Es ist dies nicht die Stelle, uns auseinanderzusetzen, warum ich nicht Kommunistin bin. Es ist aber die Stelle, um auszusprechen, daß das Geschehnis der letzen 10 Jahre in Rußland mir an Größe und weittragender Bedeutung nur vergleichbar zu sein scheint dem Geschehnis der großen französischen Revolution. Eine alte Welt, unterhöhlt durch vierjähngen Kneg und revolutionäre Minierarbeit, wurde im November 1917 zerschmettert. Eine neue Welt wurde in größten Zügen zusammengehämmert. Gorki schreibt in einem Aufsatz aus der ersten Zeit der Sowjet-Republik von dem Fliegen «Sohlen nach oben». Dieses Fliegen im Sturmwind glaube ich in Rußland zu spüren. Um dieses Fliegen, um die Glut ihres Glaubens habe ich die Kommunisten oft beneidet.
Käthe Kollwitz in der «AIZ» Nr. 20, 1927
«Eigentlich sah sie aus wie eins von den ganz jungen barfüßigen Mädchen aus den Albaner Bergen, die mit dem hohen Kupferkrug auf dem Kopf steil hinansteigen zum laufenden Brunnen und wieder hinunter, ohne einen Tropfen zu verschütten oder die Hand zu erheben, um die Conca [1] zu stützen; immer in der gleichen ruhigen Haltung. Barfüßig? Nein, das war sie nicht, und ihr Kleidersaum war auch nicht ausgefranst, weil die ältere Schwester den Rock schon getragen hatte und vor ihr die Mutter. Das war alles bei ihr in guter Ordnung. Was sie anhatte, war bescheidentlich aus einem ungebleichten Wollfaden gewoben. Es legte sich weich um die kinderhaft dünnen Arme und war vom Hals bis zu den Füßen farblos. Farbig wurde die Sache erst durch ihren Kopf. Zwar die hohe Krönung der Conca trug sie nicht auf dem Scheitel, aber sonst war alles da, was dazu gehörte. Erst einmal das steile Hälschen und das leicht gehobene Kinn, das denen eigentümlich ist, die von Geschlechtern her gewohnt sind, jede Last der Wirbelsäule zuzumuten - dann die sehr dunklen Augen, die nicht auf den Weg vor sich niederschauten, sondern ins Weite, und alles widerspiegelten, was an ihnen vorübergezogen wurde. Dazu kamen die schlicht gescheitelten Haare, die den Kopf schon von ferne als dunkles, glattes Rund hervorhoben. Im Nacken gaben sie ein geflochtenes Knötchen her, aber um die Stirn drängten sich klein und seidig die jungen Härchen vor, unregelmäßig, aber mit verstohlener Anmut...» - So schildert Beate Bonus-Jeep in ihrem Buch «Sechzig Jahre Freundschaft mit Käthe Kollwitz» die achtzehnjähnge Kunststudentin, wie sie ihr im jahre 1885 in Berlin begegnet war.
