Clara Zetkin geb. Eißner

5. Juli 1857 bis 20. Juni 1933

Sie spricht. Sie spricht nicht wie eine einzelne Frau, wie eine Frau, die für sich selbst eine große Wahrheit gewonnen hat... Sie spricht vielmehr wie eine Frau für alle andern Frauen, um auszudrücken, was alle Frauen einer Klasse denken. Sie spricht wie eine Frau, deren Denken sich in der Unterdrückung, mitten in der unterdrückten Klasse gebildet hat. Sie ist keine Ausnahmeerscheinung. Was sie sagt, gilt, weil Tausende und Millionen von Frauen mit ihr dasselbe sagen. Sie hat ihre Bildung empfangen wie jene, nicht in der gesicherten Ruhe des Studiums und des Reichtums, sondern im Kampf gegen Elend und Ausbeutung. Sie ist einfach die in hohem Grad vollendete, Erscheinung der neuen Frau, die nichts mehr zu tun hat mit jener Puppe, die Versklavung, Prostitution und Nichtstun bis zum heutigen Tag zum Gegenstand der Lieder und Gesänge der Dichter aller menschlichen Gesellschaftsformen gemacht haben.
Sie ist die Frau von morgen, oder besser, wagen wir es auszusprechen: Sie ist die Frau von heute.
Louis Aragon, «Die Glocken von Basel» (1933)

Im Juli 1889, zum 100. Jahrestag des Beginns der Großen Französischen Revolution, versammelten sich in Paris die Delegierten der revolutionären Arbeiterparteien Europas und Amerikas, um eine neue, die II. Internationale zu gründen. 173 französische und 354 ausländische Vertreter waren gekommen, darunter 82 aus Deutschland, um die Losung des Kommunistischen Manifestes «Proletarier aller Länder vereinigt euch!» organisatorisch in die Tat umzusetzen. Im Namen der deutschen Arbeiter sprachen Wilhelm Liebknecht und August Bebel. Am sechsten Tag erteilte der Vorsitzende Clara Zetkin, einer der ganz wenigen Frauen auf diesem Kongresse, das Wort zu einem Vortrag über die Lage der Arbeiterinnen im Kapitalismus. Ihr Referat gipfelte in der Erklärung: «Die Arbeiterinnen sind durchaus davon überzeugt, daß die Frage der Frauenemanzipation keine isoliert für sich bestehende ist, sondern ein Teil der großen sozialen Frage. Sie geben sich vollkommen klare Rechenschaft darüber, daß diese Frage in der heutigen Gesellschaft nun und nimmermehr gelöst werden wird, sondern erst nach einer gründlichen Umgestaltung der Gesellschaft... Die Emanzipation der Frau wie die des ganzen Menschengeschlechts wird ausschließlich das Werk der Emanzipation der Arbeit vom Kapital sein. Nur in der sozialistischen Gesellschaft werden die Frauen wie die Arbeiter in den Vollbesitz ihrer Rechte gelangen.» Das war Clara Zetkins erster Auftritt vor einem Weltforum und ihr Debut als proletarische «Frauenrechtlerin», die in jener geschichtlichen Stunde den entscheidenden Schritt vollzog, den Kampf um die Emanzipation der Frau unter das Banner des Sozialismus zu stellen. Wenn die bürgerlichen Vertreterinnen der Frauenbewegung ausschließlich an die privaten Bildungskräfte und die Ethik des Menschen appellierten und wie Helene Lange ausriefen: «Wer wäre unter uns, die nicht weit lieber zum sittlichen als zum industriellen oder politischen Fortschritt beitrüge», so erkannte Clara Zetkin den bodenlosen AbstraktIdealismus dieser Bestrebungen und trat dafür ein, ihnen die realen politischgesellschaftlichen Bedingungen in der Partei der sozialen Revolution zu schaffen. Ihre Forderungen waren nicht enger, sondern universeller, nicht geistig platter, sondern radikaler, ihre Methoden aktivistischer. Nichts gab sie von den Zielen auf, die sich bürgerliche Frauenrechtlerinnen gestellt hatten, sei es die Verbesserung der Mädchenbildung, die Zulassung der Frau zum akademischen Studium, ihr Kampf gegen die Privilegien des Mannes in Familie, Staat und Gesellschaft, die Erringung der Rechtsgleichheit und des Frauenstimmrechts, aber sie erkühnte sich überdies, gegen jede Unterdrückung zu kämpfen und die weibliche Emanzipation in einer klassenlos werdenden Gesellschaft zu verwirklichen. In diesem Kampf wuchs sie und wandelte sich schöpferisch, bewegt und beweglich, bis hin zum führenden Mitglied der jungen KPD, zur Reichstagsabgeordneten, zur Kampfgefährtin Lenins und zur Repräsentantin der Kommunistischen Internationale. Sie hat nicht nur die eigenen Kinder zu Menschen herangebildet, sondern sie wurde einem ganzen Geschlecht werktätiger Frauen die stellvertretende Mutter, Ratgeberin und Führerin auf dem Wege zu einem menschenwürdigen Dasein. Sie war alles andere als eine dogmatische Nurintellektuelle, eher verkörperte sie einen Harmonietyp, ein Modell der unverkürzten, der allseitigen Menschenfülle. Als Vorkämpferin realer, in dem weltgeschichtlichen Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat verwurzelten Humanität - keiner verwaschenen, sondern zielklaren - erfreute sie sich schon zu Lebzeiten wie nur ganz wenige zeitgenössische deutsche Frauenpersönlichkeiten des höchsten internationalen Ansehens. Als die junge Sozialistin auf dem Gründungskongreß der II. Internationale das Wort ergriff, war sie zweiunddreißig Jahre alt.
Sie stammte aus der Familie eines sächsischen Landschullehrers. Ihre Kindheit hatte sie zusammen mit einem Bruder und einer Schwester in Wiederau, einem Dorf in der Nähe der Kreisstadt Rochlitz an der Zwickauer Mulde, verlebt. Schon damals kündigte sich in dem Mädchen mit den dicken rotblonden Zöpfen und den hellen graugrünen Augen etwas Rebellisches und Trotziges an. Ihre Lieblingslektüre war eine Geschichte der Schweizer Freiheitskämpfe, eine Geschichte der Französischen Revolution von 1789 und eine Geschichte der kirchlichen Erhebungen gegen das Papsttum. «Hundertmal», so berichtete sie später von ihrer Schülerzeit, «bin ich als Arnold von Winkelried für die Freiheit gestorben.» Um den Kindern eine ihren Wünschen entsprechende Berufsausbildung zu geben, zogen die Eltern im Jahre 1872 nach Leipzig, der Stadt der Bücher, der Musik, der Messen und der jungen Arbeiterbewegung. Clara kam hier in das von Auguste Schmidt geleitete Lehrerinnenseminar, eine Anstalt, die in enger Verbindung mit dem Allgemeinen Deutschen Frauenverein stand, und im Klima der bürgerlichen Frauenbewegung schien sie vorerst geborgen. Da begegnete sie in einem Zirkel russischer Studenten einem jungen Ukrainer aus der revolutionären Narodnikibewegung, der sich in Leipzig zum Marxisten entwickelt hatte und in der Leipziger Arbeiterbewegung Agitationsarbeit leistete. Dieser russische Emigrant, Ossip Zetkin, der die Seminaristin Clara zu sozialdemokratischen Versammlungen mitnahm, in den Arbeiterbildungsverein einführte und in ihr die Begeisterung für die sozialistischen Ideen entflammte, wurde ihr Jugendund Gesinnungsfreund. Als er unter dem Polizeiterror der Bismarckschen Sozialistengesetze im Spätsommer 1880 verhaftet und des Landes verwiesen wurde, folgte sie ihm bald. Ausgefüllt von einer leidenschaftlichen Liebe wollte sie nun ihrem Traum von einem edleren und freieren Leben im Ausland einen Weg bahnen. Nach einer -kurzen Tätigkeit als Hauslehrerin in Niederösterreich und einem Aufenthalt in Zürich, wo sie dem «roten Feldpostmeister» Motteler beim Schmuggel der sozialistischen Literatur nach Deutschland half und das für sie bedeutungsvolle Buch, August Bebels Kampfschrift «Die Frau und der Sozialismus», zum ersten Male studierte, erschien sie im November 1882 in Paris bei Ossip. Es begannen sieben Jahre des Flüchtlingselends in der französischen Hauptstadt. Den Lebensunterhalt verdiente das Paar durch Übersetzungsarbeit und Stundengeben. Gelegentlich mußte sich Clara auch als Waschfrau verdingen, nachdem sie zwei Söhnen das Leben gegeben hatte und die finanziellen Nöte noch zunahmen. Aber niemals verzweifelte sie. Im Gegenteil, sie sah in ihren sozialen Schwierigkeiten eine Lehre, die sie die Sorgen und Leiden der Proletarierinnen am eigenen Leibe erfahren ließ. Isoliert waren die Zetkins in der großen Stadt nicht. Sie lebten in der Kolonie der russischen Emigranten, der sich Ossip zugehörig fühlte, verkehrten in Kreisen der deutschen und französischen Sozialisten. Sie hat damals Laura Lafargue, der Tochter von Karl Marx, in die Augen gesehen, schrieb auch Artikel für die marxistische Wochenzeitung «Le Socialiste», die Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, redigierte, nahm an den Massendemonstrationen der Pariser Arbeiter teil' Ein reicher Schatz an politischen und menschlichen Erfahrungen floß ihr damals zu. Noch als alte Frau versicherte sie, daß sie ihre revolutionäre Moral jenen Pariser Jahren verdanke. Aber auch die Grundlage für ihr reiches marxistisches Wissen hat sie damals gelegt. Obwohl jeder Tag durch Beruf, Hausarbeit und Kinderpflege voll ausgefüllt war, fand sie immer noch Stunden, in denen sie sich dem intensiven Studium der Klassiker widmete, vom «Kommunistischen Manifest» bis zum «Kapital», vom «Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates» bis zum «Anti-Dühring». Ein Ergebnis dieser Studien war ihre Broschüre «Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart», die 1889 als Heft 3 der «Berliner Arbeiterbibliothek» erschien. Schon lange lag die Last des Kampfes um den täglichen Lebensunterhalt allein auf ihren Schultern. Ossip wurde von einem fortschreitenden Siechtum befallen, und im Januar 1889 mußte sie ihren geliebten Kameraden begraben. Für Clara begann ein neuer Lebensabschnitt, den sie mit ihrem Grundsatzreferat auf dem Gründungskongreß der Internationale eröffnete und in dem sie sich zur Führerin der deutschen und internationalen sozialistischen Frauenbewegung emporarbeitete. Sie kehrte nach Deutschland zurück und ließ sich in Stuttgart nieder, wo sie als freie Mitarbeiterin des J. H. W. Dietz-Verlages und der «Neuen Zeit» eine erste berufliche Wirkungsmöglichkeit fand. Damals übersetzte sie Bellamys amerikanischen Zukunftsroman «Rückblick aus dem Jahre 2000 ins Deutsche. Als Ende 1891 «Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen» gegründet wurde, berief man sie zur Chefredakteurin. Clara Zetkin hatte damit das zentrale Arbeitsgebiet gefunden, das sowohl ihren Herzenswünschen als auch ihrer Begabung entsprach. Die «Gleichheit» wurde unter ihrer Leitung die große sozialistische Frauenzeitschrift, die sich zu einem internationalen Organ der proletarischen Frauenbewegung entwickelte. Dabei beschränkte sich das Blatt keineswegs auf die spezifischen Frauenfragen, sondern dem Ziele gemäß, die Frau für die Arbeiterbewegung zu gewinnen, nahm es zu allen Problemen des politischen Kampfes Stellung, zu den Rüstungsforderungen der deutschen Militaristen nicht weniger als zu ihren Kolonialabenteuern und Weltmachtplänen, dem Streik in der Crimmitschauer Textilindustrie ebenso wie zu den revisionistischen Bestrebungen in der eigenen Partei. Keinem Problem wich Clara Zetkin aus, immer besaßen ihre Artikel denkerische Konstruktivität. Stets kam zum Ausdruck, daß sie auf dem linken Flügel an der Seite Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts und Franz Mehrings stand. Als sie mit vierzig Jahren eine zweite Ehe mit dem jungen schwäbischen Maler Friedrich Zundel schloß, setzte sie sich auch verstärkt mit künstlerischen und literarischen Fragen auseinander. Der kulturelle Teil der «Gleichheit» wurde reicher. Sie selbst schrieb Aufsätze über Friedrich Schiller, Henrik lbsen, Richard Wagner, Björnstjerne Björnson. Prinzipielles erörterte sie in dem Artikel «Kunst und Proletariat». In der Periode bis 1917 wurde sie neben Franz Mehring zur bedeutendsten Vertreterin marxistischer deutscher Literaturwissenschaft. An Ehren hat es ihr nicht gemangelt. Auf dem Parteitag in Gotha im Jahre 1896 wurde sie zum Mitglied der Kontrollkommission gewählt und damit in den Rang eines Parteivorstandsmitglieds erhoben. Clara Zetkin gehörte nun zu den anerkannten Spitzenfunktionären der Sozialdemokratie. Im Sommer 1907 fand auf ihre Initiative hin am Vorabend des Internationalen Sozialistenkongresses in Stuttgart die erste internationale sozialistische Frauenkonferenz statt. Clara wurde zur Sekretärin des Internationalen Sekretariats gewählt, Stuttgart zum Zentrum der Bewegung bestimmt, die «Gleichheit» als internationales Zentralorgan eingesetzt. Damit war sie auch in den Rang einer allgemein bestätigten Führerin der internationalen sozialistischen Frauenbewegung aufgerückt. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit verlegte sich nun zunehmend auf diese Aufgabe. Denn ihr war klar, daß dem allgemeinen Wettrüsten der europäischen - Großmächte und der permanenten Kriegsgefahr nur mit allen verfügbaren Machtmitteln des internationalen Proletariats begegnet werden konnte. Den Höhepunkt dieser Bemühungen bildete ihre Rede auf dem Internationalen Sozialistenkongreß in Basel Ende November 1912, in der sie an alle Frauen und Mütter der Welt appellierte, sich organisiert gegen den Massenmord des drohenden imperialistischen Krieges zu erheben. Zwei Jahre zuvor war auf dem Kongreß in Kopenhagen auf ihren Antrag hin beschlossen worden, jährlich einen Internationalen Frauentag mit Massenversammlungen und Demonstrationen zu veranstalten, der inzwischen zum traditionellen Kampf- und Ehrentag der fortschrittlichen Frauen aller Länder wurde.

