ich bin David Davidson«, sagte er. »Jason Gilbert.« D. D. betrachtete seinen Mitbewohner argwöhnisch und fragte: »Du rauchst doch nicht etwa?« »Nein, das ist schlecht für den Sport. Warum fragst du, Dave.« »Bitte, ich möchte lieber David genannt werden«, erwiderte dieser. »Ich frage deshalb, weil ich ausdrücklich einen Nichtraucher gewünscht habe. Eigentlich wollte ich ein Einzelzimmer, aber das gibt es für Erstsemester ja nicht.« »Woher kommst du?« fragte Jason. »New York. Bronx High School of Science. Ich bin Preisträger des Westinghouse-Wettbewerbs. Und du?« »Long Island. Syosset. Alles, was ich aufzuweisen habe, sind ein paar Siege bei Tennisturnieren. Treibst du Sport, David?« »Nein«, sagte der junge Wissenschaftler, »das ist nur Zeitverschwendung. Außerdem will ich Medizin studieren. Ich muß Fächer wie >Chemie 20< belegen. Was willst du mal machen, Jason?« Du lieber Himmel, dachte Jason, was muß ich mich denn noch fragen lassen, nur weil ich mit diesem Schlappschwanz die Zelle teile? »Um ehrlich zu sein, ich habe mich da noch nicht festgelegt. Aber weil wir gerade dabei sind, wollen wir nicht ein paar Möbel für unser Wohnzimmer kaufen gehen?« »Wozu denn«, sagte D.D. besorgt, »wir haben doch jeder ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl. Was brauchen wir denn sonst noch?« »Na ja, eine Couch wäre doch nicht schlecht«, sagte Jason. »Zum Lernen und Faulenzen. Wir könnten auch einen Eisschrank gebrauchen, um was Kühles zu haben, wenn an den Wochenenden mal Leute hier sind.« »Leute?« fragte D. D. irritiert. »Willst du hier etwa Parties veranstalten?« Jason wurde ungeduldig. »Hast du vielleicht auch noch einen introvertierten Mönch als Mitbewohner gewünscht?« »Nein.« »Den hast du auch nicht. Also, willst du dich jetzt an einer gebrauchten Couch beteiligen oder nicht?« »Ich brauche keine Couch«, antwortete er feierlich. »Okay, dann kaufe ich sie. Aber wenn du jemals darauf sitzt, kassiere ich Miete.«
Andrew Eliot, Mike Wigglesworth und Dickie Newall verbrachten den ganzen Nachmittag damit, die Möbelläden am Harvard Square und Umgebung zu durchsuchen und kamen mit sehr schicken Ledermöbeln zurück. Nachdem sie drei Stunden und 195 Dollar gebraucht hatten, standen sie mit ihren Schätzen am Eingang G. »Mein Gott, es schaudert mich bei dem Gedanken, wie viele Schönheiten sich uns auf dieser unglaublichen Liege hingeben werden«, rief Newall. »Ich bin überzeugt, sie werden einen kurzen Blick darauf werfen, sich sofort ausziehen und draufspringen.« »Wenn das so ist, Dickie«, unterbrach Andrew die begeisterten Phantasien seinƒes alten Kumpels, »dann schleppen wir das Ding am besten gleich die Treppe rauf. Denn wenn jetzt einer dieser Radcliffe-Bomber vorbeikommt und wir noch hier stehen, könntest du gezwungen sein, in aller Öffentlichkeit eine Vorführung zu geben.« »Glaub nur nicht, das könnte ich nicht«, antwortete Newall kühn und lügte schnell hinzu: »Los, rauf mit dem Kram. Andy und ich nehmen die Couch.« Dann wandte er sich an den größten ihres Trios und fragte: »Schaffst du den Sessel allein, Wigglesworth?« »Kein Problem«, erwiderte der große, athletische Typ lakonisch, hob den gewaltigen Sessel hoch und sich auf den Kopf, als wär's ein großer, gepolsterter Footballhelm, und ging die Treppe hinaui. »Da habt ihr unsern Superman«, witzelte Newall. »Der Allergrößte im künftigen Footballteam des lieblichen Harvard, und der erste Student dieses College, den man im Kino als Tarzan bewundern können wird.