kapitel 1 - 5

Victoria überlieferte das erste Wort ihrer Tochter — »Dada« — und schrieb über ihre ersten Schritte, die sie schwankend, achtzehn Monate alt unter den Augen von Diener Albert, über den Green Court machte. Im Laufe der Monate trugen Vitas kleine Beine sie weiter über das außergewöhnliche Stück Erde, auf dem sie geboren worden war, das ihr jedoch, aufgrund ihres Geschlechts, nie gehören würde. Der Green Court führte in den Stone Court, an dessen einer Seite sich ein Säulengang aus der Zeit Jacobs entlangzog; dann gab es noch den Water Court und vier andere Höfe, insgesamt deren sieben. Angeblich soll es zweiundfünfzig Treppenhäuser und 365 Zimmer im Hause geben, entsprechend den Wochen und Tagen des Jahres. Der Komplex aus Steingebäuden wurde über einem noch älteren Haus errichtet und nimmt eine Fläche von mehr als vierzig Acres ein. Die Große Halle, in der sich Vita in einem harten Winter einem Rothirsch von Angesicht zu Angesicht gegenübersah, der Schutz vor der Kälte suchte, und wo ihre Mutter zu Weihnachten Geschenke an die Kinder des Gutes auszuteilen pflegte (die Szene ist in Vitas Roman Schloß Chevron verewigt), wurde um 1460 von Erzbischof Bourchier erbaut. Er erbaute auch die Brown Gallen und vermutlich die Kapelle, die in Vitas Kindheit mit gotischen Gobelins geschmückt war. Es war Königin Elizabeth I., die Knole ihrem Neffen Thomas Sackville, Vitas Vorfahr, schenkte.
Das Haus lag in einem großen Park, effektvoll gestaltet mit Hängen und Wasserläufen und den großen Buchen, über die Vita ein Gedicht schrieb. Das Hauptportal des Parks führte auf die Hauptstraße der kleinen Stadt Sevenoaks. Vom Park aus gesehen ähnelte Knole weniger einem Haus als einem »mittelalterlichen Dorf mit seinen viereckigen Türmchen und grauen Mauern, seinen hundert Schornsteinen, die blaue Rauchfahnen in den Himmel sandten«, wie Vita in Schloß Chevron schrieb. »Das Haus war in der Tat mit allem so versehen wie eine kleine Stadt; die Zimmermannswerkstatt, die Malerwerkstatt, die Schmiede, die Sägemühle, die Treibhäuser.« Auch für fünfzig Diener, die streng ihrer eigenen Hierarchie gehorchten — und deren Zahl oft durch die Zofen und Kammerdiener der Gäste der Sackville-Wests vermehrt wurde war Knole eine Heimat, obgleich Lord Sackville und Lionel vermutlich nicht einen einzigen nach dem Gesicht, geschweige denn mit seinem Namen kannten. Allein die große Küche war so geräumig und hoch wie eine Kathedrale.
Die Bibliothek — gesäumt mit Regalen voll ungelesener Bücher, aber gemütlich, ungezwungen und warm — war in Vitas Kindheit der Wohnraum der Familie. Wenn sich ihre eigenen Kinder in Knole aufhielten, fürchteten sie den langen Weg von der Bibliothek durch die Korridore über dunkle Treppen, vorbei an den wachsamen Augen der Familienporträts, bis in die Kinderzimmer. Doch Vita war von Kindesbeinen an daran gewöhnt, und sie war nicht leicht zu er schrecken. Die Wohnräume der Familie, die Schlafzimmer und die während Victorias Herrschaft an Zahl zunehmenden Badezimmer wurden fortgesetzt neu verteilt, umgestaltet und erneuert. Victoria liebte Unterhaltung, und sie stattete die übrigen Schlafzimmer verschwenderisch aus; jedes verfügte über einen kleinen Messingrahmen an der Tür, in den eine Karte mit dem Namen des Gastes geschoben wurde. Das war nicht nur für organisatorische, sondern auch für amouröse Zwecke von Nutzen: »chacun à sa chacune«, wie Mrs. Keppel angemerkt haben soll.
Das Speisezimmer der Sackville-Wests war der Poet's Parlour, wo Pope, Dryden, Congreve, Wycherley und Rochester mit Charles Sackville, dem dichterisch veranlagten sechsten Earl von Dorset, gespeist und getrunken hatten. Noch eindrucksvoller waren die Cartoon Gallery, die Brown Gallery, die Leicester Gallery — und die drei Prunkschlafzimmer, die, als Vita geboren wurde, seit zweihundert Jahren nicht mehr benutzt worden waren. Dies waren die »Ausstellungsräume« und sind es noch immer. Sie sind zwar kalt, doch nichts darin verfault, weil es in den grauen Steinmauern konserviert wird. Sie »bewahrten ihre alten Möbel, ihre Vergoldungen und Samtstoffe«, schimmernd im Licht der Kerzen, die Vita und ihre Mutter trugen, wenn sie mit bewundernden Besuchern hindurchgingen.
Des Königs Schlafzimmer — »wo das große Himmelbett aus Silber und flamingofarbenem Atlas sich bis zur Decke türmte und die Umrisse der berühmten silbernen Möbel matt in einem Mondstrahl flimmerten — war für den Empfang von König James I. eingerichtet und seitdem kaum betreten worden. (Vita empfand die Ausstattung aus massiven Silber später als ein wenig vulgär.) Es war des Königs Schlafzimmer, wo sich Vitas Eltern in der Zeit ihrer ersten Liebe küßten und liebkosten: es war des Königs Schlafzimmer (unter einem anderen Namen), wo Sebastian in Schloß Chevron die in ihn vernarrte kleine Arztfrau zu verführen versuchte; hier wurde Vita von dem Mann, den sie heiraten würde, zum ersten Mal richtig geküßt, und hierher würde sie später andere Liebhaber bringen.
Außerdem gab es noch das Zimmer des venezianischen Gesandten mit Tapeten in blassem Rosa, Grün und Gold und einem Bett, groß genug für drei Personen, und das Paillettenzimmer. Doch für ein kleines Mädchen gab es in Knole andere ebenso zauberische Dinge, die seinem Vorstellungsvermögen und seiner beweglichen Phantasie näherlagen: alte, geschnitzte Knäufe, groteske Gesichter in Holzschnitzereien; einen Türanschlag, der Shakespeare genannt wurde, ein plumper kleiner Mann, just so groß, daß er einer Dreijährigen genau ins Auge blicken konnte, der aber älter zu sein schien, als der Stückeschreiber es je war; und vor allem die heraldischen Leoparden. In Knole finden sich steinerne Leoparden entlang des Dachfirstes, auf Spitzen und Brustwehren. Es gibt gefleckte Leoparden auf den Eckpfosten der Großen Treppe und freche schwarzweiße Leoparden auf den trompe l'oeil-Fresken an der Mauer des Treppenhauses. Vita schrieb ein Gedicht. »Leopards at Knole«:

Leoparden auf den Giebelecken.
Leoparden im bunten Treppenbau.
Steif tragen sie den Wappenschild,
Rotgolden und ein Balken grau,
Leoparden auf den Giebelecken,
Leoparden überall.[1]

Im obersten Geschoß des Hauses, just unterhalb der großen Fläche von Dach und Schornsteinen, liegen die Räume der Gefolgsleute, in denen unter einer stuckverzierten, noch immer eleganten, wenn auch jetzt bröckligen Decke die Dienerschaft wie in Schlafsälen schlief. In Vitas Kindheit waren diese langen Dachböden, die Zugang zum Dach gewährten, vollgestopft mit ausrangierten Gemälden, Statuen, Möbeln und Schnitzereien, die Generationen von Sackvilles aus dem Wege geräumt hatten, als sie das Haus im Geschmack ihrer eigenen Zeit einrichteten. Hierhin pflegte Vita sich zurückzuziehen, zu spielen, zu träumen und in Truhen und Kisten zu stöbern. Hier fand sie den Hut eines Puritaners, den sie nach unten brachte. Sie trat mit ihrem Fuß hinein und zerfetzte das straffe Velin, das mehr als drei Jahrhunderte lang ungestört auf dem Dachboden gelegen hatte. Sobald sie lesen und schreiben konnte, suchte sie sich einen zweiten ungestörten Platz: das verglaste Sommerhaus im Garten mit Blick auf den Spiegel-Teich. Die Historie strömte vom Haus hin über in den Garten:
»Die weiße Rose, die unter dem Zimmer von James I. gepflanzt wurde, ist emporgeklettert und reicht nun bis unter seine Fenster im ersten Stock... die Magnolie vor dem Poet's Parlour ist fast bis zum Dach hochgewachsen und trägt ihre Fülle von Blüten wie ein großer Kandelaber... Die Erde ist fruchtbar und alt. Der Garten ist seit vierhundert Jahren ein Garten gewesen.«[2]
Doch Vita, die ihr Erbe liebte und später diese Worte niederschreiben sollte, war vorerst nur ein winziges Mädchen, das drinnen auf den spiegelglatt gebohnerten Böden hinfiel und sich die Knie schrammte — »sie will nicht im Gras gehen«. Wenn Lionel abwesend war, schlief das Kind im Bett der Mutter: »Sie umarmte mich morgens so zärtlich.« Victoria überhäufte Vita mit den Puppen, die sie als Kind geliebt hatte; bevor Vita zwei Jahre alt war, betrug ihre Zahl neunzehn. Am allerliebsten war ihr eine kleine Holzpuppe, die sie Clown Archie nannte. Alle ihre Puppen neben sich aufgereiht, fotografierte sie ihr Vater im Januar 1897 vor dem langen Empfangszimmer, das man die Kolonnade nannte (weil es ein verglaster Bogengang war). Die fast fünfjährige Vita war gerade Brautjungfer bei der Hochzeit von Lionels Bruder Charlie mit Maud Bell gewesen. Zu diesem Anlaß wurde ihr Haar in Locken gelegt, sie trug weißen Satin, und Onkel Charlie gab allen sechs Brautjungfern »Ketten aus rosa Korallen und Türkisen«. Als das Hochzeitspaar am Ende durch den Mittelgang kam. rannte Vita, die kleinste Brautjungfer, nach vorn und packte den Bräutigam am Bein — »O, Onkel Charlie!« Im Juni dieses Jahres gab es in Knole eine 50-Jahr-Gesellschaft zu Ehren der chinesischen Abordnung zu Königin Victorias goldenem Jubiläum. Die sechzehn chinesischen Abgesandten wurden angeführt von Tsang Yen Hoon, »prachtvoll in Tiefrosa«, der in Washington ein diplomatischer Kollege von Lord Sackville gewesen war. »Sie saßen alle in der Kolonnade längs der Fenster, und Vita stolzierte wie ein Pfau vor ihnen auf und ab; sie schloß enge Freundschaft mit dem Sohn von Marquis Tsang«, notierte ihre Mutter beiläufig. Im folgenden Monat hatte die Familie noch großartigere Besucher: den Prinzen und die Prinzessin von Wales. »Ich ging mit Vita zur Pforte, um sie zu empfangen«, schrieb Victoria. »Ich hatte schreckliche Hemmungen, und Vita brach beinahe in Tränen aus.« Während die Gesellschaft im Garten war. wo man feierlich einen Baum pflanzte und wo das unvermeidliche Foto gemacht wurde, hielt Prinzessin Alexandra Vita an der Hand. Ihre Mutter, mochte sie auch »schrecklich gehemmt« sein, handelte ohne Ansehen der Person. Der Prinz von Wales hatte verlangt, daß man seine augenblickliche Favoritin, Lady Warwick, für diesen Tag nach Knole einladen solle »und auch seine neue Freundin, die Hon. Mrs. G. Keppel. Doch ich sagte ihm, ich zöge es vor, ein paar Damen aus der Grafschaft herzubitten ... Er fügte sich und war sehr zufrieden mit dieser Regelung.« Victoria war eben eine Frau, die sich durchzusetzen wußte. Und sie war über das Betragen ihrer Fünfjährigen in der Gesellschaft entzückt. »Ich habe solche Angst, daß Vita ein verzogenes Kind wird: jedermann sagt ihr, sie sei so reizend. Sie versteht es, die Leute sehr hübsch zu unterhalten.«
Vita lernte es früh, Gruppen von Besuchern durch das Haus zu führen und ihnen die Ausstellungsräume aufzuschließen. Ihr Großvater lehnte es ab, dieses Amt zu übernehmen, denn »wie seine Familie hatte er den Fehler, gesellschaftsfeindlich zu sein«. Vitas liebstes Ausstellungsstück im Haus war der Fries im Ballsaal »mit seinen Skulpturen von Meerjungfrauen und Delphinen, Wassergeistern und Meerjungfrauen mit schuppigen, gewundenen Schwänzen und bemerkenswertem Körperbau«.«[3] Die kleine Schloßherrin blickte mit Verachtung auf Besucher, die diese Pracht ignorierten und es vorzogen, die Gemälde zu betrachten. Doch es gab viele, viele Tage ohne Besucher, an denen die erwachsenen Familienmitglieder fort und die Dienstboten anderswo beschäftigt waren. Dann wanderte das einsame Kind durch das große Haus, die Höfe und Gärten und war seinen Phantasien überlassen:

Bilder und Flure und Räume, so leer!
Wen wundert es, daß ich spielte allein;
Vom verschachtelten Haus die Hälfte war mein
Und waldige Gärten, von Geheimnissen schwer.

Durch verblaßte Fransen meine Finger liefen.
Aus brokatenen Teppichen die Kameraden mich riefen:
Ich schlief neben lauschigen Himmeln, den tiefen
Betten von Königen, die längst vergessen.
Ohne Schuhe wandelte ich im Ungefähren
Durch Flure, vertiefte mich in der Wandteppiche Mären
Und liebte die Damen wegen ihrer Affären
Und der vielen Ringe, die sie besessen.[4]

Als sie sechs Jahre alt war, lief sie ohne Erlaubnis weg. »Sie ging mit Ethel, dem Kindermädchen, nach Sevenoaks und rannte von ihr weg: Ethel konnte sie nirgendwo finden. Vita kam allein nach Hause! Nachdem sie sich einen Ballon und einen Kricketball gekauft hatte. Ich habe sie bestraft, indem ich sie oben zu Abend essen ließ und ihr keine frischen Kirschen gab, die ich gestern für sie gekauft habe.« Vita war ein habgieriges Kind. »Diese ungezogene Vita hat meine ganzen Weihnachtssüßigkeiten gestohlen und aufgegessen! Sie hat es eingestanden, und ich sprach sehr sanft mit ihr, um ihr zu zeigen, wie wenig Vertrauen ich zu ihr haben könne, wenn sie diese Sachen mache. Sie hat ein so liebes, sanftes Wesen und versteht alles so rasch — und sie ist so zärtlich.«
Als Vita sieben Jahre alt war, kaufte Victoria zu Ostern ein wenig Flitterkram, aus dem »ein Elfengewand für Vita, die so gern bei Märchenspielen mitmacht«, angefertigt werden sollte. Diese Elfe Vita war das Kind, von dem Victoria Sackville-West geträumt hatte. Solange ihre Tochter sehr klein war, konnte sie die Tatsache übersehen, daß das hübsch gelockte Haar ihrer Tochter von Natur aus unnachgiebig glatt war und daß unter dem Flitterkleid ein ungestümes, unnachgiebiges, gleichwohl liebevolles Herz schlug.
Vita verkehrte wenig mit anderen Kindern. Abgesehen von den Kindern der Dienerschaft, mit denen sie gelegentlich spielen durfte, war ihr kleiner Vetter Lionel Salanson zunächst der einzige, den sie kannte und mit dem sie auf französisch plapperte. Als Vita sieben Jahre alt wurde, arrangierte Victoria einen wöchentlichen Tanzunterricht für die Kinder der Umgebung, der im Speisezimmer von Knole stattfand. Vita soll darüber angeblich »entzückt« gewesen sein, doch nach einer Weile beklagte sich Lady Winchester, daß »Vita mit dem jungen Mountjoy so rüde umgegangen« sei. Sie war auch nicht immer zuverlässig, wenn man sie mit ihrem anderen kleinen Vetter, Eddy Sackville-West, allein ließ, dem Sohn von Charlie und Maude und vermutlichen Erben von Knole. Er war ein zartes, kränkliches Kind, und Vita, der man die dynastischen Auswirkungen seiner Existenz erklärt hatte, fühlte sich nicht zu ihm hingezogen. In Wahrheit hatte sie es überhaupt nicht gern, wenn andere Kinder nach Knole kamen: sie verteidigte ihren Bereich wie eine Glucke. Als Erwachsene sah Vita die Kindheit ohne Sentimentalität. »Das normale Kind hat, wenn es nicht ein unerträglicher Tugendbold ist, von Herzen Freude daran, zu anderen unfreundlich zu sein.« Sogar zu Tieren: »Unter Erwachsenen gibt es eine Theorie, die besagt, daß Kinder Hunde mögen und Interesse an ihnen haben. Ich mißtraue dieser Theorie. Kinder mögen Hunde nur insoweit, als sie die Tiere an den Schwänzen ziehen oder ihnen die Finger in die Augen bohren können: ihr Verhalten gegenüber Hunden ist weder menschlich noch vermenschlichend. Man sollte in bezug auf Kinder nicht sentimental werden. Für Realisten, die sie nun mal selber sind, wäre dies das letzte, das sie sich wünschten, wenn sie soviel von ihren Gefühlen wüßten, um sie in Worte zu kleiden. Die natürlichen Instinkte tendieren zu Streitsucht und Tyrannei — welches einer der Gründe ist, daß die Nazi-Ausbildung einen so erschreckenden Erfolg hatte.«[5]
Vita ging als Kind so grob mit allen Kindern um, die nach Knole eingeladen wurden, daß bald keines davon mehr zum Tee kommen wollte, »ausgenommen jene, die sich als meine Verbündeten und Untergebenen erwiesen hatten«. Regelmäßige Besucher waren die kleinen Battiscombes aus Sevenoaks: »Es waren fünf, vier Mädchen und ein Junge. Der Junge und ich waren Verbündete; die vier Mädchen waren unsere Opfer. Der Junge und ich pflegten die vier Mädchen an Bäume zu binden und ihre Beine mit Nesseln zu peitschen. Außerdem verstopften wir ihnen die Nasenlöcher mit Kitt und schoben ihnen Taschentücher als Knebel in den Mund.«[6]
Später schrieb Vita unbekümmert, das habe keine wirkliche Feindschaft zur Folge gehabt: »Die Mädchen genossen es masochistisch, so wie der Junge und ich es sadistisch genossen.« Ob sich das wirklich so verhielt oder nicht, keiner der Beteiligten ließ je ein Wort über die Folterszenen verlauten, die sich nach dem Tee hinter den Rhododendronbüschen von Knole abspielten.
Was empfand dieses aufgeweckte, einsame, wachsame Mädchen für seine Eltern? Vita schrieb dreimal darüber, wie sie ihre Eltern sah: die erste Version, verfaßt kurz nach ihrer Heirat im Jahr 1913, findet sich in einem unveröffentlichten Manuskript mit dem Titel »Marian Strangways«: die zweite, sieben Jahre später entstanden, wurde zu Vitas Lebzeiten nicht veröffentlicht; die dritte erschien 1937 nach dem Tod ihrer Mutter in Pepita. Die drei Berichte widersprechen sich an vielen Stellen, was sie jedoch gemeinsam haben, ist eine beunruhigend zwiespältige Haltung gegenüber der Mutter, die »mich liebte, als ich ein Baby war, aber als ich ein kleines Kind war, machte sie sich, glaube ich, nicht viel aus mir, und das kann ich ihr nicht verübeln.«[7] Vita sagte, ihr Vater pflegte sie auf lange Spaziergänge mitzunehmen und mit ihr über Darwin zu sprechen. »Und ich mochte ihn sehr viel mehr als Mutter, deren hitziges Temperament mir angst machte. Ich erinnere mich nicht einmal, daß sie mir hübsch vorkam, was sie gewesen sein muß — wunderschön sogar.«[8] (Später sollte Vita schreiben, ihre Mutter sei eine »wirklich schöne Frau« gewesen.) Victorias Launen waren nicht voraussagbar, und sie kritisierte zungenfertig die Erscheinung des heranwachsenden Mädchens, seine Unsauberkeit und sein Schweigen. Sie »pflegte mich zu kränken«, schrieb Vita, »indem sie sagte, sie könne meinen Anblick nicht ertragen, denn ich sei so häßlich.«[9] Bei Victorias aufbrausender Gemütsart war es kein Wunder, daß die Kindermädchen und Gouvernanten in rascher Folge wechselten. Da gab es ein Kindermädchen Brown und dann das Kindermädchen Grey — und dann das Kindermädchen White. »Als ich vier oder fünf war, erlebte ich, wie mir mein geliebtes Kindermädchen Nannie weggerissen wurde, weil drei Dutzend Wachteln nicht rechtzeitig zu einer Dinner-Party eingetroffen waren und meine Mutter sich nicht davon abbringen ließ, Nannie habe sie gegessen.«[10] Dann gab es Miss Bennett, die entlassen wurde, weil sie Probleme mit der Disziplin hatte. Vita, damals zehn, war aufgebracht. Zusammen mit Rosamund Grosvenor brachte man sie zu einem Laienspiel, doch Miss Bennett gab nicht auf. »Wir sind über Bentie sehr verärgert«, schrieb Victoria, »weil sie Vita Briefe schreibt und sie auffordert, mich zu bitten, sie zurückzuholen. Es mangelt ihr an Takt, und sie macht das Kind elend.« Vita wurde früh mit der Strategie der weiblichen emotionalen Kriegführung bekannt gemacht. Auf Miss Bennett folgte Miss Scarth, doch sie hielt sich nicht lange. und schließlich gewöhnte sich Vita an Mademoiselle Hermine Hall und an ein Kindermädchen namens Jane Gay (das ihre Mutter in »Giovanna« umtaufte), das sich nach den »Schulstunden« um sie kümmerte. Es war unter der Ägide von Miss Bennett, als Vita, damals acht, für ihre Mutter einen malvenfarbenen und gelben Überzug für einen Schemel stickte. Dieses unschöne, doch liebevolle Stück war die Anregung zu einer aufschlußreichen, unveröffentlichten Skizze, die Vita später schrieb, genannt »The Birthday«. Darin weist eine reiche Frau von Geschmack auf feinsinnige Art einen häßlichen Sesselschoner zurück, den ihre kleine Tochter voller Stolz für sie gemacht hat  und verletzt das Kind tief das »häßlich« glattes Haar hat - wobei es ihr zugleich gelingt, den Eindruck zu erwecken, sie werde von der ganzen Familie herzzerreißend mißverstanden und ausgenutzt.
Eine große Quelle für die Spannung zwischen Mutter und Tochter war Knole selbst. Es war Vitas geheime Welt, doch es war Victorias Steckenpferd. »Mutter schlug soviel Kapital aus dem Schloß. wie sie nur konnte; wenn man sie darüber reden hörte, hätte man glauben mögen, sie habe es erbaut; aber sie besaß kein wirkliches Gefühl für Würde — wie Dada, der das Haus über alles liebte und verehrte, aber lieber gestorben wäre« als es offen heraus zu sagen.« Victoria liebte es, Besucher herumzuführen und ihnen alles mit ihrem raschen, hellen französischen Akzent zu erklären; und sie heimste stets für alles Lob und Anerkennung ein, weil sie nun einmal ein Mensch war, der jedem eine Menge Schmeicheleien sagte.«[11] Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Victoria machte ihre Tochter ebenso zum Sklaven, wie sie andere Menschen dazu machte. »Wie meine Mutter mich verblüffte, und wie ich sie liebte! Abwechselnd verwundete und verwirrte, faszinierte und verzauberte sie mich.« Als Victoria ihr etwas verzieh, dessen sie sich nicht schuldig gemacht hatte, »hatte ich das Gefühl, sie habe mir eine unschätzbare Gnade zuteil werden lassen... Ich liebte sie deswegen nur um so mehr; meine Liebe zu ihr stieg immer höher und höher.«[12] Den Charakter ihrer Mutter um die Jahrhundertwende beschrieb Vita: »Meine Mutter war zu dieser Zeit bewunderungswürdig. Sie war ermüdend, gewiß, und launenhaft und kapriziös und von Grund auf verdorben; aber ihr Charme und ihre ursprüngliche Heiterkeit setzten sie instand, gut damit zu leben.« Doch Victoria war auch materialistisch und habsüchtig und moralisch nicht glaubwürdig. Lionel versuchte gewöhnlich, seine Tochter mit kleinen eigenen Grundsätzen zur Ordnung zu rufen. »Ich glaube, daß mein Vater, diskret und loyal, wie er war, ein weit klügerer Beobachter war, als ich ihm zugetraut habe.«[13] Einige seiner kleinen Grundsätze waren literarischer Art. Als Frau im mittleren Alter war Vita nie imstande, sie ohne ein Gefühl der Schuld zu mißachten. Schreib einen Brief immer so lang, daß du noch eine Seite hinzufügen könntest, war einer seiner Ratschläge, oder: fange nie einen Brief mit dem Wort »Ich« an, weil dadurch sofort der Eindruck von Egoismus vermittelt wird, und verwende nie mehr als zehn einsilbige Worte hintereinander. Doch die Mutter war der dominante Elternteil. Sie war auch der dominante Ehepartner. Ihr Gatte, von Natur aus friedliebend, litt unter ihrem vielgerühmten romanischen Temperament, desgleichen Vita und der alte Lord Sackville. »Sie trampelte auf den zuckenden Nerven der drei herum... die alle vor den fremdländischen Szenen zurückschreckten, die sie aufführte.« Sie zeigte wenig Interesse für Lionels Aktivitäten im Dienst der Öffentlichkeit, die er im örtlichen Erziehungsbeirat, der Grundschule oder bei der Miliz von West Kent entfaltete, die er befehligte. Und doch schrieb Vita, »wenn je die Redewendung >das Herz zu Tränen rühren< etwas bedeutete, dann in dem Augenblick, in dem meine Mutter dich anblickte und lächelte... Kein Wunder, daß ich liebte und staunte. Kein Wunder, daß mein Vater liebte und verletzt wurde.[14]« Er wurde so sehr verletzt, daß keine Heilung mehr möglich war, und dann begann er seinerseits seine Frau zu verletzen.

