Von anderen Universitäten Amerikas unterscheiden sich Harvard und zugegebenerweise auch Yale durch ihr sogenanntes College-System.
Um 1909 verwandelte sich Cambridge von einem Dorf in eine richtige Stadt, und auch wenn einige Studenten in Wohnheimen lebten, waren die Harvard-Leute über die ganze Stadt verteilt. Die Ärmeren mieteten billige Unterkünfte an der Massachusetts Avenue, während die Überprivilegierten in der Gegend der Mount Auburn Street, an der Goldküste, wie es damals hieß, luxuriöse Wohnungen hatten.
Diese Aufteilung war symptomatisch für die strikte gesellschaftliche Trennung, die viele Vorurteile festschrieb.
Präsident Lowell hielt es für falsch, daß die Studenten in den vier College-Jahren in derartig hermetisch abgeschlossenen Cliquen lebten. Deshalb plante er, Oxford zu kopieren und die Universität in einzelne kleine Colleges aufzuteilen, an denen sich die Studenten vermischen.
Die Sache funktioniert wie folgt. Zuerst läßt man uns Erstsemester in den Heimen um den Universitätshof herum wohnen, damit wir grundsätzlich mit all den verschiedenen Typen zusammenkommen, die die Gesamtheit eines Jahrgangs ausmachen. Nach einem Jahr, in dem wir aus dieser Erfahrung lernen, sollen wir dann neue, faszinierende Freunde gewonnen haben. Damit werden wir dann soweit sein, die nächsten drei Jahre unten am Fluß zu leben, in den kleinen, bezaubernden Colleges, die im versnobten Harvard schlicht >Häuser< genannt werden.
Für einige von uns hat dieses Verfahren durchaus erzieherischen Wert. Sportstypen aus Alabama finden sich wieder, wie sie zusammen mit Medizinstudenten, Philosophen und künftigen Schriftstellern die Aufnahme in eines der >Häuser< beantragen. Wenn alles klappt, kann dieses Vorgehen das Leben eines Menschen genauso bereichern wie eine akademische Veranstaltung.
Für ehemalige Internatsschüler trifft das nur zum Teil zu. Abwechslung ist nicht die Würze unseres Lebens. Wir sind die Bakterien (nur etwas klüger). Wir gedeihen nur in der eigenen Kolonie. Deshalb - da bin ich ganz sicher - war man bei der Verwaltung nicht besonders erstaunt, als Newall Wigglesworth und ich beschlossen, unsere Wohngemeinschaft die nächsten drei Jahre fortzusetzen.
Ursprünglich hatten wir Jason Gilbert als vierten haben wollen. Er ist wirklich ein prächtiger Kerl und hätte Leben in die Bude gebracht. Newall hatte auch gedacht, wir könnten von dem Überangebot seiner weiblichen Bewunderer profitieren, obwohl das zweitrangig war.
Dick fragte ihn im Bus auf der Rückfahrt vom Squashmatch gegen Yale (das wir gewonnen hatten). Aber Jason zögerte. Er habe so unglaublich großes Pech mit seinen Mitbewohnern gehabt, daß er sich entschlossen habe, ein Einzelzimmerappartement zu beantragen. Obwohl Studenten des zweiten Studienjahres dieses Privileg nur selten gewährt wird, hat Gilberts Proktor versprochen, ihm einen Empfehlungsbrief zu schreiben. Und Jason schlug vor, wir alle sollten Anträge für das gleiche >Haus< stellen, dann könnten wir immer
zusammen essen, und er wäre für unsere zahlreichen Spontan-Partys immer greifbar.
Jetzt blieb das einzige Problem, wo wir uns bewerben sollten. Obwohl es im ganzen sieben Häuser gibt, sind eigentlich nur drei gesellschaftlich annehmbar. Denn trotz dem ganzen Gerede von Demokratie möchten die meisten >Master<, ihr Haus von den anderen absetzen, und sie versuchen deshalb, vorwiegend einen bestimmten Studententyp auszusuchen, der von sich aus schon in dieselbe Richtung tendiert.
Eine Menge wählen Adams-Haus, das nach dem guten alten Johnny benannt wurde (Jahrgang 1755 und zweiter Präsident der Vereinigten Staaten), vielleicht, weil das früher Wohnungen der Goldküste waren. Außerdem gibt es da durchaus passend, einen Küchenchef, der früher in einem schicken New Yorker Restaurant tätig war (eine nicht zu ignorierende Tatsache, wenn man die Zahl der Frühstücke Mittag- und Abendessen bedenkt, die man in vollen drei Jahren zu sich nimmt).