Diese Schülerin der Zeichenschule des Berliner Künstlennnenvereins, deren Leiter, der Schweizer Maler und Graphiker Stauffer-Bern, zu den Arbeiten, die ihm die Debütantin vorlegte, überrascht äußerte: «Das ist ja Kunger!», kam aus Königsberg, der Hauptstadt des damaligen Ostpreußens. Sie hieß Käthe Schmidt, besaß unverkennbar Talent, und daß sie mit den verbotenen und verfolgten Sozialdemokraten sympathisierte, schien ausgemacht. Schon ihr Großvater Julius Rupp, der Mitbegründer der sich von der protestantischen Landeskirche lossagenden freireligiösen Gemeinden, war ein aktiver Achtundvierziger gewesen. Der Vater, ein Anhänger Rupps, hatte die junstische Karnere an den Nagel gehängt und war Maurer geworden, weil er im reaktionären Preußen nicht Richter sein mochte. Der Bruder Konrad arbeitete in der Redaktion des sozialdemokrAuschen Parteiorgans «Vorwärts», und ihr Verlobter, der Medizinstudent Karl Kollwitz, bekannte sich gleichfalls zu den sozialistischen Idealen. Zolas großer Bergarbeiterroman «Germinal» begeisterte sie damals. Rückblickend schneb sie später: «Ganz gewiß ist meine Arbeit schon ... durch die Einstellung meines Vaters, meines Bruders, durch die ganze Literatur jener Zeit auf den Sozialismus hingewiesen. Das eigentliche Motiv aber, warum ich von jetzt an fast nur das Arbeiterleben wählte, war, weil die aus dieser Sphäre gewählten Motive mir einfach und bedingungslos das gaben, was ich als schön empfand ... »
Nachdem sie sich noch zwei Jahre lang in einer Münchner Malschule ausgebildet hatte, heiratete sie im Frühjahr 1891 den jungen Arzt Dr. Kollwitz und siedelte mit ihm nach Berlin über. Ihr Mann hatte dort in dem Bezirk Schönhauser und Prenzlauer Vorstadt die Möglichkeit gefunden, eine Praxis als Kassenarzt zu eröffnen. Nun erst kam sie mit dem Industneproletanat persönlich in enge Berührung, lernte die «Schwere und Tragik der proletanschen Lebenstiefe» kennen und erfaßte «mit ganzer Schärfe das Schicksal. des Proletanats und aller seiner Nebenerscheinungen», wie sie sagte. In diese Zeit fällt auch das Erlebnis der Uraufführung des Schauspiels «Die Weber» von Gerhart Hauptmann im Theater am Schiffbauerdamm. Sie berichtet:
«Mein Mann war durch Arbeit abgehalten, aber ich war dort, brennend vor Vorfreude und Interesse. Der Eindruck war gewaltig ...»
Sie beschloß, das Thema des Weberaufstands bildkünstlensch zu gestalten. Fünf Jahre später, im jahre 1898, erregte auf der alljährlichen Großen Berliner Kunstausstellung ein graphischer Zyklus über den Aufstand der schlesischen Weber von 1844 Aufsehen. Die sechs Blätter waren von einer bis dahin unbekannten Künstlenn signiert: Käthe Kollwitz. Es war eine entscheidende Leistung, die ihren Ruf als Künstlenn des Proletanats begründete. Aber auch wer das agitatorische Anliegen ihres revolutionären Appells nicht billigte, bewunderte doch die Stärke der Bilderfindungen, das zeichnensche Können und ihre überzeugende Ehrlichkeit. Die Ausstellungsleitung, der auch der alte Menzel angehörte, schlug vor, die Folge mit einer goldenen Medaille auszuzeichnen. Freilich fühlte sich Kaiser Wilhelm n. von dieser Art «nnnsteinkunst» provoziert und verweigerte die Zustimmung,.. Sie erhielt die Medaille ein Jahr später in Dresden. Auch wurde sie nun als Lehrerin für Graphik und Akt an die Berliner Künstlennnenschule berufen. Im Jahre 1903 begann sie mit der Ausführung eines neuen Zyklus, der graphischen Folge «Bauernkneg». Das Format der Platten wächst, die technischen Mittel werden bereichert, die künstlensche Aussage gesteigert. «Die Motive zu den Bauernknegsblättern sind nichts literansch irgendwo Hergeholtes... damals las ich den Zimmermannschen Bauernkneg, und da wurde von der <schwarzen Anna> erzählt, einer Bäuenn, die die Bauern angetneben hat. Ich machte nun das große Blatt mit den losbrechenden Bauernhaufen...Alles schloß sich an dies schon fertige Blatt an.» Diese großformatige Radierung mit, dem Titel «Losbruch» ist. die berühmteste der ganzen Folge geworden. Die Frau im Vordergrund mit den hochgenssenen Armen gibt das Signal zum Kampf. Käthe Kollwitz hat geäußert, daß sie sich in dieser Frau selbst habe darstellen wollen. Mit diesen Arbeiten war sie in die vorderste Reihe der deutschen Graphiker gerückt. Die zunehmende öffentliche Anerkennung drückte sich auch dann aus, daß ihr im Jahre 1907 der von Max Kunger gestiftete «Villa-Romana-Preis» zuerkannt wurde, ein einjähnger Studienaufenthalt in Florenz. Neben diesen großen Zyklen stehen gleichrangig viele Einzelblätter vom Leben der Proletanerfrau, sei das nun die «Carmagnole», eine wilde Tanzszene um die Guillotine, sei es das Plakat für die Heimarbeiter-Ausstellung von 1906, das so parteinehmend ausfiel, daß die Kaisenn erklärte, sie werde die Schau erst dann besuchen, wenn das Plakat entfernt sei, oder handele es sich um die zahlreichen Mutter-Kind-Darstellungen oder die sozialkntischen Zeichnungen für den Münchner «Simplizissimus». Aber selbst wenn sie sich allgemein humanistischer Thematik zuwandte, wurde stets sichtbar, daß diese Künstlenn Menschen der Arbeiterklasse darstellte.