Den Verrat an der Menschheit, dessen sich im August 1914 selbst Arbeiterführer schuldig machten - sie beging ihn nicht. Da sie ihre kriegsgegnerische Haltung in der «Gleichheit» nicht mehr offen aussprechen konnte, weil das Blatt unter Zensur stand, ging sie zu illegaler Arbeit über. Ende November 1914 erließ sie eine Botschaft «An die sozialistischen Frauen aller Länder», die als Flugblatt verteilt wurde. Es diente zugleich als Vorbereitung auf eine internationale Frauenkonferenz, die für März 1915 nach Bern einberufen war, wo die Sozialistinnen der kriegführenden und neutralen Staaten Fühlung aufnahmen, um ihre Maßnahmen im revolutionären Widerstandskampf gegen den Krieg aufeinander abzustimmen. Ein von ihr entworfenes Manifest «Frauen des arbeitenden Volkes» wurde von allen Delegierten unterzeichnet und als Flugblatt in allen Ländern in Massenauflage verbreitet. Wegen dieser «landesverräterischen» Aktivitäten verhaftete man sie im Juli 1915. Nur unter dem Druck einer mächtigen Protestwelle im In- und Ausland entschloß sich die Justiz, die Redakteurin und Internationale Sekretärin Zetkin im Oktober wegen Krankheit und gegen Kaution wieder auf freien Fuß zu setzen. Sie war die einzige von den Führern der linken Sozialdemokraten, die während des Krieges nicht im Gefängnis oder im Zuchthaus saß. Denn daß sie zu dieser von den Behörden verfolgten Gruppe gehörte, wurde schon dadurch offenkundig, daß sie für die erste Nummer der von Rosa Luxemburg und Franz Mehring neu gegründeten Zeitschrift «Die Internationale» einen Beitrag lieferte. Der Parteivorstand zögerte schließlich auch nicht, gegen sie Maßnahmen zu ergreifen.

Im Juli 1917 verlor sie ihre Stellung als Redakteurin der «Gleichheit». Die Frau mit einzigartigem internationalem Prestige, die dem Blatt in einer fünfundzwanzigjährigen Lebensleistung zu Format, Aufschwung und Ansehen verholfen hatte, wurde von den Komplizen der Imperialisten in die Wüste geschickt. Es war ein schwerer Schlag. Aber Clara Zetkin besaß stets Witterung für das Kommende. Die Nachrichten von der Oktoberrevolution in Rußland kündeten ihr, daß auch sie noch eine Zukunft hatte. Der neue Anfang in der Nachkriegszeit wurde für sie besonders schwer. Ihre zweite Ehe zerbrach. Die nächsten Freunde wurden von der Konterrevolution ermordet, Franz Mehring starb. Keine der ihr nahestehenden Genossinnen aus der alten Sozialdemokratie folgte ihr in die KPD. Die neue Partei war in die schwersten Klassenkämpfe verwickelt und durch Richtungsgegensätze zerstritten. Stütze und Halt fand sie in ihrer schwierigen Lage vor allem in den Lehren Lenins, die sie sich aus seinen Werken schrittweise aneignete und die ihr zum Teil auch persönlich von ihm erteilt wurden. Zum ersten Male fuhr Clara Zetkin im Jahre 1920 nach Sowjetrußland. Ihr tiefstes Erlebnis war die Begegnung mit dem Führer der Bolschewiki. Bei einem Besuch in seiner Wohnung im Kreml kam es zu jenem berühmten Gespräch über Kultur, Kunst und Volkserziehung, das sie in ihren «Erinnerungen an Lenin» veröffentlichte. Für sie war die Sowjetunion das Modell für jeden sozialistischen Aufbau, Lenin die unbestrittene Autorität, der sie sich freiwillig unterordnete. 1921 wurde sie zum Mitglied des Exekutivkomitees und des Präsidiums der Kommunistischen Internationale gewählt und leitete bis 1924 das westeuropäische und dann das internationale Frauensekretariat dieser Organisation. 1925 wurde sie Präsidentin der Internationalen Roten Hilfe. Wichtiger ist, daß sich das, was sie auf ihren Hauptarbeitsgebieten initiatorisch gefordert und kraftvoll gefördert hat, als richtig erwies und heute allgemein anerkannt wird, sei es in der Frage der Frauenemanzipation, in der Kulturpolitik, auf dem Gebiet der Pädagogik, im Friedenskampf, in ihrem Verhältnis zur Sowjetunion und zur internationalen Solidarität. Noch 1932, im Alter von 75 Jahren, kreuzte sie als Alterspräsidentin des letzten Reichstages der Weimarer Republik mit ihren Gegnern die Klinge und beschwor die Einheitsfront aller Werktätigen als das Gebot der Stunde.
So reich an Sinnbildkraft wie ihr Leben war auch ihr Tod. Sie starb im Juni 1933, als sich die faschistische Nacht über Deutschland senkte. Als einzige deutsche Frau wurde sie an der Kremlmauer beigesetzt. Ihr Andenken wuchs im Laufe der Jahrzehnte zu einer stummen Macht, und was sie erkämpfen wollte, ist heute jeder sozialistischen Frau Besitz. Das Bild ihres Wirkens leuchtet hell aus ihrer Epoche in die unsere. Doch ehrt sie nur, wer ihren Kampf auf neuen Ebenen fortsetzt und dabei ihr Vermächtnis zu nutzen weiß.