Kapitel 2

Als Vita sieben oder acht war, hatte es mit dem gegenseitigen sexuellen Vergnügen ihrer Eltern ein Ende. Victorias abwiegelnde Tagebucheintragungen im März 1900 beweisen, woher der Wind wehte. »Natürlich lasse ich Tio tun, was ihm gerade gefällt. und er hat soviel Spaß daran.« Sie fing an, mit der Zeit zu gehen: in den Ehen der britischen Oberschicht nahm man es mit der sexuellen Treue nicht so genau. Lionels neue Freundin war die junge Lady Camden. So lange sie konnte, nannte Victoria die Affäre einen »harmlosen Flirt« und versuchte ihrerseits Interesse an Juan Camdens unglücklicher Ehe zu nehmen. »Die arme, kleine Joan Camden tut mir so leid. Wie anders verhält sich doch mein lieber Gatte mir gegenüber.« Es liegt ein Hauch absichtsvoller Stilisierung über ihrem Tagebuch, so daß der Verdacht naheliegt, sie habe gedacht — oder gehofft — daß Lionel es las. Als Vita eine ältere Frau war, stürzte ein Gentleman ihres Alters während einer Gesellschaft auf sie zu. Es war Joan Camdens ältester Sohn. »Ich erinnerte mich an ihn, obgleich ich ihn seit seiner Schulzeit nicht gesehen hatte, und ich fragte mich, ob er wohl wußte, daß mein Dada seine Mutter geliebt hatte.«[1] Victoria schirmte ihre Tochter nie gegen die Schwierigkeiten ihres Ehelebens ab. Doch in der Öffentlichkeit bewahrte sie jene Selbstbeherrschung, die sie bei ihren verheirateten Freundinnen, die sich in ähnlichen Lagen befanden, beobachtete. Auch hielt sie sich über die Jahre hinweg das würdevolle Verhalten von Königin Alexandra vor Augen, das diese gegenüber Mrs. Keppel bezeigte. Sie gab Lady Camden und Lionel sogar den Rat, diskret zu sein, den Lionel nicht befolgte. Es war Victoria, die der ehelichen Sexualität ein Ende machte. Lionel hatte ein zweites Kind gewünscht; da sie keines wollte, traf man die unzureichenden Vorsichtsmaßnahmen der damaligen Zeit. Eine Rechtfertigung für ihre sexuelle Enthaltsamkeit erfuhr sie Ende 1904 von ärztlicher Seite. Dr. Ferrier befand, »mein Kreislauf sei außergewöhnlich schleppend und mein Nervensystem in Unordnung«. Er verschrieb Eisen und Baldrian und »sagte Dinge, die meinem lieben Gatten nicht gefallen werden, doch mein Nervensystem bedürfe unbedingter Schonung«. Zu dieser Zeit war sie zweiundvierzig Jahre alt. Lionel wandte sich bereits einer neuen Frau zu — Lady Constance Hatch. Vita, mittlerweile im Teenageralter, mochte Lady Connie überhaupt nicht: »Eine dürre und sehnige Frau, die wie eine französische Varieté-Engländerin aussah und in die Dada völlig unerklärlicherweise seit Jahren verliebt war«.[2] Bei seiner Abkehr von Victoria verfiel  Lionel  auf sanfte Frauen. Victoria  billigte die schmächtige Connie in höchstem Maße, und diese schrieb ihr dankbare Briefe. Vita, die man später als eine Vorkämpferin der »offenen Ehe« betrachtete, verhielt sich in der Tat wie eine Frau aus der Zeit Edwards und zugleich wie eine Frau aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. In der Ehe ihrer eigenen Eltern fand sie ein hochentwickeltes Modell vor, wenn auch eines, das am Ende zerbrach. Es war Victorias einziger Kummer, daß Lionel sich ihr gegenüber immer kälter und distanzierter verhielt. Von einfachem Gemüt und hochgradig vom Geschlechtstrieb bestimmt, war er ein Mann, dessen Neigungen unmittelbar seinen Begierden folgten. Um wenigstens den äußeren Schein zu wahren, beschwatzte ihn Victoria unausgesetzt, sie zu Bällen und Diners zu begleiten, damit man sie zusammen in der Gesellschaft sah.
Aber auch Victoria hatte sich zu trösten gewußt. Etwa um die Zeit, als Lionel erstmals fremdzugehen anfing, lernte sie Sir John Murray Scott kennen, einen sagenhaft reichen Junggesellen, der etwa fünfzehn Jahre älter war als sie. Er hatte einen Pachtvertrag für Hertford House in London geerbt  von Sir Richard und Lady Wallace — mit seiner wertvollen Sammlung von Bildern und Möbeln, die jetzt als Wallace Collection bekannt sind. Scott war Sekretär der Wallaces gewesen, und sie hatten ihm außerdem eine große Summe Geldes hinterlassen; Landbesitz in Irland und Suffolk; in Paris ein Appartement im ersten Stock, an der Ecke Boulevard des Italiens und Rue Laffitte (es grenzte mit zwanzig Fenstern an beide Straßen und war vollgestopft mit Kunstschätzen); und »Bagatelle«, einen Pavillon mit sechzig Acres Grund im Bois de Boulogne, der einst Marie Antoinette gehört hatte. Sir John war von Victoria Sackville-West hingerissen. Es heißt, daß er am Tage nach ihrer Besichtigung von Hertford House seinem Testament einen Zusatz hinzufügte, mit dem er ihr 50 000 Pfund hinterließ. Das war erst der Anfang. Lionel billigte die Freundschaft; sie machte es ihm ein wenig leichter, seine eigenen zu pflegen. Wenn jemand das Sackvillsche Vermögen wiederherstellen konnte, war es Sir John Murray Scott. Victoria nahm, bei verheirateten Frauen ihrer Gesellschaftsschicht keineswegs unüblich, den Schutz — und große Geldsummen — gesellschaftlich akzeptabler KNOLE Bewunderer entgegen. Diesen Aspekt der Freundschaft erkannte auch Lionel, und er hatte keine Einwände. Als Sir John, zum Beispiel, Victorias Haus in 34 Hill Street, Mayfair, bezahlte, verhandelte er direkt mit ihrem Ehemann. Etwa um 1900 stellte Victoria mit Befriedigung fest, daß Sir John die achtjährige Vita »wie eine Tochter« behandelte; er hatte ihr gerade eine Cricket-Ausrüstung geschenkt. Diese wurde zu einem der liebsten Besitztümer des Kindes, und als Vita im folgenden Sommer ein kindliches Testament verfaßte, vermachte sie sie, zusammen mit ihrem Fußball, ihrem Pony, ihrem Wagen und einem Viertel ihres »Bankvermögens«, ihrem Dada. Mama sollte ein weiteres Viertel ihres Bankguthabens und »meinen Diamanten V« bekommen. Bentie — die gefühlvolle Miss Bennett — sollte die verbleihende Hälfte des Geldes, »meine Perle V« und »meine Schiffe« erhalten. Ralph Battiscombe, ihrem jugendlichen Mitverbrecher, hinterließ sie passenderweise »Mein Armar. Meine Schwerter und Pistolen, mein Fort, meine Soldaten, meine Werkzeuge. Meinen Bogen, meine Pfeile, mein Taschengeld, meine Zielscheibe«. (Die Sammlung von Puppen war mittlerweile in Vergessenheit geraten.) Sir Johns französische Diener sprachen seinen Namen »Seer John« aus; Vita reduzierte das auf Seery. und Seery wurde er auch für Victoria und ihren Kreis. Ihm vermachte Vita »meine Miniatur, meinen Rotweinkrug, meine Peitsche« und ihre Soldatenuniform aus Khaki, die ihm indes wohl kaum gepaßt hätte. Seine Beziehung zu ihrer Mutter war mehrdeutig. Nachdem Seery und Victoria tot waren, versuchte Vita ihre Natur zu ergründen: »Ich will damit nicht sagen. Sir John sei in meine Mutter >verliebt< gewesen. Ich glaube nicht, daß er das jemals war, und während der vielen Jahre, in welchen ich dauernd in der Gesellschaft der beiden weilte, hatte ich reichlich Gelegenheit, sie zu beobachten. Jedenfalls wurde meine Mutter mit Bestimmtheit der Mittelpunkt und die Achse seines Lebens.«[3] Er war ein riesiger Mann, ein Meter zweiundneunzig groß und wog hundertneunundfünfzig Kilo. Die Vorstellung, ein solches Wesen könne im gewöhnlichen Sinn verliebt sein, erschien Vita »allzu grotesk«. Victoria stellte ihrem Kind gegenüber freimütig Spekulationen über die wahre Natur der Gefühle an, die er für sie hegte. Einen wichtigen Aspekt der Beziehung begriff Vita auf jeden Fall: voll Bewunderung für das schöne Briefpapier der Mutter, schrieb sie: »Mir gefällt dein neues Papier sehr gut: hat's der gute Seery dir geschenkt? Ich glaube, er hat jetzt gerade eine großzügige Ader, da ihr, wie du sagst, keinen Krach habt.« Es gab viele »Krache«, meistens von Victoria eingefädelt, trotzdem kam Seery immer wieder zurück. Die Szene, die Vita in ihrem autobiographischen Manuskript von 1920 beschrieb, umreißt die Beziehung:

  • »Wenn ich an Seery denke, sehe ich ihn vor einem riesigen Schreibtisch sitzen, die Brille auf die Stirn geschoben, wie er mit einem Schlüsselbund rasselt und nacheinander sämtliche Schlüssel in sämtlichen Schlüssellöchern probiert... Wenn er schließlich eine Schublade geöffnet hatte, pflegte Mutter zu kommen und sich auf seine Briefmarken zu stürzen, und er rief: >Geh weg, du spanische Bettlerin<, oder: >Du kleine spanische Bettlerin<, aber natürlich betete er sie an und gab ihr alles, was sie haben wollte. (Zuzeiten verlangte sie ziemlich viel.)... Mutter wurde unbestreitbar das Licht und die Luft seines Lebens.«[4]

Indem Vita ihre Eltern, deren Verhältnis zueinander, zu anderen Leuten und zu sich selbst beobachtete, erfuhr sie zwar sehr viel, behielt aber ihre kindliche Unschuld. Das Problem ihrer Kindheit bestand darin, daß sie ein ungestümes, glühend romantisches Temperament hatte und daß alles, was sie sah und erlebte, sie zynisch machte; der Konflikt hatte zur Folge, daß sie sich immer mehr in sich selbst zurückzog. Als sie neun war, besuchte Vita zum ersten Mal Bagatelle, den Spielplatz von Marie Antoinette. Er gehört jetzt der Stadt Paris: doch als Seery und seine Gäste von Paris hinausfuhren — in den heißen Sommern um die Jahrhundertwende jeden Nachmittag — hatten sie die großen Gärten für sich. »In dem schattigen Garten brauchte ich nur ein Hängekleidchen und konnte barfuß über das kühle Gras laufen.« Wie eine Prinzessin spielte sie zwischen den Grotten, Seen, Brücken, Inseln, Höhlen, Statuen und verzierten Urnen. (Die letzteren sollten viele Jahre später in ihrem eigenen Garten in Sissinghurst landen.) Seerys geräumiges Appartement an der Ecke der Rue Laffitte war einschüchternder. Selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es ein Anachronismus. Es gab weder Telephon noch Elektrizität, aber lange Fluchten ineinander übergehender Räume mit goldenen Fußböden und Schnitzereien aus Ebenholz, die mit kostbaren Gegenständen angefüllt waren.

  • »Klein und sauber, mit unter Schmerzen gekräuseltem Haar, stand ich gewöhnlich sehr gelangweilt dabei, während Besucher das Mobiliar bewunderten... Louis quatorze, Louis quinze, Louis seize, Directoire, Empire  all dies waren Namen, halb bedeutungslos, die ich aufnahm, bis sie mir so vertraut waren wie Brot, Milch, Wasser, Butter. Das Empire kam auf der Liste zuletzt; denn dort schien das Leben des Hauses stehengeblieben zu sein.«[5]