Dann gibt es das Lowell-Haus, ein prächtiges klassizistisches Gebäude, dessen >Master< englischer als die Königin ist. Alles in allem, ein Ort für Tweed-Jacken.
Das unbestrittene Paradies für frühere Internatsschüler ist... das Eliot-Haus. Unnötig anzumerken, daß Wig und
Newall es auf Platz eins der Liste setzen wollten. Aber ich fühlte mich nicht ganz wohl bei dem Gedanken, in diesem ziemlich furchterregenden Denkmal meines Großvaters aus rotem Rackstein (seine Statue steht sogar im Hof) zu leben.
Aber Wig und Newall waren wild darauf, dahin zu kommen wo die meisten unserer Freunde es sich schon bequem gemacht hatten. Es war ein echtes Dilemma, bis ein unerwarteter Resucher uns eines Abends ziemlich spät überraschte. Glücklicherweise war niemand zu betrunken, um das Klopfen zu überhören. Newall stand unsicher auf, um unseren nächtlichen Gast zu begrüßen. Plötzlich hörte ich ihn »Ach du lieber Gott« rufen und eilte zur Tür, nur um den Gast antworten zu hören: »Nicht ganz, junger Mann, ich bin nur Gottes bescheidener Diener.« Es war niemand anderes als Professor Finley. Ich meine, der Mann höchst selbst — und das in unserer Bude.
Er sei zufällig auf seinem spätabendlichen Spaziergang vorbeigekommen und hätte gemeint, er sollte sich die Freiheit nehmen, einmal hereinzuschauen, um sich zu erkundigen, wo wir uns für das nächste Jahr bewerben würden. Und ob das Eliot-Haus vielleicht den Vorzug unserer Wahl genösse.
Wir versicherten ihm schnell, das sei in der Tat so, obwohl er spüren mußte, daß ich meine Zweifel hatte, ob ich als Andrew Eliot im Eliot-Haus wohnen sollte, dessen >Master< der Inhaber der Eliot-Professur für Griechisches Altertum war. Eigentlich war er gekommen, um mich zu beruhigen. Er erwarte nicht von mir, eine Bibelübersetzung für die Indianer anzufertigen, noch bestünde er darauf, daß ich Präsident von Harvard würde. Und doch sei er überzeugt davon, ich würde mir schon irgendwie einen Namen machen. Ich weiß nicht, ob
ich mehr verblüfft oder mehr bewegt war. Dieser bedeutende Professor glaubte, daß aus mir tatsächlich etwas wird, ich weiß allerdings nicht was.
Am nächsten Morgen war ich immer noch nicht ganz sicher, ob John M. Finley wirklich leibhaftig in unsere Wohnung gekommen war. Aber selbst wenn es ein Traum war, wir drei werden jedenfalls ins Eliot-Haus ziehen. Denn auch der Geist Finleys - wenn es nur sein Geist war - reicht aus, jeden zu verzaubern.
Wenn Jason Gilbert jeden Morgen den >Crimson< vor seiner Zimmertür aufhob, dann interessierte ihn zunächst vor allem der Sportteil, wo er nachsah, ob seine Heldentaten auch verzeichnet waren. Dann las er die erste Seite, um zu erfahren, was in der Universität so alles passierte. Wenn er Zeit hatte, las er noch die internationalen Nachrichten, die immer in irgendeiner Ecke gekürzt aufgeführt waren. Aus diesem Grund entging ihm die kurze Mitteilung, daß zum ersten Mal in der Geschichte Harvards ein Erstsemester den jährlichen Konzert-Wettbewerb des Harvard-Radcliffe-Orchesters gewonnen hatte, und am Abend des 12. April 1955 werde Daniel Rossi, Jahrgang '58, das Klavierkonzert Es-Dur von Franz Liszt spielen.