An Heleen Ankersmit

Wilhelmshöhe, den 3. Dezember 1914

Liebe Genossin Ankersmit! Zuerst nochmals die Sie beruhigende Mitteilung, daß ich vermutlich alle Ihre Zusendungen erhalten habe. Ich kann nur sagen vermutlich. Weshalb, das wird Ihnen das Folgende zeigen. Erhalten habe ich die «Botschaft» unserer englischen Genossinnen, den ebenso schönen Brief von Freundin Longman und Ihren eigenen langen, lieben Brief sowie eine Karte. Ich habe Ihnen den Empfang dieser Sendungen schon angezeigt. Aber haben Sie diese Benachrichtigung erhalten? That is the question. Ich schickte Ihnen zweimal meinen Aufruf als Internationale Sekretärin, in dem ich die Genossinnen aller Länder aufforderte, für den Frieden zu wirken. Das eine Exemplar lag zwischen alten Nummern der «Gleichheit». Ich teilte Ihnen das in einer offenen Karte mit und bat um Empfangsbestätigung. Solche habe ich bis heute nicht erhalten, obgleich seitdem 14 Tage ins Land gegangen sind. Ich lege Ihnen nun den Aufruf nochmals in 2 Exemplaren bei, bitte Sie, für die rasche Veröffentlichung in der holländischen Parteipresse zu sorgen und ein Exemplar des deutschen Textes sicher an unsere englischen Genossinnen zu schicken. Mary Longman wird ihn gern und gut übersetzen. Wundern Sie sich nicht, wenn ich Ihnen selten und nichtssagend schreibe. Solange die Briefe aus Deutschland offen gehen müssen, kann es nicht anders sein. Abgesehen von dem allgemeinen Zustand, kommt in meinem Falle noch dazu, daß die Behörden meiner Überzeugung und Haltung wegen ein «besonderes Auge» auf mich haben. Es ist gar kein Zweifel, daß ich persönlich wenigstens zeitweilig überwacht werde und daß meine Korrespondenz einer «sorgsamen» Kontrolle untersteht. So überflüssig und lächerlich das ist, so lästig macht es sich fühlbar. Es kommt darin nicht bloß die allgemeine Situation zum Ausdruck, sondern auch - und das ist das Niederdrückende, Demütigende daran - der politische und moralische Bankrott der deutschen Sozialdemokratie, soweit sie jetzt als offizielle Partei existiert. Wenn ich Ihnen von alledem spreche, so geschieht dies nicht nur, damit Sie die Schwierigkeiten verstehen, die meine Tätigkeit als Internationale Sekretärin behindern, sondern auch, damit Sie die Entwicklung innerhalb der deutschen Sozialdemokratie kennenlernen und damit das Milieu, in dem wir jetzt hier leben und weben. Ich benutze die Gunst des Zufalls, Ihnen einen Brief zu schicken. Was ich Ihnen schreibe, ist zu Ihrer Information bestimmt wie zur Aufklärung der mit Ihnen arbeitenden führenden Genossinnen, nicht aber zur Veröffentlichung. Damit will ich natürlich nicht etwa sagen, daß Sie die Tatsachen verschweigen sollen, die ich Ihnen mitteile. Im Gegenteil, diese Mitteilungen sollen politisch wirksam werden. Nur dürfen Sie - wie die Dinge liegen meine Mitteilungen nicht als Brief von mir veröffentlichen. Meine Arbeit in Deutschland - die nationale wie internationale - würde sonst vollständig unterbunden. Das Verhängnisvollste der gegenwärtigen Situation ist, daß der Imperialismus alle Kräfte des Proletariats, alle Einrichtungen und Waffen, die seine kämpfende Vorhut für den Befreiungskampf geschaffen hat, in den Dienst seiner Zwecke genommen hat. Daß er dies so restlos tun konnte, daran trägt die Sozialdemokratie die Hauptschuld und Hauptverantwortlichkeit vor der Internationale und der Geschichte. Die Bewilligung der Kriegskredite hat das Signal zu einem ebenso weitfassenden als schimpflichen Mauserungsprozeß der Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie gegeben. Diese Mehrheit ist heute nicht mehr proletarische, sozialistische Klassenkampfpartei, sondern nationalistische soziale Reformpartei, die sich für Annexionen und Kolonialeroberungen begeistert. Ein Teil noch mit Phrase, ein anderer sans phrase. Der Umwandlungsprozeß vollzieht sich um so schneller, als der Krieg eine Treibhausatmosphäre für diese Entwicklung schafft und der größte Teil unserer jüngeren, geschulten und energischen Genossen im Felde steht. Unsere Organisationen sind mehr als dezimiert. Unsere Kassen werden durch die Unterstützungen geleert.
In den Mitgliederversammlungen darf nur verhandelt werden, was die Behörden gestatten. Ein Teil der Parteiführer und Parteibürokraten geht noch weiter als sie und macht mittels des Organisationsapparates die Erörterung von Gegenständen unmöglich, die zur Beleuchtung der Ursachen und des Charakters des Krieges führen müßte, zur Kritik an der Haltung unserer Partei, zur Forderung: Friede, keine Annexionen etc. Von den 91 Organen unserer Parteipresse, von den vielen Gewerkschaftsblättern ist die erdrückende Mehrzahl durch und durch nationalistisch, ja chauvinistisch, und nicht wenige übertreffen an mordspatriotischer Gesinnungstüchtigkeit die anständigeren und besonnenen bürgerlichen Blätter. Sozialdemokratische und gewerkschaftliche Organe haben den völkerrechtswidrigen Einbruch in Belgien gebilligt, die Niedermetzelung aller als Franktireurs Verdächtigen, ihrer Frauen und Kinder, die Einäscherung ihrer Heimstätten in ganzen Ortschaften und Bezirken. Sozialdemokratische und gewerkschaftliche Organe fordern die Annexion des ganzen Landes von Antwerpen bis Calais, von ganz Lothringen etc. Der P[artei] V[orstand] [SPD] hat die wiederholten Anregungen und Anträge abgelehnt, durch ein Manifest etc. die Losung zu einem allgemeinen Auftreten der Partei gegen die versteckten Annexionshetzereien und für den Frieden zu geben. Mit dieser Begründung: 1. Ein solches Auftreten sei überflüssig, da allgemein bekannt sei, wie die Partei zu Annexionen und Frieden steht und diese ihre Stellung noch durch die Erklärung der Reichstagsfraktion vom 4. August feierlich bestätigt habe. 2. Es sei unmöglich, da die Behörden weder für noch gegen Annexionen und Frieden schreiben und reden lassen. Überflüssig zu sagen, daß - trotz entsprechender Erklärungen der Behörden diese nichts hören und sehen, wenn Annexionen und Kolonialeroberungen geheischt und die Forderung baldigen Friedens verhöhnt und bekämpft wird. Summa summarum: Eine Niederlage im Kampfe für seine Ziele würde das deutsche Proletariat bei weitem nicht so geschwächt, verwirrt und desorientiert, würde bei weitem nicht soviel Opfer an Gut und Blut gekostet haben, als es der Verrat der Partei tut. Gewiß, liebe Genossin Ankersmit, es ist in der Sozialdemokratie und außerhalb ihrer in den proletarischen Massen eine zielklare und entschiedene Opposition gegen diesen Stand der Dinge und seine weitere Entwicklung vorhanden. Sie wissen ja, daß in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion 14 Mitglieder am 4. August gegen die Bewilligung der Kriegskredite waren. Weitere 3 Abgeordnete hätten sich ihnen zugesellt, würden sie an der Sitzung teilgenommen haben. In allen großen Orten ist Unzufriedenheit und Gärung vorhanden. Allein, die Opposition ist gefesselt und geknebelt. Der Belagerungszustand macht es ihr ganz unmöglich, in den Organisationen und der Presse zu Wort zu kommen. Die «Revisionisten» um diesen Ausdruck zu brauchen, der heute aber viel weiter faßt als früher und die Mehrheit der Genossen und Gewerkschaftler deckt - nutzen den Belagerungszustand systematisch und skrupellos aus, um den Massen ihren Standpunkt aufzureden, ja, aufzuzwingen und die Opposition vollends mundtot zu machen. Sie vermögen das um so leichter zu tun, als sie die unverhüllte oder auch verhüllte Gunst der Behörden für ihre Bestrebungen haben und als sich der größte Teil der Arbeiterpresse und der Organisationsleitungen in ihrer Hand befindet. Innerhalb der Organisationen stoßen die «Revisionisten» mit ihren Bestrebungen jetzt nur auf schwachen Widerstand, eben weil die jüngeren und entschiedensten Genossen draußen ihrer Militärpflicht genügen. So ist die Opposition gegen die Verleugnung der sozialistischen Grundsätze wohl da, aber sie kann nicht reden und kann sich nicht zählen. Alles, was sie tun kann, beschränkt sich darauf, den Gang der Dinge genau zu verfolgen, ihn kritisch an unserer sozialistischen Auffassung zu prüfen, sich dem Verfall entgegenzuwerfen, wo und wie es geht, und eine Sammlung der zielklaren, entschiedenen Elemente für die unvermeidliche grundsätzliche Auseinandersetzung vorzubereiten. Ich sage die unvermeidliche Auseinandersetzung, weil eine solche der entschiedenen Linken bei allem Wünschen der Einheit der Partei durch die Entwicklung der Rechten aufgezwungen wird, die immer rascher und vollständiger über Bord wirft, was von der stolzen Vergangenheit und Tradition der deutschen Sozialdemokratie geblieben ist. Der Friede wird das deutsche Proletariat vor eine Riesenarbeit des Schuttwegräumens und Aufbauens stellen. Dafür die Kräfte zu sammeln, zielklar, willensstark und opferfähig zu erhalten, ist die Aufgabe der Opposition. Wie groß diese ist, über welche Kräfte sie verfügt, wie weite Kreise sie unter den Massen zieht: Das alles und anderes noch läßt sich aus den bereits kurz aufgezeigten Gründen gegenwärtig nicht sagen. Es wäre unklug, sich darüber zu täuschen, daß es jetzt eine Minderheit ist. Aber ebenso unklug würde es sein, die Tatsache zu übersehen und zu unterschätzen, daß diese Minderheit unaufhaltsam mit der Dauer des Krieges wächst. Viele aufgeklärte Proletarier haben sich denn doch die beschworene «Gefahr für den Bestand und die Kultur des Vaterlands», haben sich den Charakter und die Wirkungen und Opfer des Krieges ganz anders vorgestellt, als die Dinge sich jetzt enthüllen.
Brauche ich Ihnen erst auseinanderzusetzen, liebe Freundin Ankersmit, daß und warum ich zur opponierenden Minderheit gehöre? Ich glaube, meine Lebensarbeit sagt Ihnen darüber genug. Sie haben wohl auch die Erklärung gelesen, die ich zusammen mit Rosa Luxemburg und den Genossen Liebknecht und Mehring veröffentlichte. Ich habe es von Anfang an als Ehrenpflicht der «Gleichheit» angesehen, ein sozialistisches Blatt zu bleiben und unbefleckt von chauvinistischen Tendenzen das Banner zu erhalten, das sie nun fast ein Vierteljahrhundert den Frauen voranträgt. Es dünkte mir dies um so selbstverständlicher, als die «Gleichheit» ja auch das internationale Organ der Genossinnen ist. Sie werden nach dem Vorausgeschickten wissen, wie außerordentlich schwer es für mich ist, das Selbstverständliche zu tun. Ich überblicke natürlich die Situation klar genug, um zu wissen, daß es ein Ding der Unmöglichkeit ist, offen darzulegen, wie die Ereignisse sich meiner Überzeugung nach darstellen und was vom sozialistischen Standpunkt dazu gesagt werden, was als Aufgabe des Proletariats erwiesen werden müßte. Ich verzichtete also von vornherein darauf, das auszusprechen, was ich nicht aussprechen durfte und konnte, weil die Behörden das formale Recht und namentlich die Macht haben, mich zu zwingen, es unausgesprochen zu lassen. jedoch ich lehnte es von Anfang an mit aller Entschiedenheit ab zu sagen, was ich als internationale Sozialistin meiner Überzeugung nach nicht sagen konnte und durfte. Ich bemühte mich, dem Taumel des Chauvinismus, eines ganz bürgerlichen Patriotismus, der mit wahrer Vaterlandsliebe gar nichts gemein hat, keine Konzessionen zu machen, umgekehrt, dieser Raserei und damit der Selbstaufgabe der Sozialdemokratie so kräftig und bewußt als möglich entgegenzuwirken. Ich habe auch die Genugtuung, daß die Haltung der «Gleichheit» verstanden und gewürdigt wird. In den fast 24 Jahren, die ich die «Gleichheit» redigiere, habe ich noch in keiner Periode ihrer kampfreichen Existenz soviel Zustimmungskundgebungen erhalten. Aus allen Gegenden des Reichs, von Frauen und Männern, von politisch und gewerkschaftlich Organisierten.
