Kapitel 6
Am nächsten Morgen saßen sie im Garten und schrieben Briefe. Vita an ihre Mutter: »Ich kann dir kaum beschreiben, wie taktvoll und zart und rücksichtsvoll Harold gewesen ist, und ich hätte nicht geglaubt, daß ein solches Glück möglich sei. Ich werde dir eine Menge erzählen, das ich nicht niederschreiben kann.« Und am selben Tag in ihrem Tagebuch: »Nun erscheint mir alles wahr. Ich hätte mir ein solches Glück nie träumen lassen.«
Als sie zwei Tage später nach London zurückkehrten, schlief Vita in Hill Street und Harold bei seinen Eltern in Gadogan Gardens, »ein beklagenswertes Arrangement«, wie er sagte. Vita unternahm mit ihrer Mutter lange Spaziergänge in St. James' Park.
In »Marian Strangways«, nicht lange nach ihrer Hochzeit verfaßt, hatte Vita ihr erstes sexuelles Erlebnis in höchst bejahender und freundlicher Weise beschrieben - in einer etwas blumigen Sprache:
- »Dann veränderte sich alles, rasend schnell und überwältigend, und sie wußte bloß, daß sie in der wilden Nacht zermalmt in seinen Armen lag... Sie wußte, daß endlich eine unwiderstehliche kosmische Naturgewalt, die sich nicht länger zurückhalten ließ, ihre beiden Leben zusammengeschleudert und sie zu einem einzigen verschmolzen hatte... Jetzt erkannte sie, wie viele leere Räume es in ihrem Leben gegeben hatte, und sie wurden bis an den Rand gefüllt durch die Fluten aufquellender Flüsse. Ihre kameradschaftliche Liebe zu Basil [Harold], halb freundschaftlich, halb spielgefährtenhaft, hatte nicht ausgereicht. Sie verlor alle Vernunft, und es blieben nur ihre primitiven Instinkte... Er war ihr Mann und ihr Meister, und in ihrer erwachenden Weiblichkeit ersehnte sie nichts anderes, als ihm mit der erniedrigendsten Unterwerfung zu Willen zu sein.«
Wenngleich romantisiert und vielleicht überlagert durch ein gewisses Quantum an Wunschdenken, ist »Marian Strangways« der Niederschlag der konventionellen heterosexuellen Entwicklung Vitas; das Manuskript von 1920, veröffentlicht in Portrait einer Ehe, legt Zeugnis ab von der anderen Seite ihres Wesens und von ihrer Liebe zu einer Frau. Geschrieben ist es mit einer Spur Reue und Stolz und durch die Tatsache ein wenig verzerrt, daß sie noch immer eine enge Beziehung zu Violet hatte. In »Marian Strangways« hat sie ihre sexuelle Beziehung mit Harold überbewertet, doch in dem Manuskript von 1920 hat sie sie unterbewertet. Dort schrieb sie daß die ersten Jahre ihrer Ehe »wegen der reinen Freude an der Kameradschaft« unvergleichlich gewesen seien: »Harold war für mich wie ein sonniger Hafen. Alles war offen, freimütig, verläßlich, und obgleich ich die körperliche Leidenschaft, die ich für Rosamund empfand, nie erlebte, habe ich sie im Grunde nicht vermißt.«
In jener Nacht traf Vita Rosamund in Hill Street, um Abschied zu nehmen, was mir sehr lästig war«, wie sie in ihr Tagebuch schrieb, »da ich ihren emotionalen Ansprüchen nicht gerecht werden konnte«. Am nächsten Morgen brachen Harold und Vita in die eigentlichen Flitterwochen auf - nach Florenz. Man hatte alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, damit Rosamund nicht erfuhr, daß man im Anbau der Villa Pestellini wohnen würde. »Arme Rose«, schrieb Vita in ihr Tagebuch, »sie weiß nicht, daß wir hier sind, sie denkt, wir seien im Hotel.« Sie und Harold waren bei Sonnenuntergang zum Belvedere hinaufgestiegen: »Oh Gott, ich danke dir für die Sonne, für die Zypressen und für unsere Jugend.« Später schämte sie sich, daß sie Harold in das kleine Haus gebracht hatte, das sie erst vor kurzem mit Rosamund geteilt hatte. »Es ist nicht nur eine Treulosigkeit gegen Rosamund, sondern außerdem ein schrecklicher manque de délicatesse.«[1]
Obwohl sie mit Harold glücklich und über Rosamunds Sentimentalität verärgert war. schrieb sie ihr doch dauernd: »Ich glaube, du hattest nicht halb soviel dagegen, wie du angenommen hast... Was mich betrifft, so hatte ich mehr dagegen... ich denke, unsere Briefe können für eine oder zwei Wochen nicht natürlich sein — weder die deinen noch die meinen. Es hat ein zu gewaltiges Erdbeben stattgefunden. Mein Gott, ich kann darüber nicht sprechen.« Sie sagte Rosamund, eine gewisse Befangenheit zwischen ihnen sei unvermeidlich, es sei denn, man wäre willens, in abgründige Tiefen zu tauchen, doch im Augenblick habe ich das Gefühl, daß sie zu tief sind, um sie mit einem Senkblei auszuloten; sollte ein Senkblei freilich den Grund erreichen, würden, wenn man es wieder heraufzöge, Tränen und ein wenig Herzeleid daran kleben. Ich glaube, daß es vielleicht besser ist, wenn ich nicht länger in Florenz bleibe.«
Doch sie war in Florenz offenkundig glücklich, glücklich mit Harold. Täuschte sie sich selbst und ihr Tagebuch, oder lauschte sie Rosamund? Bei Vita war beides möglich. Sie war ein Mensch, der gleichzeitig beide Seiten einer Medaille sah.
Sie reisten weiter nach Osten auf ihrem Weg nach Konstantinopel, wo Harold Dritter Sekretär war. In Brindisi schlossen sich ihnen Vitas Zofe Emily und Harolds Kammerdiener Wilfred Booth (den sie »Wuffy« nannten) an; dort wartete auch ihr großes Gepäck. Vom Schiff nach Alexandria schrieb Vita spitzbübisch an Rosamund, daß es »nicht in Ordnung schien, daß ich allein mit Harold reiste, der noch nicht einmal ein Verwandter ist«.
In Kairo blieben sie zehn Tage bei Lord Kitchener in der britischen Handelsvertretung. Das hatten die »Erwachsenen« so arrangiert, und Vita haßte diesen Einfall. Doch sie war beeindruckt, als sie ihren jungen Gatten zum ersten Mal in Aktion sah: »Bei Tisch sprachen Harold und K[itchener] über die Politik im Vorderen Osten! Es gefällt mir sehr gut, wenn er so spricht.« Sie sah die Pyramiden, doch in Luxor bekam sie einen Sonnenstich und büßte ihre Stimme ein. so daß die offiziellen Essen zu einer schweren Prüfung wurden. »Sechs oder acht stumme, eingeschüchterte Offiziere saßen um die Tafel; Kitcheners trübe Augen glitten über sie hin; nur mein heiseres Flüstern durchbrach die Stille. Man kam auf ägyptische Kunst zu sprechen. »Ich halte nicht viel von einem Völkchen< knurrte Kitchener, >das seit viertausend Jahren dieselben Katzen zeichnet.«[2] Als sie sich besser fühlte, fuhr Harold mit ihr in einem Boot auf dem Nil: »Er ist ein Schatz; ich wußte nicht, daß es soviel Gutherzigkeit gibt.«
Sie schrieb an ihre Mutter — die sich in Paris amüsierte, wo sie Rodin Modell saß - als ihr Schiff sich Konstantinopel näherte: »Wir haben den schrecklichen Verdacht, daß Emily und Wuffy sich eine Kabine teilen, wollen der Sache aber nicht weiter nachgehen.« Sie und Harold andererseits, aristokratisch und anspruchsvoll, hatten jeder eine Dreibett-Kabine zur Verfügung. Sie waren zu lange unterwegs, als daß es ihnen noch Spaß gemacht hätte: »Im Augenblick sind wir beide ziemlich trübsinnig und gereizt - wenn auch nicht im Umgang miteinander.«
Sie waren einen Monat verheiratet, als sie in Konstantinopel ankamen. »Alle möglichen Leute kamen, um uns zu begrüßen« - Hamids Kollegen Gerry Wellesley und Eddie Keeling und ihr Onkel Bertie Sackville-West, der Inspektor der Staatlichen Osmanischen Steuerbehörde war, und »viele Leute in wundervollen Gewändern, die Harold die Hand küßten«. Sie war davon beeindruckt, wie leutselig er mit jedermann umging. Noch immer erstaunte sie seine fortdauernde Freundlichkeit, und bei ihrer Ankunft schrieb sie an ihre Mutter: »Das Leben mit Harold ist, als lebe man mit einer Art von sehr menschlichem und sehr fröhlichem Engel zusammen, und mit jedem Tag wird es schöner; ich habe nicht gewußt, daß es Menschen mit einem solchen Naturell gibt... Ich glaube einfach nicht, daß es nur die Tatsache ist, daß ich ihn zufällig liebe, die ihn mir so liebenswert macht.«
Sie beschrieb Rosamund (an die sie, wie sie zu ihrem Verdruß feststellte, öfter schrieb als diese an sie) ihr erstes Heim als verheiratete Frau: »Es ist ein türkisches Holzhaus mit einem kleinen Garten und einer Pergola aus Weinreben und einem Granatapfelbaum, der mit scharlachroten Früchten bedeckt ist. Und welch ein Ausblick über das Goldene Horn, das Meer und die Hagia Sophia! Und an der einen Seite des Hügels haben wir ein ideales Sonnenplätzchen.« Nachdem sie Konstantinopel anfangs für »scheußlich« gehalten hatte, fand sie es jetzt »wunderschön«.
Von der Rückseite des Hauses fiel der Hügel zum Bosporus ab, und Skutari und Asien lagen auf der anderen Seite der Meerenge. Die Wohnräume umfaßten zwei Wohnzimmer im Obergeschoß, dazu einen Salon und ein Rauchzimmer; unten waren ihre aneinandergrenzenden Schlafzimmer und das Eßzimmer. Vita war über alles entzückt. Am Tag des Einzuges schrieb sie an ihre Mutter:
- »Wir haben einen wunderschönen Montenegriner als Diener bekommen und einen Koch, der wahrhaftig wie ein griechischer Gott aussieht: mir ist wegen Emily bange... Harolds persisches Zimmer soll blau werden wie die Wände meines Schlafzimmers in Knole... Man kauft hier weißen Jade außerordentlich günstig. Ich erstand für 12 Francs einen Klumpen, der sechs Zoll lang und fast so dick ist wie mein Handgelenk, und er wird uns jetzt als Griff für unsere Türglocke dienen. Ich stelle fest, daß uns der aufregende Ruf vorausgeeilt ist, wir seien originell und >Kunstkenner<, und jetzt zerbrechen wir uns beide die Köpfe, um ihm gerecht zu werden.«
Das war der erste ihrer erfolgreichen gemeinsamen Versuche, sich ein Ambiente zu schaffen. Wie das bei ihnen immer der Fall war, brachte es sie näher. Harold, der um Vitas Abneigung gegen das diplomatische Leben wußte, achtete sorgsam auf ihre Reaktionen und hielt immer in seinem Tagebuch fest, ob sie bei den zahlreichen Tees, Dinners. Bällen und Empfängen gelangweilt oder amüsiert war, an denen teilzunehmen man von ihnen als Mitglieder des diplomatischen Corps erwartete. In der Tat wurde sie von diesen Veranstaltungen gelegentlich gelangweilt, doch sie mochte Sir Louis Mallet, Harolds Chef, sie mochte Harolds spezielle Freunde, Pierre de Lacretelle und Reggie Cooper, und zu Hause war sie glücklich. Nachdem sie drei Wochen in Konstantinopel war, schrieb sie in ihr Tagebuch: »Daß ich im letzten Jahr wegen Harold so lange gezögert habe, erscheint mir jetzt unglaublich. Aber ich verstehe es: Ich kannte ihn nicht, er war fort, im Grunde ist es erstaunlich, daß ich ihm so treu war. Jetzt scheint er mir vollkommen, und das ist er wahrlich — so heiter, so lustig, so klug, so jung. Bis jetzt habe ich ihn eigentlich nie richtig gekannt.« Aber dennoch ärgerte es sie daß Rosamund so unregelmäßig schrieb. Vita schrieb ihr flehende, traurige, grausam einschüchternde Briefe und ein Gedicht. »Disillusion«. Vita mochte es nicht, wenn jemand, der sie liebte, aufhörte, sie zu lieben. Nicht, daß Rosamund aufgehört hätte; B.M.. die sie in London traf, bemerkte, daß sie wegen Vita »sehr trübsinnig« sei. Aber Vita hatte ihren Stolz.
Das Bedürfnis nach Verbindung mit Rosamund schloß für Vita mehr ein als emotionale Herrschsucht. Ihre alte Freundin war ein Teil der heimatlichen Welt. B.M. schickte ihnen zu Weihnachten Plumpuddings und Hackfleischpasteten, und aus Knole wurden per Schiff Bilder und persönliche Gegenstände herbeigeschafft. Am 6. Dezember schrieb Vita an Rosamund: »Manchmal bekomme ich ganz einfach Heimweh, zum Beispiel, wenn ich mit Onkel Bertie zusammen bin und auf ihrem Silber das alte Familienwappen sehe: und als ich meine Sachen aus Knole auspackte und auf etwas stieß, das Teil meines Alltags gewesen war... ich habe die zwei Aquarelle meines Zimmers hier im Wohnzimmer aufgehängt, und wenn ich sie ansehe, steckt mir ein Kloß im Hals.«
Am folgenden Tag suchte Vita Dr. Maclean im Englischen Krankenhaus auf. Es vergingen nur zwei Wochen, und er konnte ihre Ahnungen bestätigen. Vita war schwanger. Es war in der Woche vor Weihnachten.
»Ich freute mich darüber«, schrieb Vita späten »aber Harold freute sich noch viel mehr. Das einzige, was mich ärgerte, war daß er sich ein wenig wie ein Arzt aufführte... Er schrieb darüber einen Brief an meine Mutter, den ich in einem Wutanfall zerriß, den er überhaupt nicht begreifen konnte.«[3] Sie schrieb ihrerseits an die Mutter; das Baby würde für Anfang August erwartet, und sie planten, für die Zeit der Geburt Urlaub zu nehmen und heimzukehren. B.M. schrieb bezeichnenderweise in ihr Tagebuch: »Armes, kleines Mädchen! Wie gern wäre ich jetzt bei ihr und führte lange Gespräche.«
Ohne jemand anderen zu fragen, bat B. M. Lord Aston bei Vitas Baby Taufpate zu sein. Lionel war außer sich: »Er sagte, das sehe intéressé aus und was die Welt dazu sagen würde! Ich erwiderte, er begreife nicht, welch gute Freunde wir seien.« Gleichwohl schrieb sie an »Tom« Astor und zog ihre Einladung zurück. Danach, unter heftigen klimakterischen Beschwerden leidend, reiste sie nach Paris ab, um Rodin und Renoir zu besuchen und von dort nach Rom zu ihrem alten Busenfreund Buggy — Baron Bildt — dessen treue Zuneigung sie sowohl über den Verlust Vitas hinwegtröstete als auch über den Ärger mit Lionel, der weiterhin »versucht, mich zu mögen, aber körperlich einfach absolut unfähig ist, es zu tun«.
Lionel und Olive Rubens und Olives Gatte Walter besuchten die jungen Nicolsons im April 1914 in Konstantinopel, und ein paar Tage später traf Rosamund ein. Vita war entzückt, sie alle bei sich zu haben, und gab eine große Gesellschaft. Sie war in der Stimmung, eine Ehe zu stiften. Rosamund hatte ihre Verlobung mit Reggie Raikes gelöst, und Vita dachte, Reggie Cooper sei der richtige Mann für sie. Auch Gerry Wellesley und Violet Keppel hatten sich getrennt; im März hatten Vita und Harold Gerrys neue Verlobte getroffen, die ihnen einen Besuch machte. Es war Dorothy -»Dottie« - Ashton. »Sie ist sehr reich«, schrieb Vita in ihr Tagebuch. (»Dottie«, die Stieftochter des Earl of Scarborough, hatte von ihrem Bruder ein Vermögen und einen Landsitz in Cheshire geerbt.) Das Paar heiratete im Sommer.
Lord Sackville und seine Begleiter sandten B.M. befriedigende Berichte nach Rom. »Lionel sagt. Vitas Party sei sehr erfolgreich gewesen ... Ihre Figur ist noch immer normal: Olive sagt, die beiden verehren einander und sind strahlend glücklich.« B.M. spielte mit dem Gedanken, länger in Rom zu bleiben und ein gefühlvolles paralleles Idyll zwischen sich und Buggy herzustellen: »Wir sind so glücklich zusammen, und er ist das für mich, was Harold für Vita sein muß.« Der einzige schwache Punkt dieser Konstruktion war die Baronin Bildt. Buggys »unvernünftige Frau«, die, »dummes Frauenzimmer«, Schwierigkeiten machte. Vielleicht war es am Ende doch nicht so praktisch, sich in Rom niederzulassen.
Sie fühlte sich freilich auch nicht ermuntert, ihre Tochter zu besuchen und lange Gespräche zu führen. Lionel sagte, die Reise werde sie krank machen, und »Harold schreibt, daß ich mit Vita werde sorgsam umgehen müssen, da sie aufgrund ihres Zustandes so reizbar geworden ist. Das sieht meinem süßen Kind gar nicht ähnlich.« Ohnehin war es nach Mitte Juni kaum der Mühe wert, die Reise zu unternehmen, da Harold und Vita ja heimkamen. Sie vertrauten ihren Hund Mikki II. einem Freund an, verschlossen ihr Haus, das mit Hochzeitsgeschenken und den in der letzten Zeit erworbenen Schätzen gefüllt war. Sie würden ja bald zurück sein - dachten sie.
Im Hotel »Edouard VII.« in Paris war Vita wieder mit ihrer Mutter vereint. Lady Sackville, die gerade erfahren hatte, daß ihr prozeßsüchtiger Bruder Henry Selbstmord begangen hatte, war aufgewühlt, doch entzückt, Vita wiederzusehen.
- »Es ist kaum zu sehen, daß sie enceinte ist, und sie sieht wunderbar aus; sie sind unzweifelhaft sehr ineinander verliebt.«
Vita hingegen fand ihre Mutter ganz unverändert:
- »dasselbe Chaos von Briefen und Päckchen; Rodin am Telephon; Geschäftliches wegen Spealls; welch eine Person!«
Nach ihrer langen Abwesenheit fiel ihr der starke französische Akzent auf, mit dem ihre Mutter englisch sprach.
Drei Tage nach dem Wiedersehen fand Lady Sackville bereits Anlaß zur Klage;
- »Sie sind voneinander völlig in Anspruch genommen und so glücklich. Ich habe das Gefühl, nicht mehr zu zählen... Was sie selbst betrifft, ist sie so zurückhaltend... Natürlicherweise bedeuten ihr Harold und das Baby alles, und ich spüre, daß ich kaum gebraucht werde. Keine Vertraulichkeiten, nichts als unverbindliche Unterhaltungen.«
Bei der Rückkehr nach Knole kam es Vita »so schön vor wie nie«. Auf der neuen Yacht, Sumurun seines Schwiegervaters (die Lady Sackville großmütig bezahlt hatte) unternahm Harold eine kurze Ferienreise. »Ich vermisse ihn schrecklich«, schrieb Vita. Ihre Mutter vermißte Harold weniger. »Endlich hatten wir ein hübsches Gespräch, intime.« Es war freilich doch nicht so intime, wie sie es sich gewünscht hätte. »Vita ist noch immer sehr ahnungslos.«
Während Harold fort war, traf Vita ihre alten Freundinnen - Rosamund (die alles daransetzte, die einzige Taufpatin des Babys zu werden). Muriel Clark-Kerr; Violet - und las Harolds ergebene Briefe von der Sumurun an »mein liebreizendes Weib«. Sie schrieb ihm einen Brief, eine Ergänzung ihres Testaments, der für den Fall daß ihr bei der Geburt etwas zustieß, geöffnet werden sollte. Er sollte Rosamund ein paar ihrer Juwelen und alles, was sie sonst zu haben wünschte, geben; weitere Juwelen waren für Irene (»Pace«) Pirie, für Muriel und »mein kleiner Saphir- und Diamantring« für Violet vorgesehen.