« »Jetzt nur noch drei Treppen. Bitte, Freunde«, flehte Danny Rossi. »Hör' mal zu, Kleiner, da war nur von Lieferung die Rede. Kein Mensch hat was von Treppen gesagt. Klaviere pflegen wir im Lift zu transportieren.« »Hören Sie mal«, protestierte Danny, »Sie wissen doch, daß die Wohnheime hier keinen Lift haben. Wie krieg ' ich Sie nur dazu, das Ding drei Treppen hoch in mein Zimmer zu bringen?« »Ganz einfach. Noch zwanzig Dollar«, antwortete einer der stämmigen Packer. »Was soll das denn? Das verdammte Klavier hat mich ja nur fünfunddreißig gekostet.« »Entweder oder, Kleiner. Nur stehst du dann im Regen.« »Ich hab' keine zwanzig Dollar übrig«, stöhnte Danny. »Pech gehabt, du Harvard-Leuchte«, brummte der gesprächigere der beiden Packer, und sie trollten sich. Da saß Danny nun auf den Eingangstufen und dachte lange über sein Problem nach. Dann hatte er einen Einfall. Er holte einen wackeligen Stuhl, machte den Deckel des Klaviers auf und begann, erst versuchsweise, dann mitzunehmender Bestimmtheit die fast vergessenen Klänge von >The Varsity Rag< anzustimmen. Da wegen des Spätsommerwetters die meisten Fenster im Yard offenstanden, dauerte es nicht lange, bis ihn eine Menge Studenten umgab. Ein paar übermütige Erstsemester fingen sogar zu tanzen an. Um in Form zu kommen für die Mädchen von Radcliffe oder für andere gesellschaftliche Schlachtfelder.
Er war fabelhaft. Und seine Kommilitonen waren tief beeindruckt, welche Begabung sie da in ihrer Mitte hatten. »Der Kerl ist so gut wie Peter Nero«, sagte einer. Schließlich hörte Danny auf- oder wollte aufhören. Alles klatschte und schrie nach mehr. Also erfüllte er Wünsche nach so verschiedenartigen Stücken wie dem >Säbeltanz< und >Three Coins in aFountain<. Schließlich erschien ein Universitätspolizist auf der Szene. Und darauf hatte Danny gehofft. »Sie dürfen hier draußen im Yard nicht einfach Klavier spielen«, knurrte der Mann, »bringen Sie das Ding da in ein Wohnheim.« Die Erstsemester buhten. »He, hört' mal zu«, sagte Danny Rossi zu seinen begeisterten Zuhörern. »Wir können doch alle zusammen das Klavier die Treppe hoch in mein Zimmer tragen, dann kann ich noch die ganze Nacht lang spielen.« Begeisterte Zustimmung, sechs von den Stärksten griffen zu und hoben bereitwillig und feierlich Dannys Klavier an. »Moment mal«, warnte der Polizist, »kein Klavierspiel mehr nach zehn Uhr abends. Das sind die Vorschriften.« Noch mehr Zischen, Buhen und Grunzen, als Danny Rossi höflich antwortete: »Sehr wohl, Sir, Officer. Ich verspreche Ihnen, ich spiele nur bis zum Abendessen.«
Obwohl er nicht so privilegiert war, aus seinem kleinen Zimmer auszuziehen, das er schon während seiner ganzen Schulzeit bewohnt hatte, verbrachte Ted Lambros doch den größten Teil des Nachmittags im Coop, um sehr wichtige Dinge einzukaufen.
ƒZuerst und vor allem eine grüne Büchertasche - ein Muß für jeden echten Harvard-Studenten, nützlicher Talisman zur Unterbringung des wichtigen Handwerkszeugs -, die den Besitzer als echten Gelehrten auswies. Dazu kaufte er eine rechteckige rotbraune Fahne, auf der mit großen weißen Filzbuchstaben stand: Class of1958. Mochten andere Erslsemester solche chauvinistischen Textilien an die Wand ihrer Behausung im Wohnheim hängen, Ted hängte die Fahne über den Tisch seines kleinen Schlafzimmers.