Aber, liebe Genossin, die «Gleichheit» ist wegen ihrer Haltung den willkürlichsten Drangsalierungen durch die Zensur und das Militärkommando preisgegeben. Sie müssen bedenken, daß wir unter dem verhängten Belagerungszustand schlimmer daran sind als unter dem Sozialistengesetz. Dieses band die Behörden an bestimmte Normen, und uns blieb das Recht, ihre Entscheidungen vor Gericht anzufechten, unsere Sache vor alle Instanzen zu bringen und schließlich im Reichstag verfechten zu lassen. Bindende Normen kennt der Belagerungszustand nicht. Die Oberste Heeresleitung und ihre Vertretung in den einzelnen Bezirken kann ganz souverän verfügen, ohne Angabe von Gründen, und ihre Maßnahmen können nicht vor Gericht angefochten werden. Im Reichstag aber hat die Sozialdemokratie sich freiwillig knebeln lassen. Es finden dort keine Debatten statt, um die Demonstration von «der Einigkeit des ganzen deutschen Volkes» nicht abzuschwächen. Eine lächerliche Begründung! Der Maulkorb für die Opposition ist nie ein Zeichen der Kraft, sondern der Furcht. Nun sollte zwar jetzt im stillen Kämmerlein der erweiterten Budgetkommission über brennende Fragen verhandelt werden, darunter auch über Presse und Zensur. Ich habe getan, was ich konnte, um dieses Grashälmchen einer Aktionsmöglichkeit zu packen und nutzbar zu machen, indem ich Genossen Haase - als Vorsitzenden der Partei, der Fraktion und als Rechtsanwalt - das ganze aktenmäßige Material über die Schikanierung der «Gleichheit» schickte. Aber ich handelte, um meine Pflicht zu erfüllen, ohne jede Illusion darüber, daß so gut wie nichts dabei herauskommt. Schon deswegen nicht, weil das wichtigste Element für die Wirkung der Kritik fehlt: die Öffentlichkeit. Mais revenons à nos moutons: die Situation der «Gleichheit». Die Behörden vermerken mit Unwillen, daß das Blatt nicht in den teutonischen Bardenchor der Parteipresse einstimmt. Gerade weil die «Gleichheit» einen Ruf und ein Ansehen hat. Sie brauchen und mißbrauchen ihre Macht, um das Blatt dafür zu züchtigen, daß es sich «beharrlich weigert, sich der großen Bewegung der Zeit und des Volks anzupassen». Sie tun das um so überzeugter und rücksichtsloser, als sie wissen, daß unsere Zeitschrift mit ihrer Haltung leider in der Partei sehr isoliert steht; daß ein großer Teil der anderen Arbeiterblätter diese Haltung mißbilligt; ja, daß gar manche Genossen und Gewerkschaftler offen oder versteckt Beifall zu jedem Schlag klatschen, der die «Gleichheit» trifft. Es fehlt sogar nicht an Leuten, denen nichts lieber wäre, als wenn dieses «radikale Krakeelblatt» ganz verboten würde. Es ist beschämend, liebe Genossin Ankersmit, aber es ist so: Man braucht nicht die Finger beider Hände, um von den 91 Organen der Partei - die Gewerkschaftsblätter nicht mitgerechnet - jene aufzuzählen, die mutig und unbeirrt sich auf der gleichen Linie wie die «Gleichheit» halten. Würden das alle unsere Blätter tun oder wenigstens die meisten, so würde keine Zivil- und Militärbehörde eine die Meinungsfreiheit knebelnde Zensur wagen, wie sie jetzt geübt wird. Man braucht die Arbeiterpresse, man kann auf sie nicht verzichten, man könnte nicht riskieren, die proletarischen Massen aufzuregen und zu erbittern und würde deshalb auch die Presse betreffend lassen, was man nicht tun -kann, wenn - ja, wenn die Partei und mit ihr die meisten Arbeiterblätter sich nicht freiwillig in den Dienst des Imperialismus gestellt hätten. Wie die Dinge liegen, ist das schimpfliche Verhalten der Mehrzahl unserer Organe nicht bloß ein Verrat der sozialistischen Grundsätze, sondern wirkt praktisch als ein ständiger Anreiz auf die Behörden, von der opponierenden Minderheit der sozialistischen Blätter den gleichen Verrat zu beanspruchen und die Meinungsfreiheit tatsächlich aufzuheben, noch sozialistisch zu schreiben. Die Praxis gegenüber der «Gleichheit» beweist das.
«Gleichheit» Nr. 23 wurde konfisziert, obgleich sie noch vor dem Krieg geschrieben und gedruckt worden war und nach mehreren Wochen wieder freigegeben werden mußte. Als das Blatt wieder erscheinen durfte, waren wir zur äußersten Vorsicht gezwungen, wir mußten tastend das Terrain für den Versuch sondieren, zunächst wenigstens einen Teil der zerrissenen Verbindungen wiederherzustellen. Die Behörden hatten nämlich auch alle Bücher und Adressen des Verlags beschlagnahmt. Natürlich wachten sie auch mit Argusaugen über jedes Wort. So war ich gezwungen, mit den Gedanken zwischen allerhand Klippen und Sandbänken herumzulavieren und in der Form recht apokalyptisch zu sein, damit Nr. 24 überhaupt herauskommen konnte. Von vornherein auf das Erscheinen verzichten, hätte geheißen, den Kampf aufzugeben.
Bei jeder Nummer gab es nun die behördlichen Beanstandungen. Die Präventivzensur strich, was ihr mißfiel, oft in der kleinlichsten, ja in lächerlicher Weise. In den ersten Nummern nach dem Wiedererscheinen suchte ich die gestrichenen Stellen so gut als möglich durch neue Sätze «zu flicken», die den Behörden nicht «anstößig» erschienen. Es war dies eine schwere Arbeit, bei der ich meiner Überzeugung nichts zu vergeben suchte, die mich aber doch zwang, manches zu schlucken. Nach einigen Nummern war es mir jedoch klargeworden, daß es um der Sache willen besser sei, einen andern Weg zu wandeln. Die «geflickten» Stellen wurden leicht unklar und trugen die Gefahr in sich, mißverstanden zu werden. Zumal von Genossinnen, die noch nicht geschult waren oder im Ausland lebten und die Situation nicht kannten. je größer die Verwirrung ward, die in der Partei einriß, um so notwendiger war es, daß die «Gleichheit» jede Unklarheit und Möglichkeit zum Mißverstandenwerden vermied. Deshalb lehnte ich nun Anderungen grundsätzlich ab und ließ die von der Zensur gestrichenen Stellen leer und weiß. Ich hoffe, daß die meisten Genossinnen aus dem gesamten Gedankeninhalt eines Artikels und seiner Logik das Fehlende ergänzen und den gestörten Zusammenhang finden. Außerde m reden die weißen Stellen ihre eigene Sprache. Sie sind nicht wegzudeutelnde Illustrationen, wie der berühmte «Burgfrieden» in der Praxis aussieht, daß er nichts anderes ist als eine Entwaffnung des Proletariats im Kampfe für seine Interessen und Ideale. Mit Nr. 5 trieben es die Behörden besonders toll. Das ganze Hauptblatt wurde vom Generalkommando auf Antrag der Zensur verboten, deren Ansicht war, «es müsse einmal ein Exempel statuiert werden». Die Zensur beanstandete nicht bloß einzelne Stellen, sondern fast alle Artikel, darunter recht harmlose, wie einen über die Fürsorge für die Familien der Kriegsteilnehmer durch die Gemeinden in der Praxis. Die Zensurbehörde wollte erst auf eigene Verantwortlichkeit hin erlauben, aus dem Rest des Inhalts ein neues Blatt zusammenzustellen. Die Zusammenstellung erfolgte. An die Spitze sollte eine Notiz kommen, die den Leserinnen pflichtgemäß mitteilte, daß das Blatt statt 8 nur 4 Seiten habe, weil das Generalkommando unter Androhung der Beschlagnahme die und die Artikel - erfolgte Angabe der Titel - und die Notizen «Für den Frieden» verboten habe. Offenbar erregte auch diese trockene Mitteilung die Galle der Zensurbehörde. Sie erklärte nun, der Beschluß des Generalkommandos müsse vollständig durchgeführt, das ganze Hauptblatt müsse verboten werden. Unter den besonders beanstandeten Beiträgen befand sich nicht nur der «Aufruf», sondern auch die «Botschaft der englischen Genossinnen», obgleich diese schon in einem großen Teil der sozialdemokratischen Tagesblätter erschienen war und obgleich die Wiener «Arbeiterinnen-Zeitung» sie ebenfalls veröffentlichen durfte. Und damit komme ich nun zum Kapitel unserer internationalen Beziehungen und unseres gemeinsamen internationalen Wirkens.
Liebe Genossin Ankersmit, als der Krieg ausbrach, aller Verkehr mit dem Ausland gesperrt war und alle Verbindungsfäden zwischen den Genossinnen der einzelnen Länder zerrissen schienen, sagte ich mir sofort: Nun erst recht! Es war mir klar, daß ich als Internationale Sekretärin sobald als möglich danach trachten mußte, die Verbindungen wiederherzustellen, die Genossinnen zu sammeln und für eine gemeinsame Aufgabe wieder in Reih und Glied zu stellen. Ich war weiter nicht im Zweifel darüber, daß es zunächst nur eine solche gemeinsame Aufgabe geben könne: die Arbeit, den Kampf für den Frieden, und zwar einen Frieden, wie er den sozialistischen Grundsätzen entspricht und für den wir Sozialistinnen in allen Ländern mit Ausnutzung aller uns verfügbaren Mittel wirken müßten. Meiner Ansicht nach ist es das stolze Vorrecht und die Ehrenpflicht der Sozialistischen Fraueninternationale, jetzt, in dem Kampf für den Frieden, den Frauen aller Klassen und Länder weckend und führend voranzugehen. Ich bin auch überzeugt, daß wir in allen Ländern nicht bloß einen beträchtlichen Teil Frauenrechtlerinnen mit fortreißen würden, vielmehr Frauen überhaupt, soweit sie nicht vom imperialistischen Gift blind und taub für ihre Interessen und Pflichten als Persönlichkeiten und Mütter geworden sind. ... Wir können über mancherlei korrespondieren, indem wir von der Internationale als der großen Familie reden, von den Parteien der einzelnen Länder als den «näheren Verwandten», von Zusammenkünften etc. als von Konzerten, Hochzeiten etc. Wir werden schon herausfinden, worauf es ankommt. Sehr gut wäre es ja, wenn Sie jemand ganz Zuverlässigen nahe der deutschen Grenze ausfindig machten, der wichtige Briefe für mich auf deutschem Boden einwerfen könnte, so daß sie verschlossen expediert würden. Für diesen Fall müßten Sie folgende Adresse benutzen: Fräulein Marie Plettner, bei Fink, Altenbergstraße 1 in Stuttgart. Der Brief für mich müßte besonders kuvertiert sein mit der Aufschrift: Für Clara.
Der längste Brief hat einmal ein Ende, somit auch dieser Bandwurm. Ich glaubte aber, Ihnen und den Genossinnen eine offene, ungeschminkte Darstellung der Situation schuldig zu sein ...
Soeben lesen wir die telegraphische Bestätigung, daß unsere Fraktion die zweiten 5 Milliarden für den Krieg bewilligt hat. Sie hat die letzte Möglichkeit zurückgewiesen, sich auf den Sozialismus zu besinnen. Das Votum vom 2. Dezember ist schlimmer, verhängnisvoller als das vom 4. August. Denn inzwischen haben die Ereignisse jeden Schein zerstört, der eine Sache des Vaterlandes vortäuschen konnte. Nur wer blind sein will, sieht nicht, daß es sich um den Imperialismus und nicht ums Vaterland handelt. Ich hoffe, daß Sie es verstehen, warum in diesem endlosen Brief nur der Kopf in trockener Sachlichkeit gesprochen hat. Wollte ich das Herz reden lassen, ich fände kein Ende, und all das Leiden, die Enttäuschung, die Bitterkeit und Verzweiflung der letzten Monate käme aus dem Grunde herauf undalles, was dort jetzt mühsam gebändigt und noch nicht verschmerzt liegt, gebändigt durch den Willen, die Pflicht zu tun bis zuletzt. Als der Zusammenbruch kam, meinte ich, wahnsinnig werden oder mich töten zu müssen. Ich war einen Monat lang schwer krank, und noch jetzt geht es mir nicht gut. Mein ältester Sohn steht als Arzt in Belgien - das durch einen schändlichen Bruch des Völkerrechts allen Greueln des Kriegs überantwortet wurde - vielleicht ist er jetzt in Rußland? Ich bin fast ohne Nachricht von ihm. Wie oft die Kunde, daß einer unserer Treuesten, Einfachen gefallen ist. Doch was will das alles besagen angesichts der großen geschichtlichen Stunde, dem Zusammenbruch der Internationale! Der Rest ist Schweigen. Ihre Briefe sind Lichtblicke. Ich verstehe die Gefühle der holländischen Genossinnen und teile sie. Tun Sie, was Sie können. Ich nehme Ihre treue Hilfe für alles dankbar an und weiß mich fester als je mit Ihnen und allen verbunden. Ihnen, liebe Freundin Ankersmit, Euch allen, Ihr lieben Genossinnen, drücke ich im Geiste herzlich die Hand.
Clara Zetkin