Sie trug ihm auf, sein erstes Geschenk an sie, die Holzfigur der Heiligen Barbara, stets in seinem eigenen Zimmer aufzubewahren:
- »Sie kennt uns beide so gut, vom ersten Tag an.«
Und dann schrieb sie:
- »Liebling, ich glaube, ich muß Lebewohl sagen, denn sollte dieser Brief dich je erreichen, wird das nach einem größeren Lebewohl sein, als wir es je erlebten. Wie auch immer, wir werden dann fast ein Jahr völlig ungetrübten, vollkommenen Glücks miteinander verbracht haben, und du weißt, daß ich dich so innig geliebt habe, wie ein Mensch je einen anderen geliebt hat... Wenn ich diese Monate noch einmal durchleben könnte, würde ich nicht einen Tag davon ändern... du etwa? Ich glaube nicht, daß es viele Menschen gibt, die das sagen können.«
Die Geburt stand bevor: der Krieg in Europa stand bevor. Vitas Vater mobilisierte seine berittene Miliz in West Kent. Ebenfalls bevor stand die Veröffentlichung von Vitas erstem Gedichtband. John Laue von Bodley Head hatte das Buch angenommen und kam zum Lunch nach Knole. Fünf Tage später erklärte man Deutschland den Krieg: während des Essens wurde Lord Sackville telephonisch zu seinem Regiment gerufen. Harold würde für die nächste Zeit im Außenministerium bleiben und nicht nach Konstantinopel zurückkehren. Zwei Tage danach verspürte Vita abends Schmerzen; um zehn Uhr setzten die Wehen ein.
Um drei Uhr morgens saß Lady Sackville immer noch vor Vitas Tür. Ärzte und Ammen gingen aus und ein. Das Baby - ein Junge - wurde erst am folgenden Nachmittag um halb fünf geboren, und um sieben Uhr gestattete man Vitas Mutter, ihre Tochter zu sehen.
Sogleich begann sie, Schwierigkeiten zu machen. Sie fühlte sich beleidigt, weil Vita sie am Abend nicht noch ein zweites Mal zu sehen wünschte und weil Harold Olive Rubens gebeten hatte, eine Taufpatin zu sein. Das Ergebnis war daß sie am Morgen wütend nach London abfuhr. Alles, was Vita niederschrieb, war: Donnerstag. 6. August: »Heute um halb fünf wurde mein Sohn geboren.« Freitag, 7. August: »Mama fuhr nach London und weigerte sich, mich zu sehen.« Lady Sackville kam zurück und wütete gegen Harold. weil er ihr, wie sie es auffaßte, Vita weggenommen habe. Vita lag oben und schrieb ihr Gedicht »Convalescence« über das vergangene Leben in Knole:
Erinnerung an allzu müßige Stunden kommt zurück.
Vergangen, doch als Erbe mir ins Herz geprägt.
Vom blauen Sommerhimmel ein rechteckig Stück
Von des Hofes alten Giebeln ausgesägt.[4]
Harold, der an den Wochenenden über Nacht in London blieb, schrieb ihr zweimal am Tag. Ihre Mutter besuchte sie selten, und wenn, machte sie ihr Szenen. Ihr Vater, der in Gravesend stationiert war, gab ihr den Rat, sich nichts daraus zu machen. »Immerhin hast du Harold und dein Mar, und du und ich haben immer aneinandergehangen, nicht wahr?« (Diskret legte er einen Brief an Olive bei, die in Knole war.)
Drei Wochen nach der Geburt des Babys kam B. M., »am Abend, um mich anzuschreien, und nach dem Essen... lehnte sie es ab, mich zu sehen. Ich glaube, sie ist verrückt, und ich versuche, sie zu entschuldigen. Ich bin noch sehr schwach, und sie macht mich krank. Harold ist nicht da.«
Seine Briefe jedoch waren liebevoll, sprachen von ihren glücklichen Zeiten und warfen Schlaglichter auf eine übellaunige Vita in Konstantinopel: »Ich sehne mich danach, meinen Liebling zu sehen — und er läßt mich tüchtig abblitzen — wie in Konstantinopel, erinnerst du dich? Du pflegtest weiterzuschreiben, deinen hübschen kleinen Kopf über den Tisch gebeugt, und lehntest es ab, dich herumzudrehen. Liebling...« Und zwei Tage später: »Oh. mein Liebling, bitte, fahre mir morgen nicht über den Mund. Vita, ich bete dich einfach an, du meine Heilige.« Ein Besuch von Pierre de Lacretelle heiterte ihn auf. und Rosamund kam, um den buntgemischten Gästen in Knole Gesellschaft zu leisten. (»Ich hasse den Gedanken, daß du und Rosamund euch Geheimnisse erzählt«, schrieb Harold.)
Lady Sackvilles Groll wurde verständlicherweise dadurch genährt, daß Rosamund und Olive fast ständig in Knole weilten, weil sie am örtlichen Krankenhaus als Pflegerinnen arbeiteten. »Es macht mich krank, daß sie immer da sind.« Aber ein viel härterer Schlag war Vitas und Harolds Entschluß, ihr Baby »Benedict Lionel« statt »Lionel Benedict« zu nennen. Lionel selbst störte daran überhaupt nichts, sie hingegen erblickte darin eine unverzeihliche Beleidigung. Rosamund schickte Vita einen Zettel nach oben: »Sie sagt. >wenn sie den Namen Benedict der Liebe ihrer Mutter vorzieht, kann sie das gern tun<... Ich möchte dir fast raten nachzugeben.. . Ich glaube wirklich, sie war heute abend beinahe verrückt.« Entsprechend den Wünschen seiner Großmutter wurde das Baby am 20. September auf den Namen Lionel Benedict getauft. Rosamund, Olive und Violet - »auf ihre eigene sarkastische Bitte« - waren die Patinnen. Kenneth Campbell und Baron Bildt die Paten. Dennoch war Lady Sackville nicht zufriedengestellt und verschwand abermals nach London. Jetzt war der Grund, daß Vita und Harold ihr Baby nicht Lionel riefen (solange er ganz klein war, sagten sie »Detto« zu ihm, die Kurzform von »Benedetto«). Vita sandte ihrer Mutter zahlreiche Briefe, die zwischen Trotz und Versöhnung schwankten und die zeigten, wie sehr sie dieser alberne Streit erschreckte und erschütterte.
»Über sein kleines Köpfchen ist so viel Streit und Zwietracht hinweggegangen, und obgleich ich darum gekämpft habe, ihn für mich zu behalten, ihn, das einzige, das ich niemandem außer Harold verdanke, muß ich ihn aufgeben. Immerhin gehörte er neun Monate lang allein mir, und ich schätze, mehr als das darf ich nicht erwarten...
Ich weiß jetzt, daß du mich nicht liebst und daß du bei der ersten Belastung, die ich deiner Liebe zugemutet habe, bereit bist, mich wie einen alten Handschuh wegzuwerfen. Ich wußte immer, daß du nicht so bist wie andere Leute und so hart sein kannst wie Granit, aber ich dachte, zumindest mich hättest du wirklich geliebt... Du hast mir deine überschwengliche Großzügigkeit zuteil werden lassen, doch jene Großzügigkeit des Herzens, auf die ich unendlich viel mehr Wert gelegt hätte, hast du mir versagt... es ist hart, wenn man den Glauben an jemanden verliert, den man einmal vergöttert hat.«
Vitas Beziehung zu ihrer Mutter glich oft mehr einer stürmischen Liebesaffäre als irgend etwas anderem.
Sie und Harold taten das Vernünftigste und verließen Knole; sie mieteten ein Haus in London - Ebury Street 18, Pimlico — und das Leben normalisierte sich wieder. »Ich wurde ziemlich gesellig«, schrieb Vita später. Dies war »die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich so etwas wie Beliebtheit erlangte. Ich war nicht mehr unhübsch, ich gab mir ausreichende Mühe, mich angenehm zu machen, und jeder, der Harold kennenlernte, fand ihn reizend... ich war so glücklich, daß ich sogar vergaß, an Wanderlust zu leiden.« In nachträglicher Einsicht, unter dem Einfluß ihrer Leidenschaft zu Violet, sollte sie hinzufügen: »Gott, wie schauerlich.«[5]
Doch zu jener Zeit gab es von Grausen keine Spur. Und im Dezember 1914, als ihr erstes Baby erst vier Monate alt war, fühlte sie sich abermals schwanger.
Das erste Weihnachtsfest des Ersten Weltkrieges verbrachten sie in Knole. Am 28. Dezember verbreitete sich im Haus die Nachricht, daß ein Baum auf ein Auto gestürzt sei, das sich dem Haus näherte. Vita erwartete Harolds Ankunft - »niemals, nein, niemals habe ich solche Angst ausgestanden«. Doch es war nur die arme Rosamund, die mit einer Kopfwunde und gebrochener Nase aus dem Krankenhaus zurückkehrte. Vitas Angst um Harold wurde auch in einem wichtigeren Punkt beruhigt: als Mitarbeiter des Außenministeriums war er vom Dienst in der Truppe ganz freigestellt worden.
So sollte ihre glückliche Häuslichkeit nicht gestört werden. Vita blieb über Neujahr 1915 in Knole: am 5. Januar schrieb ihr Harold, ihr kleiner Detto sei »ein nichtsahnendes und ewiges Unterpfand all jener frühen Monate unserer Liebe, mein Liebling. Detto ist — oder etwa nicht? - ein kleines Gefäß — ja fast eine Monstranz — all unserer vergänglichen Augenblicke, als wir einander am nächsten waren.
Kapitel 7
Während ihres Aufenthaltes in Knole vollendete Vita ein Theaterstück, »The Amber Beam«, das sie in Konstantinopel begonnen hatte und das nie veröffentlicht oder aufgeführt worden ist. Es handelt von der fraulichen, sich selbst aufopfernden Beatrice, die dreißig Jahre lang das Genie eines großen Bildhauers unterstützt und umsorgt hat. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Beatrice dieses Leben des Dienens und der Unterwürfigkeit mit Groll erfüllt. Hingabe, die nichts fordert, wird als Ideal präsentiert. Die glückliche Ehe wird dem in Unordnung geratenen Gefühlsleben ihrer Mutter als gesegnete Wohltat scharf gegenübergestellt. Im Januar gab es in London einen weiteren bösen Streit: »Ich sollte mit ihr vor einer Matinee lunchen. doch ich ging fort und speiste mit Harold in einem italienischen Restaurant: also, was macht es schon, solange ich ihn habe?« Aber für Vita spielte es immer eine Rolle.
Ein paar Wochen später hörte sie daß ein Haus, Long Barn genannt, in dem Ort Weald, nur ein paar Meilen von Knole entfernt, zum Verkauf stehe. Als sie es gesehen hatte, schrieb sie: »Es würde sich wirklich sehr gut eignen.« Sie zeigte es Harold und dann ihrer Mutter, und beide stimmten zu. Von diesem Augenblick an wurde ihr Verhältnis zur Mutter viel besser, viel normaler und friedfertiger«. Das Haus wurde im März 1915 für 2500 Pfund gekauft: am 10 . April zogen Harold, Vita, das Baby, das Kindermädchen, Emily, Wuffy und die Dienerschaft ein. »Ich finde alles entzückend! Dada kam zum Tee. Harold kam früh nach Hause.«
Long Barn ist ein sehr altes Haus. Es wird überliefert, daß Caxton, der Stammvater des englischen Buchdrucks, dort geboren wurde. Als die Nicolsons das Haus renovierten, wurde eine Münze aus dem Jahr 1360 hinter dem Verputz gefunden. Vita liebte dieses Haus wegen seines ehrwürdigen Alters, wegen seiner Aura und weil es ihr und Harold gehörte. Am letzten Tag des Mai notierte sie in ihrem Tagebuch:
- »In diesem Mai ist das Wetter großartig gewesen; ich arbeite im Garten, ich arbeite mehrere Stunden am Tag an meiner Geschichte Italiens, abends hole ich Harold mit Archie (dem Auto) vom Bahnhof ab - warme, liebliche Frühlingsabende - ich spiele mit Detto, ich denke an seine Schwester, die im September zur Welt kommen wird, und bin sehr glücklich. Wir lieben uns mehr denn je. Ich danke Gott, daß ich das vollkommene Glück erfahren habe.
H. verläßt um neun Uhr morgens das Haus, und den ganzen Tag über ist der Gedanke an seine Rückkehr wie ein Sonnenstrahl. Aber ich fühle mich schuldig, wenn ich das Elend anderer Leute in dieser Zeit des Krieges sehe.«
Eine Freundin, die zum Essen kam. sagte ihr: »Die Türen dieses Hauses sind wie eine Einladung ins Paradies. Und das Haus ist es tatsächlich.« Um die Harmonie zu vollenden, heirateten Emily und Wuffy Mitte Juni.
Zwar hatten Vita und Harold ihren verwilderten Garten in Konstantinopel geliebt, doch es hatte ihnen an Zeit gefehlt, ihn in Ordnung zu bringen. In diesem Sommer begann Vita, sich ernsthaft der Gartenarbeit zu widmen. Sie wußte fast nichts darüber. Die ersten Blumen überhaupt, die sie einpflanzten, war ein Büschel Primeln, die sie im Wald ausgegraben und im Garten an der Böschung wieder eingesetzt hatten. Sie schrieb ihr erstes Gartengedicht:
Dann harrten wir daß es gedeihe.
Wir pflanzten Goldlack in der Reihe,
Lavendel auch und Borretschtriebe.
Doch wuchs nichts anderes als Liebe.[1]
Eines Tages gegen Ende Juni gab sie Harold eine Notiz, die er im Zug lesen sollte: sie hatte seine Briefe aus der Verlobungszeit durchgesehen, und ihr war aufgegangen, daß alle ihre Träume in Erfüllung gegangen waren. »Es ist wie ein großer warmer einhüllender Glanz, und Detto steht für wunderbare Dinge... und jeden Abend, wenn du heimkommst, eilen unsere Seelen und Hände aufeinander zu und verschmelzen.« Sie liebe ihn nicht krankhaft, schrieb sie ihm, sondern »kraftvoll und leidenschaftlich und auf jede Weise«.
Sogar im Umgang mit B. M. stellte sich eine freundliche Routine ein; Lady Sackville schrieb in jenem Sommer: »Ich sehe sie und ihr Baby nahezu täglich. Ich gehe selten hin, wenn H. da ist, da ich weiß, daß sie es vorziehen, allein zu sein.«
B.M.'s Probleme waren nicht gelöst. Lionel hatte das alte Waschhaus von Knole als Appartement für Olive und Walter Rubens umbauen und möblieren lassen: Walter war im Krieg, und Olive wohnte dort für sich. »Durch einen bloßen Zufall bekam ich heraus, daß H, wenn er herkommt, sogar sein Frühstück allein mit Olive im Waschhaus einnimmt.« Sie hatte Marmelade für ihn zum Frühstück befohlen, als das Dienstmädchen damit herausplatzte, was er angeordnet hatte, und »ich tat so, als wisse ich es und hätte es nur vergessen«. Es war schrecklich demütigend. Es gab Gerede, und B. M. erhielt ein paar anonyme Briefe. Walter Rubens war entgegenkommend, indem er von »unserem trauten, kleinen Heim« sprach. Lady Sackville kämpfte mit sich. »Ich will fröhlich sein, will strahlendes Glück und inneren Frieden.« Sie schenkte Vita und Harold einen Rolls-Royce, und sie stellten einen Chauffeur namens Bond ein. In Vitas Augen war ihre Mutter wieder bezaubernd und wunderbar. Harolds Mutter, die auf Besuch nach Long Barn kam, konnte es mit ihr nicht aufnehmen: »Ihre altmodischen Vorstellungen machen mich wütend.«
Ende September setzte sich Lord Sackville mit seinem Regiment nach den Dardanellen und Gallipoli in Marsch. Vita war erregt, als sie sich von ihm verabschiedete; sie fühlte sich nicht wohl, und die Geburt ihres zweiten Kindes stand bevor. Bevor er abreiste, schrieb ihr der Vater:
- »Ich denke an dich, mein lieber Mar, und an all die Sorgen und Schmerzen, die vor dir liegen, und es schmerzt mich, wie selbstsüchtig ich heute war, als wir von nichts anderem sprachen als von mir. Du schienst zu denken, daß ich um deine Liebe zu mir nicht weiß oder sie nicht zu würdigen weiß, doch das ist ganz falsch, mein lieber Mar, weil wir beide uns so ähnlich und nicht immer imstande sind, solche Dinge zu zeigen. Aber ich weiß, daß du mir immer mehr bedeutet hast, als ich vielleicht je ganz begriffen habe, und möglicherweise hast du dasselbe gespürt.«
Ihr Vater meinte, sie und er seien sich »so ähnlich«. Mit Vita war aber auch ebenso schwer auszukommen wie mit ihrer Mutter. Da ihre Eltern so gegensätzlich waren, verwunderte es nicht, daß das, was sie Vita a Temperament vererbten, in ihr einen Konflikt und manchmal einen totalen Krieg hervorriefen. Trotz seiner Abkapselung und der stillen Rücksichtslosigkeit, mit der er sich von seiner Frau freikämpfte, ließ er seine Tochter nie im Stich. Ihre Mutter hingegen enttäuschte ihre Tochter ständig, einer schwer auszurechnenden weiblichen Gottheit vergleichbar.
Vitas Baby war zwei Wochen überfällig. Erst am 1. November setzten die Wehen ein. Vierundzwanzig Stunden darauf war dem Arzt klar, daß das noch ungeborene Baby tot war. Er zog einen Kollegen hinzu. Vita wurde fünf Stunden lang narkotisiert und das neun Pfund schwere Baby durch einen operativen Eingriff zur Welt gebracht. »Ich muß nach London fahren, zur Bank«, schrieb Lady Sackville gleichgültig in ihr Tagebuch. »Am Abend fand ich Harold sehr niedergeschlagen vor... Er sagte, sie sei überall schwarz und blau, da die Ärzte sie furchtbar pressen mußten, besonders in der Bauchgegend.«
Vita mußte bis Ende November im Bett bleiben. In dieser Zeit lernte Detto allein das Laufen. Eines Nachts gegen Ende des Monats kritzelte sie einen verzweifelten Brief an Harold auf die Rückseite eines Briefes von Messers, Marshall & Snelgrove:
»Harold, Mar ist traurig, sie denkt an den kleinen weißen Sarg aus Samt mit dem kleinen stummen Wesen darin... ich muß einfach daran denken und werde es immer tun, noch mehr, wenn ich Detsey sehe, der so süß und kräftig ist, und das andere Baby wäre genauso geworden. Es ist gar nicht so sehr deshalb, wie jeder denkt, daß ich wegen der langen Zeit grolle oder wegen des furchtbaren Endes, sondern ich komme nicht davon los daß es tot ist, weil Detsey so prächtig ist... Er macht alles schlimmer und besser zugleich. Ich kann es nicht ertragen, von Leuten zu hören, die zwei Kinder hallen. O Harold, Liebling, warum ist es gestorben? Warum, warum, warum? O Harold, ich wünschte, du wärst hier.«
Hier ging ihr das Papier aus - und sie schrieb auf der Rückseite der Karte zu den Reisen des heiligen Paulus weiter, die sie aus der Bibel gerissen hatte: »Ich versuche alles, um nicht daran zu denken, und wenn ich allein bin, überflutet es mich doch... Harold. ich brauche dich so, ich wünschte, ich könnte schlafen.«
Sie genas und fuhr Anfang Dezember nach London. »Lunch allein mit Harold, und es war, als ob wir frisch verheiratet wären.« Sie ging mit dem kleinen Detto - sie fingen nun an, ihn Ben zu nennen - zu Marshall & Snelgrove, um ihm einen Morgenmantel zu kaufen. »Sehr gut, keine Tränen, alles in allem recht beeindruckt.«
An Long Barn nahmen sie Verbesserungen vor. Harold hatte einen groben Plan für den Garten gemacht, und sie ließen die alte Feldscheune abreißen und verwendeten ihr Holz als Grundlage für einen neuen Flügel, der rechtwinklig an das Haus angebaut wurde und einen fünfzig Fuß großen Salon - das »Große Zimmer« - und zwei zusätzliche Schlafzimmer enthielt. Wie ihr Sohn Nigel geschrieben hat, war Long Barn »nicht schlicht«, wenn auch im Vergleich mit Knole das reinste Cottage. Als sie mit dem Umbau fertig waren, gab es dort sieben große Schlafzimmer und vier Badezimmer.