Jason erfuhr das erst drei Tage später als ein Kuvert unter der Tür durchgeschoben wurde. »Lieber Gilbert, hättest du mir nicht beim Stufen-Test geholfen, hätte ich wahrscheinlich aus Zeitmangel für's Üben den Wettbewerb nicht gewonnen. Hier die zwei versprochenen Karten. Bring eine Freundin mit. Dein Danny.«
Jason lächelte. An diese Sache in der ersten Semesterwoche vor so langer Zeit hatte er sich kaum mehr erinnert, weshalb er auch nie mehr an Dannys Bemerkung gedacht hatte. Jetzt aber konnte er endlich Annie Russell einladen, das umworbenste Mädchen von Radcliffe. Jason hatte schon lange nach dem richtigen Anlaß gesucht. Das hier war eine fabelhafte Gelegenheit.
Am Abend des 12. April drängten sich sämtliche Talentsucher, die es in Harvard gab, ins Sanders Theater, um zu prüfen, was da als neuer Komet in ihre Galaxie eintreten sollte. Der Solist war sich selbst am klarsten darüber, welche Prüfung ihm bevorstand. Danny stand in den Kulissen und sah mit wachsender Nervosität, wie sich der Saal mehr und mehr mit furchterregenden Persönlichkeiten füllte. Nicht nur
seine Professoren waren da, sondern er erkannte auch bedeutende Vertreter der berühmten Konservatorien Bostons. Mein Gott - sogar John Finley war da.
Während der aufregenden Probewochen hatte er sich wie besessen auf diese große Gelegenheit gefreut, seine Klavierkünste vor Hunderten von großen Tieren vorzuführen. Er war sich auf einmal wie ein Riese vorgekommen.
Allerdings nur bis zum Abend zuvor. Denn am Vorabend seiner Harvard-Krönung - da war er ganz sicher gewesen - konnte er nicht schlafen. Er warf sich herum und stöhnte, denn er malte sich die unvermeidliche Katastrophe aus. Man wird mich auslachen, dachte er, ich werde ohnmächtig werden, wenn ich auf die Bühne komme. Oder ich werde stolpern. Oder werde zu früh einsetzen oder zu spät. Oder werde alles vergessen haben. Das Publikum wird sich vor Lachen auf dem Boden wälzen, nicht nur die Damen der Gesellschaft, sondern auch Hunderte der wichtigen Leute vom Fach. Eine Katastrophe. Warum habe ich überhaupt bei dem Wettbewerb mitgemacht? Er griff sich an die Stirn. Sie war heiß und feucht. Vielleicht bin ich krank, dachte er — hoffte er. Vielleicht muß mein Auftritt abgesagt werden. Ach bitte, lieber Gott, laß mich krank werden, meinetwegen auch ernsthaft.
Am nächsten Morgen fühlte er sich recht gesund, was ihn sehr beunruhigte. Er fand sich damit ab, am Abend im Sanders Theater vor der Guillotine zu stehen.
Ganz allein stand er hinter der Bühne und wollte, er wäre ganz woanders. Don Löwenstein, der Dirigent, kam nach hinten und fragte, ob er soweit sei. Danny wollte nein sagen, aber irgend etwas ließ ihn nicken. Er atmete tief ein, sagte heimlich »Ach, Scheiße« und ging auf die Bühne, die Augen zu Boden gerichtet. Bevor er sich an den Flügel setzte, verbeugte er sich knapp vor dem Publikum und dankte für den
höflichen Applaus. Die Scheinwerfer blendeten ihn gnädigerweise, so daß er keine Gesichter erkennen konnte. Dann geschah etwas Unheimliches. Kaum saß er vor den Tasten, ging seine Furcht in etwas ganz Neues über: Spannung. Er brannte darauf zu spielen. Er nickte Don zu: fertig. Der Einsatz des Dirigenten versetzte Danny in eine fast hypnotische Trance. Er träumte, er spiele fehlerlos. Weit besser als jemals in seinem Leben.
Aus allen Ecken des Saales erreichten ihn Bravorufe, und der Beifall schien nicht nachzulassen.
Was sich dann um Danny herum abspielte, erinnerte Jason an das siegreiche Ende eines Tennisturniers. Es fehlte nur, daß sie ihn hochhoben und auf den Schultern durch das Theater trugen. Graue Eminenzen der Musikwelt standen wie Verehrer an, um ihm die Hand zu schütteln. Aber kaum hatte Danny Jason bemerkt, löste er sich aus der Gruppe und kam zum Bühnenrand, um ihn zu begrüßen. »Du warst großartig«, lobte Jason ihn herzlich. »Wir sind sehr froh, daß wir von dir Karten bekommen haben. Ach ja, darf ich dir Miss Annie Russell, '57, vorstellen?«
»Hallo«, lächelte Danny, »sind Sie in Radcliffe?« »Ja«, antwortete sie strahlend, »und wenn ich sicher auch nicht mehr die erste bin, möchte ich Ihnen doch sagen, daß Sie heute abend großartig waren.«
»Danke«, sagte Danny schnell und fügte hinzu: »Es tut mir wirklich leid, aber ich muß noch ein paar Professoren die Hand schütteln. Laß uns doch mal zusammen essen gehen, ja, Jason? Schön, Sie kennengelernt zu haben, Annie.«
Er winkte und lief fort.