An Karl Liebknecht

12. Dezember 1914

Geehrter, lieber Genosse Liebknecht! Wie oft habe ich Ihnen schon im Geist dankbar und erfreut die Hand gedrückt für Ihr mutiges Auftreten, wie oft geschrieben. Aber Sie wissen ja, wie es unsereinem geht. Die besten persönlichen Absichten bleiben unausgeführt und die schönsten Gefühle unausgesprochen, weil der Tag mit seinen hunderterlei Anforderungen dazwischentritt, erst recht in der Situation, wie wir sie hier haben. Schließlich sagte ich mir auch, es gäbe etwas Wichtigeres und Notwendigeres, als Ihnen in der Verschwiegenheit eines Briefs zu versichern, was Sie doch von Anfang an gewußt haben: meine große Freude darüber, daß Sie als würdiger Sohn Ihres Vaters gehandelt haben, des unvergeßlichen «Soldaten der Revolution». Ich wollte in der «Gleichheit» offen aussprechen, was sogar unter der jetzigen Situation meines Dafürhaltens ausgesprochen werden konnte, aber die Behörden haben mir wieder einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das Generalkommando hat die ganze «Politische Rundschau» verboten, sogar den Titel. Ich schicke Ihnen hier die letzte Korrektur, wie sie der Zensur vorgelegt worden ist. Sie sehen daraus, wie hier die Zensur gehandhabt wird. Gerade weil mir daran gelegen war, zur Sache wenigstens etwas von dem sagen zu können, was gesagt werden mußte, war ich in der Form so «gemäßigt» gewesen, daß ich darauf rechnete, die «Politische Rundschau» würde durchgehen. Was darin steht, hat in einigen wenigen Tagesblättern der Partei gestanden: die Kritik an dem schwächlichen Charakter der Erklärung über Belgien in der «Bremer BürgerZeitung», dann die Anerkennung Ihres Mutes im Gothaer «Volksblatt». Zweifel an der Berechtigung der Zustimmung unserer Fraktion an den Krediten in anderen Parteiblättern; aber hier in Stuttgart ist für die «Gleichheit» alles verboten. Letzten Endes trifft die Schuld daran gar nicht die Behörden, sondern unsere Partei. Die Handhabung der Pressezensur bleibt ein Monument von ihrer Schande. Die Situation hätte sich gar nicht so entwickeln können, wenn die Sozialdemokratie von Anfang an den Kampf dagegen aufgenommen hätte. Zumal wäre es jetzt die elementarste Pflicht gewesen, im Reichstag darüber zu reden. Aber es kommt noch ein anderes dazu. Die überpatriotische Haltung von reichlich 9/10 unserer Partei- und Gewerkschaftspresse ist ein starker Anreiz für die Behörden, von dem opponierenden Teil die gleiche hundedemütige Gesinnungstüchtigkeit zu fordern. Das um so mehr, als sie wissen, daß die opponierenden Blätter von den führenden Instanzen nicht gedeckt, sondern mindestens im stillen gemißbilligt werden. Hier in Stuttgart gar hat der Schurkenstreich des Landesvorstandes Tür und Tor für alle Unterdrückungsmaßregeln der Behörden geöffnet. Doch, es lohnt nicht der Mühe, darüber zu sprechen. Ich muß Sie natürlich bitten, die beiliegende Nummer der «Gleichheit» mit der «Politischen Rundschau» nicht weiterzugeben, sondern für sich zu behalten, als Zeichen meiner persönlichen Freundschaft. So gleichgültig, wie mir persönlich alle Folgen sind, muß ich alles vermeiden, was als Vorwand für Maßregeln gegen den Verlag bei gutem oder schlechtem Willen ausgelegt werden könnte. Zum Vergleich die Nummer, wie sie mit dem «Segen» der Behörde erscheint.
Mit herzlichen Grüßen für Sie und Ihre liebe Frau auch von den Meinigen Ihre Clara Zetkin

An Heleen Ankersmit

Karlsruhe, Amtsgefängnis II, den 7. September 1915

Meine liebe Freundin Heleen, verzeihen Sie, daß ich Ihnen erst heute schreibe. Mein Schweigen ist ein Widerspruch zu meinem Gefühl. Ich habe kaum an eine Freundin so viel und so innig gedacht wie gerade an Sie. Sie sind mir ja nicht bloß Ideen- und Arbeitsgenossin, sondern mir persönlich so nahestehend wie wenige. Trotzdem verschob ich den Brief an Sie von Tag zu Tag. Es ist eben so: Was ich Ihnen schreiben möchte und müßte, das kann ich jetzt nicht schreiben. So bleibt nur das Persönliche. Und, liebe Heleen, Sie werden es verstehen und mir nachempfinden: Es widerstrebt mir, immer und immer wieder von mir zu sprechen. Ich habe es mehr als genug tun müssen und muß es noch tun, um den Meinen die Sorge von der Seele zu nehmen, um Freunde zu beruhigen, die leider zu viel zur Sache meiner Person und meiner Gesundheit machen, was eine politische Angelegenheit ist. Ach, die Lieben! Ist es nicht genug, daß ich mich hier in der Zelle den ganzen Tag nur mit mir selbst beschäftigen kann? Die modernen Gefängnisse sind so hygienisch eingerichtet, daß kein Vogel ans Fenster kommen, kein Spinnlein im Winkel ein Netz spinnen kann. Und alles, was ich lese, studiere, dient doch zunächst nur mir zur Freude und zum Gewinn. Ob ich je damit anderen nützen kann, wie ich möchte? Das ist eine Frage, die, heute verscheucht, morgen wiederkehrt.
Liebe Heleen: ich weiß, daß Sie, daß Ihr alle in Treue zu mir steht. Was Ihr für mich tun könnt, wißt Ihr und tut Ihr: in einem Sinne mit mir weiterarbeiten, unbeirrt und unverzagt dadurch, daß eine Kugel mich zeitweilig aus Reih und Glied gerissen hat. Ich brauche nicht zu versichern, daß ich trotz alledem und alledem die alte bin und bleibe. Ich glaube, mein Euch gegebenes Wort redlich gehalten zu haben. Die Folgen trage ich mit ruhiger Gelassenheit, ja mit Seelenheiterkeit. Ich bin dieser Sache wegen weder unglücklich noch Märtyrerin, ich nehme sie als selbstverständlich hin, weil ich gehandelt habe, wie «die Stimme im Inneren» mir befahl. Wenn ich etwas bereue, so ist es mit Conrad Ferdinand Meyers «Hutten» nur dieses:

«Mich reut die Stunde, die nicht Harnisch trug;
Mich reut der Tag, der keine Wunde schlug;
Mich reut, ich sag' es mit zerknirschtem Sinn,
Daß ich nicht dreifach kühn gewesen bin.»

Wie es um meine Sache steht, wann und wie sie weitergehen wird, das ist dunkel, wie die Wege der Vorsehung. Ich bin auf allerlei gefaßt, und nichts kann mich schrecken. Ich bin mir klar über das, was ich meiner Überzeugung und Euch allen schuldig bin. Natürlich sind alle meine Leiden mit mir gegangen, aber meine Gesundheit ist nicht schlechter als die letzten Wochen daheim. Ich werde gut, ja ritterlich behandelt, man ersinnt alle möglichen Rücksichten auf meine Gesundheit, Rücksichten, die natürlich ihre Schranken haben. Ich tue, was ich kann, um Kraft zu sparen und zu sammeln, mit der Losung: Später erst recht. Ich habe Selbstbeschäftigung und Selbstbeköstigung, lese und studiere viel, in der Hauptsache Literatur und Philosophie. Über die kleinen Widerwärtigkeiten der Lage hilft mir mein Humor hinweg, über die großen Schmerzen meine Weltanschauung. Sie wäre weniger als eine klingende Schelle, hätte sie nicht diese Kraft. Ich hätte einen Wunsch, jawohl, liebe Freundin, mit Bezug auf Euch. Der wäre, noch einmal mit Euch wieder zusammen zu sein, wie in den unvergeßlichen Tagen, da Sie mich so liebevoll «bemutterten», mit Euch, die Ihr Euch bemüht, Eure Überzeugung zu leben. Aber dieser Wunsch ist wohl ein Traum für lange, lange. Haben Sie meinen Brief über die Wünsche der Freundin Adelheid [Popp erhalten? Sie kommen hinterher zu spät und scheinen mir unerfüllbar. Wir können doch nicht hinter das zurückgehen, was wir bereits einig beschlossen haben. Grüßen Sie, liebe Heleen, Mathilde und alle Freundinnen und Freunde, die ganze Familie Wegrief einbegriffen. Was machen die Kinderchen? Lassen Sie von sich hören! Ich drücke Ihnen herzlich die Hände Ihre
Clara Zetkin-Zundel