Vita war besser untergebracht als Harold. Das neben dem »Großen Zimmer« beste Zimmer im Obergeschoß diente ihr als Schreib- und Wohnzimmer; es hatte Fenster auf zwei Seiten, einen schönen Kamin, und sie stellte ihren Schreibtisch quer in die Mitte. Auch ihr Schlafzimmer war geräumig, es hatte einen abenteuerlich geneigten Fußboden, über den ihre Kinder Tennisbälle hinabrollen ließen. Harolds Schlafzimmer befand sich in einer Art Nische des ihren. Später wurde dem »Großen Zimmer« ein kleines Arbeitszimmer für ihn angefügt. Als das zweite Kind da war, wohnten die beiden nicht mehr im Hauptgebäude; sie und ihr Mädchen lebten in dem kleinen »Gärtnerhaus«, das zum Besitz gehörte.
Nach Weihnachten blieb Vita, wie schon im vergangenen Jahr, noch eine Weile in Knole. In den jüngsten freudigen und schmerzlichen Zeiten waren sie und Harold sich ständig nähergekommen. Jetzt schrieb sie ihm: »Liebling, wie kompliziert man doch ist; zumindest du bist es nicht: du bist ein lieber, schlichter, aufrechter, fröhlicher Führer; darum wirst du vielleicht nicht verstehen, wenn ich sage, daß es fast eine Befreiung ist, getrennt zu sein.« Es sei verwirrend und ermüdend, sich so sehr zu lieben, schrieb sie. »Mit einemmal habe ich Zeit, mich umzuschauen und nachzudenken, die ich sonst nie habe. Ich kann außerhalb stehen, losgelöst von dir und von uns.« Zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit drückte sie ihr ganz natürliches Verlangen nach einer eigenen Sphäre und einer getrennten Identität aus. Rosamund war in Knole, und Violet wurde erwartet.
Harold und Vita beschlossen, das Haus in London, Ebury Street 182, das sie zur Miete bewohnten, zu kaufen. B.M. lieh ihnen das Geld. Vita machte sich Sorgen um ihre finanzielle Lage. »Aber ich werde 300 Pfund im Jahr durch Schreiben verdienen. Ich habe drei oder vier Erzählungen geschrieben, die die Grundlage für ein Buch abgeben könnten, und Harold, der eine humoristische Ader hat, könnte ziemlich leicht ein Buch in der Art von >Xmas Garland<* (* A Christmas Garland. Literarische Parodien von Max Beerbohm. 1912) verfassen — auf diese Weise werden die Mars am Ende doch noch reich.« Zwischen ihnen galt als ausgemacht, daß Vita über keine humoristische Ader verfüge. Doch wie viele Menschen, von denen man das sagte, hatte sie große Freude an den Späßen und Wortspielen, die sie machte — und erntete einige Lacherfolge.
»Die armen, kleinen Mars, sie lieben sich... ich liebe dich und gehöre dir«, schrieb sie. »und mein Name ist überall auf dem kleines, weiches, weißes Ich geschrieben.« Etwa um dieselbe Zeit sagte sie ihm: »Liebling, ich liebe es, deine Hemden wegzuräumen.« Sie war sehr hausfraulich. Jede Rolle, die Vita spielte, spielte sie gründlich. Sie war konventionell in ihrer Ehe. und beide waren sie konventionell in ihrem gesellschaftlichen Leben, das sie in Ebury Street führten. Jahrzehnte später, als sie an diese Zeit zurückdachten, sagte Vita zu Harold, sie hätten den Fehler gemacht, »zu lange Edwardianer zu bleiben«. Wie Harold 1940 in seinem Tagebuch festhielt, sagte sie: »Wären wir 1916 mit Bloomsbury in Berührung gekommen, hätten wir daraus mehr Gewinn gezogen als aus dem fortgesetzten Verkehr mit Mrs. George Keppel, Mrs. Ronald Greville und den Edwardianischen Fossilien. Zu unserer Erheiterung müssen wir bekennen, daß wir 1916 von Bloombury nicht einmal gehört hatten.« Doch rückblickend waren sie sich einig, daß sie »mit den besten Vertretern der Geldaristokratie und der Boheme verkehrt hatten«.
Da sie Anfang 1916 wegen der Baumaßnahmen in Long Barn dort nicht wohnen konnten, lebten sie abwechselnd in Ebery Street und in Knole. Vitas Beitrag zum Krieg bestand in stundenweiser Arbeit im Büro des Roten Kreuzes, das Nachforschungen über Verwundete und Vermißte anstellte. Sie gingen auch häufig aus und amüsierten sich. Zu ihrem Geburtstag im März schenkte ihr Harold einen Acker, der an den Besitz von Long Barn angrenzte, und im späten Frühjahr nahmen sie, trotz drohender Zeppelinangriffe auf Kent, Long Barn wieder in Besitz. Ben begann zu sprechen. Ihre finanziellen Verhältnisse schienen weiterhin problematisch, und der Rolls-Royce, den B.M. ihnen geschenkt hatte, brachte ihnen mehr Verdruß, als er wert sei, wie sie B. M. auseinandersetzte: »Die Benzinpreise sind abermals gestiegen, und statt 1/ kostet die Gallone jetzt 2/6, so daß ich Bond werde sagen müssen, er solle in die Munitionsfabrik arbeiten gehen und den Motor einmotten.«
Durch Aufführungen und »Wohltätigkeitsmatinees«, bei denen junge Damen der Gesellschaft sich auf der Bühne produzierten und das Publikum dafür bezahlte, sie zu sehen, wurde Geld für die Kriegsopfer gesammelt. Im April 1916 hatte Vita an »einer absurden Wohltätigkeitsmatinee mit einem Stück von Yeats [An der Falkenquelle] teilgenommen, eingeleitet durch die endlose langatmige Rede des Autors, der schrecklich gehemmt ist«. Danach hatten Harold und sie, beide erkältet, allein gespeist und wurden »durch George Moore ziemlich gelangweilt, der nach dem Essen kam« - der irische Romancier war in Ebury Street ihr Nachbar und ein regelmäßiger Besucher, der dazu neigte, länger zu bleiben, als erwünscht war.
Vita nahm an einer Aufführung teil, die von Mrs. Leeds im Juni organisiert wurde, und sie trat in einem italienischen Maskenspiel auf, das von der Gräfin von Huntington am His Majesty's Theatre, und einem weiteren, das von Lady Aldington am Palace Theatre inszeniert wurde; außerdem betrieben sie und Vilolet Keppel einen Verkaufsstand für Kopftücher. Bei all diesen laienhaften theatralischen Auftritten spielte Vita in doppeltem Sinne Theater; ihr wirkliches Leben spielte sich mehr und mehr in Long Barn ab, wo sie ihre besten Tage bereits allein verbrachte, die sie in ihrem Tagebuch mit der einfachen Formel »Garten und Arbeitsstunden« umschrieb - das hieß Gärtnern und Schreiben. Im Juni erschien in Country Life ein Artikel von ihr über Prinkipo - die Gefängnisinsel vor Konstantinopel, auf der die Türken damals General Townshend gefangenhielten — und sie arbeitete weiterhin an ihrer Geschichte Italiens, die nie veröffentlicht werden sollte.
Über Harolds »Arbeitsstunden« -die Zeit, die er im Außenministerium verbringen mußte — war sie weniger begeistert. »Oh, mein Liebling«, schrieb er im August an sie, »du bist hoffentlich nicht eifersüchtig auf meine Arbeit - du hättest es gewiß nicht gern, wenn mir nicht daran läge, genauso wie ich dich wegen deiner Begeisterung für deine scheußlichen toten Italiener liebe.« Sie war für diese Italiener Feuer und Flamme und schrieb an ihre Mutter (die sich gerade einen großartigen neuen Freund zugelegt hatte, den Architekten Edwin Lutyens):
»Ich schreibe im Lesesaal der London Library, wo ich einen italienischen Folianten studiere, der so gewichtig ist daß man ihn nicht fortschaffen kann. Es ist ein wunderhübscher Raum mit Blick auf St. James Square, und ich fühle mich staubig und gelehrt, und all die alten bebrillten Männer starren mich an, als wollten sie sagen: Was treibst du mit diesem dicken Buch, du Mar?«
Harold und Vita — die jetzt vierundzwanzig war - spielten sich noch immer wie »Mars« auf und zelebrierten weiterhin ihr Jungsein. Als Harold im Herbst dreißig Jahre alt wurde, erklärte er, sich noch immer wie ein Siebzehnjähriger zu fühlen. Je mehr sie sich wie »Mars« benahmen, desto besser war ihr Verhältnis zu B.M... da ihre Oberherrschaft weniger bedrohlich war. In jenem Sommer kaufte sie ihnen die an Long Barn angrenzende Brook Farm für 700 Pfund.
Die »Mars« besuchten hin und wieder großartige Wochenendparties, wie die auf Cold Overton Hall in Rutland im August: von dort schrieb Vita an ihre Mutter: »Das Essen ist wundervoll: Kaviar, Schnecken, mit Gänseleberpastete gefüllt: Tuberosen und Malmaison-Rosen; Bade-Essenzen: Rolls-Royce am Bahnhof. (War mir nicht so, als hätte ich in London etwas von einem Krieg gehört?)«
Sie wußte das gute Essen zu schätzen: sie war erneut schwanger, möglicherweise unbeabsichtigt - und sprach von dem zu erwartenden Baby als »Bens »versehentlichem Brüderchen oder Schwesterchen«. Im September wurden Ben zum ersten Mal die Haare geschnitten, und Vita legte eine Locke in einen Umschlag - fein, goldbraun und fast sechzig Jahre später, als Ben bereits tot war, noch immer kräftig in der Farbe. Am Jahrestag der Geburt ihres toten zweiten Kindes füllte Harold ihr Zimmer mit Tuberosen und Lilien. Im Garten von Long Barn hatten sie tüchtig mit den herbstlichen Arbeiten zu tun: »Entwerfe einen neuen Plan für den östlichen Garten. Bin so glücklich.« Lilien und Rosen wurden dort gepflanzt, und aus Knole erbat sie sich zahlreiche immergrüne Pflanzen.
Anfang Oktober 1916 heiratete Gwen, Harolds jüngere Schwester, Francis Cecil (»Sam«) St. Aubyn, der eine Woche später an die Front ging. Auch Ben nahm an der Hochzeit teil: »Sehr gut in der Kirche, aber gesprächig und dirigiert die Orgel.« Vita war durch die Hochzeit tief berührt: »Arme, kleine Gwen, so weiß und bedrückt. «
Im Dezember waren Harold und Vita in Knole, als die Familie Winston Churchill zu Gast war. Nach dem Dinner erzählte ihnen Churchill »die ganze Geschichte von den Dardanellen, und wir weinten beinahe vor Rührung«. Den halben Tag war Churchill damit beschäftigt, telephonisch ein »Kabinett zu bilden«. Die andere Hälfte brachte er malend in der Großen Halle zu. Vita war von ihm bezaubert. Die Weihnachtsgesellschaft in Knole bezauberte sie weniger: George Moore, der sich unausgesetzt wiederholte, war da, und Harold wurde einen großen Teil der Ferientage im Auswärtigen Amt festgehalten. Vitas Bezeichnung für das lange Zusammensein mit B.M. war »d.E. [dünnes Eis]«. Harold ging es gut, denn Archie Clark-Kerr war in London aufgetaucht, um ihm Gesellschaft zu leisten. Zwei Tage nach Weihnachten schrieb er an Vita: »Armes Lämmchen — es ist nicht sehr erquicklich, sich in Knole aufzuhalten, für keinen von uns beiden, oder? Doch ich meine, daß es unsere Pflicht ist oder besser deine kleine schlimme Pflicht; es ist das wenigste, was wir tun können, um für die arme alte B. M. alles etwas leichter zu machen, die unfähig wäre, mit der Situation allein fertig zu werden.« Die »Situation« - das war natürlich Olive Rubens in dem umgebauten Waschhaus.
In ihren Anforderungen an ihre eigene Ehe war Vita widersprüchlich. Einerseits ärgerte sie sich, wenn Harold im Amt war oder Freunde besuchte. Seine Briefe an sie strotzen vor Entschuldigungen, Rechtfertigungen und nachsichtigem Eingehen auf ihre Traurigkeit und ihr Schmollen. Er betonte, welche Bedeutung seine Karriere für ihn habe, und wie wichtig es sei, Kontakte zu pflegen: Vita war seine »kleine, sanfte Helferin«, »meine kleine Einsame«, die sich mit ihrem Los als Frau abzufinden hatte; wie sie es ausdrückte, wurde einzig durch Harold »meine Zartheit und Fraulichkeit geweckt« — durch ihn wurde ihr ungestümes, unaufrichtiges, zur Abweichung neigendes Ich unterdrückt. Andererseits hatte sie eine Vorahnung, die Seifenblase ihrer geliebten Häuslichkeit könne zerplatzen. Wie eh und je waren Abenteuer und Affären, die sie sich undeutlich ausmalte, ihre Phantasien:
»Liebster, ich wünschte, ich könnte dich still lieben, doch ich kann es nicht; es ist alles so schwebend und erregend, und ich bin noch nie so in dich verliebt gewesen wie jetzt. Ich fürchte, wenn wir den Bogen überspannen, wird er eines Tages brechen. Ich möchte jetzt gern einige Zeit für mich allein sein, nicht länger als vierzehn Tage...
Nach dem Krieg werden wir beide nach Italien gehen, und ich werde zuerst fahren, und wir werden uns dort treffen; davon träume ich immer, aber zuerst werden wir für recht lange Zeit getrennt sein und sehr wenig Gepäck haben.«
Wo immer die Wurzeln ihrer Unruhe auch zu suchen waren, ihre Phantasien konzentrierten sich noch immer auf Harold. Am 19. Januar wurde ihr Baby zu früh und ohne Komplikationen in Ebury Street geboren; die Wehen hatten nur viereinhalb Stunden gedauert.
»Sohn um halb drei nachts geboren, gerade noch Zeit, eine Notschwester und den Arzt zu rufen. Große Überraschung — danach gingen wir alle wieder schlafen ... Er wiegt 6lb und 10oz und hat normal viele Haare — hell und ganz glatt: eine riesige Nase, aber einen hübschen Mund und weit auseinanderstehende Augen, so daß er, obgleich er häßlich ist, sich gut herausmachen wird.«
B.M. kam am folgenden Tag; es gab keinen Streit, und dem Namen »Nigel« stimmte sie ohne Widerrede zu. Violet — die Vita in London sehr oft besucht hatte — und Rosamund waren, an verschiedenen Tagen, erste Besucher. (Violet flirtete in der Öffentlichkeit mit Osbert Sitwell, der B. M. anvertraute, er sei »sehr unglücklich über die Art, in der Violet Keppel mich behandelt«.) Bevor Vita sich wieder ganz erholt hatte, erkrankte Rosamunds Mutter und starb; Vita tröstete ihre alte Freundin in ihrem Unglück, und Mrs. Grosvenor hinterließ Vita einen Brief, in dem sie Rosamund Vitas liebevoller Fürsorge anvertraute. »Dieses Vertrauen habe ich nicht gerechtfertigt«, schrieb Vita 1920.
Gegen Ende April vermieteten die Nicolsons ihre Londoner Wohnung an Gwen und Sam St. Aubyn und zogen für das Frühjahr und den Sommer nach Long Barn. Lord Sackville war, an einem Gallenstein leidend, aus dem Krieg zurückgekehrt. Von Long Barn aus konnte Vita ihre Mutter unterstützen. »Vita ist ein solcher Schatz und kommt jeden Tag zu einem sehr langen Besuch vorbei. Lionel sehe ich kaum. Er hat es immer eilig, oder er kommt ins Zimmer. guckt aus dem Fenster, trommelt mit den Fingern und sagt nichts, sieht gelangweilt aus und verabschiedet sich. Armer, armer Lionel und armes ich.« In der gemütlichen Bibliothek las er Olive vor, so wie er einst Victoria vorgelesen hatte.
Gelegentlich kam Violet für das Wochenende nach Long Barn, wenngleich sie Cottages oder die Architektur der Tudor-Zeit nicht bewunderte — niedrige Decken, kleine bleigefaßte Fenster, freiliegende Balken, dunkle Eiche, geneigte Fußböden — und Vitas Häuslichkeit schrecklich fand. Nach einem solchen Besuch schrieb sie Vita, sie habe auf dem Rückweg in Knole hereingeschaut, »das mir schöner erschien denn je. Wie ich diesen Ort verehre! Wärst du ein Mann, hätte ich dich ziemlich sicher geheiratet, da ich glaube, die einzige Person zu sein, die Knole ebenso liebt wie du.«
Vita war kein Mann, und Knole würde Eddy gehören. Im Mai pflanzten sie und Harold in Long Barn Nußbäume. Buchsbaumhecken und weitere Rosenstöcke, und sie sprachen über Harolds Karriere: Er wollte in die Politik gehen.
Ihr Vater und Olive verbrachten eine Nacht in Long Barn, was B.M. verletzte. Vita machte sich mit dem Gedanken vertraut, daß es für beide Elternteile besser wäre, wenn sie sich offiziell trennten. Währenddessen erwarb B.M. in Brighton am Sussex Square drei große aneinandergrenzende Häuser als eigenes, sehr geräumiges Refugium. Lutyens, dem sie den Spitznamen »McNed« gab und der nun ihr Liebling war, machte Pläne für eine Vereinigung der drei Häuser und für eine Neugestaltung des Gartens, der durch einen Tunnel unterhalb der Straße zugänglich gemacht werden sollte. (Der von ihm entworfene Zenotaph war im Sommer in Whitehall enthüllt worden: Er war ein Mann von höchstem Ansehen, trotzdem hatte B.M. ihn unter ihrer Fuchtel.)
Der erste ernsthafte Streit seit Monaten, den Vita und Harold mit B.M. hatten, entzündete sich an ihren Eheproblemen und erhob sich während eines Dinners in Hill Street. Sie hatten Victoria zu verstehen gegeben, sie empfänden das Seery-Erbe inzwischen als unangenehm, eher als eine Peinlichkeit denn als einen Triumph. Am nächsten Tag beeilte sich Vita, die Dinge zurechtzurücken. »Aber wir haben das wirklich nicht so gemeint, gewiß nicht von unserem Standpunkt, die wir davon so reichlich profitiert haben: wir haben, wie du dich erinnerst, an Dadas Situation gedacht... wie hätten wir dich verletzen wollen, die wir dir alles verdanken, was wir haben, von unserer glücklichen Ehe bis zu den Brosamen für unsere Küken...«
Es reiße die Sonne vom Himmel, schrieb Vita, zu spüren, daß es zwischen Hill Street und Long Barn eine schwarze Wolke gebe. So änderte sich denn nichts an der ehelichen Sackgasse, und Vitas emotionale und finanzielle Abhängigkeit von ihrer Mutter dauerte an.
B.M. brachte McNed mit nach Long Barn, und er beriet sie bei der Umgestaltung des Treppenhauses — das sie mit den himmelblauen Gitterpaneelen schmückten, die sie in Konstantinopel erworben hatten - und zeichnete Bilder für Ben.
Die Russische Ausstellung in London war der letzte Schrei, und Vita besuchte sie zusammen mit Violet; B.M. richtete sich in Hill Street einen »Bakst-Raum«* (* Leon Nikolujewitsch Bakst (1866-1924!, russischer Maler und Graphiker (Anm. d. Übers.) ein. Violet vertraute Vita ihre verwickelten Liebesaffären an; sie hatte auch in Margaret (Pat) Dansey, die mit ihrem Onkel, Lord Fitzhardinge, auf Berkeley Castle in Gloucestershire lebte, eine intime Freundin gewonnen. Auch Pat mußte sich Violets endlose Tiraden anhören - über Vita.