Jason war so angetan von Annies übersprudelndem Charme, daß er sie am Nachmittag des nächsten Tages anrief und sie zum Footballspiel am kommenden Samstag einlud »Es tut mir sehr leid«, sagte sie, »ich fahre nach Connecticut.«
»Aha, eine Verabredung in Yale?« »Nein. Danny spielt mit dem Symphonischen Orchester Hartford.«
Scheiße, dachte Jason, als er einhängte, und war wütend Das geschieht dir recht. Hilf bloß keinem Kommilitonen in Harvard - auch keine Stufe hinauf.
Am Dienstag, den 24. April 1955, verzeichnet die Statistik, daß 71,6 Prozent des 522. Jahrgangs in der Geschichte von Harvard vom Haus ihrer Wahl angenommen worden sind. Für die drei in Wigmore G-21 kam das nicht überraschend, da die Erscheinung eines ehrwürdigen Erzengels ihnen das schon einen Monat zuvor verkündet hatte. Aber sie waren begeistert, daß man ihnen eine Wohnung mit Blick auf den
Fluß zugewiesen hatte. Nicht viele Studenten im zweiten College-Jahr genossen diesen Vorzug, und keiner von ihnen genoß das Privileg eines Einzelzimmers, außer Jason Gilbert, Jr.: für besondere Verdienste. Sein Quartier befand sich gegenüber dem seiner drei aristokratischen Freunde auf der anderen Seite des Eliot-Hofs.
Er berichtete seinem Vater in dem Telefongespräch davon, das er jede Woche mit ihm führte. »Großartig, mein Sohn.
Selbst Leute, die kaum etwas von Harvard gehört haben, wissen, daß zum Eliot-Haus nur die creme der noch nicht graduierten Society gehört.«
»Aber in Harvard gibt es sowieso angeblich nur die Creme«, sagte Jason gutgelaunt.
»Ja, natürlich. Aber Eliot ist nun mal creme de la creme Jason. Deine Mutter und ich sind wirklich stolz auf dich. Sind wir doch überhaupt. Hast du übrigens deine Rückhand weiter verbessert?« »Ja, Vater, habe ich.« »Ich habe neulich in >Tennis World< gelesen, daß sich die
Cracks jetzt mehr und mehr durch Laufen in Form bringen - früh morgens, wie die Boxer.«
»Ja, schon«, sagte Jason, »aber dazu habe ich wirklich keine Zeit. Ich muß unglaublich viel für das Studium arbeiten.« »Klar, mein Sohn. Nur nicht das Studium gefährden. Bis nächste Woche.«
»Wiedersehen, Vater. Grüße an Mutter.«
Danny Rossi hingegen war wütend. Er hatte sich fürs Adams-Haus beworben, weil dort vor allem Musiker und Literaten lebten. Man konnte da praktisch an jede Tür klopfen und hatte gleich genügend Leute für ein wenig Kammermusik zusammen.