An Mathilde Jacob

Wilhelmshöhe, den 20. November 1916

Liebes, gutes Fräulein Jacob, soeben, Montag vormittag, kam Ihr Brief aus W[ronke] in meine Hände. Verschiedene Anzeichen lassen darauf schließen, daß er bespitzelt worden ist. Daher das späte Eintreffen. Damit Sie noch Antwort nach W[ronke] erhielten, sandte ich Ihnen ein Telegramm als dringend. Möchte es Sie noch erreicht haben. Auch Ihren ersten Brief habe ich erhalten. Ich wollte Ihnen täglich schreiben, und täglich kam es nicht dazu. Erstens hemmte mich der Umstand, daß ich nicht weiß, ob ich Ihnen direkt oder auf Umwegen schreiben soll, damit meine Briefe sicher an Sie gelangen. Bei meinem Zustand regt es mich auf, wenn ich Briefe von mir unterwegs weiß, aber keine annähernde Sicherheit habe, daß sie ankommen, und dann vergeblich auf Antwort warte. Dann wird mir der Gedanke an die Bespitzelung der Briefe immer unerträglicher. Ich schreibe ja nichts, was ich nicht auch auf offenem Markte sagen könnte. Aber die Empfindung erregt mich peinlichst, quälend, daß schmutzige Spitzelseelen begucken und betasten, was ich hinschreibe. Ich glaube, nach allem, was Sie schon erlebt, verstehen Sie mein Gefühl. Ihre beiden letzten Briefe haben mir wirklich ein Stück Leben wiedergegeben. Ich war in tödlicher Unruhe und Sorge um R [osa Luxemburg] und wußte dabei nicht, an wen ich mich wenden sollte, um die Wahrheit zu erfahren. Meine Karten, Briefe an R[osa] selbst blieben ohne Antwort. Was ich über R [osa]s Befinden und ihren «Fall» aus 2. und 3. Hand zu wissen bekam, war nichtssagend, allgemein. Dann las ich Dittmanns Rede und schloß daraus, was ich schon geahnt, daß die Freunde mir in guter Absicht vieles verschwiegen, anderes geradezu aus Grau in Rosa umgefärbt hatten. Ich war außer mir vor Schmerz und ohnmächtiger Wut. Dabei mußte ich die äußerste Selbstbeherrschung üben. Vor meinem Mann, um ihn nicht durch größere Sorge um mich aufzuregen, denn er weiß, wie alles mich berührt und trifft, was R [osa] angeht, und er hat meinetwegen so viel durchgemacht und ist durch maßlose Anstrengungen im Dienst des Roten Kreuzes so kränklich, daß ich bedacht sein muß, ihm weitere Unruhe zu ersparen. Selbstbeherrschung üben hieß es auch brieflich an meinen Sohn C[ostja]. Er ist eine Persönlichkeit eigener Art, steht seit Wochen wieder an der Front, und ich lebe stetig in Angst und Sorge um ihn. Wie die Dinge liegen, mußte ich bestrebt sein, ihn zu beruhigen. Er durfte nie von meiner Verzweiflung um R[osa zwischen den Zeilen lesen. Ich bin überglücklich, daß ich ihm heute Ihre Mitteilungen weitergeben kann, die ja verhältnismäßig gut sind. Liebes Fäulein Jacob, wie gut sind Sie! Sie sind R [osa]s Vorsehung. Ich weiß nicht, wie wir alle Ihnen je danken sollen. Doch ich darf mich nicht an Gefühle verlieren, sondern muß das nächstliegende Praktische erledigen. Also das Wichtigste: Die nötigen Mittel für R[osas] Unterhalt müssen selbstverständlich beschafft werden. An Freund Hans [Diefenbach] habe ich geschrieben. Sie können auf seinen Beitrag sicher bauen. Die Verbindung mit ihm ist schlecht und unsicher. Deshalb dauert es lange, ehe man Antwort erhält. Allein, wie ich den Mann kenne und einschätze, können Sie sicher auf ihn rechnen. Sollten Sie nicht auskommen mit dem, was Ihnen zugeht, so ist es selbstverständlich, daß wir eintreten, so weit nur unsere Kraft reicht. Davon darf aber R[osa] nichts wissen, denn sie weiß, daß wir in keiner guten materiellen Haut stecken. Sie wissen ja, wie zartfühlend und stolz sie ist. Nebenbei: R [osa] hat noch vom Verlag der «Gleichheit» das Honorar für die Übersetzung eines Kapitels aus «Die Götter dürsten» zu bekommen. Soll ich es an Ihre Adresse senden lassen ? Wegen des Drahtzaunes will ich mit meinem Mann reden. Vielleicht kennt er eine Firma, die Angebote für die Gefängnisverwaltung machen kann. Staren- oder Meisenkästen schicken wir R[osa], ebenso Vogelfutter. Wo die Kästen am besten befestigt werden, weiß ich nicht. Ich habe sofort an einen Sachverständigen geschrieben, der mir ein gutes Buch über die einschlägigen Fragen namhaft machen soll. Das werde ich R [osa] schicken. Blumen werde ich ihr wöchentlich senden oder wenigstens «Grünes» aus unserem Garten. Gern wüßte ich, ob ich ihr schreiben, Zeitungen schicken darf. Und unter welcher Adresse? Auch mein Sohn möchte diese gern wissen. Liebes Fräulein Jacob, wie glücklich sind Sie, daß Sie R[osa] sehen durften. Hoffentlich bleibt R[osa] zunächst in W[ronke]. Ich drücke Ihnen in treuer Dankbarkeit die Hand Ihre Clara Z
Sie fragten nach meiner Gesundheit: Ich kann gut gehen, das ist alles. Seit der Winter naht, befinde ich mich schlechter. Die Finger sind wieder schlimm, ich leide unter Kälte geradezu entsetzlich und bin recht schwach und widerstandsunfähig. Ich konnte nicht einmal bis München zur Einäscherung meiner Freundin Hope fahren. Wissen Sie, wie es Mimis Vormund [Jogiches] geht? Ich würde ihm gern schreiben. Was macht Miau?

An W. I. Lenin

Wilhelmshöhe, Post Degerloch bei Stuttgart, 27. Juni 1918

Geehrter Genosse Lenin, hiermit empfehle ich Ihnen ebenso herzlich als dringend eine junge Genossin, Fräulein Hertha Gordon. Ihr Vater, der in Rußland geboren ist, bekleidet seit fast 40 Jahren einen Posten in der kgl. preuß. Bernsteinindustrie zu Königsberg und hat verabsäumt, sich naturalisieren zu lassen. So kam es, daß Genossin Gordon, die in Königsberg geboren ist, nie in Rußland war, kein Wort Russisch kennt, als Russin interniert und nun nach Moskau überführt wurde. Frl. Gordon war jahrelang Korrespondentin und Buchhalterin in großen Industriebetrieben, kennt Deutsch, Englisch und Französisch und ist eine treffliche Stenografin und Maschinenschreiberin. Sie ist ein treuer, zuverlässiger Charakter, eine überzeugte Sozialistin und hat als solche die «Feuertaufe» erhalten. Ich vermute, daß es in
Rußland irgendwelche Beschäftigung für sie geben wird. Ich weiß, geehrter Genosse Lenin, daß Sie und Ihre nächsten Freunde jetzt für größere Dinge zu sorgen haben als für ein einzelnes kleines Menschenschicksal. Aber ich weiß auch, daß Euch allen dabei nichts Menschliches fremd geworden ist, und so bin ich überzeugt, daß Sie in Ihren Kreisen jemand finden werden, der sich Hertha Gordons annimmt. Was ich Ihnen schreiben möchte, muß zur Zeit unausgesprochen bleiben. Aber Sie dürfen überzeugt sein, daß ich die alte geblieben bin und mit Kopf und Herz ganz mit Ihnen bin und einen dicken Trennungsstrich zwischen [mir und] den Kritiken von der Art Kautsky und tutti quanti gezogen habe.
Ich grüße Sie, Ihre Frau und alle herzlich Ihre
Clara Zetkin

An W. I. Lenin

Wilhelmshöhe, 29. August 1918

Sehr geehrter Genosse Lenin! Der Überbringer dieser Zeilen, Genosse Moskowitsch, hat das Glück, Russe zu sein und mithin für den Sozialismus in Rußland kämpfen zu können, dem Land, das dank der kühnen Erhebung der Bolschewiki dem internationalen Proletariat wegweisend, führend vorangeht. Könnte ich mit dem Genossen tauschen! Genosse Moskowitsch, Emigrant, hat die Erlaubnis zur Reise nach Rußland erhalten. Er wünscht leidenschaftlich, dort für den Sozialismus zu arbeiten, zu kämpfen. Er ist als Schreiner und als Kaufmann durch die Schule der deutschen Industrie gegangen und hofft, durch seine praktische Arbeit dem Sozialismus nützen zu können. Er stellt sich der Räteregierung ganz zur Verfügung und meint, daß er vielleicht als Handwerker auf dem Lande dieser mit Nutzen zu dienen vermag oder auf sonst einem Arbeitsfeld, wo man einen praktisch erfahrenen, der Sache ganz ergebenen Mann brauchen kann. Ich bin überzeugt, daß Genosse Moskowitsch Ihr Vertrauen rechtfertigen wird. Mit leidenschaftlichem Interesse, mit angehaltenem Atem verfolge ich die Nachrichten aus Rußland. Dort geht es um der Menschheit große Dinge, dort ist das Leben wert, gelebt zu werden. Möchtet Ihr Kommunisten so siegreich sein, wie Ihr kühn und opferfreudig seid, möchten die Proletarier aller Länder endlich Eurer, endlich der russischen Proletarier und Massen würdig werden!
Ich grüße Sie und alle unsere Freunde aufs herzlichste in aufrichtiger Hochschätzung und Sympathie Ihre Clara Zetkin

An Rosa Luxemburg

Wilhelmshöhe, Post Degerloch bei Stuttgart, den 13. Januar 1919

Meine liebste, meine einzige Rosa, wird dieser Brief, wird meine Liebe Dich je noch erreichen? Darf meine Liebe Dich noch erreichen, bin ich es wert, daß sie Dich erreicht? Ich schreibe trotzdem, wie ein Verzweifelter, ein Sterbender, der sich Luft machen muß, auch wenn er weiß, daß er verloren ist. Ach Rosa, welche Tage! Vor meinem Geist steht die geschichtliche Größe und Bedeutung Deines Handelns. Aber das Wissen darum vermag die Stimme meines Herzens nicht zu übertäuben. Nicht zu übertäuben meine qualvollen Sorgen und Ängste um Dich, nicht zu übertäuben das Gefühl des Schmerzes, der Schmach, daß ich nicht bei Dir bin, Deinen Kampf nicht teile, Dein Los und vielleicht Deinen Tod. Daß ich nicht meiner Empfindung gefolgt und schon Anfang Dezember zu Dir geeilt bin, statt auf allerhand Vernunftgründe zu hören, die dafür sprachen, daß ich hier aushalten müsse! Ich muß es nun büßen. Doch das ist das Wenigste. Aber Du, was ist mit Dir! Was wird mit Dir sein? Das ist die Frage, die mich Tag und Nacht bewegt und von der mich das Kleine nicht ablenkt, das ich hier tue und tun kann, um in Deinem Geiste zu wirken. Zu der eigenen Qual die Qual C[ostja]s. Er ist dem Wahnsinn nahe, kämpft aber mannhaft, um aufrecht und stolz zu scheinen. Der einzige Lichtblick ist, daß wir uns in unserem Schmerz verstehen. C[ostja] wollte ja gleich zu Dir, ist aber dann aus Sorge und Liebe für mich geblieben, als ich zwischen Tod und Leben lag. Nun zermartert er sich. Gestern brachten die Zeitungen die Nachricht, die Regierungsbanditen hätten Dich gefangengenommen.
Da brach ich zusammen. Abends kam ein Widerruf der Nachricht. Ich atmete auf, klammerte mich an Hoffnungsstrohhälmchen. Meine liebste, meine einzige Rosa, ich weiß, Du wirst stolz und glücklich sterben. Ich weiß, Du hast Dir nie einen besseren Tod gewünscht, als kämpfend für die Revolution zu fallen. Aber wir? Können wir Dich entbehren? Können wir ohne Dich leben? Ich kann nicht denken, ich empfinde nur. Ich drücke Dich fest, fest an mein Herz. Immer
Deine Clara
Gruß allen Glücklichen, die mit Dir sind, zumal Fräulein Mathilde [Jacob]. Ich will diesen Brief abschreiben und noch an eine andere Adresse schicken.