Kapitel 8
Die Veröffentlichung von Vitas Gedichtband, den John Lane vom Verlag Bodley Head angenommen hatte, war bei Kriegsausbruch verschoben worden. 1915 hatte sie Constantinople: Eight Poems als Privatdruck erscheinen lassen, und im Sommer 1017 nahm Lane ihr Buch, das frühe Gedichte, die Konstantinopel-Gedichte und einige neue enthalten sollte, abermals ins Programm. Als sie sie Harold im Juli zeigte, gab er ihr zur Antwort: »Oh, mein lieber, kleiner, kluger Mar, ich kann aus deinen Gedichten nicht klug werden. Sie scheinen von jemandem zu stammen, den ich in dir nicht kenne. Sie haben vielleicht etwas Geheimnisvolles, aber sie sind so viel besser, gewandter und kraftvoller.«
Im August druckte Country Life ihr Gedicht »Mariana in the North« (»All ihre Jugend ist dahin, ihre schöne Jugend ist dahin«) und »A Frugal Life«, geschrieben für Ben und Nigel. Der ganze Gedichtband, Poems of West and East, erschien erst im Oktober. In der Zeit davor fuhr Vita mit ihrer Mutter und mit Lutyens nach Munstead, um Gertrude Jekylls Haus (das Lutyens fünfundzwanzig Jahre zuvor umgebaut hatte) und ihren berühmten Garten zu besichtigen, dessen Ausführung und Stil den englischen Gartenbau so sehr beeinflußt haben, Vitas Garten eingeschlossen. Bei diesem Besuch war Vita weniger begeistert: »Miss Jekyll ziemlich fett und mürrisch; Garten nicht im besten Zustand, aber man kann sehen, daß er schön sein muß.« Miss Jekylls Verfahren, durch Unterteilung des größeren Gartens einen »Ein-Farben«-Garten zu gestalten, kannte sie bereits und plante mit Harold in Long Barn eine weiße und eine gelbe Einfriedung.
Violet war die letzte sommerliche Besucherin im frühen September, bevor die Nicolsons nach London zurückkehrten. Sie reiste nach einwöchigem Aufenthalt ab, um am nächsten Tag zurückzukehren, weil die Luftangriffe in London sie erschreckten: sie blieb noch für ein paar weitere Nächte. B. M... die von Knole herüberkam, war betroffen angesichts der freizügigen Art, mit der Violet über ihr anrüchiges Privatleben plauderte: »Sie hat gewiß sehr unmoralische Vorstellungen oder ein übermächtiges Verlangen, sich zu amüsieren.«
Als Vita am 2. Oktober nach London fuhr, fand sie das Haus in Ebury Street abgesperrt vor, denn nur fünfzig Yards vom Haus Nr. 182 entfernt waren zwei Bomben explodiert. (Sie und Harold mußten in diesem Herbst Pimlico verlassen und zogen zu B.M. in die Hill Street.) Es war der Tag als ihr Buch erschien. Harold bereitete sie auf Enttäuschungen vor: »Ducky, sei nicht entmutigt, wenn du keine Rezension bekommst, denn sie rezensieren bloß Kriegsgedichte.« Aber sie hatte ebenfalls ein Kriegsgedicht verfaßt, »A Fallen Soldier«, das der Observer am folgenden Sonntag, zusammen mit einer empfehlenden Notiz zu ihrem Gedichtband, abdruckte. Vier Tage später bekamen Poems of West and East eine sehr gute Kritik in der Morning Post.
B.M. kaufte 100 Exemplare dieser Ausgabe und verschickte sie an ihre Freunde und Verwandten: sie forschte bei Bumpus in Oxford Street nach dem Verkauf; sie schrieb an die Buchabteilung von Selfridge's und sie tyrannisierte jede Buchhandlung in London, »insbesondere den Times-Buch-Club, wo sie die Sache sehr lustlos betreiben. Ich mache ihnen jetzt Beine und hämmere ihnen ein, daß dieses Buch ein unzweifelhafter Erfolg ist.«
Harold machte es anders: »Ich ging zu Hatchards und kaufte dein Buch, weil ich mich einsam fühlte. Sie gaben es mir ohne Murren, aber ich war nicht mutig genug zu fragen, ob sie schon eine Menge davon verkauft hätten, denn sie hätten ja >Nein< sagen können.« Auch in bezug auf weitere Ambitionen rückte er ihr den Kopf zurecht: »Liebling, ich glaube nicht, daß du bei der Regierung eine Stellung finden wirst. Die Arbeit in einem Amt bedeutet Bezahlung, und Bezahlung bedeutet einen langen Arbeitstag, und sie wollen dort einfach keine Leute, die bloß morgens und nachmittags kommen.« In diesem Punkt hatte er vermutlich recht.
Gegen Ende Oktober 1917 wurden Harold und Vita über das Wochenende nach Knebworth House in Hertfordshire eingeladen. B.M. kaufte ihrer Tochter bei Worth ein veilchenfarbenes und blaues Kleid und einen neuen Abendmantel für diesen Anlaß. »Ihre Garderobe ist in der letzten Zeit nicht mehr gut genug.« Die anderen Gäste waren die Laverys, Eddie Marsh, Lady Herbert Harvey, Sir Louis Mallet (Harolds früherer Chef), Osbert Sitwell und Hugo Rumbold. Bei ihrer Rückkehr fand Vita einen langen Brief von Violet vor.
»Liebling... Ohne einen gelegentlichen Blick auf deine strahlende Häuslichkeit komme ich einfach nicht aus, und du wirst in unerträglichem Maße eingebildet werden, wenn der Vagabund - was Dorothy [Heneage] das »ausschweifende; Element nennt und das durch mich verkörpert wird — unbegrenzt von dir ferngehalten wird. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir sind füreinander absolut unentbehrlich, zumindest in meinen Augen!«
Violet ahnte kaum, zu welch günstigem Zeitpunkt ihre Bitte eintraf. Vitas »strahlende Häuslichkeit« war im Begriff, sich ein wenig zu verdüstern.
Harold argwöhnte, er könne sich in Knebworth mit einer Geschlechtskrankheit infiziert haben. Der Arzt sagte ihm, er müsse Vita davon erzählen, denn sollten die Tests positiv ausfallen, würde auch sie sich einer Untersuchung unterziehen müssen. Das hieß, daß er Vita noch eine Menge anderer Dinge würde erzählen müssen. Es ist unwahrscheinlich, daß er vor dieser Zuspitzung jemals ehrlich mit ihr über seine homosexuellen Vergnügungen und Schwärmereien gesprochen hatte, wenn er auch oft in scherzhafter Weise von den Männern sprach, die er besonders gern mochte. (»Hadji* (* »Hadji bedeutet »Pilger- und war der Kosename von Harolds Vater für Harold, den Vita übernahm) speist mit Archie heute abend - für Mar Grund zur Eifersucht — nur Muriel wird dort sein.«)
Bis jetzt hatte sich Vitas leidenschaftliche Natur - wie ihre Eltern war sie in hohem Maße auf Sexualität fixiert und darüber hinaus noch tieferer Leidenschaft fähig - seit ihrer Hochzeit ganz auf Harold konzentriert, vielleicht stärker als ihm im Grunde lieb war: Ein paar Monate später sollte sie ihrer Mutter sagen, Harold sei »kalt«. Sicherlich hatte sie nach der Geburt Nigels immer noch körperliches Verlangen nach ihm:
»Liebling, komm rauf und wirf einen Blick in mein Zimmer, und wenn ich schlafe, küsse mich und schleiche davon wie eine kleine Maus; und wenn ich nicht schlafe, küsse mich genauso, und dann bleib bei mir.
Ich werde nicht schlafen, und außerdem bist du mir kostbarer als Schlaf.
- Ich liebe dich. Liebling, wie unduldsam Liebe doch sein kann, selbst wenn sie verheiratet ist und zwei kleine Jungen ihr eigen nennt. Ich liege und warte auf dich mit derselben zitternden Erwartung, als hättest du mir bis gestern noch nie gesagt, daß du mich liebst.«
Sie war willens gewesen, trotz aller Widerstände und ungeachtet ihrer eigenen Natur (und auch der Harolds) ihre Ehe zu einer romantischen Liebe und zu einem Abenteuer zu machen.
Die entscheidende Unterredung zwischen einem schrecklich erregten Harold und Vita fand am 6. November statt. In dieser kritischen Situation wandte sich Vita nicht an Violet; sie fuhr allein nach Oxford, wo sie eine Nacht bei Irene Pirie blieb, der einzigen unter ihren Freundinnen, die verheiratet war. Harold speiste in Hill Street mit B.M.. die in ihr Tagebuch schrieb: »Er sagte mir, er werde sich umbringen, wenn Vita stürbe; er liebt sie ohne Zweifel so stark wie zuvor.« B.M. wußte nichts von der Ansteckung, obgleich sie sich ein paar Tage später notierte: »Ich mache mir wegen Harold Sorgen, der sehr schlecht aussieht.«
An jenem Tag, da Vita in Oxford Zuflucht suchte, schrieb Harold ihr dreimal.
Der erste Brief:
- »Mein süßer Liebling, ich bin so unglücklich über das Ganze. Es ist gräßlich, wenn eine solche Sache über einem schwebt - du kannst dir nicht vorstellen, wie sie mich quält. Selbst wenn alles gut ausgeht und unsere Ängste grundlos sind, habe ich dich Dingen ausgesetzt, die du haßt und verabscheust, und natürlich kannst du nicht anders, als mich dafür zu hassen.
Liebling, während dieser schrecklichen Woche bist du so lieb gewesen... Liebling, wenn das Allerschlimmste eintritt, liegt eine schwere Zeit vor uns. Du wirst dich einer Behandlung unterziehen müssen - und sie könnte vierzehn Tage dauern. Immerhin kann es, Gott sei Dank, nicht bösartig werden, weil wir rechtzeitig etwas unternommen haben ... Laß diesen Brief nicht herumliegen.«
Der zweite Brief:
- »Es wird eine schreckliche Angelegenheit werden, falls der Befund nicht zufriedenstellend ist. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich davor fürchte. Liebling, wenn du mich heute haßtest, wie sehr wirst du mich erst hassen, wenn es sich wirklich als wahr herausstellt? Ich habe nicht den Mut, all dem ins Gesicht zu blicken ... Liebling, ich kann nicht glauben, daß unsere Liebe und unser Glück nicht selbst ein solches Unglück überleben. Liebes, wir wollen uns ihm gemeinsam und tapfer stellen.«
Sie taten es. Vitas Reaktion auf Haralds Verwicklungen und die darauffolgenden Erklärungen und Enthüllungen erklären die nahezu übermenschliche Toleranz, die Harold in den folgenden drei Jahren angesichts ihres Verhaltens ihm gegenüber bewies. Für sie waren die unmittelbaren Folgen vielschichtig: Sie mußte ihre ganze Ehe, ihr Bild von ihrem Mann, seine sexuelle Eigenart überdenken - und ihre eigene. Sie mußte anerkennen, daß es in ihrem eigenen Wesen einen parallelen Dualismus gab, der sexuell und nicht bloß gefühlsmäßig bedingt war. Nach dem ersten Schock wurde das Undenkbare zum Thema, das sie am meisten beschäftigte. Es war ein Wendepunkt.
Aus Oxford antwortete sie dem unglücklichen Harold rasch und freundlich.
Sein dritter Brief lautet:
- »Du hast mir ein nettes Telegramm geschickt — was sehr lieb und zartfühlend von dir war... Liebling, du bist so süß und beherrschend, und ich kann an nichts anderes als an dich denken. Ich bin so verängstigt, Liebling, tut mir leid... Ich habe eine Woche hinter mir, die ein Alptraum war... ich fürchte, von jetzt an wirst du mich verabscheuen. Und die ganze strahlende Welt voll Sonnenlicht wird erlöschen wie ein Scheinwerfer... Gute Nacht, meine Heilige: mein wahrer Engel.«
Sie nahm ihr Leben wieder auf und ging mit B. M. in das Atelier von Augustus John, um das Porträt anzuschauen, das er von Lutyens gemalt hatte: »John sieht aus wie Christus. Am Nachmittag Einkaufen mit B. M. Gehe zu einer Dinnerparty bei den Colefaxes, wo Robert Nichols und Siegfried Sassoon ihre Gedichte lesen. Ich weigerte mich, meine zu lesen. Nichols, ein schrecklicher kleiner Flegel. Sassoon sehr schüchtern, aber sehr attraktiv.«
Mit den Sitwell-Brüdern besuchte sie eine Ausstellung (»entsetzlich«) mit Möbeln von Roger Fry in den Omega-Werkstätten und verbrachte in Knole mit ihrem Vater, Olive Rubens und Harold ein ruhiges Wochenende. Er und sie waren sich wieder nahe (in allem bis auf den sexuellen Verkehr, der noch nicht erlaubt war), voller Pläne und Zärtlichkeiten. Sie las ihm den Entwurf für ein Buch vor. das später als ihr erster Roman unter dem Titel Frühe Leidenschaft erscheinen sollte. »So glücklich.«
Die Leute trösten sich und einander auf unterschiedliche Weise. Die unglückliche B.M. speiste um diese Zeit mit Lady Tredegar in Grosvenor Square. »Sie nahm kein Blatt vor den Mund und erzählte mir, ihr Gatte lebe offen mit einer Frau im Ritz. Ich zeigte ihr meine Sammlung von Opalen.« B.M. hatte angefangen, risque Geschichten von der gemeinsten Sorte zu sammeln, die sie im hinteren Teil ihres Tagebuches aufschrieb, eine Beschäftigung, an der sie viele Jahre festhielt. Ihr langgezogenes und schmerzhaftes Klimakterium hatte sie noch immer nicht überbrückt, eine Tatsache, auf die sie stolz war. Sie hatte auch einen neuen Freund, den Seifenkönig Lord Leyerhulme, der sie reichlich mit Seife versorgte.
Das letzte Jahr des Ersten Weltkrieges war für Zivilisten in England das trübste. Viele Freunde Vitas - Patrick Shaw-Stewart, Edward Horner, die Grenfell-Jungen - waren getötet worden. Die Lebensmittelknappheit nahm schlimme Formen an. B.M, die in Knole den Haushalt führte, notierte am 9. Februar 1918 daß in den Läden seit über zwei Wochen kein Fleisch zu haben gewesen sei (die Sackvilles aßen Wildbret aus dem Park); es gab weder Butter noch Margarine, noch Kohlen. Besucher brachten ihre Zuckerrationen mit, »und alle Gespräche drehen sich ums Essen«. Vita heiterte sich damit auf daß sie bei Reville »einen wunderschönen Mantel aus schwarzem Samt mit einem breiten Streifen Orange und einem Pelzkragen« kaufte.
Sie arbeitete angestrengt an der Erweiterung von Frühe Leidenschaft: »Ich änderte den Schluß, tötete die Großmutter, schickte Ruth und Westmacott hinaus in die Nacht, erweckte Malory wieder zum Leben, brachte jedermann wieder durcheinander, wenn er sich schmeichelte, seinen Schwierigkeiten ein Ende gesetzt zu haben — und hoffte nebenbei, das Ganze auf Romanlänge zu bringen.«
Sie zeigte George Moore, ihrem literarischen Nachbarn, das Manuskript:
»Er sagte mir schmeichelhafte Worte darüber... schlug mir sogar einen Kunstgriff vor, mit dessen Hilfe ich die Geschichte vielleicht auf die richtige Länge bringen könne. Er meinte damit etwas, was er als »Geschichte aus dem wirklichen Leben bezeichnete und worüber er in einer amerikanischen Zeitung etwas gelesen hatte. Praktisch jeder Kritiker, der sich später herabließ, von meinem Buch Notiz zu nehmen, merkte an, nichts dergleichen könne je im wirklichen Leben geschehen. So verdanke ich denn die schließliche Veröffentlichung meines Romans ganz und gar George Moore.«[1]
Indem sie diese erweiterte Neufassung schrieb, verschlüsselte sie die Verwirrungen und Schlußfolgerungen, die sich aus der Krise mit Harold ergaben. In den Gestalten von Malory und Rawtlon Westmacott schuf sie zwei Modelle des Sackvillschen Helden, dem wir in fast allen ihren Romanen wiederbegegnen werden. Malory war der Reisende ohne Angehörige, ohne Wohnsitz; er war der Mann, der Vita gern gewesen wäre, und ihr idealer Mann von ihrem weiblichen Standpunkt aus. Malory ist einer jener Menschen, die nicht heiraten sollten oder, wenn sie es tun zumindest einen Partner wählen sollten, der ebenso unbeständig ist wie sie selbst... er verkörpert eine neue Art von Eugenikern, moralischen Eugenikern.«
Rawdon Westmacott im Roman war, obgleich ein Mann aus Kent, ein Beduine in Kordsamthosen und mit einem schmalen, scharfen Gesicht, der Grazie einer Antilope und der Wildheit eines Falken«. Sowohl Rawdon wie Ruth, die Frau, die er liebt, haben spanische und englische Vorfahren: Zum ersten Mal entdeckte Vita dieses doppelte Erbe in sich selbst, machte sich die Familiengeschichten um Pepita zunutze und beschrieb ihre eigene Doppelnatur literarisch als den Kampf zwischen zwei Erbteilen. Malory fragt sich, ob Ruth nicht »geschlagen ist mit einer Doppelnatur, deren eine Seite grob und ungezügelt ist, die andere aber empfindsam, traditionsgebunden, praktisch, mütterlich, feinfühlig?... Und ist das, kann es, die Folge der getrennten, antagonistischen Ströme in ihrem Blut, des südlichen und des nördlichen Erbes, sein?«
Parallel zur Nord-Süd-Doppelnatur existiert eine zweite. Malory erzählt Ruth, daß »Liebe sowohl Leidenschaft wie Freundschaft sei, Leidenschaft in der Heimlichkeit der Nacht, aber Kameradschaft im hellen Sonnenlicht, daß Leidenschaft die Trunkenheit der Liebe sei, Freundschaft dagegen Nahrung für sie und klares Wasser, Wärme«. Die Aufspaltung zwischen Liebe als »Leidenschaft in der Heimlichkeit der Nacht« und als treuer Kameradschaft sollte bei Vita eine deutliche Ausprägung erlangen; auf diese Weise brachte sie die Diskrepanz zwischen ihrer und Harolds Veranlagung und ihrer und seiner vielschichtigen Sexualität in Einklang.
Sie schickte das Manuskript von Frühe Leidenschaft au Hugh Walpole, der es guthieß und sagte, ihr Stil erinnere an Conrad und an Emily Brontes Sturmhöhe. Er übergab es dem literarischen Agenten A.P. Watt; Collins, der erste angesprochene Verleger, nahm es an.
Aber die ersten Monate des Jahres 1918 waren nicht vielversprechend. Mikki, ihr geliebter alter Hund, starb und wurde im Wald bei Long Barn beerdigt. Harold wurde ganz von seiner Arbeit und seiner neuen Freundschaft mit Oswald (Tom) Mosley in Anspruch genommen. Ebenso in Anspruch genommen schien Violet durch einen, wie B. M. es nannte, »erstklassigen Flirt« mit Commander Arthur Marsden, einem Helden der Schlacht von Jütland.
Mitte März sollte Harold Urlaub bekommen und wollte ihn mit Vita in Long Barn verbringen. B.M. schrieb in ihrem Tagebuch, Vita habe ihr erzählt. Harold sei »ein Liebhaber wie eh und je - glückliche Sterbliche!« Doch die Idylle war nicht so vollkommen, wie B.M. annahm. Offiziell galt seine Infektion seit Ende Januar als ausgeheilt, doch zwei Tage vor Antritt seines Urlaubs schrieb er aus dem Ritz an Vita, er sei gerade bei seinem Arzt gewesen.