Als Ergänzung kaufte er bei Leavitt & Pierce, dem besten Tabakgeschäft am Platz, eine großartig aussehende Pfeife, die er eines Tages zu rauchen lernen wollte. Abends prüfte er immer wieder sehr genau seine sorgfältig ausgesuchte Secondhand-Garderobe und hielt sich endlich für gewappnet, am nächsten Morgen die Herausforderung Harvard annehmen zu können. Die feierliche Stimmung verging ihm jedoch sogleich wieder, denn es wurde höchste Zeit, sich die Massachusetts Avenue entlang in Richtung >Marathon< in Bewegung zu setzen und seine billige Kellneruniform anzuziehen, um den Löwen von Cambridge die Lämmer vorzusetzen.
Es war der Tag des Anstehens. Erst morgens vor der Memorial Hall und dann kurz nach sechs Uhr abends in der Essensschlange die Steinstufen der Freshman Union, des Erstsemesterspeisesaals, hinunter und fast bis in die Quincey Street. Selbstverständlich trugen alle Erstsemester Schlips und Jacke, das war ungeschriebenes Gesetz bei den Mahlzeiten in Harvard, auch wenn die Kleidung abhängig von den Finanzen und der Herkunft des Trägers nach Farbe und Qualität sehr unterschiedlich ausfiel.
Aber all diese formvollendet gekleideten Herren sollten eine unangenehme Überraschung erleben. Es gab keine Teller. Statt dessen wurde ihnen das Essen in einen bräunlichen Hundenapf aus Plastik geschaufelt, dessen verschieden große Unterteilungen einem unbekannten Zweck dienten. Einzig identifizierbar bei dieser Erfindung war die Vertiefung, in die ein Glas Milch gehörte.
So genial das Ganze auch war, so konnte es dennoch nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß das Essen für die Erstsemester einfach schlecht war. Was waren das für graue Scheiben, die ihnen beim ersten Halt in den Napf geklatscht wurden? Die Küchenhilfen behaupteten, es sei Fleisch. Die meisten hielten es jedoch für Einlegesohlen, und allen schmeckte es auch so. Daß man soviel essen konnte, wie man wollte, war auch kein Trost; denn wer wollte schon mehr von diesem unzerkaubaren, rätselhaften Etwas. Die einzige wirkliche Rettung bestand im Speiseeis. Das gab es reichlich, und es machte satt. Und für einen Achtzehnjährigen konnte das fast jede kulinarische Katastrophe aufwiegen. Und das tat es in unglaublichen Mengen. Keiner beschwerte sich wirklich. Denn obwohl es nicht alle zugegeben hätten, sie waren einfach froh, hier zu sein. Das geschmacklose Essen gab allen die Gelegenheit, sich wenigstens in einer Sache überlegen zu fühlen. Alle waren es gewöhnt, zumindest in einem Bereich die Nummer eins zu sein. Unter den Studenten des neuen Jahrgangs gab es nicht weniger als 287, die bei der Entlassungsfeier ihrer High School die Abschiedsrede gehalten hatten, und sie alle wußten wiederum, daß nur einer von ihnen gut genug sein konnte, das in Harvard ebenfalls zu tun. Mit fast unheimlichem Instinkt hatten sich die Sportler schon gegenseitig ausgemacht. An einem runden Tisch am Rande des Geschehens saß Clancy Roberts und kämpfte unauffällig um den Kapitänsposten im Hockeyteam der Erstsemester. Um einen anderen Tisch saßen die Footballspieler, die sich schon eine Stunde zuvor im Dillon Field House getroffen hatten und die jetzt das Essen genossen, eine der letzten Mahlzeiten, die sie mit dem gewöhnlichen Plebs einnehmen mußten. Denn hatten sie erst ihre Ausrüstung erhalten, dann aßen sie am Trainingstisch im V-Club, wo das Fleisch zwar genauso grau, aber doppelt so dick war. Die riesige holzgetäfelte Halle dröhnte vom lauten Gerede der nervösen Erstsemester. Es war klar erkennbar, wer auf einer High School und wer auf einer Privatschule gewesen war. Denn die früheren Privatschüler waren alle ähnlich angezogen: Sie trugen Jacken mit Schottenmuster und Samtschlipse - und sie aßen in großen Gruppen, deren Gespräche und Gelächter sich sehr ähnlich waren. Der spätere Physiker aus Omaha, der kommende Dichter aus Missouri und der künftige