Vorwort

Eigentlich sollte der Gedanke traurig stimmen, daß die Nachwelt uns nach dem Flickwerk unserer Briefe beurteilen wird, durch Zufall aufbewahrt, aus ihrem Zusammenhang gelöst, vielleicht in einem Anfall von Verzweiflung oder Verwirrung geschrieben, vor allem aber abgetrennt von der Unzahl kleiner Fasern, die unser besonderes Leben färben und zusammensetzen und die in ihrer Vielzahl, Verschiedenheit und Alltäglichkeit nur für uns selbst lebendig und sogar denen nicht mitteilbar sind, die uns am nächsten stehen und unser tägliches Leben mit uns teilen...  Trotzdem ist es notwendig, innerhalb unserer Grenzen, zu einigen Schlußfolgerungen zu kommen und bestimmte Tatsachen sichtbar zu machen.
V. Sackville-West
Einleitung zu The Diary oft he Lady Anne Clifford (1923)

Das einzige, was man wissen und sich klarmachen muß, ist, daß Vita in ihrem Inneren Seiten hat, die unausgefüllt sind. Wenn ich auf eine Lücke stoße, nehme ich ein Brett, überbrücke sie und schaue nicht in die Tiefe, damit mir nicht schwindelig wird.
Edwin Lutyens,
zitiert von Vitas Mutter in ihrem Tagebuch am 10. April 1931

Dies ist die Geschichte der Vita Sackville-West. In dieser Feststellung liegt schon eine der »Lügen« von jeder Biographie. (Eine weitere ist die Behauptung, irgendeine Geschichte sei die ganze Geschichte. ) Die Menschen um Vita liegen im Schatten, es sei denn, ihre Geschichten berührten die ihre. Das hat zur Folge, daß sie verzerrt oder unscharf bleiben, zumal Vita eine ungewöhnlich dominierende Persönlichkeit war. Wichtige Aspekte der Charaktere und Laufbahnen von Violet Trefusis und Virginia Woolf zum Beispiel werden nicht berührt, doch gibt es zumindest über diese beiden, eine Fülle von Büchern, in denen sie selbst im Rampenlicht stehen. Ich finde es betrüblicher, daß der Einfluß von Vitas Ehemann, Harold Nicolson, nicht entsprechend gewürdigt wird. Da er konzilianter und, um den Ausdruck zu gebrauchen, »nachsichtiger« war und dazu neigte, über sich selbst in humoriger, mißbilligender Weise zu schreiben, tritt er um so mehr in den Schatten. Aber Harold Nicolsons Geschichte ist von James Lees-Milne in zwei Bänden erzählt worden. Die einzige Nebenfigur, bei der ich mich nicht zu entschuldigen brauche, ist Vitas Mutter, die mit demselben tragikomischen, tyrannisierenden Charme, den sie im Leben verbreitete, die Biographie ihrer Tochter zu überschatten drohte. Nichts weniger als umfassend ist dieses Buch auch in anderer Hinsicht. Es ist eine Biographie und kein literaturkritisches Werk, wenngleich ich Vita Sackville-Wests Prosa und Lyrik gewürdigt und daraus zitiert habe. Sie war in allererster Linie eine Schriftstellerin. Der erste große Kummer ihres Lebens bestand darin, daß Schloß Knole ihr nie gehören konnte, da sie weiblichen Geschlechts war; der zweite rührte aus der Erkenntnis, daß sie keine »große« Schriftstellerin war. Es war ihr bewußt, daß sie als Lyrikerin versagt hatte. Das Gedicht The Land, auf dem ihr ein wenig zweifelhafter Ruf beruht, entstand zu Beginn ihrer Laufbahn und war ein breiter Erfolg. Doch ich glaube, daß ihr zweites langes Gedicht, The Garden, und einige ihrer kurzen Gedichte einer genauen Prüfung inzwischen besser standhalten als The Land, und daß ihre gesamte Lyrik es verdient hätte, aus der Vergessenheit befreit zu werden. Die Unstimmigkeiten und Widersprüche in Vitas Charakter bedingten, daß sie sich unglücklich fühlte, und riefen eine Neurose hervor, die sie gelegentlich kreativ zu nutzen verstand. Da ich der Laien-Psychiatrie mißtraue, habe ich nicht das Wagnis unternommen, ihre sonderbaren Tierträume zu deuten. Doch ich glaube, daß eine analytische Studie, die auf dem Material dieses Buches basiert, wertvoll und interessant sein könnte. Die Heirat von Vita und Harold war an sich nichts Außergewöhnliches. Es besteht kein Anlaß zum Niederknien. Diese überwiegend maskuline Frau und dieser leicht feminine Mann wurden selbst von der Unkonventionalität ihrer Ehe gequält. Viele Ehen sind, in der einen oder anderen Weise, ebenso geheimnisvoll und sorgsam ausbalanciert wie die ihre, viele Ehen sind ebenso eng und. nach alltäglichen Maßstäben, enger. Manche Leser haben vielleicht den Eindruck, diese Beziehung sei eher eine Freundschaft als eine Ehe gewesen. Bemerkenswert ist jedoch, wieviel wir durch die Briefe und Tagebücher der Partner darüber wissen. Es handelt sich vermutlich um die am besten dokumentierte Ehe in der Geschichte. Das Material — wie es sich sowohl in ihren Handlungen als auch im geschriebenen Wort darstellt — wirft Hunderte von Fragen über die Institution der Ehe auf, und falls ein paar davon beunruhigend sind, ist das um so besser. Manches in Vitas Verhalten ist unentschuldbar. Ich bin mir dessen bewußt, daß diese Frau auf einige Leser inspirierend wirkt, anderen dagegen unsympathisch sein wird. Ich möchte, daß ihre Geschichte als eine Abenteuergeschichte gelesen wird. Ich glaube, das hätte auch ihr gefallen.
Graveley, 1989

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