Der Ausbruch des ersten Weltkneges traf sie wie so viele Intellektuelle unvermittelt und verwirrt. Ihr jüngerer Sohn, Peter, zog als Knegsfreiwilliger ins Feld und fiel im Oktober 1914 in Flandern. Gerade dieser Tod erschwerte es ihr, zu einer raschen und klaren Erkenntnis in der Frage Kneg und Fneden zu gelangen. Am 27. August 1916 schndb sie in ihr Tagebuch: «Meine unhaltbar widerspruchsvolle Stellung zum Knege. Wie ist sie gekommen? Durch Peters Opfertod. Was mir damals klar wurde und was ich in meiner Arbeit halten wollte, das wird mir jetzt wieder so schwankend. Ich glaube, Peter nur behalten zu können, wenn ich, was er mich damals lehrte, nicht mir entziehen lasse. Nun dauert der Krieg zwei Jahre und fünf Millionen junge Männer sind tot, und mehr als nochmals soviel Menschen sind unglücklich geworden und zerstört. Gibt es noch irgend etwas, was das rechtfertigt?» In einem qualvollen Prozeß rang sie sich zur entschiedenen Knegsgegnenn durch. Als der Dichter Richard Dehmel im Oktober 1918, in der letzten Etappe des schaungen Dramas, im «Vorwärts» einen Aufruf zum letzten Aufgebot einer «auserwählten Schar todbereiter Männer» veröffentlichte, um Deutschlands «Ehre» zu retten, trat sie dieser reaktionär-patnotischen Verblendung mit einer Erwiderung entgegen, die mit den Worten schloß: «Es ist, genug gestorben! Keiner darf mehr fallen! Ich berufe mich gegen Richard Dehmel auf einen Größeren, welcher sagte: <Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden>.» Ihr Knegserlebnis hat sie in der Holzschnittfolge «Krieg» in den Jahren 1922/23 gestaltet.
Indes war Kättie Kollwitz nicht nur eine meisterhafte Graphikenn, sondern auch eine bedeutende Bildhauenn. Seit sie ihren Sohn in Flandern verloren hatte, verließ sie der Gedanke nicht wieder, ihm ein Grabmal zu setzen. Nach immer neuen Entwürfen fand sie die Gestalten der trauernden Eltern, an deren Modellen sie mehr als sieben Jahre arbeitete, bis sie im Alter von fast sechzig Jahren jene endgültige Form fand, die sie dann in belgischem Granit ausführen ließ. Die beiden Monumentalfiguren in schlichter, blockhafter Wucht, eine kniende, von Leid gebeugte Mutter und ein kniender trotziger Vater, stehen auf dem Soldatenfnedhof von Roggefelde (heute Vladsloo), ein Dokument der Menschlichkeit einer großen Frau und Künstlenn, ein Testament an die Nachwelt, solch Sinnloses nicht mehr geschehen zu lassen.