»und er war ein Teufel - nicht wegen seiner Rechnung, sondern weil sie alle unter einer Decke stecken - und jetzt steht außerdem der Urlaub bevor. Wie auch immer, ich will es dir erzählen... Erst, sagt er, wenn seit Knebworth sechs Monate vergangen sind - mein Gott, mein Gott. Das heißt, daß wir bis zum 20. April warten müssen ... Oh, mein Schatz, ist das nicht ein Reinfall? Ich fragte ihn, ob wir nicht Vorsichtsmaßregeln treffen könnten, aber er war ein Teufel.«
Am selben Tag schrieb er noch einmal aus dem Außenministerium. »Er sagt, daß nach dem 20. April überhaupt kein Risiko besteht und daß ich völlig geheilt bin ... Liebling, würde es dich furchtbar stören, einen kranken Ehemann zu haben? Er war schrecklich optimistisch, daß es nicht wieder vorkommen kann.«[2] Harold war besorgt, Vita könne »mich hassen und verabscheuen und sich voll Entsetzen von mir abwenden. Liebling, wenn du hier wärst, würdest du bloß lachen und sagen: »Törichter Hadji, und alles wäre in Ordnung.« Während der vierzehn Tage, die sie zusammen im Cottage verbrachten, war Tag für Tag schönes Wetter. Sie pflanzten Wicken und teilten den Phlox. Die Osterglocken und Narzissen standen immer noch in Blüte. Von Zeit zu Zeit hörten sie das drohende Grollen der Geschütze von der anderen Seite des Kanals. Ende März kehrte Harold zu seiner Arbeit im Außenministerium zurück und kam wie üblich an den meisten Abenden und jedes Wochenende nach Long Barn. Violet lud sich am 13. April selbst ein und blieb vierzehn Tage bei Vita.
Am 18. April brachen die Schleusentore, und mit Vitas Beherrschung war es vorbei: Um zehn Uhr abends begannen sie und Violet miteinander zu sprechen, wie sie noch nie miteinander gesprochen hatten. »Violet hatte das Geheimnis meines Doppelwesens entdeckt: sie griff mich deswegen an, und ich unternahm keinen Versuch, es vor ihr oder mir zu verbergen.« Obgleich Vita seit ihren Gesprächen mit Harold bestürzende neue Gedanken gekommen sein müssen, hatte sie sie nie in Worte gekleidet. Violet hatte bei ihren Bemühungen bewußt immer auf das gezielt, was sie die »verworfene« Seite von Vitas Persönlichkeit nannte: Möglicherweise hatte Vita ihr von der Thematik der Frühen Leidenschaft erzählt, und das einmal angefachte Feuer ließ sich nicht mehr ersticken. »Ich sprach mich aus, bis ich hörte, wie meine Stimme heiser wurde, und das Kaminfeuer ging aus, und alle Dienstboten waren längst zu Bett gegangen, und es war niemand mehr im Haus außer Violet und mir, und ich redete, unter Schmerzen und mit absoluter Aufrichtigkeit, mein ganzes Ich kam aus mir heraus.«[3]
Violet hörte zu; darauf hatte sie gewartet. Dann erzählte sie Vita, wie sehr und warum und auf welche Weise sie sie liebe. So begann die romantische Liebesgeschichte, die, wie Vita mehr als zwei Jahre später schrieb, ihr Leben veränderte. Der 20. April — ein wichtiger Tag für Harolds und Vitas Ehe — kam und ging ohne besondere Vorfälle: Vita und Violet hatten sich zum ersten ihrer Ausflüge nach Polperro in Cornwall davongemacht, wo sie in einer Fischerhütte wohnten. Dreimal oder viermal täglich überschüttete Harold sie mit einem brieflichen Schwall von Enttäuschung und Niedergeschlagenheit. Doch Vita spürte, wie sie später schreiben sollte, daß sie anfing, »sich einen anderen Lebensraum zu erschließen«. Das Abenteuer hatte begonnen.
Kapitel 9
Während jenes hektischen Sommers 1918, der ersten Monate ihrer Affäre mit Violet, hielt Vita das Ganze für eine Eskapade, und nie kam ihr der Gedanke, diese könne von Dauer sein: Violets Unbeständigkeit war sprichwörtlich. Aufregung über Violet jedoch machte es nicht leichter, mit Harold wieder sexuelle Beziehungen aufzunehmen. Es ist denkbar, daß Vita durch Harolds Mißgeschick in Knebworth, wie er fürchtete, von ihm sexuell abgestoßen würde, ungeachtet ihrer Sympathie und ihres Verständnisses. Diese Abneigung setzte ihr anderes Ich frei - und bahnte den Weg für Violet, die Romantik, Abenteuer und alles bedeutete, was das häusliche Leben mit Harold nicht bot.
Verständlicherweise ging er bei seinen Annäherungsversuchen zögernd vor; am 9. Mai schrieb er ihr: >Ich wünschte, ich wäre ungestümer und weniger zärtlich ... ich vermute freilich, daß ich zu kultiviert und fin de siècle bin, um meine Männlichkeit zur Schau zu stellen.« Sie antwortete ihm ausführlich mit einem Brief, wenngleich sie ihn ohnehin unmittelbar darauf sehen würde, »weil es irgendwie einfacher« sei. (In Briefen taten sich Harold und Vita immer leichter.) Sie sagte ihm, sie ziehe seine »Sanftheit und Geduld« dem »Ungestüm vor, das du zu verbergen scheinst«. Sie verspüre Wanderlust und teilte sie ihm mit - sie hatte Sehnsucht nach »neuen Orten, nach Bewegung, nach Orten, wo niemand von mir verlangt, daß ich Anweisungen für das Mittagessen erteile oder Haushaltsbücher führe«. Sie bekannte sich zu dem Egoismus, der darin lag, und sagte, sie wisse, daß er alles auf Violet zurückführen würde. Das sei falsch: »Aber ich spüre, daß mich Menschen wie Violet und Menschen ihrer Art vor einer Art intellektueller Stagnation bewahren, einer geistigen Trägheit.« Nach dem Krieg, ließ sie ihn wissen, würden sie und er zusammen irgendwohin gehen. Das war ihr alter Wunschtraum: »Ich will fortgehen (mit dir), dahin, wo niemand weiß, wer wir sind.«
Doch im Augenblick war es Violet, mit der sie entfliehen wollte. Sie war Harold gegenüber, was die Intensität ihrer Beziehung zu Violet anging, nicht aufrichtig, aber sie spürte ohne Zweifel, daß sie ernst war: am Anfang, bevor alles außer Kontrolle geriet, war die Flucht vor den Anordnungen zum Mittagessen und allem, was damit zusammenhing, ebenso wichtig wie Violet selbst. Sie begann mit der Niederschrift von Challenge, einem romantischen Roman über den Konflikt zwischen Liebe und Pflicht, angesiedelt auf einer griechischen Insel. In der Geschichte wird Violet als »Eve« und Vita als der gequälte »Julian« porträtiert. Die beiden erbauen sich hurtig eine Phantasiewelt mit eigener Sprache - auf der Grundlage des Romani, entnommen den Werken von George Borrow — und eigener Mythologie. Während der Niederschrift des Romans machte Violet Verbesserungsvorschläge, besonders im Hinblick auf die Charakterisierung von Eve und Julian: »Die Beschreibung des Julian hielt ich für höchst zutreffend. Du sagtest, er sei dir nicht ähnlich. Er ist du. Wort für Wort. Zug für Zug... Ich muß sagen, ich wünschte mir eine ausführlichere Beschreibung von Julians Aussehen.« Im Manuskript widmete Vita das Buch »mit Dank für die vorzügliche Vorlage dem Original von Eve«.
Immer häufiger trug Vita jetzt die Kleidung einer Gutsfrau, Breeches und Schaftstiefel, die sie vor Violets verhängnisvollem Besuch erworben hatte. Im Salon hätte man sie 1918 empörend gefunden, doch sie paßten zu Vitas Größe und ihren langen Beinen. Sogar B. M. hieß diese Kleidung gut. »In diesem Aufzug werde ich sie malen lassen; in ihren Cordhosen sieht sie hinreißend aus. Sie hätte ein Junge werden sollen!« Doch am nächsten Tag zeigte sich Vita ebenso schön, freilich anders gekleidet; sie trug ein Kleid in einem leuchtenden Tiefrosa mit passendem Hut. B.M. sorgte sogleich dafür, daß ihr Porträt von William Strang gemalt wurde - zwar nicht in Breeches, doch die Vita auf diesem Bild ist dennoch die trotzige, verwegene Vita, die Violet zum Leben erweckt hatte.
Harold mochte das Bild und fand ebenfalls seine Vita darin. »Sie ist so ganz und gar meine kleine Mar. Sie ist ganz darin - ihr kleiner straffer Körper, ihre Jungenhaftigkeit im Stil Raleighs und vor allem diese süßen, sanften Augen.« Olive Rubens hatte ihm gesagt, sie finde das Bild ein wenig derb. »Ich kann darin nichts Derbes entdecken - bloß eine gewisse Aufdringlichkeit, die im Gegensatz zur Schönheit der Augen steht.« Eine seiner Stärken im Umgang mit Vita war seine standhafte Weigerung, die sanfte, fürsorgliche Frau, die in ihr steckte, aus dem Blick zu verlieren, die er so dringend brauchte und die sie ihm auch immer sein wollte. Um das Gleichgewicht in ihrer Persönlichkeit aufrechtzuerhalten, brauchte sie das Bild, das Harold von ihr hatte.
Ihre neue Vitalität verblüffte ihn. Hoffnungsvoll erzählte er ihr, er wolle »ein Teufel werden — ein großer blauer und roter Teufel mit Krallen — und dann wird diese Liebliche ihn wieder lieben wie einst — und nicht spüren, daß sie ihre glühende Jugend an einen Kuraten verschwendet.« (Er schrieb oft Briefe an Vita, in denen er von sich als »er« und von ihr als »sie« sprach, als schreibe er ihre Geschichte.) Am 1. Juli sagte er ihr: »Liebling, du bist eine so beherrschende Person. Wie die Sonne gibst du allen Dingen Farbe.« Während des ganzen Sommers, als er versuchte, sie zurückzugewinnen, schrieb er ihr täglich mehrere Male oder rief an, obgleich er fast jeden Abend heimkehrte. Violet, die sie fortwährend besuchte und mit ihr fortging, schrieb beinahe ebensooft an ihre »Mitya«, wie sie Vita nannte: »Ich liebe es, dir zu gehören — ich sonne mich darin, daß du als eine unter so vielen mich deinem Willen unterworfen, meine Selbstbeherrschung zertrümmert, mir mein Geheimnis geraubt und mich zur deinen gemacht hast, ganz und gar zur deinen.« Währenddessen lernte im Laufe dieses Sommers der kleine Nigel laufen und »Ben« zu sagen.
Jede Party, die sie mit Harold besuchte und auf der Violet nicht anwesend war, stufte Vita als »grauslich«, »tödlich« oder »langweilig« ein. mochte die Gesellschaft auch noch so vornehm sein. In London verbrachte sie oft die Nächte mit Violet im Haus der Keppels. Grosvenor Street 16, und sie traf mit Violets enger Vertrauten, Pat Dansey, zusammen. Alles in allem war es ein »verrückter und verantwortungsloser Sommer der Mondnächte, unendlicher Eskapaden, leidenschaftlicher Briefe, Musik und Verse. Die Sache war für uns zu diesem Zeitpunkt nicht tragisch.«[1] Am 14. August schrieb Violet an Vita: »Mitya. Mitya. ich habe dir nie die ganze Wahrheit gesagt; jetzt sollst du sie erfahren; ich habe dich mein Leben lang geliebt, eine lange Zeit, ohne es zu wissen, seit fünf Jahren, wie ich jetzt weiß, unwiderruflich, ich habe dich geliebt als mein Ideal, meine Inspiration, meine Vollendung... Du bist die grande passion meines Lebens.« Und mit dem Selbstbewußtsein der Liebenden fügte sie hinzu: »Ich frage mich, ob unsere jeweiligen Biographen erkennen werden, wieviel von meiner Karriere auf deinen unbewußten Einfluß zurückzuführen ist?«
Oswald (»Ozzie«) Dickinson. der Bruder von Virginia Woolfes Freundin Violet Dickinson, war ein überzeugter Junggeselle, ein hervorragendes Klatschmaul und ein alter Freund Harolds; er bekleidete im Innenministerium den merkwürdigen Posten eines Sekretärs beim Amt zur Kontrolle der Geisteskrankheit. Er genoß hohes Ansehen bei Lady Sackville, und durch ihn erfuhr sie in Andeutungen von den Veränderungen, die in Vitas und Harolds Ehe vor sich gingen. Im Laufe des Jahres 1918 beobachtete man, daß Harold Vitas Selbstbewußtsein in der Öffentlichkeit untergrub, ihr widersprach und sie schlechtmachte - verständlicherweise, da sie das seine im Privatleben untergrub. Ozzie erzählte B.M., er bedaure, daß »H. vor den Leuten V. ein wenig zu heftig auszankt«. »Ich hoffe [schrieb sie in ihrem Tagebuch] von ganzem Herzen, daß H. und V. ihre Liebe niemals werden schwinden sehen.«
Vitas Sommer der Ausschweifung hatte Harold tief betrübt: jetzt wußte er, daß seine Angst nicht bloß auf Einbildung beruhte. In langen Briefen legte er ihr alles dar.
Am 9. September:
- »Kleines - ich wünschte. Violet wäre tot. Sie hat das Sonnigste, das es je gab, vergiftet. Sie ist wie eine grausame Orchidee - in den Abgründen des Lebens schimmernd und stinkend-und verpestet die Morgenbrise mit leichenhafter Süße. Liebling, sie ist böse, und ich bin nicht böse. Oh, mein Liebling, was bringt dich bloß dazu, sie über mich zu stellen?
Oh, Liebling, gestern wollte ich dich küssen, weil ich dich liebte, und du hast dich abgewandt. Nur eine kleine Drehung des Kopfes. .. und doch hat sie mich so verletzt, schickte mich so verwundet fort, Liebling.«
Vitas Probleme vermischten sich mit denen ihrer Eltern. B.M. hatte vor kurzem ihr neues Urlaubsdomizil in Brighton bezogen und sieben Wagen mit Möbeln von Knole hinschaffen lassen. Lionel betrachtete das als Gelegenheit, Olive Rubens stärker in das Leben in Knole einzubeziehen. Er plante, sie und ihren entgegenkommenden Gatten in Räumlichkeiten auf dem Green Court unterzubringen und den wählerischen, an Tuberkulose erkrankten Mr. Rubens pro forma als Sekretär einzustellen. Lionel versuchte Vita auf seine Seite zu ziehen: »Mich würde interessieren, welchen Eindruck du von Mutters Gefühlen hast... Sie scheint von Brighton ungemein entzückt und dort sehr glücklich zu sein.« B.M. war nicht so willfährig: Knole war noch immer ihr Heim. Lionel ließ den Plan fallen, und in Vitas Augen bestand der einzige Vorteil dieses neuen Ärgers darin, daß er B. M. davon abhielt, die Aktivitäten ihrer Tochter mit gesammelter Aufmerksamkeit zu verfolgen.
Harold unternahm vernünftigerweise eine Herbstreise nach Rom, zusammen mit Lord Berners und Lord Gerald Wellesley. Vita, die sich mit Violet in Long Barn aufhielt, war von seiner Unabhängigkeit bewegt und schrieb ihm: »Aber Hadji, höre, ich weiß, so wie ich weiß, daß morgen die Sonne aufgehen wird, daß ich dich unveränderlich liebe. Ich weiß, daß diese Liebe jede flüchtige Neigung überdauert, die ich für jemand anderen empfinden könnte.« Unausgesprochen bat sie ihn darum, wie sie es immer tat, jeder »flüchtigen Neigung« gegenüber unendlich tolerant zu sein.
Sie und Violet besuchten B.M. in ihrem Haus in Brighton: Ben und Nigel und ihr Kindermädchen wohnten bereits dort bei ihrer Großmutter. »Tolles Haus«. schrieb Vita in ihr Tagebuch. Sie hatte darin ihr eigenes Zimmer: B.M.'s Beschreibung von Vitas Zimmer vermittelt eine Vorstellung von dem Bakst-inspirierten Geschmack jener Zeit, gesehen mit den Augen dieser extravaganten Frau:
»Ihre Wände sind mit glänzendem smaragdgrünem Papier bespannt, der Fußboden ist grün; Türen und Möbel saphirblau; der Plafond aprikosenfarben. Vorhänge blau und Übergardinen gelblich. Die Möbel sind auf blauem Untergrund mit gemalten Perlen verziert. Man findet sie auch auf den Türschlössern. Auf ihrer Kamineinfassung aus grünem Marmor sechs hell-orangefarbene Vasen, und es gibt lachsfarbene und tomatenfarbene Kissen und Lampenschirme. Bilder von Bakst, George Plank, Rodin und gerahmte Seidenmalereien.«
Vita »sah hübsch aus in diesem Zimmer mit ihren zwei kleinen Jungen auf den Knien; ein Bild, das ich nicht vergessen werde«.
Sechs Tage später ließ sich Vita zum ersten Mal auf das ein, was sie »das beste Abenteuer« nannte. In ihrem Haus in Ebury Street legte sie Männerkleidung an, traf sich mit Violet bei Hyde Park Corner, und der große, schlanke »Julian« flanierte, eine Zigarette rauchend, mit seiner viel kleineren, dickeren Freundin durch May-fair. »Das Außerordentliche daran war, wie natürlich mir alles vorkam.« Sie fuhren mit dem Zug nach Orpington - eine Provinzstadt auf der Strecke nach Sevenoaks - und verbrachten die Nacht als Mann und Frau in einem Gasthaus. Am Morgen fuhren sie weiter nach Sevenoaks und schlüpften in Knole unbemerkt durch die Ställe ins Haus, wo »Julian« abgeworfen wurde. Vita war rechtzeitig in Long Barn, um Harold zu begrüßen, der an diesem Abend aus Italien kam.
B. M's Tagebuch: »Der arme Harold ist aus Rom krank, mit spanischer Grippe und hohem Fieber, zurückgekommen und liegt in Long Barn, wo seine ergebene Vita ihn umsorgt.« Violet verspottete sie wegen ihrer Ergebenheit und beklagte die Wiederauferstehung von Vitas anderem Ich: »Irgend jemand, der sanft, zärtlich, rücksichtsvoll und nett ist, hat Mitya vertrieben... Ale! Es ist so ungeheuerlich und unsäglich herabsetzend.« So wie Harold »seine« Vita in mehrseitigen Briefen anflehen konnte, so forderte Violet in Briefen von noch mehr Seiten »ihre« Vita ein. »Ich sehe dich, prächtig und unerschrocken und frei, ein Wanderer auf fremden Eilanden, im Gespräch mit sonderbaren Leuten, frohlockend in der unantastbaren Reinheit der Inspiration.« Mit dem instinktiven Scharfsinn einer echten Neurotikerin und gewohnheitsmäßigen Verführerin spielte Violet jederzeit mit Vitas eigenen Phantasien. Immer wieder zog sie über den unspektakulären Lebensstil von Harolds Eltern her und verspottete das Haus der Nicolsons in Cadogan Gardens als »schrecklich bedint«.
Violet war ihrerseits in Gefahr, ihre Freiheit zu verlieren. Immer hatte sie Rudel männlicher Freunde gehabt, doch Major Denys Trefusis von den Royal Horse Guards war ein besonderer Fall. Während der ganzen Zeit ihres Zusammenseins mit Vita hatte sie Briefe geschrieben - und wer Violets Briefe kannte, wußte, daß sie ins Schwarze trafen — Briefe an Denys, der in Frankreich an der Front war. Nun kam er auf Urlaub nach Hause und erhob Anspruch auf sie. Vita war eifersüchtig. »Soll ich dir sagen, warum?« fragte Violet.
»Du bist auf ihn eifersüchtig, weil er so ist wie du, und darum mag ich ihn... Im Innersten deines Herzens weißt du ganz genau, daß er >einer von uns< ist - daß er zu der allzu kleinen Bruderschaft der Abenteurer gehört, zu den Rücksichtslosen, den Wagemutigen, den Freien... zwischen uns dreien gibt es eine schreckliche und unwiderstehliche Anziehungskraft.«
Violet hatte ein neues Vergnügen entdeckt, ein neues Spiel, einen neuen Stachel für Vita. Und sie hatte die klare Absicht, Denys zu heiraten, wenn auch nicht jetzt.