Anwalt und Politiker aus Atlanta aßen für sich allein. Oder später, wenn ihre Mitbewohner sie nach 24 Stunden noch mochten, mit diesen. Wer mit wem zusammenwohnte, wurde in Harvard sehr genau bedacht und analysiert. Ein übereifriger genialer Sadist hatte sicher viele Stunden mit der Zu- und Einteilung verbracht. Und was für eine Aufgabe! Bei einem Büffet mit elfhundert völlig verschiedenen Gerichten zu entscheiden, was davon zusammenpaßte? Was war bekömmlich, und was störte die Verdauung? Da mußte es in der Verwaltung jemanden geben, der alles wußte. Oder der zumindest dachte, er wüßte alles. Natürlich wurde nach den Wünschen gefragt. Nichtraucher, Sportler, Kunstinteressierte und so weiter. Die ehemaligen Internatsschüler wollten natürlich mit ihren früheren Freunden zusammenwohnen. Aber schließlich waren sie ja auch die einzig homogene Gruppe in dieser riesigen Ansammlung von Individuen, in der Ausnahmen die Regel waren. Was war etwa mit Daniel Rossi zu tun, der als einziger in ein Wohnheim in größtmöglicher Nähe von Paine Hall, der Musikabteilung, wollte. Ihn mit einem anderen Musiker zusammenlegen? Nein, da hätte man den Zusammenstoß zweier Egozentriker riskiert. Und was man in Harvard anstrebte, war harmonischer Friede unter den Erstsemestern, die in jener Woche die schmerzhafteste Erfahrung ihres Lebens machen sollten. Sie begannen zu begreifen, daß die Welt sich nicht allein um ihre Person drehte. Aus Gründen, die kein Mensch erklären konnte und über die nur die hohe Verwaltung des College hätte Auskunft geben können, sollte Danny Rossi im Holworthy-Haus mit dem Chinesen Kingman Wu, einem zukünftigen Architekten aus San Diego, zusammenziehen (vielleicht weil beide aus Kalifornien stammten) und mit Bernie Ackerman, einem Mathematikgenie und Turnierfechter von der New Trier High School in einem Vorort Chicagos. Als sie an diesem ersten Abend zusammen aßen, versuchte Bernie zu erraten, warum die Weisen sie drei bei der Zimmeraufteilung zusammengelegt hatten. »Der Prügel«, bot er als Lösung an, »das ist das einzige Symbol, das uns drei verbindet.« »Soll das scharfsinnig oder schlicht obszön sein?« »Begreifst du denn nicht«, setzte Ackerman nach. »Danny wird ein großer Dirigent. Womit bedrohen diese Kerle das Orchester? Mit dem Taktstock. Ich habe natürlich den größten, ich bin Fechter. Klar?« »Und ich?« fragte Wu. »Womit fabrizieren die Architekten meistens ihre Zeichnungen? Mit Feder und Bleistift. Das ist die Lösung des Geheimnisses unserer Gemeinsamkeit.« Der Chinese war keineswegs beeindruckt. »Du hast mir gerade den kleinsten vermacht«, sagte er mit finsterer Miene. »Na ja, du wirst schon wissen, wohin damit«, bemerkte Ackerman und kicherte selbstgefällig, und hiermit war die erste ewige Feindschaft innerhalb des 58er Jahrgangs entstanden.
Trotz äußerlicher Selbstsicherheit machte es Jason Gilbert etwas nervös, allein zur Union gehen zu müssen, um dort das Einweihungsessen einzunehmen. Er war so verzweifelt, daß er tatsächlich D. D. vorschlagen wollte, gemeinsam hinzugehen. Aber leider war sein Mitbewohner schon vom Essen zurück, bevor sich Jason auch nur umgezogen hatte. »Ich war der dritte in der Schlange«, prahlte dieser. »Elf Portionen Eis habe ich verdrückt. Meine Mutter wird stolz auf mich sein.« Jason machte sich also allein auf. Wie das Schicksal es so wollte, traf er an der Treppe der Widener-Bibliothek einen Kommilitonen, gegen den er im Viertelfinale des TennisTurniers der Privatschulen von Groß-New York gespielt und gewonnen hatte. Der stellte den ehemaligen Gegner seinen Mitbewohnern vor: »Das ist der Scheißkerl, der mich als Nummer eins schlagen wird. Es sei denn, dieser Bursche aus Kalifornien schlägt uns beide.« Jason war froh, sich ihnen anschließen zu können, und das Gespräch drehte sich hauptsächlich um Tennis und natürlich auch um das miserable Essen und die Hundenäpfe.