Die Novemberrevolution begrüßte sie; deren Ergebnisse befnedigten sie freilich kaum, und die damit verbundenen Klassenkämpfe stürzten sie in neue Verwirrung. An ihre Freundin Beate Bonus-Jeep schneb sie damals: «Es ist wohl eine Enttäuschung da. Nach dem Zentnerdruck der Knegsjahre, nach dem vollkommenen Zusammenbruch des Alten, nachdem nun Deutschland nackt, neu, noch ganz ungeprägt und ungestempelt dastand - erwartete man alles. Das Kühnste. Ganz Neues. Man lechzte nach Wahrheit, Brudersinn, Weisheit. Das waren die Revolutionstage. Was geworden ist, hat ein etwas anderes Gesicht bekommen, als man geträumt hat. Das Kind ist kein Wunderkind geworden, sondern ähnelt seinen Eltern etwas sehr!» — Die Ermordung Karl Liebknechts durch die Soldateska der Konterrevolution erregte sie tief. Noch am Begräbnistag fertigte sie morgens im Leichenhaus eine Zeichnung von dem Toten an. «Er sah sehr stolz aus. Um die zerschossene Stirn waren rote Blumen gelegt», berichtet sie. Ein endloser Zug von Werktätigen bildete das Trauergeleit zum Fnedhof in Friedrichsfelde. Unter diesen Eindrücken entstand das Gedenkblatt für Karl Liebknecht, zunächst als Radierung, in zweiter Fassung als Lithographie, in endgültiger Gestalt als Holzschnitt. Diese Graphik eröffnete eine neue Entwicklungsetappe, in der nicht mehr die Radierung im Mittelpunkt stand, sondern zwecks Steigerung der Monumentalität der Holzschnitt und die Lithographie. Verstärkt setzte sie nun ihre Kunst auch in Plakaten ein. So entstanden die aufrüttelnden Lithographien «Wien stirbt! Rettet seine Kinder!» (1920), «Helft Rußland!» (192D, «Deutschlands Kinder hungern!» (1924), «Nie wieder Kneg!» (1924), «Heimarbeit» (1925), «Demonstration» (193D, «Wir schützen die Sowjetunion» (1932).
Käthe Kollwitz wurde in den zwanziger Jahren zur populärsten deutschen Künstlenn. Nie vergaß sie über dem Elend von heute die Hoffnung auf das Morgen. Neben den düsteren Blättern über die proletansche Familie der Weimarer Republik, Arbeitslosigkeit und Freitod standen immer wieder zuversichtliche Gestaltungen des kämpfenden Volkes. Ihre Wirkung reichte schon damals weit über Deutschland hinaus. Romain Rolland, der große französische Humanist, schneb anläß1ich ihres 60. Geburtstages: «Das Werk von Käthe Kollwitz ist die größte Dichtung des Deutschlands unserer Tage, welche Not und Leid der Niedngen und Unbedeutenden widerspiegelt. Diese Frau mit dem Herzen eines Mannes hat sie in ihre Augen, in ihre mütterlichen Arme genommen mit einem düsteren und zärtlichen Mitleid. Sie ist die Stimme des Schweigens der hingeopferten Völker.» Das war aber nur die eine Seite. Der Leser darf über dieser Deutung ihres Werkes nicht vergessen, daß ihre humanistische Idee aus der Ethik des Sozialismus erwuchs und ihre Kunst untrennbar mit dem Kampf der Arbeiterklasse verbunden war, daß sie vom «Weberzug» des Jahres 1897 und dem «Losbruch» des Jahres 1903 über das Liebknechtgedenkblatt des Jahres 1919 bis hin zu den späten Lithographien wie «Demonstration» und «Solidantät» des Jahres 1931 das sozialistische Menschenbild in der deutschen bildenden Kunst entscheidend mitgeprägt hat.