An Mathilde Jacob

Wilhelmshöhe, den 18. Januar 1919

Liebes, liebes Fräulein Mathilde, teure Freundin, gestern früh kam die entsetzliche Kunde. Am Nachmittag vorher brachten die Zeitungen die Nachricht von Karls [Liebknecht] und Rosas [Luxemburg] Verhaftung. Mit ahnte Schlimmes, und ich telegraphierte sofort an Haase und Frau Zietz, daß alles zum Schutz für die beiden aufgeboten werden müsse. Schrieb auch einen Eilbrief in diesem Sinne an Eisner, damit er seinen amtlichen Einfluß geltend mache. Ich war fest entschlossen, trotz Krankheit, Verkehrsschwierigkeiten und Rosas Abmachungen nach Berlin zu reisen, um dort Himmel und Hölle zum Schutz der beiden Teuren, Unersetzlichen in Bewegung zu setzen. Da kamen gestern die Morgenblätter. Alles aus! Ach meine teure Mathilde, Sie müssen verstehen, wie es seither in mir aussieht. Denn wenn Sie auch nicht mit im politischen Kampf standen, so haben Sie die beiden persönlich, menschlich besser gekannt und verstanden wie sehr viele politische Kämpfer. Sie wissen, was mit ihnen gemacht worden ist. Und so komme ich mit meiner Verzweiflung zu Ihnen. Lebe ich überhaupt noch und kann ich nach diesem Furchtbarsten noch leben? Ich möchte Blut weinen, einen Schrei ausstoßen, der die ganze Welt erschüttern, umstürzen müßte, mir den Schädel an der Wand zerschmettern, um nicht zu denken, an das Eine, Entsetzliche zu denken: Sie sind tot, gemeuchelt, gemeuchelt unter den grausigsten Umständen. Ich begreife es nicht, daß das Leben ohne Karl und Rosa seinen Gang weitergehen kann, daß draußen die Sonne scheint. Mir dünkt es, daß sie ihren Glanz verloren hat und daß die Zeit stille steht, daß sie nicht über das Schreckliche hinaus vorwärts will. Ach Mathilde, Mathilde, was haben wir verloren! Ich wäre sicher der Verzweiflung erlegen, wenn nicht die ebenso tiefe Verzweiflung meines jüngsten Sohnes mich zur Selbstbeherrschung gezwungen hätte. Er stand Rosa besonders freundschaftlich nahe, und sie hat ihn mir bei jeder Katastrophe seines Lebens stets auf die Seele gebunden. Ich mußte das Schlimmste für ihn fürchten. Wir versuchen einander aufzurichten und zu halten. Maxim und der Dichter verstehen uns und sind selbst aufs tiefste getroffen, sie haben Rosa geschätzt und geliebt. Ihre Teilnahme tut uns wohl, aber unsere Verzweiflung kann sie nicht mildern. Um Rosas willen, für sie wollen wir versuchen, das Leben ohne sie zu tragen. Aber ob uns das möglich sein wird, ob es nicht über unsere Kraft geht, das stehet dahin. Und unsere eigene Verzweiflung läßt uns an den Schmerz der anderen Freunde denken. Was müssen Sie, liebste Mathilde, empfinden, was der arme, eingesperrte Leo Jogiches und Paul [Levi], was die unglückselige Sonja [Liebknecht], für die Karl der Lebensinhalt war, was die Einfachen, Schlichten, die die letzte Zeit mit den beiden zusammen gearbeitet und zusammen gekämpft haben! Wir gehören in unserer Seelennot zusammen. Mathilde, Mathilde, werden wir es tragen können, ohne die beiden, ohne Rosa zu leben? Der Versuch, es zu tun, hat für mich nur einen Sinn, dem Leben diesen Inhalt zu geben: im Geist der beiden unter den Massen und mit den Massen zu arbeiten und kämpfen, darüber zu wachen, dafür zu sorgen, daß der Geist der Gemeuchelten führend bleibt. Das ist Rosas Testament für mich. Dazu gehört auch, daß Rosas Arbeiten gesammelt und herausgebracht werden. Sie sind eine kostbare, lebendige Hinterlassenschaft, die den Massen gehört, sie werden, zusammen mit der künftigen Entwicklung der revolutionären Bewegung das Denkmal sein, dauerhafter als Erz, das Rosa gebührt. Ich will meine ganze Kraft daran setzen, daß Rosa und Karl dieses ihrer allein würdige Monument in, der sozialistischen Literatur und in der Geschichte erhalten. Liebste Freundin, es ist Ihre Aufgabe, darüber zu wachen, daß nicht ein Zettel, nicht eine Zeile von Rosas Manuskripten verschleppt und verstreut wird, nicht eine ihrer älteren bereits gedruckten Arbeiten, Artikel, Broschüren etc. abhanden kommen. Sie müssen mit Argusaugen darüber wachen, daß unter dem. Vorwand gerichtlicher Feststellungen, Haussuchungen etc. nichts, auch gar nichts von Rosas geistiger und politischer Hinterlassenschaft entwendet werden kann. Sie brauchen zu dem allen einen Rechtsanwalt. Hoffentlich wird es Ihnen nicht an einem solchen fehlen, der das richtige Verständnis und die erforderliche Schneidigkeit besitzt. Rosas geistiges Erbe muß verteidigt werden, es gehört dem revolutionären Proletariat. Auch Unberufene, wie Kautsky und Co., dürfen nicht die Hand darauf legen. Es wäre Leichenschändung. Daß Leo nicht frei ist! Wir müssen auch alle älteren Arbeiten von Rosa sammeln. Ich fürchte, Rosa hat es gemacht wie ich: Es genügte ihr, daß sie ihre Gedanken in die Bewegung geworfen hatte, verschwenderisch ausbreitend, sie hat ihre Arbeiten aber nicht gesammelt. Wir müssen ihnen daher in Zeitungen und Zeitschriften nachgehen. Besonders kommt auch in Betracht, was sie in den letzten Jahren und Wochen geschrieben. Die «Rote Fahne» wird für diese Revolution sein, was die «Neue Rheinische Zeitung» für die Revolution von 1848 gewesen: die führende Stimme des Sozialismus. In ihr hat das Herz der Revolution geschlagen. Der Meuchelmord an Karl und Rosa sieht ganz wie bestellte Arbeit aus. Die Massenmörder in der Regierung fürchteten die Unannehmlichkeiten und die aufrüttelnde Wirkung eines Prozesses gegen sie, fürchteten den unerbittlichen Kampf der beiden, der vorübergehend gehindert, aber nie gebrochen werden konnte. Man wollte der Revolution den tapferen, kämpfenden Arm, das leuchtende, leitende Hirn, das leidenschaftlich glühende Herz rauben. Karl und Rosa wurden gemeuchelt. Nun, sie werden nicht, nur für uns leben, sie werden, sie müssen für die Massen lebendig bleiben, denen sie Leib und Seele gegeben, geopfert haben. Können Herzen wie die ihren stillestehen, Geister wie die ihren aufhören zu leuchten, schöpferisch zu sein? Sobald es nur geht, komme ich nach Berlin, um persönlich über allerlei zu sprechen, was sich brieflich kaum erledigen läßt. Sagen Sie den Freunden, daß ich mehr als je zu ihnen stehe, daß wir die Zähne zusammenbeißen und «durchhalten» müssen. Das ist die Mahnung der Toten an die Lebenden. Wenn es Ihnen möglich wäre, mir etwas Nachricht zu geben, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Aber eingeschrieben. Ihren letzten Brief erhielt ich mit der gleichen Post, die mir 8 Seiten von Rosa brachte, geschrieben am 2. im Feuer, in der Gefahr des Kampfes. Ein so lieber Brief, ganz Rosa. Mathilde - ich darf nicht denken, der Wahnsinn faßt mich an. Rosa, Rosa, einzige Rosa, Du bist nicht mehr, und ich soll weiterleben. Liebe gute Freundin, verzeihen Sie, daß ich mich nicht mehr in der Hand habe. Es geht über meine Kraft. Grüßen Sie alle, die eines Schmerzes mit uns sind. Ich küsse Sie in herzlicher Freundschaft Ihre
Clara Z