Lionel und Großpapa kamen gewöhnlich ebenfalls zu jährlichen Besuchen mit Seery nach Paris, immer gefolgt von Connie. Sie und Lionel pflegten jeden Tag zusammen auszugeben, während Vita in zunehmendem Maße die vertraute Gefährtin ihrer Mutter wurde. Ohne ihre Tochter hätte Victoria in der Rue Laffitte öde Abende »zwischen dem schnarchenden Seery und dem hustenden Papa [dem alten Lionel]« verbracht. Wenn die beiden merkwürdigen Pärchen  Lionel und Lady Connie. Victoria und Sir John — ausgingen, hatte Vita das Appartement mehr oder weniger für sich. Sie flitzte in Seerys Rollstuhl durch die lange Flucht goldener Räume und stieß gegen kostbare Möbel. Oder sie zündete in allen Räumen die Kerzen an und stolzierte darin herum. »Manchmal ging ich in den großen Saal und weinte bittere Tränen über einen ausgestopften Spaniel in einem Glaskasten, von dem ich mir einbildete, er sehe meinem Hund ähnlich, der gestorben war... Ich muß wohl sehr sentimental gewesen sein, aber da ich es nie jemanden wissen ließ, machte es nichts.«[6] (Als ihr eigener geliebter Spaniel tot war, setzte Vitas Gefaßtheit ihre Mutter in Erstaunen. »Es ist ein Jammer, daß sie über soviel Selbstbeherrschung verfügt; das macht mir für die Zukunft angst. Nie spricht sie von ihren Gefühlen, und nie beantwortet sie Fragen, die sich auf sie selbst beziehen.«) Als Vita elf war. bemerkte Victoria, »daß sie anfing, eine Menge über Möbel etc. zu wissen. Sie ist intelligent.« Victoria brachte ihrer Tochter bei, was sie selbst am meisten interessierte — es war ihr wichtig, daß Vita den Unterschied zwischen Directoire und Empire lernte — und entwickelte ihren Geschmack. Sie nahm Vita mit zu Faberge und war erfreut, als das Kind »ihnen sagte, ihr Laden gefiele ihm besser als eine Confiserie! Sie ist wunderbar künstlerisch für ihr Alter.« Doch in London wurde sie enttäuscht, als sie Vita zum Zeichenunterricht zu Mr. Morland schickte; Vita konnte nicht zeichnen. Eine andere von Seerys Wohltaten war Sluie, die Jagdhütte im schottischen Hochland, nahe Bachnory, die er jedes Jahr bezog. Hier leisteten Vita, ihre Mutter, ihr Großvater — und gelegentlich ihr Vater — Sir John bei einem zweiten Ferienaufenthalt Gesellschaft. Vita rannte mit den Hunden und den Kindern des Orts um die Wette und angelte — allein oder mit ihrem Vater: »Den Zauber dieser Abende werde ich nie vergessen... Er war ein angenehmer Mann, mein Vater.«[7] In Sluie wurde Vita aufgeklärt. Im Sommer ihres elften Lebensjahres erzählte ihr Jackie, der Sohn des dortigen Bauern, »viele Dinge, die er mir nicht hätte erzählen dürfen.« (Ihre Mutter, die in bezug auf so viele unpassende Dinge so mitteilsam war, verschwieg Vita die körperlichen Grundlagen der Sexualität: aus Furcht vor unangenehmen Fragen verbot sie ihr sogar die Lektüre von Die Frau in Weiß und Der Graf von Monte Christo.) Vita sagte später über Jackies Enthüllungen, daß sie, »da ich immer auf dem Lande gelebt hatte, die meisten Dinge als ganz selbstverständlich ansah und sie mich weder erregten noch interessierten«. Doch Jackie beließ es nicht nur bei Worten, er ließ auch Taten folgen. Eines Tages sagte er: »Miss Vita, Vita, Vita, Vita, ich liebe Sie«, und legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. »Doch aufgrund seines angeborenen Respekts, seines Klassenbewußtseins, notzüchtigte er mich nicht«, schrieb Vita lange danach. Statt dessen masturbierte er. Und er ließ sie den Penis seines Hundes in die Hand nehmen und ihn solange bearbeiten, »bis der Hund den Höhepunkt erreichte und mit seinem Samen meine Schuhe bespritzte, und diese Erscheinung erschreckte mich... Ich glaube, es war nichts Unrechtes an dem, was Jackie oder ich taten.« Es war eine kuriose Einführung in die Sexualität des Mannes. Jackies knabenhafte Schwärmerei war mit dieser Episode nicht zu Ende. Zwei Sommer später schrieb sie aus Sluie an ihre Mutter: »Jackie hat mir ewige Liebe und Treue geschworen und mir anvertraut, daß er sich nach meiner Abreise in einen Winkel verkrochen und geweint hat.« Sie war über ihre Macht anfangs amüsiert, dann erfreut. Mit dreizehn Jahren war sie bereits größer als ihre Mutter, die ein Meter neunundsechzig maß. Im selben Sommer notierte Victoria: »Sie fängt an, Kleider und Hüte gern zu haben, und ich bin froh, daß sie ein bißchen koketter und ordentlicher wird.« In London begann Vita eine kleine Tagesschule zu besuchen, die von Miss Woolff in South Street, einer Seitenstraße der Park Lane, betrieben wurde. Rosamund Grosvenor und die Keppel-Mädchen, Violet und Sonia, waren unter den anderen Schülerinnen. Vitas Gouvernante, Mademoiselle Hermine, blieb weiterhin im Dienst, um Vita bei den Hausaufgaben zu helfen und als Anstandsdame zu fungieren. Rosamund Grosvenor ist Vitas erste wirkliche Freundin gewesen. ein wenig älter und, was Sauberkeit und Ordentlichkeit anging, das Gegenstück zu Vita: sie wurde eingeladen zu bleiben, um Vita aufzuheitern, als Dada in den Burenkrieg zog. Später nahm Rosamund am morgendlichen Unterricht bei einer früheren Gouvernante Vitas teil. »Vita mag die Stunden bei Miss Moss sehr gern, besonders Rechnen und Abfragen.« Als Vita zwölf Jahre alt war, gewann sie eine aufregendere Freundin. Violet Keppel war zwei Jahre jünger als Vita und die ältere Tochter von Mrs. George Keppel, der Victoria einst den Zutritt zu Knole versagt hatte. Mätresse des früheren Prinzen von Wales, König Edward VII. Die Kinder begegneten einander auf einer Gesellschaft in London. Violet sah ein Mädchen, groß für sein Alter, bäurisch gekleidet, wie es schien, in die abgelegten Kleider seiner Mutter; sie fand sie »nett, aber ziemlich kindlich«.[8] Violet war ein außerordentlich frühreifes Kind. Vita wurde zum Tee in das Keppelsche Haus am Portman Square eingeladen. Sie saßen im Dunkeln in Mr. Keppels Arbeitszimmer und prahlten voreinander mit ihren Vorfahren. Vita, die jemandem begegnet war, der Geschichte ebenso romantisch fand wie sie selbst und der sich  außerdem über ihre Lieblingsbücher begeistern konnte (sie kannten beide Rostands Cyrano de Bergerac auswendig und liebten Walter Scott und Dumas), war diesmal weder verschwiegen noch stumm. »Ich habe eine Freundin«, sang sie an jenem Abend im Badezimmer. Sie hatten mehr gemeinsam als Bücher. Violets Leben wurde ebenso wie das Vitas von der Persönlichkeit ihrer bezaubernden Mutter beherrscht. Beide hatten sie märchenhafte Kindheiten in großen Häusern verbracht, beide hatten sie gutherzige Väter, und sie waren beide frankophil. Knole — und die Vorstellung, wie Vita dort lebte — kam Violet zauberhaft vor. Desgleichen faszinierten Vita die heimlichen Besuche des Königs im Haus am Portman Square. Sie ging sehr oft zum Tee hin: oft sah sie wohl einen kleinen Brougham draußen warten, »und der Butler drückte mich in eine dunkle Ecke der Halle mit den gemurmelten Worten: >Einen Augenblick, Miss, ein Gentleman kommt die Treppe herab<«. Falls Vita den Gentleman wirklich einmal getroffen hat, verschloß ihr die vorherrschende Diskretion den Mund. In ihrem Tagebuch aus dem Jahr 1908 finden sich lediglich die lakonischen Sätze: »Ging zum Tee zu Violet und blieb zum Dinner. Der König war da.« Die Keppels verbrachten viel Zeit im Ausland, und die Sackville Wests hielten sich öfter in Knole als in London auf, zumindest, bis Victoria 1907 ihr Haus in Hill Street erwarb. Violet unterhielt eine ausgedehnte bizarre Korrespondenz, halb in Englisch, halb in Französisch: »Ich bombardierte das arme Mädchen [Vita] mit Briefen, die immer anspruchsvoller wurden, während die ihren sich immer mehr dem Typus >Gestern-hat-mein-Lieblingskaninchen sechs-Junge-bekommen näherten.«[9] Mit zwölf, dreizehn Jahren war Vita an Tieren und Büchern mehr interessiert als an menschlichen Beziehungen. Seit ihrem vierten Lebensjahr hatte sie ein Pony geritten, und sie besaß eigene Hunde. Im Sommer, nachdem sie mit Violet Freundschaft geschlossen hatte, führte sie genau Buch über ihre Tiere: zu dieser Zeit besaß sie ein schwarzes Pony, einen irischen Terrier namens Pat, sechs Kaninchen, eine Schleiereule, drei japanische Zwerghühner, einen Aberdeen-Terrier namens Pickles und noch drei weitere Kaninchen. In diesem Buch notierte sie sich auch nützliche Dinge, zum Beispiel: »Wie man einen falschen blauen Fleck macht«: »Reibe einen kleinen Schnitt erst überall mit einem Bleistift, dann mit einer Orangen oder Walnußschale. Kaue etwas Gras und verreibe es gut. Das Ergebnis wird so aussehen wie ein schlimmer blauer Fleck.« Als ihre Mutter fort war, schrieb sie ihr: »Maintenant j'ai un énorme javeur à te demander. Neulich gingen Dada und ich in London zu Bumpus [Buchhandlung in Oxford Street], und dort sah ich ein wunderschönes Buch mit dem Titel Der Hund, alles über ihn, seine Krankheiten und wie man sie kuriert für 2,6... Das ist ziemlich convenable, und ich hätte es so gern.«
Das waren nicht im entferntesten die Dinge, an denen die kleine Violet Keppel interessiert war. »Violet war nie jung«, erinnerte sich ihre Schwester Sonia fast siebzig Jahre später. Und obgleich Vita als Fünfzehnjährige im Frühling 1907 mit ihrer Gouvernante nach Florenz fuhr, dort mit Violet die Sehenswürdigkeiten besichtigte und in ihrer Begleitung in Liebe zu Italien und allem Italienischen entbrannte, war es dennoch Rosamund Grosvenor (die sie Rodie oder Röse nannte), auf die es ihr zu Hause im alltäglichen Leben ankam. Nachdem Vita aus Italien zurück war, fuhr Rosamund in die Ferien, und Vita schrieb in der einfachen, aber wirkungsvollen Verschlüsselung, die sie für ihre privaten Gedanken benutzte, in ihr Tagebuch: »Als Rodie fort war, weinte ich, weil ich sie vermißte. Was für eine komische Sache ist es doch, jemanden so zu lieben, wie ich Rodie liebe.« Sie konnte keine witzigen, anspielungsreichen Briefe schreiben wie Violet, aber sie schrieb — fortwährend, seit ihrem zwölften Lebensjahr. Sie hatte immer irgend etwas in Arbeit, in sauberer Schrift mit wenigen Durchstreichungen, in Schulheften und Notizbüchern, in der kleinen, kantigen, klaren Handschrift, die sich ihr Leben lang kaum änderte. Sie schrieb Balladen und Stücke und historische Novellen: »hochgestochen, ganz uninteressant, pedantisch und alle mit unermüdlicher Schnelligkeit geschrieben: am Tage, nachdem das eine beendet war. begann ein neues... Ich hatte leuchtende Tage, o ja. es gab sie!, an denen ich glaubte, ich sei im Begriff, die Welt zu begeistern.«[10] Doch das war, als sie erwachsen geworden war, nur noch »hölzernes Zeug« für sie. Ihr Schreiben bestand aus Tagträumen, denen sie im phrasenhaften Stil von Scott und Dumas flüssigen Ausdruck gab. Die Tagträume waren die eines hochgebildeten, romantischen jungen Mädchens, angefacht durch die Umgebung; ein vollkommen verwirklichtes Phantasieleben.
Ihre Phantasien umkreisten Knole, ihre Vorfahren und sie selbst. In Knole stand die Geschichte nicht still, sie war an Personen gebunden und greifbar. Ihr geflecktes Schaukelpferd hatte dem vierten Duke of Dorset gehört, einem der kleinen Jungen auf dem Gemälde von Hoppner. der später Byrons Fuchs in Harrow war: mit gerade geschnittenem Haar sah ihm die dreijährige Vita zum Verwechseln ähnlich. (»Ravissante«, wie ihre Mutter sagte.) Dem Kind fiel auf, daß Thomas Sackville zu Elizabeth Regierungszeit Lord Buckhurst und erster Earl of Dorset, genauso aussah wie ihr Großvater; beide hatten die großen schwerlidrigen Sackville-Augen, die auch sie geerbt hatte. Manchmal erlaubte man ihr, mit dem »Anhänger aus Diamanten und Rubinen« zu spielen, den Gainsborough in das Spitzenjabot von John Frederick gemalt hatte, dem dritten Duke of Dorset. an dem sie die Eleganz des achtzehnten Jahrhunderts so bewunderte. Als sie älter wurde, erlaubte man ihr, im Archiv herumzustöbern, wo Urkunden aus jahrhundertealter Sackville-Geschichte aufbewahrt waren — Briefe, Testamente, Heiratsverträge, Rechnungen, Speisekarten von Festessen, Gutsabrechnungen, Tagebücher, Inventarlisten von Möbeln, Glas, Geschirr und Rüstungen. Ihre frühesten lyrischen Versuche waren Balladen über lange vermoderte Mitglieder ihrer Familie: Herbrand de Salkaville, der mit William dem Eroberer herüberkam; Sir Roger West, der Gefolgsmann des Schwarzen Prinzen; Thomas Sackville, der Maria Stuart von Königin Elizabeth die Nachricht ihrer bevorstehenden Hinrichtung überbrachte. Thomas tat das so taktvoll, daß Maria ihm ihre geschnitzte Kreuzigungsgruppe schenkte — die noch immer auf dem Altar in der Kapelle zu Knole stand. Als Kind pflegte Vita dort Zuflucht zu suchen, wenn sie unartig gewesen war. »Sie fanden mich nie in meinem Schmollwinkel unter der Kanzel.« Ihr liebster Vorfahr war Edward Sackville, vierter Earl of Dorset, »eine leibhaftige Gestalt aus einem Ritterroman«. Sein Portrait von van Dyck hing in der Halle. Auf dem Dachboden standen die mit Nägeln beschlagenen Truhen, welche die Puritaner erbrochen hatten. Sie konnte sie anfassen und öffnen, sich das Schauspiel ausmalen und dann zum Essen in jenen Raum hinuntergehen, in dem Cromwells Soldaten ihre Versammlung abgehalten hatten, denn 1642 hatten Cromwells Truppen das Haus geplündert und für kurze Zeit besetzt gehalten. »Die Vergangenheit vermischte sich mit der Gegenwart in ständiger Erinnerung; und draußen im Sommerhaus, nach dem Essen, wenn die Bienen zwischen den Blumen des Rasengartens summten... kehrte ich zu der riesigen Kladde zu rück, in die ich meinen Roman schrieb.«[11] Dies war »The Tale of a Cavalier«. Kein Wunder, daß Selbstbewußtsein ins Spiel kam, als sie, schelmisch darauf hinweisend, sie sei »erst 14 Jahre alt«, die Vorbemerkung des Verfassers entwarf: »Dieses Buch hat mir viel Vergnügen bereitet. Ich schrieb es in dem alten Haus, in dem Buckhurst und Edward und Mary miteinander spielten ... wo seine Kin der in den langen Fluren umhertollten und riefen, wie ich selbst dort gespielt habe.« Und sie fragte sich, ob der Earl aus dem 17. Jahrhundert sie wohl sehen könne und wisse, »wie ich es liebe, mir seine Heldentaten und sein Leben ins Gedächtnis zu rufen, und mir wünsche, wie er zu sein«. Zwischen 1906 und 1908 verfaßte sie auch drei Stücke in französischer Sprache, eines davon war »Le Masque de Fer«, ein ausgewachsenes, fünfaktiges Drama in Alexandrinern. Ein Roman in Französisch, »Richelieu«, ebenso sauber und gut konstruiert wie alle anderen, füllt genau die 370 Seiten eines Manuskriptbuches in Folio. Sie ging sehr methodisch vor — eine ihrer Gouvernanten muß ihr das gründlich beigebracht haben — und entwarf Reimschemata für ihre Gedichte und detaillierte Kapitelzusammenfassungen für ihre Romane. Im Juli 1907 war sie Mitgewinnerin bei einem Onlooker/-Wettbewerb für den besten Limerick und heimste als Preis ein Pfund ein. Sie schrieb in ihr Tagebuch: »Das ist das erste Geld, das ich durch Schreiben verdient habe: [verschlüsselt] Ich hoffe, da ich das Vermögen der Familie wiederherstellen muß, daß es nicht das letzte sein wird.« Dieser Triumph währte nicht lange. Vier Tage später notierte sie, wiederum verschlüsselt, traurig in ihrem Tagebuch: »Mutter schalt mich heute morgen, weil ich zu viel schreibe, wie sie sagt, und Dada sagte, er könne mein Schreiben nicht billigen. Ich habe Angst, daß mein Buch nicht veröffentlicht werden wird. Mutter weiß nicht, wie sehr ich mein Schreiben liebe.« (Das diesmal in Arbeit befindliche Buch war »The Kings Secret«, ein Ritterroman um Charles II. und den sechsten Earl of Dorset.) Vitas Eltern wußten nur zu gut, wie sehr sie ihr Schreiben liebte» und diese besessene private Aktivität beunruhigte sie. Sie wollten keine exzentrische Tochter. Gleichwohl erkannte ihre Mutter ihr Talent an. Vita las Victoria Teile von »The Kings' Secret« vor, die in ihrem Tagebuch notierte, es sei »sehr gut« gewesen.
Doch wenn es auch so aussah, daß Vita eine kluge Person würde, gesellschaftlich mußte sie ebenfalls glänzen. In diesem Sommer hielt sie sich mit ihren Eltern in einem anderen großen Haus auf: »Vita war ein großer Erfolg... es war ihre erste große Party; jeder war so nett zu ihr, besonders der alte Mr. Shuttleworth. Sie schreibt weiter an ihrem Buch über Charles II. Ich glaube, Lionel ist sehr stolz auf seine Tochter.« Victoria war unausgesetzt um Vitas Persönlichkeit bemüht, um ihre Entwicklung, um ihr Aussehen. Sieht man von Victoria selber ab, stand niemand ihrem Herzen näher als Vita — ihre »kleine Mar«*,(* Mar: Victorias Kosename für Vita bedeutet in der Familiensprache soviel wie winzig, verletzlich: mit der Zeit wurde der Name für jedes Kind und alles, was jung und klein war gebraucht. [Anm. d. Übers.] -wie sie das Kind nannte. Ihre Ichbezogenheit machte sie unfähig, sich eine Tochter vorzustellen, die nicht eine Erweiterung ihrer selbst war, und sie bekrittelte und tadelte Vita wegen ihrer Defizite in dieser Hinsicht — das heißt wegen ihrer Individualität.
Entsprechend war das Bild, das Vita von sich selbst und ihren Schutzmaßnahmen entwarf: »Ich sehe mich selbst... unansehnlich, mager, dunkelhaarig, ungesellig, reizlos — schrecklich reizlos! — rauhbeinig und geheimnistuerisch. Geheimnisse waren meine Leidenschaft: das war bestimmt der Grund, warum meine Spielgenossen mich nicht leiden konnten.«[12]

Vitas erstes Schulzeugnis, in Form eines Briefes von Miss Woolff an Victoria, war des Lobes voll, besonders — und das nicht überraschend — was englische Geschichte und Literatur betraf. »Für ihr Alter macht sie sich außerordentlich gut — wenn jemand so groß ist, neigt man immer dazu, zu vergessen, wie jung er ist.«
Doch beliebt war sie in Miss Woolffs Schule nicht. »Ich hatte mir vorgenommen, an dieser Schule zu triumphieren, und ich triumphierte... wenn ich schon nicht beliebt sein konnte, wollte ich klug sein.« Sie spürte, daß die anderen Mädchen sie für »eine Pedantin und Außenseiterin« hielten. Miss Woolff und ihr vorwiegend männlicher Lehrkörper erteilten in den akademischen Fächern einen ungewöhnlich guten Unterricht: außerdem verpaßten sie den jungen Damen den »letzten Schliff« und untermauerten die notwendigen Verhaltensweisen und Wertvorstellungen. Der Überzeugung, einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht anzugehören, folgte die vierzehnjährige Vita zwanghaft:

  • »Meine liebe Mama... Am Mittwoch war ich erste in Geographie, und ich gewann einen Preis: Shelleys. Adonais. O'Mann [ihr Großvater] knurrt die ganze Zeit, weil er nach Paris gehen soll; er sagt, es sei ein ungemütliches Haus, es würde zu kalt sein etc.... Il neige. Ist Winifred Gore ein bedint oder nicht? Gestern bekamen wir ein mar von vier Jahren... Es ist ein ziemlich hübsches mar. ein bißchen bedint, natürlich.«

Sie wußte bereits, welche ihrer Schulkameraden jüdischer Abkunft waren: »Die kleinen Gerard Leghs sind nicht bedint, oder?« Wie Vita später schrieb, waren diese Beschäftigungen in ihrer Jugend »Gemeingut wohlerzogenen Denkens«: »Stammbäume und Familienheiraten, Rangordnungen und Vertrautheit mit den wichtigsten Landsitzen bildeten nahezu einen Bestandteil des Sittenkodex.«[13] Vita und Violet Keppel nahmen gemeinsam Privatunterricht in Italienisch bei einer Signorina Castelli. Bevor Violet, wie gewöhnlich, im Frühjahr 1908 nach Florenz abreiste, »sagte sie mir, sie liebe mich, und ich, von der man zu erwarten schien, sich der Lage gewachsen zu zeigen, brachte ein zögerndes >Liebling< über die Lippen«.
Im Mai war auch Vita wieder in Florenz, das sie zusammen mit Violet und den beiden Gouvernanten besichtigte. Violets romantische Zuneigung war nicht verflogen. An Vitas letztem Nachmittag gingen sie zu einem Abschiedstee zu Doney's. »BING«, schrieb Vita in Großbuchstaben in ihr Tagebuch: Violet hatte ihr den Lavaring des Dogen geschenkt, den sie als Sechsjährige dem Kunsthändler Joseph Duveen abgeschmeichelt hatte. Vita bewahrte ihn ihr Leben lang auf. Aus Mailand schrieb sie an ihre Mutter: »Ich trauere Florenz noch immer nach: ich glaube nicht, daß ich je trauriger war. eine Stadt zu verlassen ... Violet Keppel schien sehr betrübt, sich von mir zu verabschieden; zumindest weinte sie sehr.« Nach ihrer Rückkehr ging Vita auf eine Gesellschaft im Kensington Palace; sie trug ein rosafarben kariertes Kleid, einen rosa und blauen Hut von Woodlands, einen Saphir und eine Perlenkette, die ihr Victoria bei Cartier gekauft hatte, und ihr langes Haar war mit einem großen schwarzen Bügel zurückgebunden. Die Königin erkundigte sich nach Victorias »kleinem Mädchen« und stellte überrascht fest, daß dieses inzwischen fast ein Meter zweiundachtzig groß war. Diese erwachsen gewordene Vita, die sich alle Mühe gab, dem konventionellen Bild einer jeune fille zu entsprechen, verbrachte in diesem Sommer viel Zeit mit ihrer Mutter, weil Lionel von Connie Hatch in Anspruch genommen war. Es war um diese Zeit, daß Vita von der Liste der zwanzig Heiratsanträge ihrer Mutter fasziniert war: und auf einer Hochzeit in der Gesellschaft, an der sie teilnahmen, drückte sie die schüchterne Hoffnung aus, sie werde vielleicht auch »eine so hübsche Hochzeit haben wie diese«.
Ihre Mutter war ob dieser Entwicklung überrascht und erfreut: Victoria wußte freilich nicht, daß ihre sechzehnjährige Tochter bereits, wenn auch auf unangenehme Art, den Mittelpunkt männlicher Aufmerksamkeit gebildet hatte. Der Hon. Kenneth Hallyburton Campbell war ein Mann aus Victorias Generation, der die Sackvilles seit mehr als zwanzig Jahren kannte. Er war Börsenmakler, ein alter Freund Seerys — Victoria nannte ihn »Kenito« — und er war überdies Vitas Patenonkel. Für Vita gehörte er fast zur Familie, und wenn er in Knole war, pflegte sie auf kindliche, natürliche Weise in seinem Schlafzimmer ein und auszugehen. Und es war in seinem Schlafzimmer in Knole, wo ihre Beziehung sich dramatisch veränderte. Jahre später schrieb Vita an Harold:

  • »Wie scheußlich er sich gegen mich benahm, tout de même — versuchte mich zu vergewaltigen, als ich sechzehn war, und danach noch mehrere Male, als ich glücklicherweise besser imstande war, die Situation zu meistern. Ich denke immer, daß ich mit sechzehn um Haaresbreite davonkam — ein Hausmädchen kam den Flur entlang, eine Kanne heißen Wassers tragend. Was hätte Dada gesagt. wenn ich's ihm erzählt hätte?«[14]

Bei einer anderen Gelegenheit war sie so unklug genug, sich einverstanden zu erklären, allein mit ihm zu dinieren. »Ursprünglich hatten wir ein Lokal aufsuchen wollen (was ich für sicher hielt), doch im letzten Augenblick sagte er, er könne keinen Tisch bekommen oder etwas Ähnliches, und nahm mich mit zu sich nach Hause. Pfui. Wieder kam ich davon, diesmal sogar noch knapper, und nur meine große Geistesgegenwart rettete mich.«[15]
Als sie später einer Freundin diese Geschichte erzählte, unterstrich sie den Eindruck, den das auf sie gemacht hatte: »Vielleicht erklärt dieses Erlebnis so vieles.« Victoria, die von alledem nichts wußte, hatte Freude daran, ihrer Tochter von ihrer romantischen Vergangenheit und von dem Verlauf, den ihr Leben genommen hatte, zu erzählen. Vita glaubte ihr alles unbesehen. »Heute morgen erzählte mir Mutter ein paar Dinge aus ihrem Leben«, schrieb sie verschlüsselt. »Ich denke, sie ist eine sehr bemerkenswerte Frau... ich bin sicher, daß sie sehr berühmt geworden wäre, hätten Großpapa und Dada sie nicht so behindert.« Vita wiederum schenkte ihrer Mutter auf die ihr eigene indirekte Weise Vertrauen. Sie gab Victoria das abgeschlossene Manuskript ihres Romans »The King's Secret«. In Kapitel XV beschrieb Vita den jungen Cranfield Sackville als sensibel, verschlossen, mehr am Schreiben als an Menschen, mehr an Knoles Vergangenheit als an seiner Gegenwart interessiert. »Nichts ist von Bedeutung, das ist mein Motto.« Sie erzählte ihrer Mutter, in Cranfield habe sie sich selbst porträtiert. Das veranlaßte ihre Mutter in ihrem Tagebuch zu einer Betrachtung über Persönlichkeit und Charakter ihrer Tochter: »Ich wünschte, sie wäre offener, weniger reserviert. Auf diese Weise erweckt sie den Anschein, allzu unbeteiligt zu sein, und sie hat die Neigung zur Selbstsucht, wenn ihr das auch nicht bewußt ist: es ist ihr Leben als Einzelkind, das dafür verantwortlich ist. Sie ist so in ihr Schreiben vertieft, daß sie leicht alles um sich her vergißt.« Viele derjenigen, die Vita in der Zukunft lieben sollten, würden ihrer Mutter soweit zustimmen.