Der braune Terror tneb sie 1933 in die innere Emigration. Zu spät kam der Appell zum Aufbau einer einheitlichen Arbeiterfront, den sie mitunterzeichnet hatte. Er wurde für die nun auch die Kultur beherrschenden Diktatoren der Anlaß, sie zum Austntt aus der Preußischen Akademie der Künste zu zwingen. Sie verlor ihre Professur und Atelier, ihre Arbeiten wurden aus den Museen entfernt und in die Keller geschafft. Aber sie war stolz darauf, bei den «Gemaßregelten» zu stehen. Ein Jahr vor ihrem Tode, im Dezember 1943, schneb sie an den jungen Graphiker Reinhard Schmidhagen die Sätze, die das Wesentliche ihrer Ethik zusammenfassen: «Sei das Leben lang oder kurz - worauf es ankommt, ist, daß man seine Fahne hochhält und seinen Kampf führt. Denn ohne Kampf ist kein Leben.»
An Paul Hey
Königsberg, den 22. 9. 1889 [2]
Lieber Hey, Hoffentlich kommt dieser Brief noch rechtzeitig an seinen Bestimmungsort und braucht Dir nicht von Pappenheim [3] aus nach München nachzujagen. Ich habe mich über dem Briefchen wirklich sehr gefreut, und daß ich nicht früher geantwortet habe, lag an meiner angeborenen Faulheit.
riesig neugierig bin ich darauf, wie sich in dem kommenden Winter alles machen wird und ob ein ähnlich gemütlicher Kreis wie im vorigen sich zusammenfinden wird. Daß Sommer [4] bestimmt nicht in München ist, ist mir sehr schmerzlich und Dir wahrscheinlich auch. Wie prächtig war jener fidele Abend, als wir vor unserer Reise nach dem Hofbräuhauskeller noch durch die alten Straßen strichen. Ich habe von Sommer seit meiner Abreise von München nichts mehr erfahren, nur einmal gab sie mir ganz kurz Nachricht von sich; sie schrieb, daß sie sich die Zeit mit Schlafen, Essen und Rauchen vertreibe und sich der ausdauernden Gesellschaft eines nesigen Katers erfreue. Malen täte sie absolut nichts, bereite sich aber in aller Stille auf Pans vor. Ich bin außerordentlich gespannt darauf, wie es ihr dort gehen wird; wenn sie wenigstens für kurze Zeit noch einmal nach München käme! Wo soll ich sonst eine so fidele und nette Kameradin zu unsern kleinen Bummelzügen ins Café Lohengrin, Luitpold, in den Englischen Garten usw. hernehmen? Mit der Sommer bummelt es sich doch immer am feinsten, und ich glaube, so famose Zeiten kommen nicht mehr wieder. Wenn Du an Sommer schreiben willst, kann ich Dir übrigens nur ihre alte Adresse, die Du sicher kennen wirst, angeben.
Ich freue mich nesig auf München und alles, was damit zusammenhängt, die Ausstellung, das Malen, das lustige Leben mit den Kolleginnen. Wie ist es, kommt in diesem Winter Deine Schwester in die Herterich-[5] Schule? Ich denke, es war davon die Rede, das wäre sehr nett, und ich glaube, es würde ihr schon bei uns gefallen.
Hast Du dort in Deinem Pappenheim viel gemalt? Das darf ich doch alles sehen, nicht? Deine Sachen waren doch sehr fein und haben mir sehr gefallen. Fleißig bin ich auch gewesen, aber viel zustande gebracht habe ich leider Gottes doch nicht.
Mit den Augen male ich immer sehr fein, aber mit den Händen hapert es. Jetzt habe ich versucht, meine Schwester [6] zu malen, das arme Wesen, von dem ein solches Jammerbild auf der Ausstellung war; meine Eltern sind aber von meinem Porträt von ihr wenig entzückt, und der Entschluß, daß ich nach München gehen durfte, drohte schon umgestürzt zu werden; das bereitete mir einen sehr melancholischen Tag, aber jetzt hat sich glücklicherweise wieder alles zum besten gedreht, und ich hoffe, in 14 Tagen in dem gelobten München einzutreffen. Wie Quittry [7] mir schrieb, ziehen in diesem Jahr Fiedler [8], Wahl und eine Freundin von ihr zu den alten Valentins; da werde ich mir also eine andere Wohnung suchen müssen und denke, vielleicht in Sommers verlassene Bude zu ziehen.