Denys Robert Trefusis war in der Tat das, was Vita in Violets Augen sein sollte, was Vita selbst gern gewesen wäre, »ein Wanderer auf fremden Eilanden«. Vita hatte ihn sehr gern; Violets Phantasie von der dreifachen Anziehungskraft wurde verwirklicht — außer in der Schlußphase ihres Dramas kam Vita gut mit Denys aus - und wenn die drei zusammen waren, selbst in Zeiten verwirrter Gefühle, überwog ein Gefühl des Vergnügens an der Gesellschaft des anderen.
Vita beschrieb Denys als ein Rennpferd, einen Kreuzfahrer, einen Windhund« einen Asketen, der den Heiligen Gral suchte. In seinem unveröffentlichten Buch über Rußland, »The Stones of Emptiness«, beschrieb sich Denys als »verschwenderisch und nervös« ; außerdem war er tapfer, jeder Zoll ein Soldat, hatte bei Ypern und an der Somme gekämpft und anschließend wegen einer Gasvergiftung zwei Monate im Lazarett zugebracht. Er war großgewachsen, stattlich, amüsant, von sarkastischem Witz, ein vollendeter Sportsmann und guter Reiter; er sprach fließend Russisch und war seit 1908 regelmäßig für längere Zeit in Rußland gewesen. Er verfügte über großen Charme, und viele Frauen waren in ihn verliebt gewesen. Alles in allem war Denys Trefusis eine ernstzunehmende Persönlichkeit, die nicht mit sich spaßen ließ.
Im Oktober 1918. als Violet und Denys zusammen in London waren, hielten sich Harold und Vita bei B.M. und den Kindern in Brighton auf. Vita, gereizt, fuhr fast jeden Tag nach London, und Harold erzählte B.M. zum ersten Mal von seinen Problemen mit Vita. Er sagte ihr, »Violet versuche ihre Liebe und ihr häusliches Leben zu zerstören, indem sie es ständig ins Lächerliche« ziehe; er sei der Ansicht »Violet sei wirklich bösartig und entschlossen, ihr Eheleben zu vernichten«. Ozzie Dickinson hatte B.M. berichtet, Violet habe ihm erzählt, sie habe »die Absicht, Vita und Harold auseinanderzubringen«. Violets dicke Briefe an Vita, die jeden Morgen in Brighton anlangten, hätten Mutter und Ehemann elektrisiert, wenn sie sie gelesen hätten.
»Mitya — du könntest alles mit mir machen - oder besser, Julian könnte es. Ich liebe Julian überwältigend, verheerend, selbstsüchtig, folgewidrig, unersättlich, leidenschaftlich, verzweifelt - aber auch kokett, umschmeichelnd und frivol. Schrecklicher Gedanke! Welche Freunde könnten Julian und Denys sein! Sie würden die denkbar größte Bewunderung füreinander hegen und >als Paar auf die Jagd gehen<. Sie würden offen und großmütig um Pitti Aluschka [d. h. um sie selbst, den Mittelpunkt dieses Märchens] wetteifern und nicht unbewußt gegeneinander und heimlich kämpfen!«
Violet handelte außerordentlich rücksichtslos, nachdem Denys nach Frankreich zurückgekehrt war; sie lud sich selber nach Brighton ein, wo sie unwiderstehliche »lange Gespräche« mit B.M. führte. Sie behandelte Nigel und Ben auffallend nett und vertraute B.M. an, die alles in ihrem Tagebuch notierte, wie sehr sie die Aussicht auf ihre Heirat mit Denys errege. Sie sagte B.M. auch, sie glaube nicht, daß V. Harold zur Zeit überhaupt liebe, sondern »ehrgeizig ihre literarische Karriere plane und ihren eigenen Weg verfolge... Ich bin besorgt.« Dann brachte Violet zur Sprache, wie Harold »an Vita herumnörgelt und vor allen Leuten etwas an ihr auszusetzen hat«.
Nach getaner Arbeit fuhr Violet nach London zurück - und schrieb Vita einen hysterischen Brief. Etwas war geschehen -möglicherweise hatte sich B. M. einigen freimütigen sexuellen Spekulationen, an denen sie soviel Freude hatte, hingegeben, vielleicht Vitas und Harolds Ehe betreffend. Auf jeden Fall hatte Violet das Gefühl, sie sei »in ein Nest pelziger Raupen geraten, wodurch ihr ganzes Wesen verunreinigt worden« sei:
- »Gott sei Dank ist mir dieses schreckliche Wissen länger erspart geblieben als den meisten Leuten ... Wir wollen die Worte >Lust< und >Leidenschaft< aus unserem Wortschatz streichen, sie sind zu schmutzig und ekelerregend ... kein Wunder, daß ich immer in meiner eigenen Welt gelebt habe - oder, soweit das möglich war... kein Wunder, daß ich Märchen immer der Wirklichkeit vorgezogen habe.
Ist es denkbar, daß Violet bis zu diesem Zeitpunkt mit der Wirklichkeit des Lebens nicht vertraut war? Oder war es ein Anlauf, die Quellen des Ehelebens für Vita noch mehr zu vergiften. Alles scheint darauf hinzudeuten, daß Violet darauf abzielte, sie beide als verheiratete Frauen zu sehen - in ihren Kreisen bedeutete die Ehe daß man sich selbständig bewegen konnte und von elterlicher Bevormundung frei war, um dann beide Ehemänner auszuschalten oder auf andere Art zu neutralisieren, damit sie und Vita frei waren, ihren Vorstellungen von Freiheit, Schönheit und Aufregung zu folgen. Es war das romantische Abenteuer eines Lebens mit Vita, das sie hauptsächlich wollte: Violet war nicht übermäßig auf Sex erpicht.
In diesem Punkt irrte sie sich freilich, was Vita anging, denn für diese war körperliche Leidenschaft wichtig. Am Tag der Unterzeichnung des Waffenstillstandes, als Harold erfuhr, daß man ihn zur Friedenskonferenz nach Paris schicken werde, unterhielten sich Vita und ihre Mutter lange darüber, warum Harold »physisch so kalt« sei. B. M. schrieb später: »Ich bin wirklich sehr traurig, daß Harold so veranlagt ist, weil er sich selbst nicht helfen kann, aber für sie ist es schwer, das arme Kind, denn ihr fehlt etwas, wenn leidenschaftliche Liebe nicht erwidert wird und er immer so schläfrig ist und sie in Windeseile nimmt. Viele Männer sind so und büßen am Ende die Liebe ihrer Frau ein.« Was den einen Aspekt ihres Wesens betraf, wäre Vita jetzt erleichtert gewesen, wenn sie gewaltsam aus ihrem Abenteuer gerettet worden wäre. Der Konflikt stumpfte ihre Gefühle ab, sowohl gegenüber Harold als auch Violet, die sich über die »beinahe ungeheure Gefühlskälte« ihrer Briefe beklagte. »Julian! Julian! Warum bist du so anders? Wir müssen zusammen fortgehen, und du wirst mir wieder so gehören wie damals in Orpington ... Wenn wir nicht innerhalb der nächsten vierzehn Tage zusammen fortgehen, will ich dich niemals wiedersehen.«
Und so fuhren die Kinder, bevor Harold nach Paris ging, zusammen mit einem neuen Kindermädchen, nach Knole und Vita und Violet fuhren, angeblich für drei Wochen, nach Südfrankreich. Das Haus in Ebury Street wurde an die Wellesleys vermietet. Vita wäre um ein Haar nicht gefahren. Dreimal geriet sie wegen der Reise mit Violet in Streit. B.M. brachte Harold ein wenig in Schwung und sagte ihm, wie er mit seiner Frau umgehen müsse. Das Ehepaar hatte am Abend ein tete-â-tete, und am folgenden Tag berichtete Vita ihrer Mutter beim Essen von »der wunderbaren Veränderung, die bei Harold eingetreten sei und an der sie teilgehabt habe, daß er sie endlich wie ein Liebhaber behandelt habe und sie sich jetzt vollkommen glücklich fühle, da das einzige, was sie an ihm vermißt habe, anders geworden sei... Sie räumte ein daß V. K. unmoralisch sei und daß sie diese Seite an ihr hasse.«
Doch dann gewann Violet wieder die Oberhand, denn sie drohte mit Selbstmord. Vita und Violet blieben von Ende November 1918 bis März 1919 in Frankreich.
Ihr Zusammensein mit Violet hat Vita in ihrem autobiographischen Manuskript von 1920 ausführlich beschrieben; es ist inzwischen veröffentlicht, und jeder kann es lesen. Die Erinnerung, insbesondere die an eine Liebe, verzerrt und wählt aus. Betrachten wir die Zeugnisse aus jener Zeit, war diese Liebe weder immer so »frei und überschwenglich« noch ein reiner Spaß. In Paris, wo sie gelegentlich mit Denys speisten und wo »Julian« und »Luschka«, ohne Denys, dinierten und tanzten und die nächtlichen Straßen durchstreiften, war Vita oft deprimiert: »Hasse das Leben - hasse Paris - wünschte, ich wäre tot.« Im Zug nach Avignon war Luschka »zänkisch«. Harolds Briefe folgten ihr, einmal bittend, dann wütend, versöhnlich, verzweifelt oder optimistisch. Jemand hatte ihm van der Neides Buch über die Ehe geliehen, das ihn stark beeindruckte: er beeilte sich, Vita seine Lesefrüchte mitzuteilen:
- »Das Buch ist wunderbar: Es behandelt jedes Detail. Es gibt ein ganzes Kapitel, in dem davon die Rede ist. warum Hadji einschläft und Mar nicht. Ich stelle fest, daß ich die Regel bin und nicht die Ausnahme... Doch ich bin über meine Unwissenheit entsetzt.. . Ich weiß, daß du schrecklich gelitten haben mußt - und daß nur ein so prachtvoller Charakter wie der deine dich davon abhalten konnte, mich zu hassen.«
Das Buch und seine neuen Gefühle für sie sollten ihr »zukünftiges Leben herrlich und real machen«.
Mittlerweile nahm Violet in Avignon, wo sie glücklich waren, Vita das Versprechen ab, bis Ende Januar fortzubleiben. Es gab einen Streit, aber Vita gab nach. Während ihres Aufenthalts im Hotel Bristol in Monte Carlo verloren die Mädchen am Spieltisch eine Menge Geld: und nach einem the dansant, bei dem Julian mit seiner Begleiterin getanzt hatte, reisten sie eilig ab — sie waren ohne Zweifel aufgefordert worden, das Hotel zu verlassen. Vita mußte ihre Juwelen verpfänden, um die Rechnung zu bezahlen. Sie zogen in das Hotel Windsor und Vita erhielt von Harold den bis jetzt unverblümtesten Brief: Er nannte Violet ein kleines Ferkel, sagte, sie sei wie ein übler Geruch oder eine Krankheit und bejammerte die Gewalt, die sie über Vita hatte. »Natürlich schmeichelt sie dir-das ist es — jede alberne, dummköpfige Frau fällt um, wenn man ihr schmeichelt. Wie ich die Frauen hasse!«
Er verbrachte Weihnachten mit den Kindern in Knole. »Ben sagte, man solle Mama sagen, daß Papa heute Sehnsucht nach ihr hatte.« Aus Monte Carlo schrieb Vita und bat um Geld — nicht nur Harold, sondern auch einen seiner besten Freunde. »Daß du hinter meinem Rücken an Gerry [Wellesley] telegraphiert hast, gefiel mir überhaupt nicht. Immer, wenn du mit diesem kleinen klebrigen Satan zusammen bist, wirst du unehrlich.«
Neujahr 1919 war er wegen der Friedenskonferenz nach Paris umgezogen, hatte eine Wohnung gefunden und erwartete, daß Vita ihn jeden Tag besuchte. Eddie Knoblock, in dessen Pariser Appartement sie zu Beginn ihrer Flucht gewohnt hatten, schickte ein paar Sachen, die sie zurückgelassen hatten, an Harold. »Es waren ein paar intime schmutzige Sachen von Violet dabei«, schrieb Harold an Vita, »ein paar leere Röhrchen Lippenpomade — ein Stück schmutziges Band - ein Schuh - alles so schmuddelig und eklig, daß mir physisch übel wurde, als ich es so auf einem Haufen mit deinen lieben sauberen intimen Sachen sah.«
»Monte Carlo war vollkommen, Violet war vollkommen...« schrieb Vita später: und Violet wollte Vita nicht gehen lassen. In letzter Minute, als Harold alle ihre Sachen in die neue Wohnung hatte bringen lassen, Diener eingestellt waren und sie zur vereinbarten Zeit erwartete, machte sie brieflich ihre Pläne rückgängig. Zutiefst enttäuscht, zwang er sich abermals, tolerant zu sein, und vertiefte sich in seine Arbeit bei der Friedenskonferenz.
Sowohl Vitas Eltern als auch Olive Rubens und Harold schrieben Vita ernste Briefe über die Pflichten, die sie ihren Kindern gegenüber hätte. B.M. hatte die Nase voll. »Vita muß zurückkommen und sich um sie kümmern.« Es gab Ärger mit dem Kindermädchen: Es stellte sich heraus daß die Frau Ben mißhandelt hatte, der sehr introvertiert geworden war. Nigel hatte, da er jünger war, eine »verschwommene Vorstellung« von seiner Mutter. Harolds Mutter nahm sie für eine Weile zu sich, doch Ben mußte auf dem Sofa schlafen. Gegen Ende Februar schrieb B.M. an Harold, daß die Situation für beide Großmütter unhaltbar geworden und Ben »ganz abgestumpft« sei. Von einem zum anderen weitergereicht, wurde der Vierjährige nun bei einer Freundin von B. M. in Hampstead untergebracht. Der Druck wuchs, der Klatsch blühte, und Harold hatte keine Kraft, sich gegen die Demütigung zu wehren.
Vita kehrte heim zu den Kindern. Violet glaubte, und Vita ließ sie in dem Glauben, die Trennung sei nur eine vorübergehende. Vita wurde von jedermann getadelt, und bei ihrer Rückkehr gefiel sich Harold in der Rolle des Trösters. »Aber du weißt, daß du dir im Hinblick auf mich wegen der Sache mit Violet keinen Kummer zu machen brauchst — und daß ich alles verstehe und deine Schwierigkeiten begreife.« Sobald Violet wieder in England eingetroffen war, gab sie ihre Verlobung mit Denys Trefusis bekannt. Sie schrieb weiterhin verzweifelte Briefe an Vita, in denen von Selbstmord die Rede war - und sogar an Harold und rief auf diese Weise seine unwillige, jedoch stets leicht erregbare Sympathie hervor.
Auch B.M. brauchte Mitgefühl, da sie, als sie eines Tages nach Knole kam, Lionel und Olive in inniger Umarmung unter den Tulpenbäumen gefunden hatte. Ihr blieb genügend Kraft, um am Abend mit Vita ein »langes Gespräch über V.K.« zu führen, wobei Vita ihr zustimmte. »Violet sei sexuell pervers« und sie »unternehme alles, um mit diesem schrecklichen Mädchen zu brechen«. Vita gewann wieder ein Verhältnis zu ihren Kindern und berichtete Harold: »Kein Zweifel, daß Nigel Favorit ist und im Wesen ganz zwischen dir und mir; und ich sehe auch, warum: Er ist heiter und fröhlich, während Ben desaeuvre und ziemlich unzufrieden und schrecklich destruktiv ist. Glaube nicht, daß ich einen Groll gegen Ben hegte... ich spüre zwischen ihm und mir große Sympathie und Verständnis.« Sie hatte das Gefühl, daß Ben sie wirklich liebte, »wogegen Nigel es allen Leuten recht machen will«. Einfach ausgedrückt, schrieb sie. Ben sei ihr und Nigel Harold ähnlich. »Wenn Nigel so bleibt, wie er ist, wird er glücklich sein, und jeder wird ihn lieben, doch Ben hat einen ausgeprägten Dostojewski-Einschlag! Ich habe das Gefühl, daß er mehr mein Kind ist als Nigel.« Ben hatte die »fixe Idee, daß er in seinem eigenen Heim mit dir und mir sein will«.
Das war kein unverständlicher Wunsch. Harold kam auf Urlaub nach Hause und schrieb an Vita: »Oh, meine kleine Frau« — über Hemden und Schuhe und Shampoo. Die Heimkehr war ein glückliches Ereignis; endlich war die Familie zusammen in Long Barn. Vita und Denys wechselten freundliche, höfliche Briefe über die Verlobung und kamen überein, Violet gegenüber den Briefwechsel nicht zu erwähnen. Als Harold nach dem Urlaub nach Paris zurückkehrte, ging Vita mit ihm.
10. Kapitel
Vita begegnete in Paris dem Autor und Verleger Michael Sadleir und während Harold bei der Konferenz arbeitete, machten sie Pläne, eine Zeitschrift ins Leben zu rufen. Von Violet befreit, war Vita ängstlich darauf bedacht, ihren Ruf wiederherzustellen und ihr Leben als Schriftstellerin wiederaufzunehmen. Sie schrieb an Hugh Walpole und bat ihn um Unterstützung für eine literarische Zeitschrift, die moderne Dichtung veröffentlichen sollte; sie wollte den englischen und Sadleir den europäischen Teil betreuen. »Ich möchte so gern etwas tun, um die Flut des Osbert-Sitwellismus und all die schlampige, schludrige Roheit einzudämmen; ich hasse Würmer und Pierrots und Karottenhosen und alles übrige Drum und Dran, und darauf richte ich meine Anstrengungen! Finanziell bedeutet das natürlich den sicheren Ruin.« Die Zeitschrift sollte »The Critic« heißen: »diesem Wort haftet etwas Althergebrachtes an.« Es wurde nichts aus dem Projekt, doch es ist bezeichnend, daß sie diese Idee hatte. Für viele Dichter ist ihr Werk die Erkundung oder der Ausdruck ihrer verborgenen, experimentierenden Egos. Bei Vita war es genau das Gegenteil. Ihre Dichtung war das »Verbindungsglied zum »Althergebrachten«, es war das ihr von Anfang an innewohnende traditionsbewußte englische und »nördliche« Ich, das ihr zur Sprache werden sollte, nicht ihr ungestümes, dunkles, abweichendes »spanisches« Erbe. Zum Teil ist sie nirgendwo prosaischer als in ihrer Dichtung.