An Mathilde Jacob

den 24. März 1919

Meine liebe, treue Freundin, es ist nicht Herzlosigkeit, daß ich erst heute antworte. Die nackte Unmöglichkeit. Ich habe all diese Tage bis zur Erschöpfung gearbeitet. Eine Flugschrift für unsere hiesigen Leute. Lange Leitsätze zur Sozialisierung. Das Frauentagsblatt, das ich zum größten Teil allein schreiben mußte, da die Zeit zu kurz war, Mitarbeiterinnen heranzuholen. Viel Vorträge, darunter auswärts, mit Bahnfahrten, die Zeit verschlingen und mich kaputt machen. Dazu fast täglich Besprechungen. Ich bin heiser, und die Meinen schütteln jeden Tag mit mehr Besorgnis den Kopf, wenn ich vor ihnen auftauche. Ich schlafe kaum noch, aber die Arbeit, maßlose, betäubende Arbeit, ist das einzige, mich am Leben zu erhalten, vor dem Wahnsinn zu schützen. Arbeit ist für mich Lethe, ist, was Champagner oder Fusel für andere ist. Liebe, liebe Mathilde, wie fühle ich mit Ihnen, wie verstehe ich Sie. Wie bewundere ich Sie in Ihrer Treue und Energie und liebe Sie dafür. Wenn Sie es nicht ehrlich verdienten, könnte ich Sie fast darum beneiden, daß Sie so viel, daß Sie das letzte für L [eo Jogiches tun konnten. Ja, so ist es: Mit L [eo] haben die Verbrecher Rosa [Luxemburg] ein zweites Mal erschlagen. Mit ihm lebte sie uns weiter. Was haben wir verloren. Ich kann mich darüber noch nicht fassen. Als ich Ihre Mitteilungen über das Begräbnis las, verdunkelten Tränen meinen Blick, und schließlich schluchzte ich, daß ich nicht zu Ende lesen konnte. Doch wir müssen weiterleben, Mathilde, Sie und ich, weil wir nun auch für ihn leben und wirken müssen. Wir müssen, um Rosas und seiner würdig zu sein. Ich bin glücklich in diesem furchtbaren Unglück, Sie so mutig und entschlossen zu wissen. Wir stehen zusammen in treuer Freundschaft zum gemeinsamen Werk. Nun zu den einzelnen Dingen. Ich meine, daß Sie zunächst die Wohnung halten sollten, wenn auch nur für ein halbes Jahr vorläufig. Unter anderem auch wegen des Zwecks, den der Künstler im Auge hatte. Ihre Meinung teile ich vollkommen, daß alles in Ehren gehalten werden muß, was zu R [osa gehörte. Ihre eventuellen Dispositionen über die Möbel dünken mir richtig. Costja ist bereit, später zu übernehmen, was Sie selbst nicht behalten wollen, und es sorgsam und liebevoll zu behandeln. Ein Teil kann auch nötigenfalls zu uns kommen. Von den Kunstmappen, Bildern, Büchern behalten Sie selbstverständlich, was Ihnen lieb ist und was Sie erfreut. Geschenke machen Sie aus dem Bücherbestand, wie Sie es vorgesehen. Unter den Büchern - den wissenschaftlichen und belletristischen - sind auch Werke, die Rosa und Costja gemeinsam gehörten. Costja bittet, daß er diese erhält. Er wird wahrscheinlich das nächste Semester in Frankfurt studieren und kann von dort zu Ihnen fahren, um die Bücher durchzusehen. Was das Geld anbelangt, so meine ich, daß L [eo]s Absicht für uns bindend sein soll. Mit dem Bruder kann ich schließlich verhandeln. Der Partei würde ich den Rest jetzt noch nicht überweisen, sondern ihn für sie anlegen. Es können Zeiten kommen, wo es Lebensbrot ist, jetzt ist dem nicht so, und es besteht die Gefahr, daß der Betrag verzettelt und vergeudet wird. Schließlich wissen wir nicht, ob wir ihn nicht dafür verwenden müssen, R[osa]s literarische Hinterlassenschaft gut und würdig herauszugeben. Das ist ein wichtiger Parteizweck. Überhaupt: Die Sorge um R [osa]s literarische Hinterlassenschaft muß uns besonders am Herzen liegen. R [osa] muß in ihren Schriften lebendig bleiben, ihr Geist muß nun erst recht dem internationalen Proletariat führend vorangehen. Sobald der Tageskampf nicht mehr so drängt, alle Kräfte absorbiert, werde ich mich dieser Aufgabe widmen. Über L [eo] würde ich gern schreiben, aber ich kann nur seine überragende Persönlichkeit, sein Werk würdigen. Biographisches weiß ich so gut -wie nichts von ihm. Es ging mir wie Ihnen: Wenn ich mit R[osa und L[eol zusammen war, so gab es so viel Theorie und Praxis des Sozialismus zu erörtern, daß man gar nicht an Persönliches dachte. Ich müßte von Julek [Marchlewski] oder W [ilhelm Pieck] Biographisches erhalten. Natürlich gehören R [osal und L [eo] zusammen. L [eol war nicht bloß R [osals ausführender, organisatorischer Wille, in vielem war auch umgekehrt R[osa L[eo]s ausführende theoretische Erkenntnis. Es war ein gegenseitiges Geben und Empfangen in Theorie und Praxis. L[eo]s theoretisches Erkennen und Wissen, seine große geistige Bedeutung wird von manchen nicht richtig geschätzt. Weil das alles nicht so glänzend wie bei R[osa in Erscheinung trat. Aber es war da und wirkte schöpferisch. In gar manchem war L [eo] der Anreger und Richtunggebende. Ich weiß das von R[osa selbst. Ich soll für den Schweizer Parteikalender einen Artikel über Karl [Liebknecht], Franz [Mehring] und Rosa schreiben, natürlich werde ich ihn auf L[eo] ausdehnen. Nebenbei: Ich habe eine Menge internationaler Arbeit für die Frauen, die von niemand gesehen wird.
Nun zu dem allgemeinen. Es waren seither zwei Freunde aus B[erlin] bei mir, und ich habe ihnen meine Ansicht gesagt. Worauf es ankommt, ist, zu verwirklichen, was die Pointe von Tord Foleson ist: Das Banner kann stehn, wenn der Mann auch fällt. Wir müssen beweisen, daß die Partei lebt, auch wenn der Mann gefallen ist, daß sie lebt und kämpft. Alle Organisations- und Agitationsarbeit muß weitergehen. Vor allem muß das Zentralblatt erscheinen, ganz gleich wo, damit die geistige Verbindung zwischen den Mitgliedern und den einzelnen Organisationen hergestellt wird. Dann ist die Zentrale provisorisch zu ergänzen. Endlich eine Reichskonferenz gut vorzubereiten. Das Frauensekretariat muß seine Arbeit baldmöglichst beginnen. Die Frauentagsversammlungen vom 6. April müssen gut vorbereitet werden. Die Mitgliedschaften sind in Kenntnis davon zu setzen, daß ich ein Frauentagsblatt herausgebe - «Die Kämpferin» - und aufzufordern, es baldigst beim hiesigen Verlag zu bestellen. Flugblätter, Broschüren müssen heraus, als wäre nichts geschehen. Mit der Herausgabe des Frauenblatts beginne ich, sobald es nur technisch möglich ist. Auch das Stuttgarter Organ muß heraus. Es bleibt bei dem Vereinbarten. Der Künstler war hier, ich habe alles mit ihm besprochen. Zweifelhaft ist nur, was besser ist: ein Druckvertrag mit bürgerlichen Verlagen oder eigenes Geschäft. Der Künstler wollte Paula [Paul Levi] besuchen und dann zurückkommen. Ich hatte kurzen Brief von Paula. Sie meint, daß ich zunächst hier bleiben und mich literarisch betätigen soll. Wir werden baldigst zusammentreffen, wo, das ist noch nicht festgesetzt. Ich warte auf Nachricht durch einen Freund. Das Zentralblatt ist ja seither erschienen, unter dem alten Kriegsnamen. Erhalten habe ich es leider noch nicht. Ich glaube, R[osa] und L[eo] wären mit uns zufrieden. Frau Dinters Adresse weiß ich leider noch nicht. Ich sollte 5 000 Mark Jahresgehalt haben, dazu pro Monat 100 Mark für Räume, Beleuchtung, Heizung, Telephon, Telegramme, Porto, Zeitschriften, Bücher etc., kurz den ganzen Redaktions- und Bürobetrieb. Die Redaktionssekretärin 175 Mark im Monat, alle Versicherungsbeiträge, 100 Mark Weihnachtsgeschenk. Für die Provenienz der Beiträge hatte ich freie Hand, ebenso für die ganze Gestaltung des Blattes. L [eo] legte Wert auf ein gutes Feuilleton, wünschte dazu noch eine Illustration. So, Liebste, das wäre wohl für heute das Wichtigste. Ich bin todmüde und todtraurig. Oft beschleicht mich die Frage, warum gerade ich weiterleben soll. Ich bin begierig, wie die Spartakus-Druckerei das Frauentagsblatt herausbringen wird. Es enthält R [osa] s Porträt und die Reproduktion der «Bergarbeiterin» von Meunier, Beiträge aus der Schweiz, Holland, Ungarn etc. Einen Nachruf für R [osa] aus Frankreich. Ich habe mir alle Mühe gegeben, aber nun bin ich voller Zagen, wie die Sache ausfällt. Mit M[athilde] W[urm] habe ich telephoniert. Ich habe ihr natürlich erlaubt, R[osa]s Bild zu bringen. Sie war sehr verwundert, daß ich ein Frauentagsblatt herausgebe. Als ich mit ihr sprach, konnte ich ihr nichts mitteilen, weil nichts entschieden war. Ich bin doch mit L [eo] erst später zusammengewesen. Daß ich zur KP übertrete, habe ich ihr gesagt, doch wollte sie es nicht glauben. Unerfindlich ist es mir, daß sie meinen konnte, ich werde mich aufs «Altenteil» setzen und nicht mehr kämpfen, wenn ich die USP verließe. Es tut mir leid, daß ich ihr Schmerzen mache, aber ich muß handeln, kämpfen. Liebe treue Mathilde, herzlichen Gruß von Costja, von mir seien Sie umarmt und geküßt Ihre Clara
Zum Frauentag am 6. April erscheint ein Frauentagsblatt: Die Kämpferin. Das Blatt ist achtseitig, gut ausgestattet, bringt Artikel führender Sozialistinnen verschiedener Länder, ein Porträt Rosa Luxemburgs und eine Reproduktion von Meuniers Bergarbeiterin. Preis im Einzelverkauf 10 Pf., Organisationen erhalten das Blatt entsprechend billiger. Bestellungen mit genauer Adressenangabe sind baldigst zu senden an den Spartakus-Verlag, Degerloch-Stuttgart.

An W. I. Lenin

Petrograd, den 17. November 1920

Lieber, verehrter Genosse Lenin, nun muß ich Ihnen noch vor meinem Scheiden beschwerlich fallen. Ich befürworte bei Ihnen den Wunsch des Genossen Halle, ihm ein kurzes Interview gewähren zu wollen. Genosse Halle ist von den Genossen Däumig und Stoecker als Vertreter ihrer Presse nach Sowjetrußland geschickt worden. Er ist nicht bloß Korrespondent von Tageszeitungen, sondern schreibt auch an einem g rößeren Werk über Sowjetrußland. Da er Jurist ist, möchte er gern Ihre Meinung über einige Fragen revolutionären Staatsrechtes hören. Das um so mehr, als Ihre Abhandlung über den Staat ihn zum Revolutionär und Kommunisten gemacht hat. Genosse Halle ist gewissenhaft und kenntnisreich, ein zuverlässiger, der Sache ergebener Mann. Ich bin überzeugt, daß diese Nutzen von seiner Arbeit haben wird. Morgen früh dampfe ich nach Reval ab. Hoffentlich komme ich noch zur Zeit zu unserem Parteitag. Ich habe hier noch viel gesehen und gelernt, auch gearbeitet. Mein Vortrag über Erziehungsfragen hat sich zu einer größeren Broschüre ausgewachsen. Vielleicht hat sie einigen Nutzen für Euch. Leider fand sich hier niemand, der das Manuskript abschreiben konnte, so daß ich den Text erst aus Deutschland schicken kann. Wie gern hätte ich über diese Arbeit mit Genossin Lenin gesprochen. Ich bin unsicher, ob ich für Rußland das Richtige getroffen habe. Daß ich die Arbeit fertig schreiben und allen Besichtigungen etc. standhalten konnte, verdanke ich in hohem Maße der aufopfernden Pflege Angelicas, sie hat mich betreut wie eine Mutter und Schwester, und ich mußte es geschehen lassen, weil mein Befinden oft schlecht war. Man wandelt nicht ungestraft unter den Palmen des revolutionären Sowjetrußlands, wenn man weißhaarig ist wie ich.
Doch Schluß! Lieber, lieber, verehrter Freund Lenin, erhalten Sie sich uns, der Revolution! Die Freude über die Niederlage Wrangels wird Ihre Kräfte steigern, das heißt Sowjetrußlands Kräfte. Sie und Sowjetrußland sind ja eins. Der Sieg über Wrangel ist ein Sieg über die Entente und über das weißgardistische Polen. Die Aktien von Sowjetrußlands Auslandspolitik werden wieder auf dem Markt der Bourgeoisie und der Kleingläubigen steigen. Im guten Zeichen dieses Sieges grüße ich Sie, Ihre liebe Frau und die Schwestern aufs herzlichste und umarme Euch in treuer Freundschaft und froher Kampfesgenossenschaft. Ihre
Clara Zetkin