Hast Du, nachdem Jeep [9] und ich fortgefahren waren, noch Kögel kennengelernt? [10] Sie schrieb mir, daß sie sich in diesem Winter zwar noch einmal unter Herterichs Tyrannenjoch begeben wird, aber nur zeitweilig; bei Herterich mitmalen, wenn er einen guten Akt stellt, sonst aber im eigenen Atelier arbeiten will. Im darauf folgenden Winter will sie dann in Berlin bleiben, worüber ich mich sehr freue, denn dann bin ich höchstwahrscheinlich auch da; und Du. Denkst Du auch noch daran, später nach Berlin zu kommen? Das wäre sehr nett. Nach Menzel [11] habe ich mich übngens bei meinem damaligen Aufenthalt vergebens umgeschaut, ebenfalls nach Anton von Werner [12], um ihm unsere allgemeine Mißbilligung auszudrücken, und ebenfalls vergebens nach Deinem Bruder. Wie geht es Dir denn im Kampfe gegen das Philistertum? Der warnende Zuruf: Philister über Dir! wäre mir von Zeit zu Zeit sehr vonnöten gewesen, viel mehr wahrscheinlich als Dir. Als Jeep und ich aus München herausfuhren und die mächtigen, angenehme Ennnerungen erweckenden Bräuhäuser hinter uns zurückblieben, sangen wir ganz traurig:
«Wir ziehen mit gesenktem Blick
In das Philisterland zurück;
Oh Jerum - jerum jerum!»
Wie ich dann aber erst nach Berlin kam, gefiel es mir da doch wieder nesig, und es ist wirklich eine angenehme Aussicht für mich, dort in Zukunft zu leben. Aber nun, lieber Hey, habe ich Dir für meine Verhältnisse eigentlich schon einen übernatürlich langen Brief geschrieben, und deshalb ist jetzt ein Schluß wohl angebracht. Also Schluß: Lebe wohl und auf Wiedersehen, lieber Kollege!
Sei herzlich gegrüßt von der Schmidt.
Meine Schwester hat nach meiner Beschreibung eine große Neigung für Dich gefaßt und schickt Dir deshalb auch sehr heiße Grüße.
An Paul Hey
Königsberg, den 23. September 1890
Lieber Hey, Der eigentliche Grund, warum ich an Dich schreibe, ist ein egoistischer. Ich möchte Dich nämlich ganz bescheiden an die Landschaft mahnen, die zu schicken Du mir versprochen hast. Hoffentlich kommt Dir das nicht unverschämt vor, ich will ja auch nicht um die Studie bitten, wenn Du sie brauchst oder dergleichen; aber in Zukunft einmal bekommen werde ich sie, ja? Und einen Bnef von Dir hätte ich auch sehr gerne, aber Du bist stumm wie alle die andern.
Sehr gerne möchte ich wissen, was Du jetzt, wenn Du vom Militär frei bist, tun wirst? Ob Du in München bleibst, und ob Du bei ... Schüler werden wirst? Mir geht es hier gut, viel besser, als ich gefürchtet hatte. Ich habe ein wirkliches, eignes Atelier und bin auch ziemlich fleißig. Vorläufig kommt mir das Alleinarbeiten so ziemlich als das einzig wahre vor. Auch ist es ein wahrer Segen, daß mich hier niemand zur Faulheit verleiten kann. Höchstens meine Schwester, aber die ist so faul, daß sie überhaupt pnnzipiell nie im Atelier erscheint. Also bin ich immer allein, und so bleibt mir nichts anderes übng, als zu arbeiten. Denn, Gott sei es geklagt, Café Lohengnn usw. gibt es ja hier gar nicht, nichts
dergleichen, jeder Anlaß zum Bummel, auch der genngste, ist radikal vertilgt. Manchmal, wenn ich an München denke, wird mir ordentlich unglücklich zumut. Aber ein Krösus werde ich hier werden. Ein Porträtauftrag steht bereits fest, und andere kommen hoffentlich nach, und habe ich ordentliches Geld zusammen, dann, glaube ich, fahre ich zur nächsten Ausstellung doch nach München. Dann stellt ja wohl Kögel aus und Sommer wahrscheinlich auch, das muß ich mir doch ansehen. Sind die Mädchen schon wieder in München? Ich höre herzlich wenig von ihnen. Es ist jammerschade, daß gerade für diesen Winter, wo Sommer dort sein wird, ich hier oben solo sitzen muß! Und nun werdet Ihr wahrscheinlich zusammen zeichnen, es ist wirklich zu dumm, daß ich nicht dabei sein kann. Sind zur Ausstellung noch viele gute Sachen gekommen? Die Berliner Ausstellung, die ich auf meiner Durchreise sah, war zum Erschrecken schlecht. So viel unmalensches Zeug auf einem Haufen habe ich selten gesehen. Wie ist es nur möglich, daß eine so große Stadt, die soviel krampfhafte Anstrengungen dazu macht, Kunststadt zu werden, so unglaublich weit hinter einer Stadt wie München zurückbleibt? Es bleibt uns eben nichts übng, Hey, wir müssen, wenn wir später erst dort wohnen, die Geschichte in die Höhe bnngen.