  • »Im großen und ganzen ist sie ein gutes Kind, doch mit einer Neigung, sich seiner selbst ein wenig zu sicher zu sein und ein wenig hart, nicht weichherzig genug, um mir zu gefallen. Sie hat sich ungemein verändert, seit sie ihre >Sachen< [Monatsblutungen] bekommen hat. Sie ist sehr klug, und ich glaube wirklich, daß sie mir zugetan ist, doch sie geht nicht genügend aus sich heraus.«

Victoria bezog, wie immer, alles auf sich selbst. Sie fuhr fort, den beiden Lionels wegen ihrer gleichermaßen unangemessenen Bekundungen der Zuneigung zu Vita Vorwürfe zu machen. Die frostige Reserviertheit der Sackvilles war unübersehbar: Vita hatte sie geerbt. Doch wie sehr ihre Mutter sie auch beeindruckte, die Bedeutung, die ihr Vater für sie hatte, wurde nie geschmälert. Großpapa — O'Mann — war problematischer. Seit ihrer Kindheit hatte Vita einen großen Teil ihres Lebens in seiner Gesellschaft verbracht; sie hatte allein mit ihm gespeist, wenn ihre Eltern fort waren, und kannte ihn »so gründlich, wie ein Kind dieses Alters einen sehr reservierten Mann von fast achtzig nur kennen konnte«. Seine Schweigsamkeit war fast total, mit gelegentlichen Ausbrüchen von Witz. Einmal, als Vita ins Zimmer kam und sich an den langen Haaren ihrer Mutter festhielt, sprang er auf und sagte: »Victoria, laß mich nie, nie wieder sehen, daß das Kind dies tut.« Die Szene hatte ihn schmerzlich daran erinnert, wie Victoria als Kind mit den langen Haaren ihrer Mutter gespielt hatte; es war der unmittelbarste Eindruck, den Vita je von seinen Gefühlen für Pepita bekam. Vita aß nicht im Erdgeschoß, und jeden Abend nach dem Dinner. seit sie ein kleines Mädchen war, hatte ihr Großvater eine Schale mit Obst gefüllt und sie in einer Schublade in einem Wohnzimmer deponiert, auf die er mit farbiger Kreide »Vitas Schublade geschrieben hatte. Er war gekränkt, wenn sie am nächsten Morgen vergaß, zur Schublade zu gehen, so wie er gekränkt war, wenn sie nach dem Tee nicht nach unten kam, um mit ihm Dame zu spielen. Zunehmend depressiv und ohne Interessen lebte er dahin. Im September 1908 schickte Victoria Vita nach Schottland zu Seery und seinen Schwestern und blieb mit ihrem Vater allein, als er starb. Vita erhielt die Nachricht durch eine von Seerys Schwestern, und der groteske Anblick, den Miss Scott im Morgenmantel bot, erschütterte sie mehr als die Trauer um ihren Großvater. Der arme Seery bot einen noch erbärmlicheren Anblick. »Ich fand ihn vor seinem Toilettentisch sitzen, nur mit seinem Jaeger-Unterzeug bekleidet. Er schluchzte haltlos, und die lockere, riesige Masse seines Körpers schwappte dabei wie Gallerte ... Er war von der Tatsache ganz überwältigt, daß >der gute, alte Mami< nicht mehr war.«[16]
Vita kehrte zur Beerdigung nicht nach Hause zurück. Victoria sorgte dafür, daß sie mit Violet Keppel auf Duntreath blieb, dem prunkvollen Schloß aus dem 15. Jahrhundert... das den Edmonstones. Mrs. Keppels Familie, gehörte. Es war ein aufregender Aufenthalt mit einer aufregenden Freundin an einem romantischen Ort. Sie erinnerte sich später daran, »wie Violet mein Zimmer mit Tubenrosen füllte, wie wir uns kostümierten [Vita war >La Bella Spagnuola], wie sie mich mit einem Dolch durch die langen Gänge dieses uralten schottischen Schlosses jagte und den Tag damit beschloß, daß sie die Nacht in meinem Zimmer verbrachte. Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich die Nacht mit jemand verbrachte.«[17] Es war eine Nacht des Mädchengeflüsters — sie taten kein Auge zu: »während draußen die Käuzchen schrien«. Eine Woche nach Lionels Tod kehrte Vita nach Knole zurück. Victoria schrieb in ihr Tagebuch:

  • »Gestern abend habe ich der Kleinen alles über Großpapas Tod erzählt, ohne die Tränen zurückhalten zu können, und ich zeigte ihr, was ich an jenem Tag in mein Buch eingetragen hatte... Ich bin den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, ihr bei Marshall & Suelgrove schwarze Kleider zu kaufen. Außerdem habe ich mein Boudoir an der Rückseite des Salons eingerichtet. Ich werde wenig dafür aufwenden.«

Vita notierte lediglich, daß ihre Tante Amalia zur Beerdigung erschienen und offenbar »im Trauerzug vor Dada gegangen« war, »was jedermann schrecklich schockierte«. Im Hinblick auf das, was kommen sollte, nicht unangemessen, begann sie mit der Niederschrift (in Französisch) eines Romans über die Französische Revolution, »The Dark Days of Thermidor«. Es amüsierte sie, mitanzusehen, wie ernst »Lord Dada« seine neue Rolle nahm, nach dem dem Tod des alten Lionel wurde er Lord Sackville. Seit den Tagen nach Vitas Geburt hatte über der Menage in Knole eine Drohung geschwebt. Als Neffe des alten Lionel erbte ihr Vater den Titel unter der Voraussetzung, daß der alte Lionel keinen legitimen männlichen Erben hatte. Victorias Bruder Henry hatte sich anfangs, ebenso wie Amalia, Flora und sein Bruder Max mit quengeligen Geldforderungen zufriedengegeben. Sehr bald begann er, seine »Rechte« als Erbe einzufordern. Im Gegensatz zu Victoria war er als Lionel Sackville-Wests Kind eingetragen. Er stellte die Behauptung auf, der alte Lionel sei heimlich mit Pepita verheiratet gewesen, und folglich sei er ihr legitimes Kind. In dieser Forderung wurde er von anderen interessierten Familienmitgliedern unterstützt. Amalia und Flora hatten jedes Jahr von ihrem Vater 365 Pfund bekommen, während Henry und Max als Farmer in Südafrika etabliert worden waren. Jetzt forderten sie mehr als Geld. Auf dem Weg über Henry strebten sie nach Knole und der Peerswürde. Zum Nachweis seiner Legitimität mußte Henry nicht nur belegen, daß seine Eltern verheiratet gewesen waren, sondern daß Pepita zum Zeitpunkt der Geburt ihrer drei Kinder nicht mit ihrem Tanzlehrer, der noch immer lebte, verheiratet gewesen war. Victoria und Lionel mußten ihn in beiden Punkten widerlegen.
Die Kosten für Anwälte und Nachforschungen in französischen und spanischen Archiven stiegen von Jahr zu Jahr. Bis Ende 1904 hatten Victoria und Lionel bereits 20 000 Pfund ausgegeben. Seery zeigte sich der Situation gewachsen und lieh ihnen für die nächste Runde Geld zu drei Prozent (er »lieh« den Sackvilles über 18 000 Pfund). Was die Familie in Knole mit Angst und Verunsicherung bezahlte, ist in Zahlen nicht auszudrücken.
Die Wochenendgesellschaften, die königlichen und diplomatischen Besuche, die Führungen durch die Schauräume — über allem hatte dieser Schatten gelegen. Einmal, als Vita sechs Jahre alt war, hatte man sie und ihr Kindermädchen fortgeschafft, als Henry sich gewaltsam Zutritt zum Haus verschaffte und hysterisch verlangte, seinen Vater zu sprechen. Doch wenn Victoria — von jetzt an Lady Sackville — bislang versucht hatte, Vita mit den Details der Auseinandersetzung zu verschonen, konnte sie es nun nicht mehr. Nach dem Tod ihres Großvaters begann Vita zum Abendessen hinunterzukommen, sogar wenn Besucher da waren, das Haar nun mit einer großen, schwarzen Spange hochgesteckt. Dada mißfiel das: »Die Leute stellen uns viele Fragen über den Prozeß; das ist so peinlich, wenn Vita dabei ist.« Der Fall kam erst nach zwei weiteren kostspieligen, unsicheren Jahren vor Gericht, in deren Verlauf die Sackvilles nie sicher waren, ob sie ihr Heim und ihre Lebensweise würden aufgeben müssen. Vita bekam alles mit.
Im November des Jahres, in dem ihr Großvater starb, sah sie mit Violet ein neues Stück mit dem Titel The Marriages of Mayfair, das offenkundig den Sackville-Fall zur Grundlage hatte.

  • »Es war amüsant, weil es eine so starke Ähnlichkeit mit meinem eigenen Fall hat: Peer, der eine Tänzerin heiratet, während ihr Ehemann noch lebt etc.«

Im Jahr 1909, als der Fall anhängig war, wurde Vita in die Gesellschaft eingeführt. In einem weißen Spitzenkleid mit gerüschten malvenfarbenen Borten ging sie im Januar auf einen Ball bei Lady Jane Combe. Die Familie konnte ihr auf Knole keinen Ball geben, weil dessen Erträge von Treuhändern verwaltet wurden. Im April fuhr Victoria mit Vita zur Erholung nach Dover. Lady Sackville schrieb: »Sie und ich führen auf der Pier lange Gespräche über ihre Ansichten vom Leben. Ich will nicht, daß sie sich angewöhnt, sich bei allem und jedem zu fragen: à quoi bon!« Aber die siebzehnjährige Vita nahm an der widersprüchlichen Geschichte ihrer Familie ein eifriges Interesse. Sie war von Pepitas Geschichte fasziniert und identifizierte sich mit der romanischen Seite ihrer Herkunft. In den Augen ihrer Schulfreundinnen machte der Skandal sie zu einer romantischen Figur; der Ton von Rosamunds Briefen änderte sich. Sie war in Vita verknallt. Viele der in diesem Jahr an die offenbar herrische »Carmen« oder »Prinzessin« gerichteten Briefchen waren masochistisch und sentimental. Vita spann nicht nur ihre eigenen romantischen Phantasien fort, sondern wurde zum Gegenstand der Phantasien der anderen Mädchen.
Im Klassenzimmer von Miss Woolff kursierten Zettel:

  • »Prinzessin, warum machst du mich so traurig? ... Es ist gut, daß du in einer kultivierten Zeit lebst, weil man nicht wissen kann, was du alles tun könntest, wenn irgend etwas dein spanisches Blut reizt — hast du welches? Ich hätte dich gern einmal einen Tag für mich allein, denn wenn ich auch von einer Menge anderer Mädchen umgeben bin, lebe ich nicht im siebten Himmel. Versprich mir, daß du dich morgen nicht neben mich setzt. Es ist nicht so, daß ich dich nicht gern in meiner Nähe hätte, aber ich kann mich dann nicht auf die Fragen konzentrieren, weil ich — anderweitig in Anspruch genommen bin.«

Im Frühjahr war Vita wieder in Florenz, wo Signorina Castelli, die Verbindungen hatte, sie in die dortige Gesellschaft einführte. Ein junger Mann, dem sie begegnete, Orazio, der Marchese Pucci, verliebte sich in das große, dunkle englische Mädchen. Er folgte Vita und Signorina Castelli nach Rom, wo sich Lady Sackvilles alter Verehrer, Baron Bildt, ihrer annahm. Als Vita im Juni nach England zurückkehrte, befand sich Orazio Pucci auf dem gleichen Fährschiff. Lady Sackville war amüsiert:

  • »Es kommt mir komisch vor. daß Vita bereits einen >Verehrer< hat. Sie hat mir alles erzählt, was er zu ihr gesagt hat, und er hat es in Italien sicherlich ernst gemeint. Armer, kleiner Mann!«

Unter diesen Umständen konnten sie kaum umhin, ihn nach Knole einzuladen, so abgeschottet es auch war. Bei seinem ersten Besuch zeigte ihm Vita das Hans und die Gärten. »Mutter schwört, daß er in mich verliebt ist, und ich bin geneigt, es zu glauben. Armer Pucci!« Bei seinem zweiten Besuch machte er Photos — Vita an ihrem Schreibtisch. Vita in ihrem Zimmer, Vita in ihrem Sommerhaus. Lady Sackville war in ihrem Element. Durch viele kleine Winke gebe ich ihm zu verstehen, daß er Vita nie wird heiraten können. Sie sagte, er stehe kurz davor, »ein paar Dinge zu sagen, die er nicht sagen sollte«, daß sie jedoch das Gefühl habe, ein vernünftiges Mädchen gewesen zu sein. Ich riet ihr nachdrücklich, nicht zu flirten und der Befriedigung eines Antrages zu entsagen.« Vita hatte nicht im geringsten den Wunsch, ihn zu heiraten, und Lady Sackville hatte das Gefühl, daß »sie weiß, daß er zu gebieterisch für sie ist und daß ihr Leben zu ruhig werden würde«. Bei seinem dritten Besuch hatte Pucci auf einem Spaziergang im Garten bis nach Kings Beech eine lange private Unterhaltung mit Lady Sackville. Sie teilte ihm mit, »seine Bemühungen um Vita seien sinnlos, da wir nicht wünschen, daß sie heiratet«. An jenem Abend kehrte er sehr niedergeschlagen nach Italien zurück. (Lady Sackville selbst hatte gerade eine neue amitie amoureuse mit William Waldorf Astor vom nahegelegenen Hever Castle angefangen, und Lord Sackville spielte noch immer regelmäßig mit Lady Connie Golf.) Rosamund. beunruhigt, daß ihre »Prinzessin« sich ihr entfremdete, schrieb an Vita und bat um Briefe. »Unser Verhältnis zueinander wird immer so bleiben, wie es jetzt ist, nicht wahr?« Ihre klagenden Briefe verfolgten Vita auf einer Reise, die sie im Herbst 1909 mit ihrer Mutter und Seery nach Rußland unternahm. »Der Prozeß« gehörte längst der Vergangenheit an. Sie wohnten bei Graf Joseph Potocki, einem polnischen Adligen, in seinem großen Chateau in der ukrainischen Steppe, einem Besitz von 100 Quadratmeilen zwischen Warschau und Kiew. Am Bahnhof von Schepetowka wurden sie von zwei riesigen kanariengelben Mercedes-Automobilen abgeholt: im Schloß gab es Kosakendiener, die nachts auf der Schwelle ihrer Schlafräume schliefen, es gab »Zwerge, die Zigaretten reichten, einen Riesen und Tokajer von 1740«. Lady Sackville hoffte, daß ihr vermögender Gastgeber Vita nicht zu sehr bewunderte. »Das liebe Mädchen erzählt mir alles, und es ist ein Glück, daß ich sie so erzogen habe — obgleich sie sehr ahnungslos ist, versteht sie es, richtig mit Männern umzugehen.« Vita erkannte aber auch die Beschaffenheit der Gesellschaftsordnung, in die sie Einblick erhielten, so gut, daß »es für mich überhaupt keine Überraschung bedeutete, als acht Jahre später die Russische Revolution ausbrach«.
Sie sah die erbärmlichen Behausungen, in denen die Bauern ihres Gastgebers lebten. »Ich sah, wie sie vor ihrem Herrn auf dem Boden krochen und wie sie von ihm sorglos mit einer Hundepeitsche gezüchtigt wurden.«[18] Wie jede Mutter, die sagt, ihre Tochter »erzähle ihr alles«, hatte Lady Sackville keine Ahnung, was sich in Vitas Gefühlsleben abspielte, insbesondere wußte sie nichts über ihre Egozentrik und Leidenschaftlichkeit. Eine der Freundinnen Vitas aus Sevenoaks, Irene Hogarth (von Vita nach der italienischen Form ihres Vornamens immer »Pace« genannt), hat auf Vitas Wunsch in jenem Herbst die Persönlichkeit ihrer Freundin wie folgt analysiert:

  • »Ich glaube, du bist sehr, sehr leidenschaftlich und treu und großmütig! Aber du kannst ebensosehr hassen wie lieben! Du bist, in sehr vielen Dingen gefühlsbetont, besonders wenn du selbst betroffen bist — du bist durch Unfreundlichkeit sehr leicht zu verletzen. Du bist sehr ehrgeizig und willst immer die erste sein ... Du fürchtest dich davor, ausgelacht zu werden... Du magst Komplimente. Du bist sehr eifersüchtig, doch du gibst dir Mühe und verbirgst deine Gefühle so gut wie möglich. Du hast ein starkes Verlangen nach Mitgefühl, und manchmal kannst du selbst sehr mit fühlend sein.«

Irene Hogarth schätzte Vita richtig ein. In einer Skizze, die sie selbst mit siebzehn Jahren in ihrem unveröffentlichten Roman »Marian Strangways« schrieb, setzte Vita hinzu, daß sie, obgleich sie Fremde durch ihre Reserviertheit einschüchterte, nicht selbstgefällig sei, »eher schüchtern und in Gesellschaft meiner selbst nicht sicher«. Die Mauern, die sie um sich errichtete, wurden immer höher. Sogar ihre privaten Gedichte handelten von Orten, geschichtlichen Gestalten oder von der Natur; sie schrieb — oder bewahrte — keine pubertären Gedichte über ihre Gefühle. Mit dem Humor tat sie sich schwer; sie konnte nur spontan lustig sein, wenn sie mit ihrem Vater zusammen war.
Sie schrieb weiterhin Romane in einem viersilbigen, mit Latinismen durchsetzten Englisch, die nie veröffentlicht werden sollten. Gewöhnlich spielten sie in Italien, befaßten sich mit allegorischen Wanderern und waren von Päpsten. Medicis, Malern und Dichtern bevölkert. Vor ihrem Zusammentreffen mit Pucci hat sie ein Versdrama über Leben und Tod von Chatterton verfaßt und es ihrer Mutter zum Lesen überlassen. Unterwegs nach Italien, schrieb sie aufgeregt nach Hause: »Ich habe heute morgen etwas vergessen, um das ich dich bitten wollte: Zeige mein Stück nicht Dada, bitte, bitte:, wenn du magst, kannst du es Seery zeigen. aber nicht Dada und noch weniger Lady Connie.« Vita hatte, wie »Pace« sagte. Furcht davor, »ausgelacht zu werden«. und sie wußte sehr wohl, daß man mit Sicherheit über einige Dinge, die sie tat, lachen würde, wenn diese bekannt würden. Sie schätzte »Chatterton« hoch ein und führte es auf dem Dachboden von Knole für sich selbst auf. »Jedesmal durch meine Darstellung zu Tränen gerührt«. Für diese Rolle hatte sie ein besonderes Kostüm entworfen: schwarze Hosen, die ihr Mädchen Emily heimlich genäht hatte, Schnallenschuhe und ein weißes Hemd. Chatterton war das erste ihrer Werke, das in Buchform erschien. Für 100 Exemplare, die bei Messrs Salmon in Sevenoaks gedruckt und gebunden wurden, bezahlte sie fünf Pfund, die sie sich im Laufe des Jahres von ihrem Taschengeld zusammengespart hatte. Ein Exemplar schenkte sie ihrer Mutter zum Geburtstag. Ihre einsame Nachahmung Chattertons bezeugt die Intensität ihrer Phantasie im Alter von siebzehn Jahren. In Erloschenes Feuer schrieb sie über die Mädchenjahre ihrer Heldin:

  • »Denn die Gedanken hinter diesem zarten und mädchenhaften Äußeren waren von einer unmäßigen Heftigkeit, die einem wilden jungen Mann Ehre gemacht hätte. Sie dachte an nichts weniger als an Flucht und Versteck, sie dachte daran, sich einen anderen Namen beizulegen, sich als Mann zu verkleiden und frei in einer fremden Stadt zu leben...«

Kapitel 3

Der Prozeß um die Erbfolge wurde am 1. Februar 1910 eröffnet. Zwei Tage später wohnte Vita der Gerichtsverhandlung etwa fünf Minuten lang bei, nachdem der Unterricht bei Miss Woolff vorbei war. Es war der Tag, an dem sich Henry, da seine Sache schlecht stand, dafür entschied, seinen Prozeß selbst zu führen. Lord Sackville war strikt dagegen gewesen, daß Vita am Prozeß teilnahm, doch Victoria schmuggelte sie in den Saal. »Schau dir deine Verwandtschaft an«, sagte sie verächtlich zu ihrer Tochter, »sie sehen aus wie Klempner in ihren Sonntagsanzügen.« Vita bemerkte lediglich, daß Henry sehr besorgt aussah. Die Zeitungen konnten von dem Prozeß nicht genug bekommen; die Sackvilles und ihre romantische Vergangenheit gaben einen wunderbaren Stoff ab. Vita war verwirrt, aber erregt; sie akzeptierte den neuen Lehrsatz ihrer Mutter, Pepita, die Tochter eines Zigeuners, sei von einem spanischen Herzog und nicht von einem obskuren Frisör gezeugt worden. »Ich glaube, meine Vorfahren mütterlicherseits sind so pittoresk, daß sie kaum zu überbieten sind.«
Henry verlor, und Lord und Lady Sackville und ihre Tochter kehrten im Triumph nach Sevenoaks zurück. Die Stadt hieß sie mit Geschenken und Ansprachen willkommen. Lionel empfand alles als eine »scheußliche Belästigung«, doch Vita betrachtete es, abgesehen von »einer schrecklichen Teegesellschaft« in der Turnhalle von Sevenoaks, als großen Spaß. Die feierliche Rückkehr nach Knole war sogar noch besser: sie wurden von einem Empfangskomitee der Dienerschaft erwartet, und die Tochter des ersten Kutschers überreichte Vita eine Schachtel Pralinen. »Nie zuvor oder später habe ich mich so königlich gefühlt.« Als Vita diese Szene später in Pepita beschrieb, ließ sie die drei ins Haus gehen und im Familienkreis dinieren, doch in ihrer Tagebucheintragung für diesen Tag schrieb sie, daß »wir mit dem Auto nach London zurück fuhren und mit den Hays aßen«.
Sie hatten ihr Besitztum zurück und damit eine Sicherheit, der sie sich viele Jahre nicht hatten erfreuen können. Vita bekam ein neues Zimmer in dem Turm, den ihr Großvater bewohnt hatte, und von dem sie auf die winzige Fasanerie blickte. Ihre Kammerzofe Emily schlief in dem Zimmer darüber, das man das Kinderzimmer des Kleinen Duke nannte. Lady Sackville ließ Vitas Zimmer ganz in Rosa tapezieren, doch ihre Tochter hatte eigene Vorstellungen. Bald war ihr Zimmer von ihrer Persönlichkeit erfüllt und von Italien, »dem kraftvollen, verschwenderischen, grausamen Italien der Renaissance«. Sie wünschte sich ihr Zimmer »ernst und schmucklos«, es sollte nicht »das Schlafzimmer eines jungen Mädchens« sein: kein Teppich und die Wände mit selbstgeschaffenen Fresken geschmückt. Während der Prozeß lief, hatte man Vita zum erstenmal malen lassen. Lady Sackville war besonders dadurch geschmeichelt, daß der Künstler, der berühmte Philip de Laszlo, von Vita so beeindruckt war. »daß er sie sofort umsonst malen wollte«. Lady Sackville wollte, daß Vita einen großen Hut und einen Pelz trug. De Laszlo meinte, das werde »ihre jugendliche Ausstrahlung ein wenig beeinträchtigen«; er schickte eine Skizze — offenes Haar, ein Strohhut im Nacken, Dekolleté und fließende Schleier. Lady Sackville trug den Sieg davon. »Mutter und er waren sich einig, als sie sein halbfertiges Bild nicht kritisierte«. schrieb Vita. Ihre Liebesbeziehung mit Oracio Pucci (oder besser: die seine mit ihr) war nicht vorüber, doch gegenüber ihrer Liebesbeziehung zu Italien kam sie erst an zweiter Stelle: »Dies ist es wert, ein ganzes Jahr darauf zu warten... Voller Entzücken und Freude über mein schönes, geliebtes Florenz bin ich ganz außer mir.« In diesem Jahr fuhr sie mit Rosamund Crosvenor und Fie, einer alten Gouvernante; sie wohnten in der Villa Pestellini in Fiesole. »Heute nachmittag gingen wir mit Pucci zu den Rennen in Cascine: er war sehr überrascht, als er meinen Brief bekam, in dem ich mein Kommen ankündigte.« Er schickte ihr Rosen und begleitete sie überallhin. Rosamund äußerte ihr Mißfallen. Fie untersagte ihm. sie nach Venedig zu begleiten, gestattete ihm jedoch, ihnen bis Bologna zu folgen. In der Nacht vor ihrer Abreise schrieb Vita in ihr Tagebuch: »Ich glaube, ich hätte seinetwegen nicht herkommen dürfen; er hat es ganz und gar falsch verstanden.« Sie war geschmeichelt; sie notierte jedes Treffen, jedes Kompliment.
Diese Erfahrung war zu interessant, als daß sie darauf hätte verzichten mögen. Sie übte sich im Flirt und in der Erprobung ihrer Macht. Sie wußte nicht, warum sie ihn nicht liebte. Vielleicht, so dachte sie, weil er kleiner war als sie. »Am Abend, wenn wir saßen, liebte ich ihn beinahe.« Und im Dunkel der Kutsche nach einer Aufführung der Aula, als er ihr seine Liebe auf italienisch gestand, liebte sie ihn beinahe wieder. Trotz Fies Verbot tauchte er in Venedig auf und blieb vier Tage. »Wir jagten ihn in ein anderes Hotel, als er vorschlug, in dem unsrigen zu wohnen.« Vita„ die die Führung der Damengesellschaft übernommen hatte, wurde eine sachkundige und gebieterische Reisende: »Die Pension, in der ich Zimmer zu bekommen hoffte, hatte keine, also schliefen wir im Hotel Britannia und gingen in die Pension Visentini, doch die war so schlecht«. daß sie in das viel größere Danieli übersiedelten. In Venedig langweilte sie sich, »doch Florenz bleibt eben doch Florenz und wird es, hoffe ich, immer sein«.
Wieder zu Hause, warf sie einen weiteren ihrer monumentalen Romane aufs Papier, das zur Veröffentlichung ungeeignete Werk »The City of the Lily«, angesiedelt im 15. Jahrhundert. Bevor sie nach Italien ging, hatte sie einen ausgewachsenen zeitgenössischen Roman abgeschlossen. »Behind the Mask«; Heldin ist ein modernes Mädchen mit einer weltlich gesinnten Mutter, das, wie die junge Verfasserin, in einen »mütterlichen Fischteich« geworfen wird, in dem sie sich wie ein Köder vorkommt. »Sie haßte das Ganze: es erschien ihr plump und vulgär.« Schließlich heiratet die Heldin einen faden, ergebenen Franzosen, den sie nicht liebt: der Mann, den sie liebt, aber nicht heiraten will, ist zuallererst ein Spielgefährte, klug und hübsch, dem sie eine ungezwungene Zuneigung entgegenbringt. Jedermann, so schreibt Vita in diesem prophetischen Roman, verbirgt seine wahren Gefühle hinter einer Maske. »Gibt es jemanden ohne die Maske? ... Nicht der Ehemann, nicht die Gattin, nicht der Sohn, dessen sämtliche Geheimnisse die Mutter zu kennen glaubt.« Die verheiratete Heldin gibt ihren Spielgefährten nicht auf und zwingt jeden der beiden Männer in ihrem Leben, ihre Gefühle für den anderen zu akzeptieren und so die Realität »hinter der Maske« anzuerkennen. »Sie beherrschte sie«, und Vitas moralische Grundsätze, wie sie sie hier formuliert, besagen. daß »ein reines Gewissen alles rechtfertigt«.
Im Kern und mutatis mutandis hat Vita hier, bevor sie achtzehn Jahre alt war. das Szenario ihres eigenen Lebens beschrieben. Im Leben war ihr Spielgefährte auch ihr ergebener Ehemann, und es war die Leidenschaft. welche die dritte Seite des Dreiecks bildete. »Behind the Mask« macht deutlich, daß Vita sich über das Heiraten nicht die geringsten Illusionen machte. Die Beschreibung der nichtssagenden, verbitterten Beziehung zwischen der Heldin und ihrem Gatten ist scharfsinnig und gut beobachtet. Sie hatte ihre Eltern als Anschauungsmaterial. In jenem Jahr — 1910 — hatte sie auch die sich verschlimmernden Streitigkeiten zwischen ihrer Mutter und Seery beobachtet. Im März war sie Zeugin einer besonders schrecklichen Szene geworden:

  • »Ich dachte, sie würden sich für immer zerstreiten, doch er wurde reumütig, und sie haben den Bruch halbwegs gekittet, obwohl es nicht mehr so sein kann wie zuvor. Es war alles sehr unerfreulich, und sie beschimpften sich gegenseitig, und ich haßte es... Seery tut mir schrecklich leid! Schließlich sind wir das einzige, was ihn am Leben interessiert hat, und er ist alt: heute nachmittag weinte er.«

Für Vita war das nicht erquicklich. Kein Wunder, daß ein Einzelkind, dem täglich diese mannigfaltigen, schwerverständlichen Modelle der »Liebe« unter Erwachsenen vorgesetzt wurden, sich einen fröhlichen, kameradschaftlichen Spielgefährten herbeiphantasierte, mit dem es sich seelisch völlig verwandt fühlte und der wenig Forderungen stellte. Bald danach begegnete sie ihm. am 19. Juni, als sie und ihre Eltern an einer Dinner Party teilnahmen, die anläßlich der Aufführung eines Stückes. »Das Gefleckte Band«, stattfand. Harold Nicolson kam zu spät. »Sehr jung, lebhaft und bezaubernd, und die erste Bemerkung, die ich von ihm hörte, war »Was für ein Spaß!<«[1] Verschlossen und ernst beobachtete sie ihn bei Tisch, und ihr gefiel, was sie sah. Vita — sechs Jahre jünger als Harold — war diejenige, die den ersten Schritt machte: vier Tage später lud sie ihn nach Knole zu einem Shakespeare-Maskenspiel ein, das im Park zur Unterstützung des Shakespeare Memorial Theatre Fund inszeniert wurde. An der Aufführung waren Berufsschauspieler und Laien beteiligt. Ellen Terry war darunter, aber auch Lady Eileen Vellesley (mit der Harold Nielson inoffiziell als verlobt galt). Veneria Stanley,  Elizabeth Asquith, Mrs. Winston Ghurrhill. Vita selbst und viele ihrer gerade in die Gesellschaft eingeführten Freunde. Vita übernahm die Rolle der Portia. und Ellen Terry lieh ihr ihr eigenes Kostüm. Die große Schauspielerin kam ihr wie eine romantische Gestalt vor, und sie schrieb über sie:

  • Für mich war sie der Inbegriff von Frau, die Muse
    Aller Verse, die Jung-Orlando an die Eiche hängte.[2]

Doch das war lange danach: und am Tag des Maskenspiels gab es Nieselregen. Das Mittagessen wurde für alle in der Großen Halle serviert (Mr. Asquith, der Premierminister, war anwesend), und viele Anwesende blieben über das Wochenende — darunter Harold und Rosamund Grosvenor. In den folgenden Wochen begegneten sich Harold und Vita zufällig auf Parties in London. Im Lauf des Sommers kam er mehrere Male fürs Wochenende nach Knole, und im November schrieb sie ihm den ersten längeren Brief und lud ihn zu einem Dinner mit anschließendem Tanz ein, zu dem sie »einen Mann mitbringen« sollte. Sie erkundigte sich auch nach dem Zustand seines kleinen Autos, das er »Green Archie« nannte. (Der andere Archie in Harolds Leben war Archie Clark-Kerr, wie Harold selbst im diplomatischen Dienst — sein engster Freund, so wie Rosamund die engste Freundin Vitas war.) Harolds wiederkehrende Besuche in Knole bedeuteten nicht notwendigerweise, daß Vita das Tempo angab. Es waren die Eltern der Debütantinnen, die diese Gesellschaften für junge Leute gaben, wobei die Mädchen, wie Vita es sah, die Köder im mütterlichen Fischteich waren. Ein akzeptabler junger Mann brauchte nichts anderes zu tun, als diesen Einladungen Folge zu leisten. Wegen des Prozesses war Vitas gesellschaftliche Einführung weniger nachdrücklich vonstatten gegangen, als man es sich vorgestellt hatte, und dann wurde das gesellschaftliche Leben durch den Tod Edwards VII. überschattet. Sie ging mit ihrem Vater zum Trauergottesdienst für den alten König in der Westminster Abbey. »Der deutsche Kaiser redete dauernd auf den König [George V] ein, was jedermann als sehr geschmacklos empfand.« Bald nach dem Tode Edwards verschwand seine inoffizielle Witwe. Alice Keppel, in aller Stille mit Violet und deren jüngerer Schwester Sonia zu einem längeren Aufenthalt nach Cylon, und Vita fuhr nach Duntreath. um Violet vor der Abreise noch einmal zu sehen. Wie schon zuvor machte Violet auch diesen Besuch zu einem romantischen Ereignis; später schrieb sie an Vita: »Erinnerst Du dich an das unaufhörliche, ziellose Trippeln der Taubenfüße auf dem Dach und an die Dohlen, die von Turm zu Turm flogen? Und an den Stern, der vom Fenster der Rüstkammer auf uns herniederblinzelte. und an die vereinzelten Schreie der Nachteulen?«
Die intensive emotionale Atmosphäre, die Violet schuf, steckte Feridah an, ein anderes Mädchen, das sich dort aufhielt. Feridah beschrieb in einem Brief, wie sie und Violet sich »stundenlang« über Vita unterhielten, nachdem diese fort war:

  • »Was dich anging, kam ich zu dem Schluß, daß du Vollkommenheit erlangen könntest, wenn du einen Mann heiraten würdest, der dich traurig machte... Aber du darfst keinen Engländer heiraten! — er würde dich nicht genügend unglücklich machen. Und dann sagte ich zu Violet. daß ich stolz sei, jemanden zu kennen, der sich im Stadium einer Schmetterlingspuppe befand, dessen Leben man in den kommenden Jahren aufzeichnen würde... Du wirst auf der Spitze der Nadel der Kleopatra sitzen, und die Nadel wird niemand beachten.«

Ein letztes Lebewohl sagten sich Vita und Violet in London, indem sie immer neue Runden durch den Hyde Park drehten, wobei Violet sie zu überreden suchte, sie nach Cylon zu begleiten. Im Auto küßte sie Vita. Es war »überaus beunruhigend«. Aber Vitas Pläne standen bereits fest: Eine hartnäckige Sommergrippe drohte sich zu einer Lungenentzündung auszudehnen, und Lady Sackville wollte Vita während der Sommermonate in die Sonne bringen; sie zogen in das Château Malet, eine große weiße Villa nahe Monte Carlo. »Versuche nicht, dich zu verheiraten, bevor ich zurück bin«. schrieb Violet in einem ihrer zahlreichen extravaganten Briefe aus Ceylon. »Schließlich bin ich bloß ein Mädchen. Ich hätte vorhersehen müssen, daß vielleicht in deinem Alter eine Liaison mit einem Mann ins Haus steht... ich merke, daß ich im Begriff stehe, unpassende Dinge zu sagen. Bitte, lache nicht, versprich, daß du nicht lachst.«
Die sechs Monate in Südfrankreich waren für Vita eine Zeit »vollkommenen Glücks«. Ihr Gefühlsleben wurde immer komplizierter, und damit wurde es um so notwendiger, es zu verbergen. Die ersten Besucher am Neujahrstag 1911 waren Harald und Archie Clark Kerr. Zwischen Harold und Vita entwickelte sich eine »ziemlich kindliche Kameradschaft«, und sie war ein wenig verletzt, als er nach zehn Tagen ohne sichtbare Anzeichen des Bedauerns abreiste. Er fehle ihr — »Cosa tristissima«, schrieb sie in ihr Tagebuch — »er war der beste wirkliche Gespiele, den ich kennengelernt habe«. Eine Woche später kreuzte Oracio Pucci auf und machte ihr erneut einen Antrag. »Mein Gott, wie unglücklich würde ich mit ihm sein!« Die nächste Besucherin war Muriel. Archies Schwester, eine blasse, hübsche Frau von 25 Jahren, die Vita zu ihrer Vertrauten machte: sie war noch nie verliebt gewesen und wollte nie heiraten. Vita hatte sie zuvor nicht sehr gut gekannt, doch als Muriel sie nach drei Wochen verließ, schrieb sie in ihrem Tagebuch über ihre neue Freundin: »Ich liebe sie wirklich sehr.«
Die beiden hatten sich im Garten der Villa unterhalten und Briefe geschrieben, ausgedehnte Spaziergänge unternommen und unter Olivenbäumen Siesta gehalten. Aus dieser Zeit stammt Vitas lebenslange Gewohnheit, die Erregung der Liebe mit der Sonne und den Gerüchen des Südens zu verknüpfen.
»Ich will keine Beschreibungen verfassen, aber ich glaube, ich bin seit langem nicht mehr so glücklich gewesen.« Aus Lower Sloane Street in London schrieb Muriel an Vita: »Ich werde in London nicht >frigide< sein — warum sollte ich? denn auch ich habe große Lust. Ich haßte es, mich zu verabschieden, und habe dir noch nicht oft genug gesagt, wie sehr ich es liebte, im Palais Malet zu sein, oder wie glücklich ich bin, daß wir uns auf das >Risiko< eingelassen haben. Diese zwei Tage in den Bergen! Wie glücklich wir waren.« Während Muriel noch in der Villa wohnte, war Violet Keppel aufgetaucht. Die Keppels hielten sich jetzt in San Remo auf. »Immer noch ein bißchen verrückt, aber faszinierend«, lautete Vitas Urteil über Violet, die ihr aus Ceylon einen Rubin mitgebracht hatte. Muriel und Violet an ihrer Seite, empfing Vita aufgeregte Briefe von Irene Hogarth — »Pace« — aus Sevenoaks: »Ich liebe dich so — de tout mon coeur — und jeden Tag mehr, falls das möglich ist — aber ich glaube nicht, daß du weißt, wie furchtbar schwer es ist, die Maske abzuwerfen, die ich hier tragen muß... Schelte mich, so sehr du immer magst — es ist gut für mich und ich mag es, denn dann weiß ich, daß ich dir noch immer etwas bedeute — doch verlaß mich nicht.« Um Irene solche Briefe zu entlocken, müssen Vitas Briefe entsprechend fordernd gewesen sein; vielleicht eine Art Geißelung mit Worten. Der nächste Ankömmling war Joseph Potocki, der, aufs schmeichelhafteste flirtend, »aus Warschau kam, in erster Linie, um mich zu treffen, wie er sagte«. Lord Sackville kam zu Besuch, was Lady Sackville nervös machte: sie schleppte ihre Tochter zu ungezählten Casinobesuchen und Einkaufsbummeln nach Monte Carlo und einmal zum Tee bei der fünfundachtzigjährigen Kaiserin Eugenie. Es war Lady Sackville. die Rosamund Grosvenor in die Villa einlud, nachdem Violet nach München abgereist war, um Deutsch zu lernen. »Rosamund ist sehr nett und sensibel«, schrieb Lady Sackville hoffnungsvoll in ihr Tagebuch. »Ich liebe sie so sehr« schrieb Vita in das ihre, als Rosamund eintraf.
Die gefühlvolle Rosamund nahm bei den Siestas unter den Olivenbäumen Muriels Platz ein. Als Rosamund jedoch nach drei Wochen abreiste, schrieb Vita: »Seltsam, wie wenig mir das nahe geht; sie hat keine Persönlichkeit, darum.« Und aus München schrieb Violet, die über so viel Persönlichkeit verfügte, lange, aufreizende, schmeichelhafte, schwülstige Liebesbriefe in ihrer wilden Mischung aus Französisch und Englisch. Sie forderte Vita heraus, in derselben Art oder überhaupt nicht zu antworten; wenngleich sie zwei Jahre jünger sei, schrieb Violet, werde sie »in moralischer Hinsicht« immer fünfzig Jahre älter sein. Im April 1911 kehrten die Sackvilles über Florenz nach England zurück. Lady Sackville war des Italienischen nicht mächtig (das war der Grund, warum Vita lange Passagen ihres Tagebuchs in dieser Sprache niederschrieb) und war in Italien von ihrer Tochter beeindruckt. »V. spricht ganz vortrefflich italienisch ... Sie wirkt und benimmt sich so, als gehöre ihr ganz Florenz.« Noch einmal erschien Oracio Pucci, machte seinen Antrag und wurde abgewiesen.
Zurück in England, nahm Vita mit ihrem Vater an der Krönung von König George V. teil — sie sollte ihre Erinnerungen an dieses Ereignis auf den Schlußseiten von Schloß Chevron verwerten — und fuhr fort, Gesellschaften und Tanzveranstaltungen zu besuchen. Es verblüffte Lady Sackville. daß »ihr diese albernen Unterhaltungen gefallen, wo sie doch so ernst ist — und die meisten der jungen Männer, denen sie begegnet, sind so uninteressant.« Sie fühlte sich in der Tat fremd; sie hatte immer noch — wie bei Miss Woolff — das Gefühl, niemand möge sie. Als Frau in mittleren Jahren sollte sie immer wieder vom Traum einer Abendgesellschaft heimgesucht werden, auf der sie sehr beliebt und sehr gefragt war. »Jedermann mag mich, drängt sich um mich und bemüht sich um mich. Ich kann diesen Traum sehr leicht deuten: er geht geradewegs auf die Zeit zurück, in der ich debütierte und niemand mich mochte.« Als sie in Schloß Chevron Sebastians Gefühle über die Londoner Saison beschrieb, sprach sie von den ihren: »Er liebte sie und haßte sich für diese Liebe. Er liebte sich für diesen Haß und haßte sich, weil er sich unterwarf.« Diese Sätze sollte sie während jener Monate schreiben, als sie »draußen« war und »eine Art Scheinleben führte, das keinen Eindruck bei mir hinterließ«.[3]
Sogar ihre Beziehung zu Rosamund, die mit ihr die Tage und Nächte auf Knole verbrachte — sie malten Vitas Zimmer im pseudo-italienischen Stil aus mit einem scharlachfarbenen Drachen, weißen Lilien und »schemenhaften Türmen« auf einem blauen und goldenen Hintergrund — war, wie sie sagte, oberflächlich. »Um es frei heraus zu sagen, glaube ich, daß es nahezu ausschließlich körperlich war, denn als Kameradin hat sie mich immer gelangweilt.«[4]
Im Mai erneuerte Kenneth Campbell seine unangenehmen Annäherungsversuche. Er begleitete sie zu einem Ball, wo er ihr unverblümt sagte, welche Gefühle er für sie hege. Sie war entsetzt. »Guter Gott, er ist in mich verliebt!« schrieb sie in ihr Tagebuch. »Ist Freundschaft denn wirklich unmöglich? Was, wenn ich ihn heiratete? Unmöglich!« Sie beschloß, niemandem etwas von dieser bedrückenden Episode zu erzählen. Falls Vita an ihrer Anziehungskraft Zweifel gehabt hätte, wäre dieses Jahr mit seinen zahlreichen und mannigfaltigen Eroberungen dazu angetan gewesen, diese zu zerstreuen. Doch ihre Entfremdung war offenkundig. Ihr Vater schrieb an Victoria: »>... es tut mir zwar leid, es mitanzusehen. doch sie scheint Dinge nicht zu mögen, die normal und gewöhnlich sind... Ich sehe ein, daß es keinen Zweck hat zu versuchen, sie zu zwingen, und ich fürchte sehr, daß es damit endet, daß sie einen >Souly< heiraten wird [d.h. einen Intellektuellen nach Lord Sackvilles Begriffen, einen Typus, den er nicht gerade schätzte!].« Es gab ein paar »»gewöhnliche Dinge« denen Vita Spaß hatte. Sie lernte Autofahren und zog es vor — für 1911 unkonventionell — selbst zu fahren, statt gefahren zu werden. Sie freute sich über das russische Bärenjunge, das einer ihrer Tanzpartner, Ivan Hay, ihr geschenkt hatte: sie hielt das Tier im Garten in einem Käfig und nahm es, an einer Kette, auf Spaziergänge mit. Sie gab einem Journalisten der Evening Times ihr erstes Zeitungsinterview (»Lord Sackvilles Tochter erzählt von ihrem Lieblingstier«): »Die Ehrenwerte Vita Sackville-West wurde bei einem Tennismatch unterbrochen, bei dem sie ein schlichtes weißes Kleid und ein pittoreskes, nach korsischer Art gekräuseltes seidenes Kopftuch trug.« Sie erinnerte den Reporter daran, daß der Besuch des Hauses und des Anwesens dem Publikum lediglich an den letzten drei Tagen jeder Woche gestattet sei.
Harold Nicolson, en poste bei der Britischen Gesandtschaft in Madrid, hatte an einer Geschlechtskrankheit gelitten, »eine Folge Andalusiens und des Wunsches, meine Männlichkeit zu beweisen«.[5] Im Sommer 1911 war er zu Hause. Seine Krankheit war allenthalben bekannt, wenn auch nicht ihre Natur, und er ging, warm eingehüllt, mit Vita im Garten spazieren. Als er sie und Rosamund zu einer Verieté-Vorstellung mit nach London nahm, kehrte Vita erst am nächsten Morgen in das Haus in Hill Street zurück, und Lady Sackville war vor Sorge außer sich. An ihrer Verspätung trug nicht Harold die Schuld, sondern Rosamund, in deren Haus sie übernachtet hatte.

  • »Männer zogen mich nicht auf jene Weise an, die man >normal< nennt. Frauen zogen mich an. Rosamund tat es. Oh, gewiß, es war mir wohl undeutlich bewußt, daß es mir nicht anstand, mit Rosamund zu schlafen, und ich hätte ganz gewiß nicht zugelassen, daß irgend jemand dahinterkam, doch weiter reichte mein Schuldgefühl nicht.«[6]

Sie und Rosamund verband eine diffuse und sentimentale Sinnlichkeit, doch niemals, weder damals noch später, liebten sie sich körperlich. Der Gedanke kam ihnen nicht. Vita wohnte in großen Häusern, oft gemeinsam mit Rosamund: Sie waren beide im Herbst im Château Laversine in Chantilly, von wo sie ihrer Mutter scharfzüngige kleine Bulletins schickte: »Robert de Rothschild ist ein garstiger kleiner Jude. Bendor [der Herzog von Westminster] ist charmant... Lord Rocksavage ist einigermaßen schwer von Begriff.« Sie nahm in Hill Hall, dem Haus von Mrs. Charles Hunter, an einer Gesellschaft teil, zu der Malcolm Sargent, Henry James, Percy Granger und der Maler Hellen gehörten: »Eine sehr >künstlerische< Gesellschaft. Dada ist zum Glück nicht da!«
Bei einem Jagdball in Hampshire waren ihre häufigsten Tanzpartner Lord Gerald Wellesley und Lord Lascelles. Mitte November bemerkte Lady Sackville während eines Wochenendes in Knole, daß Harold Nicolson, der zu den Gästen zählte, in Vita verliebt war. Er war ins Außenministerium zurückgekehrt und wartete auf einen neuen Posten als dritter Sekretär mit einem Jahresgehalt von 250 Pfund. Die Geldfrage erregte Lady Sackville stärker als gewöhnlich. Seery war krank und reizbar und drohte, sein Testament zu ändern. Lady Sackville schrieb in ihr Tagebuch: »Vita und Lionel sind so nett gewesen und verstehen, daß ich so nicht weitermachen kann.« Sie sah sich in der Rolle der zur Märtyrerin gemachten Ernährerin, die gezwungen war, sich zum Heil der Familie mit Seerys Langweiligkeit abzuplagen. Zum augenblicklichen Zeitpunkt sah sein Testament vor, daß sie 150 000 Pfund und sämtliche französischen Möbel aus dem Appartement in der Rue Laffitte erben sollte. Ein Streitpunkt unter anderen war Seerys Mißvergnügen an Speall's, dem Geschäft für Inneneinrichtung, das Lady Sackville in South Audley Street, Mayfair, eröffnet hatte. Es nahm einen zu großen Teil ihrer Zeit in Anspruch, und er war einsam. Vita wurde in friedenstiftender Mission zu Seery geschickt und überbrachte die Grüße des Invaliden an seine übermächtige »kleine spanische Bettlerin.« Als Harold Weihnachten 1911 in Knole war und Lady Sackville abermals auffiel, wie sehr er in Vita verliebt zu sein schien, bereitete ihr die Tatsache Sorge, daß er über so wenig Geld verfügte. »Er ist mir sehr sympathique und L. und jedermann mag ihn. Vita könnte vielleicht im Ausland in einer Botschaft leben, doch sie sagt oft, sie hasse es, arm zu sein, es sei denn, sie sei verrückt vor Liebe.« Über Neujahr in Knole, erfuhr Harold, daß man ihn nach Konstantinopel schicken werde.
Vita hoffte vage, er werde ihr vor seiner Abreise einen Antrag machen. Er half ihr beim Ausmalen des Zimmers, er spielte Golf mit Lord Sackville und Walter Rubens (Rubens Frau, eine Sängerin, war eine neue Freundin von Lord Sackville) und setzte dann, nach London zurückgekehrt, seine Tändelei mit einem befreundeten jungen Mann fort. Es war Lady Sackville, nicht Vita, die weiterhin Verbindung hielt, und Harold antwortete ihr ausweichend: »Nein: ich werde niemanden in Konstantinopel finden. Ich fürchte, ich habe die unangenehme Eigenschaft, daß ich nur Menschen verehre, die weit über mir stehen und die ich nicht heiraten kann. Vielleicht ist es ein Glück, daß ich ins Ausland gehen werde.«
Und Vita kehrte zu ihren Tanzabenden zu rück. Am 12. Januar 1912 schrieb sie an ihre Mutter: »Taplow hat mir ganz ungeheure Freude gemacht... Diana Manners ist hier. Dieses Mal habe ich nicht eine so große Abneigung gegen sie. Auch Lord Lascelles ist hier, der ziemlich einfältig ist. und Mr. Shaw-Stewart, der überaus gescheit sein soll und es, glaube ich, auch ist: und Mr. Chichester, ein hübscher Mar-Junge, sehr weibisch.« Ihre Gastgeberin Lady Desborough, sei »sehr liebenswürdig« gewesen, und ihr gefiel der Sohn des Hauses, Julian Grenfell. »der riesengroß ist und oft mit mir tanzte und mich zu Tisch führte«. Ivan Flay, der ihr das Bärenjunge geschenkt hatte, war auch dort. »Er hatte zu Weihnachten einen kleinen silbernen Bären für mich und schickte ihn nicht, weil er dachte, er könne dir nicht gefallen, das war sehr neu von ihm, aber jetzt wird er ihn schicken.« Lord Lascelles war der Erbe des Earl of Harewood und verliebte sich in Vita. Der blitzgescheite Patrick Shaw-Stewart war mit Harold in Oxford auf dem Balliol College gewesen und war ein Fellow von All Soul* (*All Soul: College in Oxford (Anm. d. Übers.), als er 25 Jahre alt war, wurde er leitender Direktor des Bankhauses Gebrüder Baring. Lady Sackville gab ihrer Tochter den Rat, sich zu amüsieren: »J'ai confiance en toi, que tu n'excederas jamuis ce qu'un >Lady< peut se pennettre.«
Am 18. Januar fand in Hatfield Honse ein Ball statt: Vita und Harold sollten an der Wochenendgesellschaft teilnehmen. Zwei Tage zuvor suchte Seery Lady Sackville in ihrem Geschäft in der South Audley Street auf.