Sie umriß die Konzeption der Zeitschrift in einem unveröffentlichten Expose an Michael Sadleir und gewährte darin auch einen der seltenen Einblicke in ihr Leben innerhalb von Harolds Welt. Sie und Sadleir unterhielten sich in der Halle des Hotels Majestic, in dem die britische Delegation bei der Friedenskonferenz untergebracht war:
»Unter den Vergoldungen und dem Stuck, an einem kleinen Tisch aus Rohrgeflecht unter Palmen, inmitten des außerordentlichen Gewimmels von Politikern und Würdenträgern, pflegten wir dazusitzen und über die Gründung einer Vierteljahresschrift zu diskutieren ... und auf dem Schreibpapier der britischen Delegation entwarfen wir ihr Glaubensbekenntnis. Unsere Mini-Konferenz vollzog sich am Dreh- und Angelpunkt der größeren Konferenz. Rote Streifen. Schreibkräfte. Kuriere des Königs. Sekretäre, Soldaten. Korrespondenten; die Inder, immer auf einem Haufen und ein wenig abseits; der kurze helle Bart und die blauen Augen von Smuts; der lächelnde Lloyd George; Balfour sich umblickend; ein jäher Husch — Foch!«
Zur Veröffentlichung von Frühe Leidenschaft, ihrem ersten Roman, war sie zurück in England - »eine ganze Seite des Athenaeum, Sunday Times, Manchester Guardian, Birmingham Post (eine enorme Lobeshymne), Punch (ein perfektes Ferkel)... Bereits 1400 verkauft«. Das Buch war ein Erfolg. B. M. schlüpfte rückhaltlos abermals in ihre Rolle als Werbeagentin; bis zum Tage der Veröffentlichung. 15. Mai 1919, hatte sie 157 Briefe geschrieben, in denen sie das Buch Freunden und Buchläden empfahl. In dieser Nacht hatten Mutter und Tochter ein Gespräch, das Vita als eine »außergewöhnliche Unterhaltung« beschrieb und das bis zwei Uhr früh dauerte. »Sie hat die ganze Sache kapiert. Ich bin ja so glücklich.« (Geht man vom Inhalt von Frühe Leidenschaft aus, muß B.M. Vitas Theorie von ihrer charakterlichen Doppelnatur kapiert haben, deren eine Seite von Violet wachgerufen worden war. Doch B. M. glaubte, das alles sei nun vorüber; Vita war von ihrer eigenen Persönlichkeit fasziniert; treffend schrieb Harold ihr drei Tage später: »Kein Dichter ist vor sich selber ein Held (außer meine Vita, die vor jedermann eine Heldin ist, das eigene, liebenswerte Ich eingeschlossen).«
Der neue Frieden wurde durch den endgültigen Bruch zwischen Vitas Eltern unterbrochen. Eine taktvoll zurechtgestutzte Beschreibung des letzten Streits, der diesem Ende vorausging, hat Vita in Pepita gegeben. Wie gewöhnlich hatte sich der Streit an der Anwesenheit des Rubenspaares in Knole entzündet. Vita versuchte nicht, ihre Mutter aufzuhalten: »Sie sagte, sie sei nicht überrascht und hätte an meiner Stelle diesen Schritt schon viel eher vollzogen.« Doch Vita verbrachte grausame vierundzwanzig Stunden. Botschaften zwischen den Eltern übermittelnd - ihr Vater kalt: und höflich, ihre Mutter verzweifelt und mit dem Verlangen, zum Bleiben gebeten zu werden. Er bat sie nicht zu bleiben, und sie verließ Knole.
Im Laufe derselben Woche war Vita bei einer Dinnerparty zufällig Tischnachbarin von Denys Trefusis. Sie schrieb an Harold in Paris: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich ihn mag... Wirklich... Er ist sehr intelligent und keine Spur langweilig. Ich wünschte nur, er wäre bloß ein entfernter Freund und nicht mit V verlobt!«
Harold, der noch immer eine Spur von »Wanderlust« in ihren Briefen entdeckte (ob diese vielleicht, fragte er sich, durch die Flucht ihrer Mutter aus Knole neu angefacht wurde?), war besorgt. »Wie kann ich«, schrieb er ihr, »der ich nur Frieden und Gelassenheit repräsentiere, es mit V. aufnehmen, die für das Abenteuer steht?« Und ein paar Tage darauf: »Du hast mir keines der Dinge geschickt, um die ich dich bat. Als Ehefrau bist du unmöglich. Indes, als eine Person, die man lieben, bewundern und verehren kann, bist du einzigartig und begehrenswert.«
Harold war glücklich über den Erfolg von Frühe Leidenschaft. Jetzt würden sie Long Barn nie mehr verkaufen können, neckte er sie, weil es bald ein historisches Denkmal sein werde, behütet von der »Sackville-West-Gesellschaft«, und sie werden »Touristen haben und einen Laden mit Ingwerbier und Postkarten von der Mar mit Brille«. Er lag gar nicht so falsch - außer daß der Mar sich nie mit Brille photographieren ließ.
»Deinen ernsten Stil mußt du beibehalten«, riet er ihr. »Es hat keinen Zweck, wenn du versuchst, komisch zu schreiben.« (Komisch zu sein war Harolds starke Seite, im Leben und in Büchern) Vitas Kinderträume vom Ruhm erhielten durch ihren Erfolg neuen Auftrieb: sie stellte sich vor, ihr Name würde in Literaturgeschichten Eingang finden - »Sackville-West. V, Lyrikerin und Erzählerin«. In diesem Frühjahr 1919, lebte sie zufrieden in Long Barn, strich mit Bens launenhafter Hilfe das Tor grün und erzählte Harold, sie frage sich, ob sie die »Babies« nach Eton würden schicken wollen: »Ich denke, bis dahin werden du und ich zu fortschrittlich sein!«
Aber Violet ging ihr nie aus dem Kopf. Die einzige emotionale Hürde, die es zu nehmen galt, war Violets Heirat. Violet hing indessen die ganze Zeit Phantasien über ein Leben mit Vita nach und machte verrückte Pläne für eine Flucht am Tag vor der Heirat. Wiederum rührte sie an jene Seite in Vita, welche sie leichtsinnig, vergeßlich und zu allem fähig machte. Am letzten Tag des Mai, vierzehn Tage vor der Heirat, warnte sie Harold, es sei möglich, daß sie unversehens bei ihm in Paris auftauche: Ich muß fort, sonst garantiere ich für nichts mehr!«
Ihre Unruhe wuchs mit jedem Tag. Am Tag darauf gestand sie Harold daß sie nie so jung hätte heiraten dürfen. »Männer wie Frauen sollten ihre Jahre so sehr mit Freiheit übersättigen, daß sie den bloßen Gedanken an Freiheit hassen. Wie Verkäufer in einem Pralinenladen.« Träume von einer Flucht mit Violet vergällten ihr das gerade entdeckte Vergnügen, der »althergebrachten Welt« anzugehören: Die Gesellschaft war so »sorglos, so töricht, so konventionell, so scheinheilig, so pharisäerhaft, so zynisch, so betrügerisch, so gemein, so kleinlich, so selbstsicher, so wohlgeordnet... so tugendsam lasterhaft, so lasterhaft tugendsam«. Und sie hatte die »schrecklichste Angst« davor, daß sie wegen Violets Heirat einen Skandal entfachen könne.
Violet führte sie in Versuchung und traf sie wie immer dort, wo es Vita am meisten schmerzte: »Wirf die tristen Kleider der Respektabilität und Konvention ab, mein schöner Paradiesvogel, sie kleiden dich nicht. Führe das Leben, zu dem die Natur dich bestimmt hat. Andernfalls wirst du versagen - du, die du vielleicht eine der größten, sprühendsten und romantischsten Gestalten aller Zeiten sein könntest, wirst >Mrs. Nicolson< sein. >die ein paar hübsche Verse geschrieben hat<.«
Im Rückblick klingt das ziemlich gewagt. In Vitas Potential an Ruchlosigkeit, verbrecherischer Sorglosigkeit und Selbstaufgabe lag vielleicht ihre einzige Chance herauszufinden, wieviel Schöpferkraft sie besaß. Das war etwas, das Harold nie durchschaute, und sie versuchte überdies, ihn vor den flüchtigsten Regungen dieser Seite ihres Wesens zu schützen. »Diese Seite meines Wesens erschreckt mich gelegentlich«, schrieb sie 1920. »sie ist so brutal und hart und grausam, und Harold weiß nichts davon. Er ist das eine oder andere Mal darüber gestolpert, aber er versteht sie nicht.« Jetzt, unmittelbar vor Violets Heirat, schrieb sie ihm: »Oh, Hadji, sie ist so sauber, die Trennung in mir, sauberer, als du je wissen wirst... Hadji. Liebling, ich frage mich, wieviel du begreifst.«
In einem Anfall von Panik nahm sie mit ihrer Mutter am 2. Juni an der Hochzeit von Lady Diana Manners und Duff Cooper (»eine erbärmliche Type«, höhnte B.M.) teil. Am 3. Juni, dem Tag, an dem bekannt wurde, daß Denys Trefusis für Tapferkeit das Military Cross verliehen worden sei, erhielt sie von Harold eine scharfe Antwort auf einen Brief, in dem sie mit der Gesellschaft abgerechnet hatte. Harold, der möglicherweise nicht alles »verstanden« hatte, sah die Situation von seiner Warte aus höchst klar. Er teilte ihr unverblümt mit, sie habe überhaupt keine Willenskraft; sie lasse sich lediglich treiben und schreibe dann den Wirrwarr, in den sie gerate, der »Konventionalität der Welt« zu. Er sagte ihr, sie sei »hart und gewöhnlich« geworden, daß sie sich zusammenreißen und ihr seelisches Gleichgewicht und ihre Selbstachtung wiederfinden müsse — und ihm ein Paar schwarze Socken mitbringen solle. Er wetterte gegen ihre Neigung zur Polarisation: »Warum bildest du dir ein, es mache keinen Unterschied, ob du mit Violet ausreißt oder mir mein Essen kochst?«
Zwei Tage vor Violets Heirat reiste Vita nach Paris; es war der Tag, an dem die Nation eine Lobeshymne auf Frühe Leidenschaft druckte: »Wir wünschten, alle Erstlingsromane wären wie der von Miss Sackville-West, denn dann hätten wir weniger Sorgen um die Zukunft der Romangattung.« Der Hochzeit von Violet und Denys durch eine Reise nach Paris zu entgehen, war hinterhältig: die Frischvermählten sollten unmittelbar nach ihr den Kanal überqueren, um ihre Flitterwochen in eben dieser Stadt zu beginnen. Sich überhaupt in Paris aufzuhalten, war ein Akt der Provokation. Während in London die Hochzeit stattfand, saß Vita in ihrem französischen Hotelzimmer, sah auf die Uhr und wußte, daß auch Violet auf eine rettende Geste in letzter Minute hoffte.
Das Hochzeitspaar war kaum im Ritz abgestiegen, als Vita Violet aufsuchte. Sie nahm sie mit in ein kleines Hotel, und dort liebten sich die beiden. »Sie war mein, es war mir alles egal, ich wollte nur Denys weh tun« - ihn sah sie am folgenden Tag. »ein scheußliches Gespräch«.[1] Sie benahm sich wie eine Verrückte, hatte jede Kontrolle über sich verloren. Sie geisterte durch das Ritz und dinierte theatralisch allein vor Violets und Denys' Augen. Harold spielte keine Rolle - Vita war außerhalb seiner Reichweite - bis das Ehepaar Trefusis Paris in Richtung Süden verließ. Vita kehrte so gebrochen und erschöpft nach England zurück, daß ihr Zustand selbst B. M. zu Herzen ging: »Ich kann das nicht gutheißen, aber ich habe soviel Mitleid mit dem armen Kind.«
Harold versuchte, sie zu ermutigen, ihr Schreiben zu nutzen, um ihre Gefühle zu zerstreuen. Wenn sie »ihre Ausbrüche und Exzesse innerhalb der sicheren Grenzen zweier Pappdeckel austobte«, konnte Julian immer wieder aufs neue ausreißen und zurückkehren »zu Hadji und zur Ehe, indem sie die Schrecken dieser Fluchten beschreibt«. Harold hatte Challange noch nicht gelesen.
Tatsächlich aber war es der vernachlässigte Garten von Long Barn, der ihr wieder zum seelischen Gleichgewicht verhalf. »In dem kleinen eingefriedeten Garten wächst jetzt nichts. Ich habe den eingegangen Lavendel fortgeschafft, und alles ist fürs Pflanzen umgegraben. Was sollen wir hier hinsetzen? Das ist sehr wichtig. Wir wollen nur eine Blumensorte pflanzen oder zumindest nur solche von derselben Farbe.« Sie verhandelte über den Ankauf von weiteren zwanzig Acres, den Acre zu 26 Pfund. Ihre konventionelle Seite war wieder im Aufstieg begriffen, und zwar in solch kompensierender Übertreibung, daß sie sich zu einem Angriff auf eine abweichende Gruppe getrieben fühlte - auf nichtmaskuline Männer. »Victor [Gunard] ist ein hübscher, oberflächlicher, höflicher, untauglicher Wicht. Welche Verachtung, au fond, man für die Victors, Eddie Marshes und Ozzies dieser Welt empfindet!« War das auch ein beiläufiger Protest gegen Harolds Gutmütigkeit und sexuelle Ambivalenz?
Zwei Dinge hielten Vita davon ab, sich allzu viele Gedanken über Violets Rückkehr nach England, ungeachtet des Stromes theatralischer Briefe und Telegramme, die sie täglich erreichten, zu machen. (Während der Flitterwochen verbrannte Denys alle Briefe Vitas: Er las sie zuerst.) Aus ihrem näheren Bekanntenkreis hatte sie mit Dorothy Wellesley Freundschaft geschlossen, der Gattin Gerrys und Möchtegern-Dichterin, die zu Besuch nach Long Barn kam. »Ich mag Dottie, sie ist ein bißchen kindlich und gefühlvoll; ich hoffe ich habe ihr bei ihren Gedichten geholfen und sie jedenfalls dazu veranlaßt, vier Gedichte über Jesus auszusondern, für die man sie schrecklich beschimpft hätte.«
Das andere Ereignis war ernsterer Natur. Harold gegenüber erwähnte sie es nur beiläufig am 20. Juli:
- »Oh. da fällt mir ein, ich habe Nannie an die Luft gesetzt und sie sofort aus dem Haus gewiesen. Die Geschichte ist zu lang, öde und schmutzig, um näher darauf einzugehen, aber immerhin stahl sie einen deiner Anzüge, staffierte sich damit aus und stolzierte in diesem Aufzug in Begleitung der Kinder durch das Dorf. Cest un peu fort!«
Vielleicht um Vitas Würde zu schützen und weil er sich nicht gern mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert sah, ging Harold in seiner Antwort nicht auf die Möglichkeit ein daß Nannie, die zuviel über »Julian« und das Privatleben ihrer Herrin wußte, sich einen grotesken Scherz mit ihr erlaubt hatte. »War es Niedertracht, Trunkenheit oder Torheit, die sie dazu getrieben hat?« fragte er. »Nichts als eine tierische Anwandlung«, erwiderte Vita kühl.
Violet und Denys bezogen Possingworth Manor bei Blackboys, zwanzig Meilen von Long Barn entfernt. Die Liaison zwischen den Frauen dauerte fort - Denys war oft auf Reisen - und sie nahm alle trübseligen Züge einer Liebesaffäre an, für die es keine Lösung gibt. Doch gegen Ende August hatte Vita zugestimmt, wieder einmal mit Violet fortzugehen. Wenn Harold das Ganze ungerührt aufnahm, dann, weil er selbst einen neuen Schwarm hatte. Am 15. September schrieb er ihr aus Paris über seinen »lustigen neuen Freund«, einen Schneider mit einer großen Wohnung in der Rue Royale, der 27 Jahre alt und »sehr attraktiv« sei. Über den Namen des Schneiders ließ sich Harold nicht aus: Es war der Couturier Edward Molyneux. »Meine Süße bist du eifersüchtig? Macht es dir was aus?« Doch er warb weiterhin um sie und sagte ihr, sie sei »alles Heilige des Lebens, meine Liebste, das Cottage, die Babies und all das und außerdem verkörperst du für mich alles Saubere und Liebliche und Gute (ich meine, du bist wirklich gut, nicht selbstgefällig), und du bist frisch und taut couverte de rosée und wie eine Apfelblüte.« und er weinte, als sie mit Violet zum Kontinent abfuhr. Ben war wieder aufgeregt und befremdete B.M. weiterhin durch sein ablehnendes Verhalten.
Anfang Dezember hatte Harold indes seinen Tiefpunkt erreicht. Er sprach von Scheidung, von einem Exil im Ausland auf Dauer. Bevor Vita abreiste, hatte sie ihrer Mutter erzählt, sie habe die Absicht, ihre Ehe mit Harold von jetzt an auf platonischer Grundlage zu führen - Keuschheit und Abscheu vor männlicher Sexualität waren eine von Violets Obsessionen - und daß Harold es »wie ein Lamm« aufgenommen habe. Das Gegenteil war der Fall. »Aber ich wünsche mir so sehr eine Tochter, mein Liebling... ich möchte ein kleines Mädchen, das wie du ist - und das mich liebt, wie du es tust - aber weniger selbstsüchtig.« Er war wütend, als ihm zu Ohren kam, daß Julian abermals in der Öffentlichkeit getanzt hatte. »Ich bin immer noch deswegen verstimmt, aber ich werde dir alles verzeihen.«
Von Monte Carlo aus versuchte Vita ihm klarzumachen, wie beängstigend tief ihre Verstrickung war. »Ich glaube nicht, daß du -höchstens in sehr geringem Maße — begreifst, was vorgefallen ist.« Was den Wunsch nach einem weiteren Kind betraf: »Aber das ist unmöglich. Liebling; es kann jetzt nichts Derartiges geben - gerade jetzt nicht, meine ich. Oh. Hadji, kannst du nicht ein wenig verstehen?« Dennoch schrieb sie dies, als sie Monte Carlo mit der Absicht verließ, für immer mit Violet zu brechen. (Sie wußte im Grunde, daß sie es mußte.)
Violet sagte sie genau das Gegenteil - daß sie zu ihr zurückkehren würde. Es war die einzige Möglichkeit, sich von ihr loszureißen. Sie trennten sich in Cannes, um zu ihren Gatten zurückzukehren.
Als das Ehepaar Trefusis Neujahr 1920 nach London kam, trafen sich die beiden Frauen zwar jeden Tag, doch Vita war betriebsam: Sie suchte nach einer neuen Gouvernante für die Jungen: sie verhandelte mit Collins wegen der Veröffentlichung von Challenge, wehrte Kenneth Campbells neuerliche »absurde Anträge ab« und gab ein Essen für die Mosleys im Namen Harolds, der zu Neujahr C.M.G.* (* C.M.G.: Compagnion of the Order of St. Michael und St. George (hoher britischer Orden) [Anm. d. Übers.]) geworden war. Violet hingegen hatte nichts außer Vita im Kopf.
Eines Tages, als Vita nach London kam, um ein Gespräch mit Miss Cherry, der neuen Gouvernante, zu führen, hatte sie auch eine, laut Tagebuch, »wahrhaft groteske Unterhaltung« mit Violet und Denys. Denys fragte Vita. wieviel Geld sie haben müsse, um sich und Violet zu unterhalten, für den Fall, daß sie zusammen fortgehen würden, »so daß ich mir wie ein junger Mann vorkam, der Violet heiraten will und von ihrem Vater ausgefragt wird«.- Denys blieb beharrlich bei dieser Frage; doch als er Violet geradeheraus fragte, ob sie alles rückgängig machen und mit Vita leben wolle, erschrak Violet und bat um eine Woche Bedenkzeit. Sowohl Vita als auch Violet gefielen sich in der Pose von Rebellen und Verfemten, schreckten jedoch sofort zurück, wenn sie in Gefahr gerieten, wirklich ausgestoßen zu werden.
Vier Tage später rief Violet Vita an, um ihr zu sagen, es heiße jetzt oder nie. In Gadogan Gardens setzte Vita Harold davon in Kenntnis, sie werde für immer mit Violet fortgehen. Er brach zusammen. Seine Mutter, diese gutherzige, konventionell denkende Frau, flehte Vita an, nicht zu gehen. Vita erklärte sich einverstanden, Harolds vierzehntägigen Urlaub abzuwarten, und beide kehrten sie, emotional ausgezehrt, nach Knole zurück und sprachen mit keinem Wort mehr über alles. »Ich weiß nicht, was und wie er während dieser ganzen vierzehn Tage darüber dachte - ich weiß nicht einmal, ob er die Gefahr, daß ich ihn verlassen könnte, überhaupt ernst nahm. Außer Harold und mir waren Ben, Nigel und Dada in Knole.«[3]
Die Normalität und der Ablauf des Alltagslebens deckten die Krise zu. Harolds Abneigung gegen Auseinandersetzungen ließ Vita in der Luft hängen. Falls sie um Hilfe rief, blieben ihre Rufe ohne Antwort. Als er am 1. Februar 1920 nach Paris zurückkehrte, schrieb sie ihm sogleich, sie habe das Gefühl, alles sei »fließend und ungewiß«: »Wäre ich an deiner Stelle und du an der meinen, würde ich hart kämpfen, um dich zu halten - ich möchte meinen, zum Teil deswegen, weil ich nicht den Mut und die Zurückhaltung hätte, zu handeln wie du und nichts zu sagen.« Sie sagte ihm, es verlange sie nach Waffen, mit denen sie sich wappnen könne. »Also fische ich und fische und fische, und manchmal fange ich eine hübsche kleine Forelle, doch niemals den großen Lachs, der zappelt und kämpft und mich überzeugt, daß er um sein Leben kämpft.« Sie schrieb und versuchte, ihn zum Kämpfen zu bewegen, doch er wollte nicht: »Du sagst ganz einfach >Lieber Mar< und überläßt es mir allein, mir auf dein Schweigen einen Reim zu machen.« Doch worauf könne er sich berufen, fragte ein erschöpfter Harold, wenn nicht auf die Liebe? Vielleicht irrte er sich, wenn er sie für einen starken Menschen hielt: »Deine Übermäßigkeit und deine Ruchlosigkeit vermitteln den Eindruck von Stärke, verstehst du?«
Übermäßigkeit und Ruchlosigkeit trugen den Sieg davon. Als Vita und Violet im Februar 1920 nach Frankreich durchbrannten, beendeten ihre beiden Gatten das Abenteuer mit Hilfe eines Privatflugzeuges in einer untypisch entschlossenen Aktion, denn Vita hatte Harold die ganze Zeit über mit Briefen und Telegrammen über ihren jeweiligen Aufenthaltsort auf dem laufenden gehalten.