Was macht Deine Schwester? Ist sie jetzt in ihrer Stelle, und gefällt es ihr dort? Grüße sie bitte sehr, wenn Du an sie schreibst. Und nicht wahr, Du schreibst mir auch mal wieder! Ich werde Dir auch gleich meine Adresse sagen: Königsberg i.Pr., Kathol. Kirchstr. 10.
Und nun Schluß! Sei herzlich gegrüßt und behalte in gutem Andenken
Deine Kollegin Käthe Schmidt
An Paul Hey
Königsberg, Katholische Kirchstr. 10, den 26. Februar 1891
Lieber Hey, Als ich heute zufällig die letzte Nummer der «Kunst für Alle» in die Hand bekam, fand ich zu meiner hellen Freude, daß Du bei der Akademieausstellung den Preis bekommen hast. [13] Das ist ja fein, sehr fein! Und meine Schwester und ich, wir gratulieren Dir sehr. Was hattest Du auf der Ausstellung? Aquarell oder Ölstudie? Wenn Du irgendeinmal Zeit hast, Hey, und gerade nichts Besseres zu tun hast, schreib mir doch etwas darüber. Ich höre hier fast gar nichts, auch kaum von den Münchner Mädchen, dafür erheb ich auch immer ein Jubelgeschrei, wenn ich zufällig einmal etwas von Euch zu hören bekomme, wie diesmal aus der «Kunst für Alle». Kommst Du im Sommer nach Berlin zur Ausstellung? Wenn ja, hoff ich Dich dort zu sehen, denn ich bin schon vom Juni ab für immer dort, mit anderen Worten, ich heirate und wohne dann im äußersten Norden am Wörther-Platz und führe den stattlichen Namen Kollwitz. Dann mußt Du zu mir kommen, oder wir treffen uns an einem dntten Ort. Vielleicht ist dann auch Deine Schwester dort?
Damals schriebst Du mir, daß Du in diesem Winter noch auf der Akademie studieren wolltest und darangehen, die eine früher mir zugedachte Studie als Bild zu malen. Ist es bei diesem Plan geblieben? Von den Mädchen höre ich, daß Greiner ein Bild male, auch Kögel soll ja eines vorhaben, wie jammerschade, daß ich mir das nicht alles ansehen kann. [14] Ich male hier mutterseelenallein, was mir eigentlich gar nicht schlecht gefällt, aber manchmal bekomme ich doch große Lust, auch von andern etwas zu sehen. Es ist so, wie, wenn einer immer nur mit sich spricht. Mein Atelier ist sehr klein, doch nicht so, daß ich mir kein Modell stellen könnte. Ich finde, wenn man allein arbeitet, ist man ungleich fleißiger und kommt vielleicht auch besser vorwärts. Denn wenn ich auch davon überzeugt bin, daß mir die zwei Jahre bei Herterich und in München außerordentlich genutzt haben, so hab ich doch in diesem einen Winter ungleich mehr zustande gebracht als in der ganzen Münchner Zeit. Hier gibt es gar keine Ablenkung und Zersplitterung, und das ist mir sehr heilsam. Ich habe angefangen zu radieren und zu dem Zweck eine Masse Vorübungen mit der Feder gemacht. Überhaupt zeichne ich jetzt ungleich mehr, als daß ich male, aus der praktischen Überlegung, daß ich in Berlin für die ersten Jahre meiner Verheiratung kaum Geld genug haben werde, um mir ein Atelier zu mieten. Und in engen Stuben, die man bewohnt, Ölbilder zu malen, das ist ein traunger Gedanke. Das Radieren ist doch lange nicht so umständlich.