  • »Er sprach mit mir über die Möglichkeit einer Heirat zwischen Vita und H.N.. den er überaus schätzt, und er versprach vage, ihr [Betrag im Tagebuch getilgt] Pfund pro Jahr zu geben, was pro Monat 100 Pfund ausmachen würde. Er sagte mir auch, er werde sein Testament ändern, wenn ich nicht nett zu ihm sei, und nannte mich mehrere Male: Du kleine Schurkin, und mit diesen Worten verließ er mich.«

Am nächsten Tag starb Seery.
Vita war, mit der Selbstsucht der Jugend, besorgt, man werde ihr vielleicht nicht erlauben, den Ball in Hatfield zu besuchen. Doch an jenem Abend reisten sie, Harold und Lord Sackville wie vereinbart nach Hertfordshire.

Kapitel 4

Vita, in einem neuen Ballkleid, bekam Harold während des Balles kaum zu Gesicht, sondern erst nach Mitternacht. Er haßte das Tanzen. Dann suchte er sie auf. In »Marian Strangways« hat sie eine dramatische Beschreibung dessen gegeben, was geschah. Sie verließen die Gesellschaft und gingen nach oben. Auf dem Treppenabsatz standen zwei grüne Reisekoffer, auf denen sie Platz nahmen. »Er blickte sie auf eine neue Art an«, und sie plapperte, um der Gefahr auszuweichen. »Sie vermied seinen Blick, und er riß bedächtig einen Knopf nach dem anderen von seinen weißen Handschuhen ab.« Dann »zerbröckelten die Mauern zwischen ihnen«, und er sagte: »Ich liebe dich — ich liebe dich!«. und sie konnte nur denken: »Jetzt habe ich die Bescherung«, und alles, was sie sagen konnte, war »Nicht, o, nicht«, und sie reichte ihm ihre Hand, die er beinahe zerdrückte. Am folgenden Tag, zurück in Knole, trug sie ihr Tagebuch nach:

  • »Ich bat ihn zu warten, mindestens ein Jahr, weil ich mir nicht sicher bin. Ich meine, alles geträumt zu haben. Weil ich im Grunde meines Herzens weiß, daß ich ihn heiraten werde... sagte ich ihm, daß ich ihn nicht liebe, ich weiß nicht, warum.«

Er hatte sie nicht geküßt:

  • »Nachher saßen wir ziemlich verwirrt an der Tafel und sprachen aufgeregt und ziemlich verschwommen über die Wohnung, die wir in Rom haben würden.«

Harold kam nach Knole und führte lauge Gespräche mit Lady Sackville unter vier Augen.

  • »Er ist ein so lieber Junge... darum will ich ihn besser kennenlernen und wie eine Mutter zu ihm sprechen.«

Später saß Vita im Zimmer ihrer Mutter in Bourchiers Turm,

  • »wo sie meine Juwelen anprobierte und die ganze Zeit von Harold sprach, dem sie so gern bei seiner Karriere behilflich sein würde«.

Als Lord Sackville und Lady Connie eintrafen, waren sie weniger begeistert und sagten zu Lady Sackville, sie sehe die gefühlsmäßige, nicht aber die praktische Seite. »Natürlich ist [Lionel] enttäuscht, daß sie nicht eine große Partie mit einem großen Namen macht.« So eröffnete ihm denn Lady Sackville beim letzten »großen Gespräch« in ihrem chinesischen Zimmer, daß sie sich vor Ablauf eines Jahres unmöglich als offiziell verlobt betrachten dürften: Vita müsse »vollkommen frei« sein; sie »dürften nicht wie Verlobte miteinander korrespondieren, und Worte wie Liebster oder Liebling dürften nicht gebraucht werden!« So schieden denn die beiden jungen Leute vor den Augen von Dada und Connie wie zwei gewöhnliche Freunde voneinander. »Ich verstehe mich selbst nicht, ich bin völlig betäubt«, schrieb Vita an jenem Abend. Sie und Hamid hatten den größten Teil des Tages zusammen damit verbracht, mit schnellen Schritten im feuchten Gras des Parks spazierenzugehen, »per bisogna di movimento«. Sobald er fort war - er würde erst nach sechs Monaten aus Konstantinopel zurückkehren - mußte Vita sich zu Bett begeben.
»Mutter kam ein oder zweimal am Tag in mein Zimmer und hielt sich eine kleine grüne Flasche mit einem Desinfektionsmittel an die Nase: sie sagte, es seien 300 Treppenstufen von ihrem Zimmer bis zu meinem, und es sei sehr lästig, das Gefühl zu haben, man müsse jemanden aufsuchen, der krank sei und auf einen warte, so daß ich jedesmal vor Bedrückung schluchzte, nachdem sie wieder gegangen war.«[1] Lady Sackville hatte keine Ahnung von der niederdrückenden Wirkung ihrer Besuche; sie bemerkte lediglich, daß Vita »während ihrer leichten Grippe« bekannt hatte, sie liebe Harold, als sie in ihrem dämmrigen, freskengeschmückten Schlafzimmer lag. »Es war wie eine Szene aus einem Theaterstück.« Vita hatte Harold einen Abschiedsgruß geschrieben »Ich liebe dich. Auf Wiedersehen.« Dann, in ihrem Tagebuch vom 24. Januar: »Ich kann mich nicht erinnern, jemals so unglücklich gewesen zu sein. Erst heute habe ich zu verstehen angefangen, daß ich ihn nicht liebe.« Sie war hoffnungslos verwirrt.
Sie schrieb etwa alle fünf Tage an »Meinen hellen Harold« und er antwortete ihr. Einmal in der Woche schrieb sie auch an ihre Mutter, wohl wissend, daß sie eine wichtige Befürworterin seiner Werbung war. Lady Sackville traf mit Harolds Eltern zusammen, Sir Arthur Nicolson (später Lord Garnock und 1912 ein ausgezeichneter Diplomat und Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt) und Lady Nicolson. Sie fand sie beide »sehr häßlich und sehr klein und unschön anzusehen«, wenn sie auch bemerkte, Sir Arthur sei »ein Schatz«. Lady Nicolson, die von Harold sehr verehrt wurde, erschien ihr »todlangweilig und genee; höchst unansehnlich; doch eine brave femme. Ich sprach kein Wort mit ihr.«
Lady Sackville konnte es sich leisten, herablassend zu sein. Obgleich die Streitigkeiten über Seerys Testament, das sie als Hauptbegünstigte vorsah, unmittelbar nach seinem Ableben aufgeflammt waren - die Anwälte der Familie Scott bemühten sich verzweifelt, die Existenz von Nachträgen oder späteren Fassungen des Testaments nachzuweisen - entfaltete sie eine lebhafte Tätigkeit. Zum einen würde ihr neuer Reichtum ihr einen besseren Zugriff auf ihren ehebrecherischen Gatten ermöglichen: »Ich habe ihm kein festes Einkommen versprochen, da ich die Art. wie er es ausgibt, nicht glaube billigen zu können.« Sie erwarb einen Rolls Royce, der 1450 Pfund kostete. Vita teilte Harold mit, Mutter habe »Küchenchefs und Gärtner und andere Leute eingestellt, es ist ein Spaß. Ja, sie ist eine prachtvolle Person, und ich sagte ihr, das habest du auch gesagt. Sie wird mit jedem Tag wunderbarer.« In Begleitung ihrer Zofe Emily besuchte Vita jeden Sonntag bis Montag (das Wort »Wochenende« galt als gewöhnlich) Jagdbälle, Wohltätigkeitsbälle. Laienaufführungen, Maskeraden. (»Wirst du auch in Burghley sein?« fragten die jungen Männer und Mädchen einander — oder in Queen Annes Mead. Eridge, Taplow, Coker, Sutton Courtney, Compton Beauchamp. St. Fagan's, Grichel, Crewe, Elvedon, Houghton.) Sie meinten damit immer die Häuser, nie die Familien, die darin wohnten; das verstand sich von selbst, denn in diesen Kreisen war man unter sich. Harolds Gestalt trat in den Hintergrund. Er wurde »ein Junge, der sie verehrte und in einer wunderschönen fernen Stadt lebte«. Ihre Romanze mit Rosamund, die den größten Teil ihrer Zeit in Knole zubrachte, vertiefte sich. Sie gewann ein paar neue männliche Verehrer. Nur einen Monat nach dem Ball in Hatfield schrieb sie an Harold über eine Gesellschaft:

  • »Dort war ein kurioses, unsauberes Künstlervölkchen und dazwischen »gescheite« junge Männer wie Patrick Shaw-Stewart... Dann war da noch Lord Granby, der ein sonderbarer, ziemlich mürrischer  Mann ist. Im ganzen genommen, glaube ich, mag ich ihn nicht. Und da waren Stückeschreiber, Bildhauer und Romanciers und Maler, und es war sehr lustig... Meine unstete Freundin Violet Keppel kommt im April nach Hause, so daß du sie kennenlernen wirst; ich bin froh. Sie wird dich mehr als jemand anderer amüsieren.«

Lady Sackville setzte Patrick Shaw-Stewarts Namen auf die Liste junger Männer, die »V. ziemlich gern mögen«. Im August 1912 kam er häufig nach Knole, lehrte Vita Griechisch und spielte Tennis. Auf Mrs. Alwynne Grevilles Ball machte Ivan Hay ihr einen Antrag. Sie wies ihn zurück. Er weinte. »Er hat einen diabolischen Charakter«, schrieb Vita in ihr Tagebuch. »Ich würde ihn nicht heiraten, wäre er auch dreißigmal ein Herzog mit 30 Millionen Pfund.« Der mürrische Marquess of Granby, Erbe der Herzogswürde von Rutland, war ein weiterer ernsthafter Verehrer. Ihre Mutter sinnierte: »Zu keinem von beiden würde ich ihr raten. Ich hätte es natürlich gern, wenn sie in England bliebe, und das würde sie, falls sie Lord Granby heiratete; und es würde ihr Freude machen, Haddon in Ordnung zu bringen.«
In Sutton Courtney trieb Vita im Juni mit besagtem Lord Granby bei Mondschein in einem Kanu durch die Binsen, »und er langweilte mich, und ich dachte an Green Archie und andere Sachen«, versicherte sie Harold. Lady Sackville hielt nicht viel von der »holzgeschnitzten, häßlichen Heiligenfigur«, die Harold Vita zu ihrem zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Es war eine wurmzerfressene Statuette der Heiligen Barbara, die er in Spanien gekauft hatte; Vita liebte sie ihr Leben lang zärtlich. Lady Sackville war beunruhigt, weil Vita über Harold überhaupt nicht sprechen wollte. Doch da ihre Tochter über ihre Gefühle schreiben konnte, wenn sie nicht darüber sprechen wollte, teilte sie ihrer Mutter in einem Brief mit: »H. ist mein Leben, er ist der einzige Mensch, der in der Welt wirklich zählt. Das sind meine Gefühle für H.« In den Augen ihrer Mutter schien diese Aussage mit Vitas Verhalten nicht übereinzustimmen.
Violet kehrte aus München zurück, nach Vitas Meinung »verrückter als je zuvor«. Violet hingegen fand Vita verändert. Mit zwanzig Jahren war sie sehr hübsch: 

  • »Niemand hatte mir gesagt, daß Vita sich in eine solche Schönheit verwandelt hat. Alle Ecken und Kanten sind verschwunden. Sie war hochgewachsen und anmutig. Die ererbten unergründlichen Sackville-Augen waren wie Teiche, von denen der Morgennebel gewichen ist. Ein Pfirsich könnte sie um ihren Teint beneiden... Zahlreiche verzauberte junge Männer umkreisten sie.. .«[2]

Aber es war Rosamund, mit der Vita wie gewöhnlich im späten Frühjahr 1912 nach Florenz entfloh, beschirmt von einer ältlichen Ex-Gouvernante. Sie nahmen wieder in der Villa Pestellini Quartier, wo die Mädchen und ihre Miss Graham in einem kleinen Anbau im Garten schliefen. »Wie glücklich ich hier bin mit Rosamund, die ich so sehr liebe.« Doch in ihren Briefen an Harold entwarf sie ein unaufrichtiges Bild von Rosamund: dort wird sie in ihrer Verschlüsselung wegen ihrer Erscheinung als »die Rubens Dame« bezeichnet. Vita schrieb ihm, sie versuche, zwischen der Rubens-Dame und Henry (»Bogey«) Harris, einem Freund der Familie, der viel Zeit in Florenz verbrachte, eine Ehe zu stiften. Sie besprachen Rosamunds unterwürfiges Benehmen gegenüber Vita, die schrieb: Es ist ein Jammer und ziemlich ermüdend. Aber wünscht sich nicht jeder in seinem Leben eine unterwürfige Person? In ihr habe ich die meine gefunden. Wer ist die deine? Ich bestimmt nicht!« So bereitete sie die Bühne für ihre schwierige eheliche Beziehung mit Harold vor. Sie verschwieg ihm nicht, wie glücklich sie war— »es ist heiß, und die grilli zirpen, und ich liebe die Rubens-Dame, und irgendwo auf der Welt gibt es dich« - und beharrte auf ihrem Recht, private Freundschaften zu haben. »Wir wollen die Freunde des anderen nicht hassen und trotzdem soviel geben und nehmen, wie wir können, nicht wahr? Was hast du hier gemacht, als du in die Restaurants auf der Piazza Santa Croce gingst?« Das ist nicht so weltklug, wie es sich anhört. Ihre Instinkte waren scharf, doch ihre Kenntnisse begrenzt. Sie wußte, daß es »unmännliche« Männer gab (und Harold war nicht unmännlich), doch sie kannte die körperliche Realität der männlichen Sexualität nicht. Sie wußte ebensowenig, daß es für die Liebe, die Rosamund und sie füreinander empfanden, einen Namen gab oder daß die Affäre mit  Rosamund neben der mit Violet zur Bedeutungslosigkeit verblaßte.
Ein halbes Jahrhundert später, in der Erinnerung an stürmische Zeiten, schrieb sie Harold, alles sei »zum Teil deine Schuld«:

  • »Du warst älter als ich und weit besser informiert. Ich war sehr jung und sehr unwissend. Ich wußte nichts über Homosexualität. Ich wußte nicht einmal, daß es sie überhaupt gab - weder bei Männern noch bei Frauen. Du hättest es mir sagen sollen. Du hättest mich warnen sollen. Du hättest mir von dir erzählen und mich warnen sollen, daß etwas Ähnliches auch mir leicht würde passieren können. Das hätte uns eine Menge Arger und Mißverständnisse erspart. Aber ich wußte es einfach nicht. Oh, welch ein überraschender Brief, den ich dir schreibe. Er dürfte dir nicht gefallen, denn du hast es nie gemocht, mit Tatsachen konfrontiert zu werden.«[3]

Es ist bezeichnend, daß Harold 1960 in seiner Antwort auf dieses Thema mit keinem Wort einging. Auch 1912 hätte er sich ihr nicht erklären können. Seine im allgemeinen unbeschwerten homosexuellen Freundschaften mit jungen Männern aus seinem Milieu betrachtete er als etwas Selbstverständliches und hinterfragte sie nicht übermäßig intensiv. Sein Instinkt sagte ihm, daß es besser sei, darüber zu schweigen - aus psychologischen Gründen, aber auch, weil Homosexualität gegen das Gesetz verstieß - aber in seinem Inneren glaubte er nicht, daß er etwas Unrechtes täte. Auch seiner Liebe zu Vita tat das keinen Abbruch.
Ähnlich äußerte sich Vita in ihrer Autobiographie von 1920, in der sie sagt, es habe ihr kein Schuldgefühl eingeflößt, »mehr oder weniger mit Harold verlobt und gleichzeitig so sehr in Rosamund verliebt zu sein«. Zwischen den beiden Gefühlen gab es keine Beziehung. Harold war ihr erträumter »Spielgefährte«: »Unsere Beziehung war so ungekünstelt, so intellektuell, so unkörperlich, daß ich in bezug auf ihn überhaupt an nichts anderes dachte... Manche Männer scheinen geboren zu werden, um Liebhaber, andere, um Ehemänner zu werden: er gehört zur zweiten Kategorie.« Harold sollte zwar auch noch als Liebhaber auftreten, doch im Augenblick spielte Rosamund diese Rolle. »Es war Leidenschaft, die mir zuweilen fast den Verstand raubte, sogar am hellen Tag, doch wir liebten uns nie körperlich.«
Vita täuschte Harold völlige Offenheit vor. »Es ist gut. daß wir immer ohne Scheu über alles sprechen können, ganz brutal.« Doch in bezug auf ihre Gefühle für Rosamund war sie nicht aufrichtig. Und er war nicht ehrlich, was seine Gefühle für Pierre de Lacretelle anging, der in jenem Juni in Therapia auftauchte, dem Sommersitz der Gesandtschaft. Pierre, ein Angestellter der Osmanischen Bank, war »einer der Männer in Harolds Leben, der ihm ohne jeden Zweifel eine Zeitlang völlig den Kopf verdrehte« .[4]
Als Vita aus Italien heimkehrte, stellte sie fest, daß ihre Mutter einen neuen reichen Freund hatte: Pierpont Morgan. »L[ionel] ermutigt mich zu dieser wunderbaren Freundschaft«, schrieb Lady Sackville in ihr Tagebuch. Ich kann an nichts anderes denken... Die Verbindung mit ihm werde ich furchtbar geheimhalten.« Der glänzende junge Edward Horner wich Vita nicht von der Seite, während Violet, jetzt im Obergeschoß des prächtigen neuen Hauses ihrer Eltern in Grosvenor Street etabliert, ihr Herz für das Russische Ballett entdeckte. Vita ging mit ihrem Vater zu den Rennen in Ascot und wohnte mit ihm in Adair Place. Ihre Photographie mit Lord Lascelles erschien im Daily Mirror unter der Überschrift: »Kopfbedeckung, die viel Aufmerksamkeit erregte«. Lord Sackville berichtete seiner Frau: »Ich glaube, das Küken amüsiert sich. Lascelles ist sehr nett zu ihr, führte sie zu Tisch und wird es, glaube ich, heute wieder tun. Sie sah sehr hübsch aus, und ihr Hut war ein Erfolg, glaube ich.« (Das aufsehenerregende Stück war ein flacher spanischer Hut, der schräg auf einer Seite getragen wurde.) Die Photographie hatte zur Folge, daß man ihr während eines Dinners mit Lord Granbys Eltern und noch einmal in Sutherland House zu ihrer Verlobung mit Lord Lascelles gratulierte. »Patrick |Shaw-Stewart] und Edward [Homer] dankten Gott, daß es nicht stimmte! Sie dachten, alles sei aus!« Vier Tage später, in Knole, machte Lord Lascelles Vita, als er vor dem Essen mit ihr durch den Garten spazierte, einen Antrag. »Ich weiß nicht, wo er den Mut hernahm, es auszusprechen, denn er ist sehr schüchtern. Das Essen gestaltete sich ein wenig schwierig, aber er benahm sich sehr gut. Er verfügt über alle Tugenden, aber er ist nicht simpatico. Er ist groß und nicht zu häßlich, doch er hat ein albernes Lachen. Er wird einmal sehr reich sein. Er sieht immer erschreckt aus.« Sie wies ihn nicht endgültig ab. sondern sagte ihm, sie könne ihm noch keine Antwort geben. Und dann:

  • »Harald schrieb heute und bat mich, in diesem Herbst seine Frau zu werden. Ich fand den Brief vor, kaum daß ich Lord L. verlassen hatte. Am Abend kam Kenneth (Campbell). Auch er machte mir eine Szene. Darauf erhielt ich einen Brief von Pucci aus dem Tripolis Krieg, in dem er schreibt, er denke immer an mich. Welch ein Tag!« Sie schrieb Hamid, sie habe das Gefühl, gerade erst angefangen zu haben, das Leben zu genießen und Freundschaften zu schließen, und »wenn du mich dieses Jahr entführst, wird alles zu Ende sein - schließlich bin ich erst zwanzig!« Wenn er ihr ein wenig Egoismus gestatte, werde ich um deinetwillen für den Rest meines Lebens uneigennützig sein«. In der Zwischenzeit »laß uns unaussprechlich glücklich sein«.