Er war sich so sicher gewesen, ins Adams-Haus zu kommen, daß er. ohne überhaupt über die möglichen Folgen nachzudenken, auf die Liste dann einfach noch zwei weitere Häuser in ihrer alphabetischen Reihenfolge geschrieben hatte: Dunster und Eliot. Und in das letztere, ins Eliot, kam er. Wie konnte man ihm das nur antun — ihm, der sich schließlich bereits derartig ausgezeichnet hatte. Hätte Adams-Haus nicht eines Tages stolz darauf sein können, daß Danny Rossi dort einmal gewesen war? Außerdem schmeckte ihm die Aussicht gar nicht, drei Jahre lang nur mit diesen eingebildeten ehemaligen Internatszöglingen zusammenleben zu müssen. Er beschloß, sich bei Finley, dem Master, zu beklagen. Seit >Geist 2< verehrte er diesen großen Professor und glaubte, ihm gegenüber seine Enttäuschung ehrlich ausdrücken zu können. Um so erstaunter war er, als Finley aufrichtig sagte: »Ich wollte Sie unbedingt haben, Daniel. Ich mußte dem Rektor von Adams zwei Footballgrößen und einen Dichter, der schon veröffentlicht hat, für Sie überlassen.«
»Das ist sicher sehr schmeichelhaft für mich, Herr Professor«, sagte Danny, den das ziemlich aus dem Gleichgewicht brachte. »Nur wollte ich ...« »Ich weiß«, sagte der Rektor und wußte in der Tat, was Danny dagegen hatte, »aber ungeachtet unseres guten Rufs möchte ich, daß wir im Eliot-Haus nur die Besten aus allen Disziplinen haben. Sind Sie schon mal bei uns gewesen?« »Nein, Herr Professor«, gab Danny zu.
Wenig später führte Finley Danny die Wendeltreppe des Turmes im Eliot-Hof hinauf. Der junge Mann war außer Atem, aber der dynamische Finley war vor ihm die Stufen geradezu hinaufgesprintet und öffnete nun eine Tür.
Dem staunenden Danny bot sich durch ein großes rundes Fenster ein herrlicher Blick über den Charles River. Erst Sekunden später bemerkte er das Klavier, das hier stand. »Na, wie finden Sie das?« fragte Finley. »Alle großen Geister der Vergangenheit fühlten sich an hochgelegenen Orten besonders inspiriert. Denken Sie daran, wie der große italienische Genius Petrarca den Mont Ventoux bestieg. Eine
sehr platonische Tat.« »Wirklich unglaublich«, sagte Danny. »Hier oben ließe sich doch gut eine Symphonie komponieren, finden Sie nicht, Daniel?«
»Ja, bestimmt.« »Deshalb wollten wir Sie bei uns haben. Denken Sie daran, Genies sind in Harvard zwar überall willkommen, aber wir
hier kümmern uns um sie.«
Die lebende Legende Finley streckte dem jungen Musiker die Hand entgegen und sagte: »Ich freue mich, daß Sie im Herbst hierherkommen.« »Danke, vielen Dank«, sagte Danny überwältigt, »ich danke Ihnen, daß Sie mich geholt haben.«
Für manche Studenten des Jahrgangs '58 war der 24. April aber ein Tag wie jeder andere. Ted Lambros gehörte zu diesen Pechvögeln. Denn da er außerhalb wohnte, hatte er sich bei keinem der Häuser bewerben können und war deshalb völlig unberührt von den Veränderungen bei allen, die bis jetzt am Yard gewohnt hatten.
Er ging wie sonst zu den Vorlesungen, arbeitete den ganzen Nachmittag in der Lamont-Bibliothek und machte sich um fünf Uhr ins >Marathon< auf. Am Ende des ersten Semesters hatte er eine Eins minus und drei Zweier eingeheimst und gehofft, ein Stipendium zu bekommen, das es ihm ermöglicht hätte aufs College-Gelände zu ziehen. Aber zu seiner Enttäuschung erhielt er einen Brief, worin ihm mitgeteilt wurde, man freue sich, ihm ein Stipendium in Höhe von achthundert Dollar für das nächste Studienjahr gewähren zu können.
Eigentlich wäre das Grund genug zur Freude gewesen. Aber Harvard hatte gerade angekündigt, die Studiengebühren würden genau um diesen Betrag erhöht. Ted war schrecklich frustriert. Er kam sich wie ein Wettläufer vor, der wie wahnsinnig auf einer Tretmühle sprintet. Er gehörte immer noch nicht wirklich dazu. Noch nicht.
Bei Danny Rossis Konzert im Sanders Theater waren nicht nur die örtlichen Akademiker gewesen. Ohne daß der Solist es wußte, hatte Professor Piston den berühmten Dirigenten der Bostoner Symphoniker, Charles Munch, eingeladen. Der Maestro schrieb Danny eigenhändig einen schmeichelhaften Brief, in dem er die Aufführung lobte und ihn einlud, im Sommer bei den berühmten Tanglewood Musikfestspielen mitzuarbeiten. »Die Aufgaben, die Sie dort erwarten, sind nicht übertrieben groß, aber ich meine, Sie würden davon profitieren, den großen Künstlern, die dorthin kommen werden, so nahe zu sein. Und ich möchte Sie persönlich einladen, an unseren
Proben teilzunehmen, da ich weiß, daß Sie die Musik zu Ihrem Beruf machen wollen. Ihr Charles Munch.«
Diese Einladung löste auch ein heikles Familienproblem. Denn Gisela Rossi hatte in einem ihrer wöchentlichen Briefe dem Sohn ernsthaft versichert, wenn er im Sommer nach Hause käme, würde sein Vater ganz bestimmt sein Urteil über ihn ändern. Und dann würde daraus sicher ein neues gutes Verhältnis entstehen.