Keine Frau, die beschlossen hat, ihren Mann für immer zu verlassen, schickt ihm täglich eine Nachricht, für den Fall, er könne sich Sorgen machen. Sie bat noch immer darum, aufgehalten zu werden, ob sie es wußte oder nicht, und am Ende, in Amiens, hielt er sie auf - mit Unterstützung von Denys, der Sackvilles und der Keppels.
Die Szenen im Hotel in Amiens, wie Vita sie in ihrem autobiographischen Manuskript beschrieben hat, waren unwirklich und glichen einem Alptraum. In solchen Zeiten sind gesunde Menschen, zeitweilig, klinisch krank. Denys sagte, Vita in Amiens daß Violet in jeder Hinsicht seine Frau sei. (Später rückte er davon ab und bezichtigte sich der Lüge, um, wie er Harold sagte, Vitas Hysterie zu ersticken.) Selbst wenn Violets Unterwerfung nur zum Teil echt war, was vermutlich zutraf, rief doch ihr offensichtlicher Verrat aller Ideale, die sie gepredigt und die Vita ihrer eigenen beschädigten Ehe aufgezwungen hatte, Wut und Verzweiflung in Vita hervor. Die Enttäuschung machte sie unfähig, mit Harold nach Paris abzureisen. Es war die Krise, doch unbewußt vielleicht eine heilsame, denn sie versetzte Vita mit einem Schlag in die Lage, ihren Stolz zu bewahren, ihre Liebe zu Violet und ihre Ehe.
Am 20. Februar empfing eine teilnahmslose Vita in Paris die Fahnen von Challenge, »ungefähr das einzige, das seit Amiens ein wenig mein Interesse geweckt hat«. Am selben Tag erhielt ihre Mutter von ihr einen traurigen Brief; Vita gleiche einer »gebrochenen Liebenden«, erkannte ihre Mutter. »Wäre V.T. ein Mann, könnte ich's verstehen. Aber für eine Frau ist mir eine solche Liebe zu hoch, aber ich gebe mir Mühe zu verstehen.«
Weniger verständnisvoll zeigte sich B.M.. als sie bei Vitas Rückkehr nach London die Fahnen von Challenge las. In der Gestalt der Eve erkannte sie auf der Stelle das Porträt Violets und war entsetzt. Sie hielt das Buch außerdem für langweilig - »hervorragend langweilig« - und ließ Vita mit Harolds Zustimmung wissen, es wäre ein schrecklicher Fehler es zu veröffentlichen. »Harold schlug vor, ich sollte in meinem Brief an Vita deutlicher werden...« Doch als Vita protestierte, schwenkte Harold um und stärkte Vita den Rücken; »er war einfach zu schwach«.
Das Buch sollte im folgenden Monat, im März 1920, herauskommen. Violet hatte eine von ihr angefertigte flotte Zeichnung für den Umschlag bearbeitet, auf der sie selbst und »Julian« zu sehen waren, der unter einem Pariser Laternenpfahl eine Zigarette rauchte. Das Buch sollte auch in Amerika erscheinen. Vita ließ sich allzu leicht durch den drohenden Klatsch einschüchtern, den sie ungeachtet ihres Trotzes fürchtete, und zog das Buch Mitte März von Collins zurück. (Sie mußte dem Verlag 150 Pfund zahlen, um die Rechte zurückzubekommen.) Das Buch war bereits ausgedruckt, jedoch noch nicht gebunden. »Es wird zugenäht und zwischen Lavendelzweigen aufbewahrt werden«, schrieb ihr Nigel de Grey von Collins, nachdem er seinen Ärger verdaut hatte. Die amerikanische Ausgabe wurde ebenfalls verschoben.
Nachdem Vita in bezug auf das Buch nachgegeben hatte, kehrte sie in die konventionelle Welt zurück, indem sie einen, laut Harold. »törichten, unverschämten kleinen Brief« an ihre Freundin Enid Bagnold schrieb, in welchem sie Enids Verlobung mit Sir Roderick Jones mißbilligte. »Hol sie der Teufel, diese deine amazonenhaften Theorien! Natürlich ist es weniger lächerlich, zu heiraten und Kinder zu kriegen, einen Haufen Babies, als sein Leben in gehässiger Keuschheit hinzubringen.« Vita jedoch war bereits fort - auf dem Weg nach Frankreich und vielleicht Italien, wieder einmal zusammen mit der unwiderstehlichen Violet. Harold holte sie in ihrem Pariser Hotel ein, sprach bis zum Morgengrauen mit ihnen, und sie kehrten heim — Vita nach Long Barn. Violet nach Possingworth.
Gleichwohl schafften sie es wenn die Gelegenheit günstig war Tage und Nächte zusammen zu verbringen, oft mit Violets Freundin Pat Dansey als Verbündeter oder Alibi. Vita versuchte, wieder zu schreiben — und erkannte, wie sehr sie aus der Übung war. Sie hatte Angst, ihre Gabe und die Flüssigkeit des Stils hätten sie für immer verlassen. Am 5. Mai klagte sie in ihrem Tagebuch:
- »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich glaube, ich leide an Gehirnerweichung. Den ganzen Tag schon sitze ich über einer kaum angefangenen Rezension eines Buches und lese die wenigen Sätze immer und immer wieder, die ich geschrieben habe... Wie ich H. um seinen scharfen Verstand beneide!
Ich muß mich aus dieser Trägheit herausreißen. Ich wünschte, ich wäre arm, schmutzig arm, erbärmlich arm und gezwungen, für mein tägliches Brot zu arbeiten. Ich brauche einen Ansporn. Ich bin ein faules Geschöpf.«
Sie schrieb die Rezension zu Ende: zwei Tage später schrieb sie zwei Gedichte, was zur Folge hatte, daß ihre Laune sich besserte. Mit Harold und ihrem Vater unternahm sie auf der Sumurun eine Segeltour und war voller Freude, selbst als sie bei ihrer Heimkehr auf Violet traf, die sie in ein Hotel in Sonning entführte.
Am 4. Juni nahm sie an einer »aufregenden« literarischen Gesellschaft im Haus von Mrs. Belloc Lowndes teil: »Clemence Dane, Hugh Walpole, Maurice Hewlett, Virgilia [Enid Bagnold], Sir Roderick Jones und Rebecca West — eine anziehend häßliche junge Wilde«, die an ihrem neuen Roman The Dragon in Shallow Waters arbeitete, der in Lincolnshire spielte. Sie speiste bei Sibyl Colefax, zwischen dem Dichter John Drinkwater und J.G. Squire sitzend, dem Herausgeber des London Mercury - unmittelbar im Anschluß an einen häßlichen Auftritt mit B. M. und Harold über ihre fortgesetzte Beziehung zu Violet — »brachte es fertig, mich mehr oder weniger vernünftig mit Squire zu unterhalten«. An diesem Tag hatte ihr Violet ein »Alles-oder-Nichts«-Ultimatum gestellt. Vita erwiderte, sie müsse bei Harold bleiben, doch nichts änderte sich wirklich.
An einem Sonntag Anfang Juli kamen Hugh Walpole und Djuna Barnes zu Besuch nach Long Barn. Sie ließ Walpole Challenge lesen, und er machte ihr Komplimente; sie und er unterhielten sich bis Mitternacht auf der Terrasse. Walpole entdeckte im Haus »keine Spannungen«, obgleich Vita am Vortag einen »verstörten Morgen« mit Violet gehabt hatte. Er notierte in seinem Tagebuch, es sei eine »sehr fröhliche Haus-Party« gewesen. »Wir redeten alle wie ein Wasserfall, und Vita sah in Scharlachrot und Orange ganz wunderschön aus. Sie ist ebenso klug wie liebenswert und hat genau jenen Anflug von Ungezwungenheit, der ihr vollendete Vornehmheit verleiht. Auch Harold ist ein sehr netter Bursche.«[4]
Dann machten Vita und Violet einen Besuch bei Clemence Dane* (* Pseudonym von Winifred Ashton. Ihr Roman Legend erschien 1019: 192I veröffentlichte sie eine Bühnenfassung unter dem Titel Bill of Divorcement) und erzählten ihr ihre Geschichte. Sie versuchte die beiden davon zu überzeugen, einander aufzugeben - »ein schrecklicher Morgen«. Indes war Vita in zunehmendem Maße geneigt, Clemence Dane zuzustimmen. Zwei Tage später beklagte sich Violet: »Du hast heute gesagt, unsere Liebe sei minderwertig und verderbt geworden.« Anschließend wurde Violet krank, und Vita machte sich »nicht ungern«, wie sie in ihrem Tagebuch zugab, auf den Weg, um nach ihr zu sehen.
Es war Violets letzter Coup. Vitas Liebe bekam etwas Gezwungenes. Als sie mit Violet in Hindhead war, schrieb sie am 17. Juli in ihr Tagebuch:
- »Mein Gott, wie ich mich nach dem Frieden von Long Barn sehne! Aber sie leidet solche Seelenqualen und ist so heruntergekommen, daß ich ihr nachgeben muß.«
Als sie wieder zu Hause war, schrieb sie einigermaßen heiter an Harold nach Paris, daß sie und Violet sich »vollständig trennen« würden. »Sie wird umgehend ins Ausland reisen; ich habe mich geweigert, mitzukommen, GUTER MAR.«
Am 23. Juli, als Vita mit den Kindern allein in Long Barn war, begann sie mit der Niederschrift ihrer Konfession oder Autobiographie, die man nach ihrem Tod in einem verschlossenen Gladstone-Koffer fand und die Nigel Nicolson mit seinem Kommentar unter dem Titel Portrait einer Ehe herausgab. (Am Tag, da sie mit dem Schreiben begann, kam Nigel. damals drei Jahre alt, in Erwartung einer Bestrafung herein: »Die Babies sind ungehorsamer denn je. Gestern schlug ich Nigel, er ist ein aufsässiger kleiner Bursche, und ich respektiere ihn deswegen.«) Das Schreiben des Bekenntnisses war ein Zeichen der Erholung; aber es ist ein schmerzhaftes Dokument, nicht verfaßt, um ihr zweigeteiltes Ich zu leugnen, sondern um es zu erkunden; wie auch ihre Beziehung zu Harold und ihre Beziehung zu Violet, von der sie, wie sie glaubte, unwiderruflich geliebt wurde.
Sie sah Violet während der Niederschrift; am 6. August kam sie zu Bens Geburtstag (Vita schenkte ihm einen Stabilbaukasten), und am Abend schrieb Vita in ihr Tagebuch, daß es »für jedermann nichts als Elend der einen oder anderen Art« gebe.
Es bestand die Möglichkeit, daß Violets Ehe annulliert werden würde. Im Einklang mit ihren eigenen, ein wenig trübe gewordenen Idealen hatte sie Vita das Versprechen abgenommen, keine ehelichen Beziehungen zu Harold wiederaufzunehmen: Das war der Preis, den sie für ihre »Trennung« verlangte. Dies rief neuen Ärger zwischen Vita und Harold hervor. Als sie zusammen in Brighton waren, »verlor H. in Vitas Schlafzimmer sein kleines bißchen Geduld und sagte, alle Frauen seien grausam«, wie B.M. ihrem Tagebuch anvertraute. »Er kam in mein Zimmer herunter und unterhielt sich bis zwei Uhr mit mir. Armes Kind ... Trotzdem, vor den Leuten sind sie immer sehr nett zueinander, und niemand außer mir weiß, wie unglücklich sie sind.«
Am folgenden Tag eilte Violet nach Brighton, um Vita in ihrem Entschluß zu bestärken. Später erinnerte sie Vita immer wieder an das »Versprechen, das du in Brighton machtest... Lasse nicht zu daß irgend etwas dich jemals vorübergehend von mir oder vom Großen Abenteuer entfernt.« Violet trieb ein mehrfaches Spiel. Beim selben Besuch sagte sie zu B. M., daß »es ihr um Denys leid tue und sie denke beinahe ernsthaft daran, ihm nachzugeben... Sie sagte, für Vita sei es etwas anderes, sich H. zu verweigern, denn sie sei seit sechs Jahren mit ihm verheiratet und habe drei Kinder geboren, Denys jedoch habe nichts, und sie werde ihm am Ende vielleicht doch noch nachgeben. Es geht mir nahe, wenn ich sehe, welch ein verruchtes Spiel sie mit V. treibt... Vita merkt nichts und vertraut V.T. blind.«
Vita glaubte Violet; tat sie es nicht, wäre das ganze große Abenteuer eine tragische Selbsttäuschung gewesen. Sie ließ sich im Januar 1921 abermals überreden, ins Ausland zu gehen. Harold war verzweifelt; er vertraute sich einigen Leuten an, was bloß nach sich zog, daß es noch mehr Klatsch gab. Er besuchte häufig Dorothy Wellesley und schüttete ihr sein Herz aus. Anfang Februar schrieb er hitziger als gewöhnlich an Vita, die erneut Ausflüchte wegen ihrer Rückkehr machte: »Du bist selbstsüchtiger als Agrippina in ihren schlimmsten Augenblicken... optimistischer als die Jungfrau Maria in ihren entrücktesten Momenten und schwächer als ein Polyp, der in einem Teich schwimmt und treibt.« Vita erwiderte aus Carcassonne, sie liebe nur ihn, fühle sich aber nun, da Denys und sogar Mrs. Keppel sich gegen sie gestellt hätten Violet gegenüber schuldig. »Versteh doch, ich bin verantwortlich.« Doch falls irgend etwas sie von ihm und den Babies trennen sollte, »würde ich daran zugrunde gehen«. Es sei ja ganz schön, wenn man die Halme einmal wild sprießen lasse, aber nicht, »wenn sie so hoch werden wie ein Dschungel... Ich will aus dieser ganzen miserablen Geschichte heraus und wieder mit dir leben.«
Denys' neue Drohung, sich von Violet scheiden zu lassen, erschreckte Harold und auch Vita. Wie B.M. in ihrem Tagebuch festhielt, fürchtete sie den Skandal um Bens und Nigels willen. »Ich will nicht, daß sie später erröten müssen, wenn der Name ihrer Mutter erwähnt wird.« Der Skandal ängstigte Vita gleichermaßen. Ihr Leben lang hatte sie nie das Verlangen, öffentlich »damit herauszurücken« , daß sie Frauen liebte. Als sie am 9. März 1921, ihrem Geburtstag, heimkam, stellte sie fest, daß ihr ein paar Türen bereits verschlossen waren. Mrs. Hunter ersuchte B.M. höflich, Vita nicht mit nach Hill Hall zu bringen, »da die ganze Geschichte mich entsetzt«.
Denys Trefusis traf mit Mrs. Keppel eine Abmachung. Er würde sich nicht von Violet scheiden lassen; Mrs. Keppel würde die Ehe subventionieren, und das Paar würde im Ausland leben. Zuerst wurde Violet unter der Obhut einer alten französischen Gouvernante auf den Keppelschen Besitz Clingendaal in Holland geschickt. Das war demütigend für eine erwachsene Frau, aber Mrs. Keppel verwaltete die Finanzen, und Violet, die ihre Mutter verehrte, konnte weder ohne Geld noch ohne Billigung ihrer Mutter leben. Sie begann ihren ersten Roman zu schreiben, doch sie fühlte sich einsam. Verzweifelt schrieb sie an Vita: »Du hast alles, was du willst - ein schönes Heim, Liebe, Zärtlichkeit. Das ist nicht fair.« (Später lebte sie mit Denys in Paris in einer gemeinsamen Wohnung, doch die Heirat war nie mehr als eine Fassade, und Denys war nicht treu.)
Es war überhaupt nicht fair. Vita wußte, daß es nicht fair war. Die letzten Worte ihres »Bekenntnisses« schrieb sie »inmitten einer tiefen Trauer, die ich vor Harold zu verbergen suche, der ein Engel auf Erden ist«. Sie hatte Angst, Violet »würde sich nicht für das Leben entscheiden«, wogegen sie selbst sich »ihr Herz sicher, unversehrt und befestigt bewahrt« hatte.
Wie auch Harold machte sie Dorothy Wellesley zu ihrer Vertrauten. B.M.. die inzwischen Vitas Veranlagung kannte, schöpfte sofort Verdacht: »Auch diese Freundschaft gefällt mir überhaupt nicht.« Und zwei Tage später: »Die Art, wie Dottie hinter V. herrennt, geht mir ziemlich auf die Nerven.« Vita und Dottie machten gemeinsam einen Besuch bei Lord Berners auf Faringdon. Harold ermutigte diese Freundschaft und hieß den Ausflug gut: Alles war besser als Violet, und er war Dottie dankbar. »Amüsiert euch. Sage Dottie, sie sei ein Engel und sehr gut für jeden von uns.«
Dorothy Wellesley war drei Jahre älter als Vita: im Dictionary of National Biography wird sie so beschrieben:
- »Von schlanker Gestalt, fast überzart mit leuchtendblauen Augen, hellem Haar, durchscheinendem weißem Teint, war sie eine natürliche Rebellin, verwarf alle Konventionen und überkommenen Vorstellungen und erwies sich in ihrem Leben als eine Agnostikerin, als ein feuriger Geist, beseelt von einer leidenschaftlichen Liebe zur Schönheit in allen ihren Ausformungen... Ihrem Gemüt nach war sie eine geborene Romantikerin, doch bei ihrer Taufe hatte die böse Fee verfügt, daß ihre intellektuellen Fähigkeiten es niemals mit ihrer Einbildungskraft würden aufnehmen können.
Verfasserin dieser Zeilen im DNB war Vita.
Der Frühsommer des Jahres 1921 war friedvoll. Die Nicolsons und ihre Freunde spielten Tennis auf dem neuen Platz in Long Barn: Vitas zweiter Roman. The Dragon in Shallow Waters, im September des Vorjahres abgeschlossen und mit nostalgischer Treue »L[uschka]« gewidmet, erschien. Es ist eine bizarre, gewalttätige Geschichte um bizarre, gewalttätige Leute, die damit endet, daß ein blinder Mann einen Taubstummen in einen Kessel mit kochender Seife stürzt. (Ihre Kenntnisse der Seifenherstellung verdankte Vita einem Besuch, den sie, zusammen mit B.M. der Seifenfabrik von Lord Levershulme in Port Sunlight abstattete.) Enid Bagnold sagte Vita, nachdem sie das Buch gelesen hatte, sie sei »eine Amazone, die statt mit Tennisbällen mit Felsbrocken spiele«. Violets Briefe, heimlich durch Pat Dansey übermittelt, erreichten Vita aus sehr weiter Ferne:
»Gegenüber dem letzten Jahr, als du mich sahst, wirke ich um zehn Jahre gealtert. Jeden Tag betrachte ich mich erbarmungslos im Spiegel - und sehe, wie mein Kinn schlaff und mein Hals überall faltig zu werden beginnt... Ich glaube, all das Leid, das ich hinter mir habe, hat dazu beigetragen, und es scheint nichts zu geben, was wie ein Ziel aussieht. Du bist der einzige Mensch, den es kümmert, was aus mir wird.«
Die Briefe wurden seltener. Das große Abenteuer war vorbei.