In Mells sah sie Lord Lascelles, wo er sich bei den Horners aufhielt. Sie spielte die ganze Zeit Tennis, um nicht mit ihm sprechen zu müssen, mit dem Erfolg, daß er sich schnurstracks nach Knole begab, wo Lady Sackville eines ihrer »langen Gespräche« mit ihm führte. »Er erzählte mir, sein Vater nehme jährlich allein 31 000 Pfund aus Grundbesitz ein und verfuge über ein großes Barvermögen ... Er scheint ein netter Bursche zu sein.« Vitas Zuneigung zu Harald erschien ihr jetzt närrisch, eine »verrückte Leidenschaft«. Harald sollte Mitte August auf Urlaub aus Konstantinopel und am 17. August für das Wochenende sogleich nach Knole kommen.
Am 12. schrieb Lascelles an Vita: »Du hast keine Ahnung, welche Luftschlösser ich auf einer Grundlage erbaut habe, die du gelegt hast.« Auch er war für dieses Wochenende eingeladen. Vita schrieb an Harald:

  • »Ich kann dich dort nicht zusammen mit Hunderten von Leuten wiedersehen. Fahre Green Archie hinter die Stallgebäude... und dann komme von hinten durch die Ställe, die Große Halle und den Ballsaal in mein Zimmer. Laß dich nicht feierlich zur Kolonnade geleiten, wo du alle Leute treffen wirst, die im Haus sind, und ich herunterkommen und sagen muß:  Hallo, Harold. wie geht s?«

Neben Harold und Lord Lascelles wurden auch Patrick Shaw-Stewart und Rosamund erwartet. Lord Sackville, der sich in Kanada aufhielt, schrieb einen ernsten Brief an seine Tochter: »Mar, ich nehme an, Harold wird bald bei dir sein... natürlich werde ich euch nie im Wege stehen, indessen sage nicht >ja<„ wenn du nicht ganz, ganz sicher bist, daß er dir mehr bedeutet als alles andere auf der Welt.« Vita wußte nicht, was sie wollte. Sie schenkte Patrick mehr Beachtung als Harold. der »sich sehr gut hielt und Vita kaum anblickte, die hübscher war denn je«.
Alles war in der Schwebe, und das war auch noch am folgenden Wochenende so, als dieselben Gäste sich einfanden und Rosamund und Vita Das Mirakel* (* Pantomime von Karl Gustav Vollmoeller, die am 23.12.1911 in London uraufgeführt wurde. (Anm. d. Übers.)) mit Rosamund als Nonne und Vita als Königssohn aufführten. Lord Lascelles hatte weitere lange Gespräche mit Lady Sackville in den frühen Morgenstunden. »Er fürchtet sich nicht annähernd so vor mir wie vor V.« Harold drängte nicht. Zwischen den beiden Wochenenden und dem Wechseln mehrerer Telegramme reiste er eilig nach Paris, wo er von Pierre de Lacretelle erwartet wurde. Vita klammerte sich an Rosamund und weigerte sich, in bezug auf Lord Lascelles einen Entschluß zu fassen. Sie sagte ihrer Mutter, sie möchte gern »allein mit ihren Büchern in einem Turm wohnen«, dann warf sie die Arme in die Höhe und sagte: »Oh! Mama, ich weiß wirklich nicht, was ich will!« Die Menge der charakteristischen Eigenarten, die ihr Wesen immer bestimmen sollte, hatte sich bereits herausgebildet: eine Abneigung gegen die Ehe; eine scheinbare Aufrichtigkeit ihren intimen Freunden gegenüber, die im Grunde keine war; eine Fähigkeit, verschiedenartige Beziehungen am Leben zu erhalten; die verstandesmäßige Trennung von leidenschaftlicher und kameradschaftlicher Liebe; ihr Traum - der verwirklicht werden sollte - von einem Leben »allein mit ihren Büchern in einem Turm«; auch ihre Abneigung, Menschen, die sie liebte, freizugeben -  sie gängelte sie und ließ sie abblitzen, wenn sie zuviel von ihr verlangten, zog je doch gleich wieder scharf die Zügel an, wenn sie Anstalten machten auszuscheren.
Wenn sie mit Harold und Rosamund herumspielte«, fühlte sie sich sicherer. Ihre Eltern sagten, sie und Harold dürften sich als verlobt betrachten und offen miteinander korrespondieren. Aus dem prächtigen Harewood in Yorkshire lockte sie Lord Lascelles: »Du hast ja keine Ahnung, welch einen vollkommenen Platz man hier schaffen könnte, mit einem Hauch von deinem Geschmack und ein wenig Geld, das ich, wie ich hoffe, im Lauf der Zeit daran werde wenden können... Ich ertrage den Gedanken nicht, dich in ein kleines Haus in einer schmutzigen Straße Konstantinopels verpflanzt zu sehen, und ich weiß, daß du es hassen wirst.« Vita schrieb ihm weiterhin, und er hatte in der Tat Anlaß zur Hoffnung. Am letzten Wochenende im September 1912 machten Harold und Vita dem Versteckspiel endlich ein Ende. An diesem Samstag regnete es. Im nassen Garten »küßte er mich zum ersten Mal« und nannte sie seine »Frau«. Am Sonntag unterhielten sie sich in ihrem Zimmer, »und ich ging mit ihm durch die Ausstellungsräume, und er küßte mich immer wieder. Ich liebe ihn.«
Vita und Rosamund brachen wieder nach Italien auf. Harold, unterwegs nach Konstantinopel, reiste bis Bologna mit ihnen, zusammen mit dem kleinen Hund Mikki II, den Vita ihm geschenkt hatte. Die Trennung brachte sie beide aus dem Gleichgewicht. Doch Pierre war in Konstantinopel, und Rosamund und Vita, die diesmal in der Villa Medici wohnen, nahmen ihr gewohntes Idyll in Florenz wieder auf. Am Tage nach ihrer Ankunft tauchte Lord Lascelles auf, ein Zufall, den nur Vita herbeigeführt haben konnte. Trotzdem machte sie ihm das Leben schwer, schalt ihn wegen seiner Unfähigkeit, Taxis zu besorgen, und gab ihm den Spitznamen »M.« für »Misére«. »Der M ist zu verschwenderisch in Geschäften, schrecklich extravagant!« Eines Abends gab es in der Villa Medici ein Essen in Kostümen: Rosamund ging als Rubens-Dame, Vita als Knabe aus dem Florenz des vierzehnten Jahrhunderts; über den schlecht behandelten Lord Lascelles schrieb sie an ihren Vater: »Dada, ich wünschte, du hättest ihn gestern abend sehen können ... er war ein Wikinger und trug ein Wams aus Pelz und einen sehr kleinen Schurz nach Art einer Felltasche, und als er sich hinsetzte, nahm er auf der Stuhlkante Platz und versuchte nervös, den Schurz enger um sich zu drapieren. Und er hatte zwei lange Zöpfe, die aus der Füllung des Sofas gedreht waren.« Vitas Auge wurde durch einen Feuerwerkskörper verletzt, und mit einem Verband um den Kopf sah der »Knabe aus Florenz« noch hübscher aus. »Mir widerstrebt es schrecklich, dies niederzuschreiben, aber ich muß... ich habe Rosamund nie so sehr geliebt wie während dieser Wochen in Italien und den folgenden Monaten... Ich scheine unfähig zur Treue zu sein.«[5] Bei ihrer Rückkehr nach Hause fand sie in Knole den räuberischen Kenneth Campbell mit seiner frisch angetrauten Gattin (»schreckliche Frau«) in Knole vor. Mit einem Schlag sah sich Vita mit den Begierden und Unzufriedenheiten von Männern mittleren Alters konfrontiert. »Kenneth erzählte mir, er könne das Leben nicht mehr ertragen; er stellte mir eine Menge Fragen nach meiner Verlobung, und ich wollte ihm nichts erzählen. Ich wünschte mir so sehr, nach Florenz zurückzukehren und dieses Leben, das mir so mißfällt, hinter mir zu lassen. Es ist nahezu unmöglich zu sagen, wie sehr ich Rosamund in jedem Augenblick vermisse.«
Sie ging allein mit Harolds Mutter essen, die voller Liebe über Harold als kleinen Jungen sprach und Vita alte Photographien zeigte. Das verursachte ihr Platzangst, und sie suchte auf der Stelle Rosamund auf. »Sprach mit ihr sehr offen über Harold, und ich glaube nicht, daß ich ihn genug liebe, um ihn zu heiraten. Vor diesem Gespräch war ich mir, glaube ich, über meine Gefühle nicht im klaren. Aber ich werde alles auf mich zukommen lassen. Vielleicht geschieht ja etwas!«
Heutzutage finden wir nichts Besonderes daran, wenn ein lebendiges, kluges, attraktives, kompliziertes Mädchen von zwanzig Jahren unwillig ist, sich für ein ganzes Leben zu binden. Eher im Gegenteil. Das einzige Glück, dem sie vertraute, war das Glück, das sie mit Rosamund erfuhr, wenn sie die gewohnte Umgebung verließen und »nichts langweilig und alles einfach war«. In England machte sogar Rosamund Schwierigkeiten, war eifersüchtig und selbstsüchtig. Sie war verletzt, weil Vita in ihrem »Königssohn« Kostüm zu einer Gesellschaft gegangen war: »Hast du denn keinen Respekt mehr für die vergangene Heiligkeit des Mirakels und des Mondscheins?« Auch Patrick schrieb ihr unglückliche Briefe; sie bat ihre Mutter, ihn über Weihnachten nach Knole einzuladen. Lord Lascelles sandte als Weihnachtsgeschenk ein Granatkreuz, wurde aber nicht eingeladen. Während sie sich kurz vor Weihnachten bei den Wellesleys in Hampshire aufhielt, saß sie in ihrem Zimmer und schrieb gereizt in ihr Tagebuch: »Ich frage mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn Harold Eileen [Wellesley] weiterhin geliebt und sie geheiratet hätte?« Die Zukunft schien ihr nichts als Ärger zu bringen. »Ich kann nicht alles für ihn aufgeben, ich kann 's nicht, zumindest glaube ich es nicht... Wenn ich ihn nicht lieben würde, wäre alles so einfach.«
Warum hatte sie ihm dann in Hatfield nicht eine eindeutige Absage erteilt? »Weil er so süß und jung ist und mich liebt und wir miteinander glücklich sind. Ich will ihn nicht verlieren, wenigstens nicht jetzt. Ich bin egoistisch und verachte mich deswegen.«
Und dann kam am Weihnachtstag ein Brief von Harold, in dem er schrieb, er wolle die Hochzeit im kommenden April (1913) ankündigen und sie im September heiraten. Sie zeigte ihrer Mutter den Brief, die darüber »erfreut« war. »Nun erschreckt mich alles nicht mehr so sehr, und ich glaube, ich werde ihn ganz fröhlich heiraten.« Ganz losgelöst von der Frage, ob sie jetzt überhaupt heiraten sollte, war ihre Unentschlossenheit nicht nur eine Widerspiegelung ihrer ambivalenten Veranlagung, sondern auch, ohne daß sie es wußte, eine Antwort an Harold: Immer wenn Harold das Heft in die Hand nahm, reagierte sie beinahe dankbar, als sei es genau das gewesen, worauf sie gewartet hatte.

Kapitel 5

Mit schwarzbemaltem Gesicht, spielte Vita den jungen Kalifen im »Persischen Spiel«, das über Neujahr 1913 in der Großen Halle aufgeführt wurde. Rosamund war Suleika, ein Tanzmädchen, Violet eine Sklavin. Dada, Olive Rubens und Muriel Clark Kerr waren ebenfalls mit von der Partie. Die Zuschauer waren »entsetzlich protzig« und bestanden aus Peers und Kabinettsministern; eingeladen hatte Lady Sackville auch deren Damen - und Patrick Shaw-Stewart und Edward Horner. Harold hatte sein Auto, Green Archie, Vita überlassen, und zusammen mit Patrick und Rosamund machte sie regen Gebrauch davon. Ihr Vater überließ ihr einen Raum in Green Court, den sie als »Studio« nutzen konnte; es machte ihr großes Vergnügen, ihn herzurichten. »Ich habe nicht im geringsten den Wunsch, Knole zu verlassen und nach Wien zu gehen!« schrieb sie, als sie ihr neues Zimmer bezog. In ihren Briefen an Harold machte sie keinen Versuch, ihm zu verbergen, daß ihr das diplomatische Leben mißfiel. »Und die Diplomatie werde ich natürlich hassen!... Aber ich liebe dich, kleiner Harold, was sollen wir also dagegen tun?« Ihre Freundinnen umschwirrten sie selbstsüchtig. Rosamund, auf Violet und Muriel gleichermaßen eifersüchtig, überschüttete Vita mit Briefen, nachdem sie Knole verlassen hatte. »Mein süßer Liebling... ich vermisse dich so sehr. Liebling, und ich möchte dein weiches, kühles Gesicht spüren, das, wie gestern nacht, aus der Masse flauschigen Pelzes hervorkommt.« Vita war verärgert, als ihre Mutter ihr berichtete. Mrs. Keppel habe sich darüber beklagt, Vita sei so viel mit Rosamund zusammen, daß sie für ihre Violet keine Zeit mehr fände. Die   Beziehung   zwischen   Vitas   Eltern   verschlechterte   sich. »Mamma will nicht einsehen, daß es auf beiden Seiten Fehler geben kann. Ich habe sehr offen mit ihr gesprochen, und sie war wütend ... Diese ganze Sache macht mich wirklich sehr unglücklich.« Die Schwierigkeiten ihrer Eltern, der anstehende Rechtsstreit über Seerys Testament. Vitas Unschlüssigkeit in bezug auf ihre Heirat und die Eifersüchteleien zwischen ihren weiblichen Anhängseln sorgten dafür, daß die emotionale Temperatur in Knole gefährlich anstieg.
Auf einem Ball im Februar machte Ivan Hay zum zweiten mal einen Antrag. Rosamunds Einstellung gegenüber Vitas männlichen Verehrern war einfach: »Liebling, ich neige zu der Auffassung: >Männer kommen und Männer gehen, aber ich bleibe für immer«, das ist es doch, worauf es hinausläuft, oder?« Währenddessen enthüllten Vita und Harold in ihren Briefen Teile ihrer Unsicherheiten — Harold ernsthaft, Vita neckend. Vita am 15. Februar 1913 an Harold:

  • »Und du weißt, daß ich nicht »kultiviert« bin (wie könntest du!), sondern durch und durch primitiv; und nicht 1913, sondern 1470; und nicht >modern<. und du weißt, daß ich hübscher bin als jede andere, und du liebst mich mehr als irgend jemanden auf der Welt - du weißt, daß du s tust... und du weißt, wenn ich mein schönes Knole aufgebe, das ich verehre, und meine B.M.* (*B.M. für Bonne Maman: Hamids Name für Lady Sackville, den Vita übernahm), die ich verehre, und mein Ghirlandaio-Zimmer, das ich verehre, und meine Bücher und meinen Garten und meine Freiheit, die ich verehre - geschieht es nur deinetwegen, wo ich mir doch aus dir nicht das geringste mache.«

Sie beschrieb ihm eine Gesellschaft, die sie mit Violet gegeben hatte, »der Erfolg des Jahres«. Sie berichtete ihm - Lord Lascelles' Identität verbergend -von einem Bewunderer, der ein »Protz« sei, »protziger, als du dir je träumen ließest, die protzigste Person, die es gibt, und er läßt öffentliche Festessen sausen, um herzukommen ...«
Er schrieb ihr einen traurigen Brief. »Er sagt, seit 10 Tagen hätte ich ihm nicht geschrieben, ich besuche nie seine Mutter und liebe ihn nicht mehr. Ich weiß nicht, was ich antworten soll.« Als ihr am 9. März, ihrem 21. Geburtstag, das wertvolle Perlenhalsband ausgehändigt wurde, das Seery ihr hinterlassen hatte, bemerkte Harold betrübt, es sei halb soviel wert wie alles, was er auf der Welt sein eigen nenne. Alle Bewunderer Vitas, mit Ausnahme des abwesenden Harold, waren auf dem Kostümball anläßlich von Vitas Geburtstag zugegen. Kenneth Campbell brachte den Toast aus. »Ich bin beute glücklich gewesen«, schrieb Vita in ihr Tagebuch. »Vita sah scheußlich aus, mein Gott, als italienische Bettlerin!« lautete das Urteil ihrer Mutter. Lord Lascelles war ein Pierrot, und Patrick kam als Fellow of All Soles, seinen roten Domino mit Pantoffeln behängen. Das wirkliche Drama der Gefühle fand ohne Männer statt. »Diese Eifersucht zwischen Rosamund und Violet wird böse enden«, notierte Vita düster. Zwei Tage später in London ging sie mit Violet in den Park. »Sie ist verrückt; sie küßte mich, wie sie es gewöhnlich nicht zu tun pflegt, und sagte mir, sie liebe mich: Rose weiß nicht, daß ich heute abend mit. V. ausging.« Lord Lascelles, durch seine Einladung zu der Gesellschaft ermutigt, startete eine neue Attacke. »Du weißt sehr gut, daß du nicht willst, daß der >arme, kleine Junge zurückkommt und Theater macht... Es ist absurd, sich aus lauter Mitleid nach Rio oder in die Türkei zu verbannen.« Und zwei Tage später: »Wir sollten im Sommer heiraten, und die ganze Sache muß unter Dach und Fach gebracht werden, wenn du aus Spanien zurückkommst.« Vita spielte weiterhin auf Zeit.
Wegen seiner phantastisch-abenteuerlichen Verbindung mit Pepita war Spanien für Vita ein Land von hohem romantischen Reiz. »Weißt du, es ist mein Land. Harold, und meine Verwandten leben dort, sind dünkelhaft, arm und stolz und stammen, wie ich, von Lukrezia Borgia ab - Spanien und Italien werden eins.«
Mrs. Charles Hunter, bei der sie sich oft in Hill Hall aufgehalten hatte, nahm sie mit nach Spanien. Mary Hunter, die Schwester der Komponistin Ethel Smyth, nahm Künstler und Musiker mit verschwenderischer Gastfreundschaft bei sich auf, bis ihr 1931 das Geld ausging und sie alles verkaufen mußte, was sie besaß.
Am Bahnhof wurde Vita von Rosamund und ihrer Zofe Emily verabschiedet, die beide weinten. An der spanischen Grenze angekommen, notierte Vita: »Ich vermisse Rose schrecklich. Ich hätte das nicht für möglich gehalten.« Rosamund schickte einen Brief, der vor Vita im Madrider Ritz eintraf: »Ich glaube sicher zu wissen, daß H. dir nie soviel bedeuten könnte, meine kleine Mar, und bei mir bin ich noch sicherer - ich denke, wir könnten Schlimmeres tun, als unsere Leben zusammen zu verbringen, ich meine, in künftigen Tagen, falls keiner von uns beiden etwas gefunden hat, das zerstören kann, was wir besitzen.« Mrs. Hunters schockierende Konversation und ihr herausforderndes Benehmen versetzten Vita in Erstaunen: Jahrzehnte später hatte sie noch nicht vergessen, mit welcher Leichtfertigkeit sie mit den ellbogenlangen weißen Handschuhen aus Velours umging: »Sobald sie anfingen, schmutzig zu werden, streifte sie sie ab und warf sie zum Fenster hinaus.«[1] Kaum in Spanien angekommen, war Rosamund vergessen und Harold ebenso; sie konnte ihm nicht einmal schreiben. In Madrid verschlug es ihr die Sprache, als sie Pastora Imperio tanzen sah. Sie wurden von dem Linguisten und künftigen Schriftsteller Maurice Baring herumgeführt, »ein wirklich sehr charmanter Mann«, und in Sevilla von dem jungen Diplomaten Claude Russell, der sie interessierte - »gewöhnlich und egoistisch und höchst negativ, aber dennoch sehr attraktiv«, wie sie an Harold schrieb, als sie sich wieder imstande fühlte zu schreiben. Claude nahm sie zu Stierkämpfen mit: sie sah den großen Belmonte. Er führte sie zu den Zigeunern, die sangen und tanzten, und sie war fasziniert. »Gott, wie frei und glücklich ich mich fühle!« Sie aßen mit den Tänzern und wurden in deren Haus eingeladen. «Diese Art des Bohemienlebens gefällt mir sehr gut.« Rosamund, die ähnliche Schwärmereien empfing, schrieb mißbilligend zurück. Vita war empört. »Sie ist ein blödes kleines Ding, und ihre Konventionalität macht mich rasend. Ich denke, man wird entweder als ein freier Geist oder als Gefangener geboren.« Sie reisten weiter nach Granada und von dort nach Algeciras, wo Vita einen höchst überraschenden Brief von Rosamund empfing, die sich in Dartmouth befand. Plötzlich war sie selbst ein freier Geist, der sich einer Romanze mit einem Lehrer an der dortigen Seefahrtsschule, Commander Reggie Raikes. erfreute. Vita nahm auf der Stelle mit einem schneidenden Brief Rache, der darauf abzielte, Rosamund so heftig wie möglich zu verletzen. Sie war sarkastisch und kalt, schrieb, sie habe beschlossen, Violet mit nach Florenz in die Villa Pestellini zu nehmen, und sie habe leider keine Zeit zu schreiben. Sie schloß: »Oh, wenn ich dich mit der Spitze meines Federhalters durchlöchern könnte wie mit einem Schwert, dann würde ich's tun!« Das war offenkundige Schauspielerei, aber Vita glaubte an die Rollen, die sie spielte. Über Italien kehrte sie nach Hause zurück und wohnte in Ravello bei den Keppels in der Villa von Lord Grimthorpe (der höchstwahrscheinlich Violets richtiger Vater war); und als sie heimkam, war Rosamund mit ihrem achtunddreißigjährigen Seeoffizier verlobt - doch ohne innere Überzeugung. Sie schrieb an Vita: »Oh, meine Süße, weißt du eigentlich, daß nichts, was auch geschieht, mich dazu bringen könnte, dich weniger zu lieben? Ich glaube wirklich, du hast mich schon all meiner Liebe beraubt, da sehr wenig übrig geblieben scheint und ich so kalt und herzlos bin.«
Als sie im Mai allein in Knole war und das spanische Abenteuer ein Gefühl der Leere zurückließ, glaubte sie beinahe, daß »ich Harold dieses Jahr heiraten und alles hinter mich bringen will«. Die Niedergeschlagenheit ließ sie den umgekehrten Kurs einschlagen: Sie schickte ihm »einen Brief, der ihn an die Decke springen lassen wird« und löste die Verlobung. Sie identifizierte sich mit ihrer Mutter, die so unglücklich war, und kam zu dem Schluß, sie seien beide ungezäumte Pferde. Doch sie liebte auch ihren Vater. »Er. der >Nette<, der arme Liebe; er ist immer nett, immer ein absoluter Engel, aber zu schlichten Gemüts, um sich im Labyrinth ihres Wesens zurechtzufinden.«
Konnte Harold. der ebenfalls »immer nett« war, sich in dem Labyrinth von Vitas Wesen zurechtfinden? Konnte es Rosamund? Oder Violet? Die Letztgenannte kam nachts in Vitas Zimmer »und blieb ich weiß nicht wie lange; sie hat unser letztes Lebewohl nicht bereut und liebt mich mehr denn je. Sie ist faszinierend und hat einen langen Weg vor sich.« Violet gegenüber erwähnte Vita Harold mit keinem Wort. Vita spielte mit ihrem Vater Tennis, als Harolds Telegramm eintraf. Er fragte bloß, ob er ihren Brief ernst nehmen solle. Sie drahtete zurück: »Nein« - »und dann wußte ich kaum noch, was sich in meinem Herzen abspielte: etwas klickte, und von diesem Tage an liebte ich Harold.« Es war die »Energie«, mit der er ihr ein Telegramm schickte, die sie beeindruckte; das zeigte ihr, wieviel sie ihm bedeutete. Ihrem Telegramm ließ sie einen beruhigenden Brief folgen.
»Doch ich setzte meine Liaison mit Rosamund fort.« Vita stürzte sich wieder in die Londoner Saison und amüsierte sich auf dem Ball der Herzogin von Marlborough «meistens mit Claude [Russell]«. Im Ritz speiste sie mit dem Bildhauer Rodin, dem Maler Sargent und Mrs. Astor:

  • »Ich mag diese Art von Gesellschaften, sie sind eine solch angenehme Abwechslung nach all den rosa und weißen Kleidchen, neben denen man sich auf Dinner-Parties bei Bällen wiederfindet. Nach zwei Tagen bin ich ihrer überdrüssig, ausgenommen ein sehr schöner Ball in Sunderland House, un bal un peu propre, nicht eines jener Getümmel wie im Ritz, sondern ein Ball, auf dem gepuderte Lakaien Herzoginnen ausriefen. N'est-ce pas dégoutant d'être snob à ce point-là?«