Obwohl er seine Mutter gerne wiedergesehen und auch Dr. Landau gerne von seinem großen Erfolg erzählt hätte, wollte Danny dennoch eine weitere Auseinandersetzung mit Dr. med. dent. Arthur Rossi nicht riskieren.
Fast erschreckend plötzlich war das erste Studienjahr zu Ende. Der Mai begann mit der Vorbereitungszeit auf die Prüfungen. Diese speziellen Tage waren eigentlich für zusätzliches, selbständiges Lernen gedacht. Aber viele Harvard-Studenten - wie zum Beispiel Andrew Eliot & Co - fingen in diesem Semester überhaupt erst mit der Arbeit an und zwar mit der Pflichtlektüre für die allerersten Vorlesungen.
Die Sportsaison erreichte ihren Höhepunkt durch zahlreiche Wettkämpfe mit Yale. Nicht alle gingen zugunsten Harvards aus. Aber Jason Gilbert führte die Tennismannschaft zum Sieg, und es machte ihm besonderen Spaß, das Gesicht des Tennis-Coach von Yale zu sehen, als er gnadenlos den Ranglistenersten vom Platz fegte und dann im Doppel mit Dickie Newall ein zweites Mal triumphierte.
Jetzt mußte aber auch Jason Gilbert ziemlich für das Studium ackern. Er reduzierte sein gesellschaftliches Leben drastisch auf die Wochenenden. Am Harvard Square nahm der Verkauf von Zigaretten und Hallo-Wach-Pillen drastisch zu. Die Bibliothek war rund um die Uhr bis auf den letzten Platz besetzt. Im modernen Belüftungssystem vermischten sich all die Gerüche ungewaschener Hemden, kalten Schweißes und nackter Angst. Niemand nahm jedoch Notiz davon.
Die Prüfungen selbst waren dann tatsächlich eine Erleichterung. Der Jahrgang '58 erfuhr zu seinem Entzücken die Wahrheit des alten Harvard-Spruchs: Am schwierigsten ist es hereinzukommen. Um später noch durchzufallen, braucht man schon eine besondere Begabung.
Während sich die Wohnheime leerten und Platz gemacht wurde für das 25jährige Jubiläumstreffen des Jahrgangs 1950, deren uralte Teilnehmer während einer Woche noch einmal dort wohnen sollten, verschwanden aber doch einige Angehörige des Jahrgangs '58, um niemals wiederzukehren.
Eine kleine Zahl Studenten hatte tatsächlich das Unmögliche geschafft und war durchgefallen. Ein paar hatten offen zugegeben, daß sie sich dem zunehmenden Druck von Seiten ihrer unglaublich ehrgeizigen Kommilitonen nicht mehr gewachsen fühlten. Auch um bei Sinnen zu bleiben, hatten sie deshalb aufgegeben und wechselten zu Universitäten, die näher bei ihrem Heimatort lagen. Einige gingen mit fliegenden Fahnen unter, und verloren ihren Verstand dabei. David Davidson — noch immer im Krankenhaus — war nicht der einzige. An Ostern hatte es einen Selbstmord gegeben, der vom >Crimson< aus Erbarmen fälschlicherweise als Autounfall hingestellt wurde — obwohl das Auto von Bob Rutherford aus San Antonio, Texas, eigentlich in seiner Garage stand, als der Tod eintrat.
Und doch, war das nicht alles im Grunde eine Lehre für die Verlierer wie für die Gewinner, wie das einige robuste Typen des Jahrgangs '58 vertraten? Würde das Leben später, da ganz oben, etwa leichter sein, als es die selbstgewählte Folterkammer Harvard war?
Aber die Sensibleren unter ihnen begriffen, daß sie noch drei weitere Jahre durchzustehen hatten.