Vita liebte Gesellschaften in sehr großem Stil, und sie mochte das unkonventionelle bohemienhafte Leben. Was sie nicht mochte, war das Mittelmäßige. Violet gab eine Geburtstagsfeier: »the dansant! Das ist wirklich sehr originell.« Auf Mrs. Sassoons Ball im Juni sagten einige Leute, Vita sei mit Harold Nicolson verlobt (der im folgenden Monat zu rückerwartet wurde), andere behaupteten, sie sei mit Bogey Harris verlobt, der ihr auf dem orientalischen Abend bei Mrs. Carpenter dezidierte Aufmerksamkeit schenkte. »Er sagt, ich sei einmalig, ich sei Römerin, Sizilianerin, Griechin, Venezianerin, ich weiß nicht, was noch ... Danach, als wir wie die Verrückten tanzten, war es einer der besten Abende.«
Doch zu eben dieser Zeit schrieb sie in ihr Tagebuch: »In diesen Tagen denke ich so oft an Harold, daß ich nicht schlafen kann. Ich habe ein rasendes Verlangen, ihn wiederzusehen, und ich kann ihn nicht aus meinem Leben gehen lassen. Ich werde ihn heiraten.«
Irene Hogarth hatte geheiratet und war jetzt Mrs. Pirie. »Das Verheiratetsein bekommt ihr.« Sogar Violet hatte sich verlobt — mit Lord Gerald Wellesley, während er auf Urlaub in England war: er war in Konstantinopel ein Kollege Harolds bei der Britischen Gesandtschaft. Er hatte Violet einen Ring gegeben; Harold hatte Vita keinen geschenkt.
»Weißt du, daß es mir nicht einmal in den Kopf gekommen ist, dir einen Ring zu schenken? Denkst du nicht auch, daß das ein recht gutes Zeichen ist?« Die gesellschaftliche Aktivität fand im Juni 1913 ihren Höhepunkt in der von großem öffentlichen Interesse begleiteten Gerichtsverhandlung, in welcher die Familie Scott Seerys Testament anfocht. Ein paar Tage vor Prozeßbeginn speiste Vita allein mit ihren Eltern in Knole, und man diskutierte das bevorstehende Ereignis, als Lady Sackville, nachdem ihr Gatte ihr »mit vernünftigen Gründen widersprochen« hatte, aus dem Eßzimmer ging und sagte, sie werde ihn verlassen. Vita schrieb: »Ich habe Angst davor, daß sie es tun wird, wenn ich fort bin... 0 Gott, ich bin so erregt.« Diese Atmosphäre herrschte in der Familie, als der Prozeß begann. Lady Sackville zeigte sich der Lage gewachsen und trat wie eine Siegerin auf. Harald befand sich auf dem Rückweg, als er die Berichte über den Prozeß in französischen Zeitungen las. Er eilte zurück und wohnte der Verhandlung in der zweiten Woche mit den Sackvilles und Rosamund bei.
Es war ein kitzliger Fall: Die Scotts waren darauf aus zu beweisen, daß Lady Sackville Seery in unzulässiger Weise beeinflußt habe, was alle Arten von unerfreulichen Dingen über ihre sexuelle und geschäftliche Moral sowie die ihres Gatten einschloß. Damen der Gesellschaft brachten Kissen mit und besetzten die Zuhörerreihen. Die Zeitungen berichteten über den Verlauf jedes Prozeßtages, wobei sie Vita vertraulich mit einem von Seery geprägten Kosenamen als »Kindchen« bezeichneten. Vom Anwalt der Scotts. FE. Smith, wurde Lord Sackville wegen seines Golfspielens mit Lady Connie ins Kreuzverhör genommen. Vita wurde von Sir Edward Carson, dem Prozeßbevollmächtigten Lady Sackvilles, aufgerufen, um die Aussage eines Major Arbuthnot zu entkräften, der an einem Abend im Juli 1911 gesehen haben wollte, wie Lady Sackville heimlich Seerys Privatpapiere durchstöberte. Vita sagte voller Würde aus, sie selbst habe sich an dem besagten Tage nicht wohlgefühlt, ihre Mutter sei zu Hause gewesen und habe oben mit ihr gespeist. Später schrieb sie, sie habe sich gefühlt wie auf einem Präsentierteller. Sie nahm die ganze Angelegenheit, vielleicht eine Abwehrmaßnahme, auf die leichte Schulter - die Zeitungen wußten zu berichten, daß »Kindchen« während der Verhandlung mit Harold und Rosamund tuschelte und lachte - und begriff erst später, wie tief demütigend und schmerzlich der Prozeß für ihren Vater war. Als er vorüber war, suchte er Trost in den Armen von Olive Rubens.
Lady Sackvilles Auftritt im Zeugenstand war, wie Vita in ihrem Tagebuch schrieb, »wunderbar, eine Offenbarung«. In »Marian Strangways« beschrieb sie die Virtuosität ihrer Mutter:

  • »Ihre Aussage war in ihrer Unbestimmbarkeit ein wahres Wunder; sie hielt das Gericht in Atem, bezauberte den Richter, zog die Jury in ihr Vertrauen, schlug den gegnerischen Anwalt in die Flucht, weinte an bestimmten Punkten, sah schön und besorgt aus und fesselte Marian [Vita] mit vermehrter Leidenschaft... Marian wurde von stürmischer Verehrung für ihre Mutter fortgerissen. Sie kritisierte nichts.«

So war denn für Vita das unmittelbare Ergebnis dieses Prozesses »eine neue Vergötterung ihrer Mutter, die viele Jahre lang in ihr aufgespeichert gewesen war«. Unter Vitas Papieren finden sich fünf Seiten mit einer hingerissenen Analyse der Persönlichkeit ihrer Mutter, geschrieben nach dem Prozeß  der am 1. Juli 1913 mit einem Triumph für Lady Sackville und ihrer Rechtfertigung endete. Jetzt stand das Einkommen von 150 000 Pfund zu ihrer Verfügung (das Kapital wanderte dem Ehekontrakt entsprechend in den Sackville Trust), dazu alle wertvollen Möbel Seerys aus Paris. Diese verkaufte sie en bloc an den Händler Jacques Seligman für eine Summe von 270 000 Pfund; einige Stücke endeten in der Frick Collection in New York. (Seery hatte über 1 Million Pfund hinterlassen: wahrlich genug für seine aufgebrachten Brüder und Schwestern.) Lady Sackville verlor keine Zeit und ließ ihren extravaganten Neigungen die Zügel schießen. »Wie sie in diesem Jahr mit dem Geld um sich warf!«
Vitas Wiedervereinigung mit Harold hatte sich vollzogen, ohne allzuviel Aufmerksamkeit zu erregen, überdeckt vom Wirbel um den Prozeß. Eine Woche später wurde ihre Verlobung in einer Klatschspalte des Daily Sketch »angezeigt«, was wütende Briefe von Lord Kasuelles zur Folge hatte. Vita mußte ihm schließlich ihre feste Absicht bekunden, Harold im Oktober zu heiraten. Während sie mit ihrer Mutter und Harold allein in Knole war, schrieb sie zwei Gedichte. »Wir drei sind so glücklich, als seien wir immer zusammengewesen!« Die frisch Verlobten verbrachten ein Wochenende bei den Hunters in Hill Hall: es war eine prächtige Hausgesellschaft, und unter den Gästen waren der Herzog von Alba, die Prinzessin de Polignac, Bernard Berenson, Edith Wharton. Ethel Smith (»schreckliche Frau«), Lady Cunard und Thomas Beecham. Die beiden jungen Leute hielten sich abseits. »Nach dem Lunch sprach ich auf dem Rasen wieder mit Harold; wir waren glücklich.« Sie waren glücklich wie die Kinder, wie »mars«. wie sie oft sagten.
In ihrem Gedicht »MCMXIII« besang Vita diese wunderbare Befreiung von den dumpfen Gefühlen, die sie umgeben hatten:

Ich lief ihm nach ins Sonnenlicht
Und lachte, wie er 's wollt".
Wir spielten jeden Tag im Gras.
Bis wir uns ausgetollt.[2]

Wieder in Knole, trug sie in ihr Tagebuch nach: »Ich liebe ihn so sehr. Nun gibt es keinen Zweifel; anfangs liebte ich ihn einen Tag lang und nicht am nächsten: doch jetzt denke ich an nichts als an ihn: ich würde morgen mit ihm fortgehen, sogar nach Wien: nichts ängstigt mich.«
Doch sie kamen einander nicht zu nahe: wenn sie getrennt waren, drückten sie in ihren Briefen mehr aus und waren ebenso glücklich. »Der Nektar zwischen ihnen kristallisierte sich in den Buchstaben und wurde etwas Dauerhaftes: ein Schimmer vom Paradies, der eine Rückkehr erlaubte.«[3] So begründeten sie schon früh diese parallele Beziehung zwischen ihren verschiedenen briefeschreibenden Ichs. Dies sollte die Hauptstütze ihrer Ehe werden, eine ununterbrochene Kommunikation, wenn sich nicht bloß die Geographie, sondern Launen und andere Leute trennend dazwischenschoben. Harold konnte wie ein Liebhaber an Vita schreiben und Dinge sagen, die er nie aussprechen konnte:

  • »Aber wenn ich an Oktober denke, Liebling, wird mir so sonderbar - oh, mein liebster Liebling Vita, die mir eines Tages ganz und gar gehören wird - gehören auf eine Weise, die nichts mit Besitzen zu tun hat - und die wie eine Art feuriger Verschmelzung sein wird. Liebling - und es werden in unserer unglaublichen Ehe so viele wunderbare, schrecklich unergründliche Dinge passieren... oh, mein Liebling, du weißt nicht, wie leidenschaftlich ich bin - und wie mich das erschreckt - und wie froh ich darüber bin.«

Im August, an einem Bank-Holiday-Wochenende, fuhren sie mit B.M. in ihrem Rolls nach Somerset zu Mrs. Heneage in Coker Court, »während der ganzen Fahrt Möbel kaufend«. Lady Sackville half ihnen bei der Auswahl eines mit Diamanten und Smaragden besetzten Verlobungsringes, und die bevorstehende Hochzeit wurde in der Morning Post offiziell angekündigt. Vita suchte mit ihrer Mutter den Couturier Reville auf, um das Hochzeitskleid zu besprechen, (Lady Sackville war todunglücklich über die Leidenschaft ihres Gatten für Olive Rubens; sie lenkte sich ab, indem sie mit ungestümer Extravaganz für Vita einkaufte.)
Die Ankündigung rief bei Rosamund Tränenfluten hervor, die fand, ihr biederer Seemann sei ein zu ärmlicher Trostpreis. Vita war nun »kalt wie Eis« gegen Rosamund, was Harold, der sie mochte, nicht verstand. Andererseits hielt er Violet für ein »vulgäres kleines Mädchen«. Harold hatte auch gedacht, Vita würde ein wenig netter zu seiner Mutter und zu seiner kleinen Schwester Gwen sein: »Sie ist eine so leidenschaftlich zärtliche Persönlichkeit, und sie hat eine Persönlichkeit.« Vita konnte nie mehr als eine gespielte Begeisterung für Sir Arthur Nicolson und noch weniger für Lady Nicolson aufbringen. Sie mochte Harolds großartigen Freund, Archie Clark Kerr - »der einzige unter meinen Freunden«, wie er Vita sagte, »zu dem ich mich gefühlsmäßig hingezogen fühle«. Ende August machten sie eine Spritztour mit B. M. nach Interlaken, wo sich ihnen William Waldorf Astor anschloß. Er belegte Lady Sackville mit ihrem Einverständnis gänzlich mit Beschlag, wodurch sich das junge Paar mit mehr Freiheit konfrontiert sah. als es erwartet hatte: Vitas Tagebuch verrät einige Überraschung, ja eine gewisse Bestürzung, daß ihre Mutter sie auf diese Weise sich selbst überließ. (B.M."s dynamische Präsenz war angesichts ihrer noch zaghaften Beziehung eine große Stütze.) Sie gerierten sich eher als Kameraden denn als Liebende; als Vita sich nicht wohl fühlte,

  • »zog Harold mein Bett unter das Fenster, und wir beobachteten den Sonnenuntergang auf dem schneebedeckten Berg... Wir waren zusammen so glücklich.«

Rosamunds Verzweiflung stand in Briefen; »Immer geht's nur um Harold, Harold. und ich weiß jetzt, daß du mich und alles ihm opfern wirst.« Während Vita im Ausland war. druckte The English Review das Gedicht »A Dancing Elf«. das erste ihrer Gedichte, das im Druck erschien: es bezog sich auf Rosamund in der Villa Pestellini, war »R.G.« gewidmet und datiert »Florenz 1912«. Der Daily Sketch griff das auf, fragte bescheiden: »Wer ist der glückliche >R.G.<?«. und telegraphierte nach Knole, um es in Erfahrung zu bringen. Dada schrieb an Vita und meinte, er nehme an, sie habe wohl kein besonderes Interesse daran, den Sketch wissen zu lassen, wer >R. G.< sei: er ergriff die Gelegenheit, um ein wenig mehr zu sagen:

  • »Du weißt, wie schwer ich mich damit tue, Dinge auszusprechen, doch ich bin froh, dich so glücklich zu sehen, wie du nach meiner Meinung jetzt bist, und es ist doch eine schöne Sache, jemanden gern zu haben, nicht wahr? Und du weißt, daß ich Harold schrecklich gut leiden kann, es hat mich nie im geringsten gestört, daß er kein Herzog ist... du schuldest Harold eine ganze Menge, weil er so lieb zu dir war, denn für einen Mann ist es eine große Sache, dir all seine Liebe zu schenken, und die muß ihm entsprechend vergolten werden.«

Rosamund, weit entfernt, sich durch die Veröffentlichung der »Dancing Elf« geschmeichelt zu fühlen, war außer sich. »Wie kannst du es wagen, dieses schöne Gedicht, das nur mir ganz allein gehört, in einer ordinären Zeitung zu veröffentlichen, wo alle Augen des gewöhnlichen Publikums es begaffen können?«
Über Paris trat Vita mit ihrer Mutter die Heimreise an; sie fand sie »verschwenderisch« und »bewunderungswürdig«, als sie sich wegen der Aussteuer umsahen. Einer plötzlichen Laune folgend, nahm Lady Sackville ihre Tochter mit zum Juwelier Chaumet und »kaufte plötzlich eine Kette aus Smaragden und Diamanten, die sie mir schenkte. Sie ist phantastisch, und ich bin überwältigt. Sie ist wirklich ein unvergleichliches Geschöpf.« Vita ging allein in die Rue Varennes, um Rodin, wie beim Treffen in London verabredet, zu besuchen, und er gab ihr als Hochzeitsgeschenk die kleine signierte Bronze eines schreitenden Mannes. Damit konnte Harold nicht konkurrieren; er fühlte sich beiseite geschoben: »Ich empfinde es als schrecklich, daß du dich so wenig um mich kümmerst... Ich habe wirklich nichts dagegen, denn alles, was ich mir in bezug auf dich wünsche, ist, daß ich dich anbeten kann - und dann, wenn wir verheiratet sind, wirst du dich vielleicht auch um mich kümmern. Ich meine, wirklich kümmern - nicht nur so tun. Ich weiß zwar, daß du dich bereits mehr als sonst um mich kümmerst - aber es ist nicht die völlige Preisgabe deiner selbst, die ich spüre.«
Bis zur Hochzeit waren es noch vierzehn Tage. Harolds Empfindungen trafen zu. Vita wurde von ihrer Mutter in Anspruch und in Besitz genommen, die in ihrer allerschönsten Rolle, ihrer Tochter zum ersten Mal seit Jahren ihre ganze Aufmerksamkeit und Zustimmung zuteil werden ließ und sie mit Geschenken überhäufte. Vita war der Auffassung, die Liebe sei »un poison mortel dont on demande encore«.[4] In »Marian Strangways« beschrieb sie, wie wenig von dem »poison mortel« sie während ihrer Verlobungszeit in Harold oder in ihrer Beziehung zu ihm fand, aber viel von dem »fröhlichen Führer«:

Gewahr einen Jüngling, der einherschritt.
Die Federkappe auf der Stirn, und
Eine goldene Rute schwang.
Mit einer Miene, die zum Morgen paßte.
Und fröhlicher, entzückender Vermummung...[5]

Ein Gedicht, das, wie sie schrieb, kein Liebesgedicht sein solle, »doch vielleicht als das echteste Liebesgedicht von allen verwendbar«. Sie und er waren »mehr als Liebende, sie waren Freunde... und sagten ernsthaft eine zukünftige glücklichere Welt voraus, wenn die Ehen sich auf solch freundschaftliche Lauterkeit gründeten«.
Was sie an Harold liebte, waren seine Heiterkeit, sein Optimismus, seine Toleranz, seine Intelligenz und seine Ehrlichkeit. Ob alles das ausreichte, »mehr als Liebende« aus ihnen zu machen oder weniger, ist Ansichtssache. Es war eine der Auswirkungen seiner Ehrlichkeit und Schlichtheit, daß er sie dazu brachte, ihre Mutter, zu einer Zeit, als sie sich näher waren als je zuvor, in einem weniger strahlenden Licht zu sehen. »In ihr erwachte bereits eine zaghafte Verwunderung über die Methoden ihrer Mutter; sie erkannte jetzt, daß Basil [Harold] schlicht und unbeschwert war... verwirrt rätselte sie über den Unterschied zwischen ihm und ihrer Mutter, doch sie trat ziemlich erbärmlich den Rückzug an, als sie fürchtete, auf eine enthüllende Wahrheit zu stoßen, die mit ihrer Loyalität nicht in Einklang zu bringen war.«[6]
 Die Hochzeit fand am 1. Oktober 1913 in der Kapelle von Knole statt. Die Tage davor waren spannungsgeladen. Rosamund machte Szenen wegen Harolds Brautjungfer-Geschenk, nahm sich aber schließlich zusammen. In der Großen Halle waren mehr als sechshundert Hochzeitsgeschenke aufgebaut, darunter die prachtvollen Juwelen, überwiegend Smaragde und Diamanten, die Vita von Lady Sackville bekommen hatte. Lord Lascelles schickte eine Hutnadel aus Kristall und Diamanten. Orazio Pucci ein Schildpattkästchen; Violet Keppel sandte einen Ring mit Amethysten und Diamanten, erschien jedoch nicht zur Hochzeit. »Ich bin todmüde«, schrieb Vita am Vorabend ihrer Hochzeit in ihr Tagebuch, »und heute abend weinte ich beim Gedanken an Knole eine Stunde lang. Rose heiterte mich auf, sie ist eine gute, liebe Freundin, und ich schätze sie. - Die letzte Nacht...«
Unter ihr Gedicht »To Knole« setzte sie das Datum 1. Oktober 1913:

Und so verließ ich dich, von Menschen voll und Licht,
Und niemand wußte, ob ich lachte oder klagte.
Die wahren, tiefen Abschiedsworte, die ich sagte
In jener langen Nacht vorher, sie kannten sie nicht.

An diesem Abend hatte ihre Mutter ihr mitgeteilt, sie fühle sich zu unwohl, um an der Zeremonie teilzunehmen. Es gab ein allgemeines Gemurmel des Mitgefühls und Bedauerns - und eine allgemeine Erleichterung. Am Hochzeitsmorgen hatten Harold und Vita eine »heftige, unpersönliche Auseinandersetzung« wegen der Anordnung ihrer Geschenke. Doch in der Kapelle trafen sich ihre Blicke, »und beiden schoß gleichzeitig der Gedanke durch den Kopf, dies sei der aufregendste Jux, dem sie so viel Vergnügen wie möglich abgewinnen mußten«.[8] Rosamund und Harolds Schwester, Gwen, waren die obersten Brautjungfern. Der Bischof von Rochester traute sie: Walter Rubens spielte Orgel, und Olive Rubens, »in kastanienrotem Samt, verbrämt mit Skunkpelz«. sang. Vita trug ein Kleid aus naturfarbener Seide mit goldenen Applikationen. In der Kapelle selbst war lediglich Platz für sechsundzwanzig Personen: jedoch Hunderte, an der Spitze vier Herzoginnen und alle Geschworenen aus dem Seery-Prozeß (von Lady Sackville eingeladen), waren in der Empfangshalle.
Wenn man Vitas Schilderung in »Marian Strangways« Glauben schenken kann, benahm sich Harold hier sonderbar: »Er wollte nicht an ihrer Seite stehen, um in der Großen Halle die Glückwünsche entgegenzunehmen, sondern verschwand in der Bibliothek, um ein Buch zu lesen.« Vielleicht hat er das tatsächlich für einen Moment lang getan. Weitaus frostiger ist die Beschreibung ihres Aufbruchs. Sie, in ihrem neuen Leopardenpelz - ein weiteres verschwenderisches Geschenk ihrer Mutter - eilte allein auf die Hintertür zu. »Man hielt sie zurück und sagte: »Nicht dort entlang. Und du hast etwas vergessene - verwirrt sah sie auf. »Deinen Ehemann.« Sie schafften ihren Ehemann von irgendwo herbei... und jemand führte ihren Hund an der Leine.« Falls diese Beschreibung keine historische Wahrheit enthält, offenbart sie vielleicht etwas von Vitas dichterischer Wahrheit. Im Zug aßen sie Sandwiches und tranken Champagner aus einer Thermosflasche. Vita fühlte sich gehemmt - »ganz fröhlich und so sanft und lieb«, wie Harold B.M. berichtete - und ging schlafen. Es war neun Uhr abends, als sie in (Joker Court ankamen, das ihnen Mrs. Heneage für den Beginn ihrer Flitterwochen zur Verfügung gestellt hatte.  
Was Vita in dieser Nacht in ihrem Zimmer in Coker schrieb - sie hatten Zimmer mit Verbindungstüren - war sehr schlicht:

  • »Heute heiratete ich Harold. Mama stand nicht auf... Gegen Mittag ließ ich mich ankleiden, ganz in Gold, es war ein großer Erfolg. Dann ging ich zu Mama, zusammen mit Rose, Gwen und den bei den Kindern, Diana [Sackville-West] und Rosemary Stanley, und darauf traf ich mich mit Dada im Ballsaal, um in die Kapelle zu gehen. Im Korridor standen Soldaten in Reih und Glied. Während des Gottesdienstes war ich sehr froh, später waren so viele Leute da... Briefe und Telegramme kamen, und wir speisten in dem winzigen Zimmer neben dem Speisesaal. Dunque si é culminato cosi!«

Diesen rätselhaften Kommentar hat sie in »Marian Strangways« erweitert. Nach dem Dinner blieb Harold sitzen und erzählte ihr ausführlich von seinem Onkel, Lord Dufferin und Ava, der Vizekönig von Indien gewesen war. Sie hörte schweigend zu und dachte, daß »dies nun der Höhepunkt dieser Monate war, das unmittelbare Resultat jener Worte, die sie gesprochen hatten, als sie während eines Balls auf lächerlichen Hutschachteln saßen; darin hatte sich für sie das Geheimnis des Lebens erfüllt«.
Und so ging man schließlich zu Bett.