In der ersten Zeit meines Hierseins faßte ich den großen Plan, ein Bild zu malen, die Streitszene aus dem «Germinal» [15], die ich in München als Kohleskizze gemacht hatte. Und ging dann auch wacker daran. Bin aber doch steckengeblieben. Bis zum Frühjahr kann ich das Bild nicht mehr malen, in Berlin kann ich es nicht fortsetzen, also mach ich alle Vorstudien, die ich dazu brauche, und radiere das Ganze, wenn ich erst mehr Übung im Radieren habe. Mit diesen Vorarbeiten bin ich jetzt fast fertig. Ein ganz famoses Lokal, wonn die Szene spielen kann, hab ich ausfindig gemacht. Es ist eine wahre Mördergrube, wo Matrosen verkehren, ein wüstes Tanzlokal. Abends ist ein nesiger Spektakel dnn. Ich hab mich mit dem Wirt angefreundet, und am Vormittag, wenn der Saal leer ist, zeichne ich dort, mit Zittern und Zagen. Überhaupt, Hey, manchmal, wenn ich hier durch die kleinen Straßen bummle, denk ich, das wär was für Dich. Krumme, winklige Gassen, Häuser manchmal noch aus dem 16. Jahrhundert. Am feinsten aber sind die Sackträger- und Matrosenkneipen. Die versetzen mich allemal in helles Entzücken. Das muß so aussehen, als ob ich oft sitze und mit den Kerlen Schnaps tnnke. Soweit hab ichs noch nicht gebracht.
Ist Sommer jetzt wieder in München, und bist Du viel mit ihr zusammen? Jeep schneb mir einmal, sie hätte einen kostümierten Kegelabend mitgemacht. Bitte richte doch meine Empfehlung an Herrn und Frau Schifferdecker aus und einen wehmütigen Gruß an den ganzen Kegelbund. Wie unbeschreiblich köstlich war das Kostümfest damals. Und wo steckt denn der alte Quittry? Ist er noch immer in Italien? Ich würde gern wissen, wie es ihm jetzt im Malen geht. Siehst Du ihn einmal, dann richte ihm doch einen guten Freundschaftsgruß aus.
Jetzt endlich Schluß, lieber Hey. Hoffentlich auf ein Wiedersehn in Berlin. In alter Freundschaft Deine Käthe Schmidt
An Max Lehrs [16]
Berlin, den 29. August 1901
Hochverehrter Herr Professor! Der Brief hat mich sehr überrascht und erfreut. Ich könnte mir nichts Besseres denken, als in einem guten Blatte gerade von Ihrer Seite auf mich hingewiesen zu sehen. Wenn ich Ihnen rasch hier in einem handlangen Bnef Notizen über mich gebe, so werden Sie ja die Spreu vom Weizen zu sondern wissen. Auch bitte ich die schlechte Schnft zu entschuldigen, ich muß in liegender Stellung schreiben, weil ich für einige Zeit bettlägng bin.
Ich bin in Königsberg i. Pr. 1867 geboren. Mein Vater hatte mich schon in Kinderschuhen für die Kunst bestimmt. Bei ihm, auch bei meiner Mutter lag eine Veranlagung und Neigung zum Zeichnen vor, und da sich bei mir früh Anzeichen von Talent fanden, wurde ich von vornherein, trotzdem ich unglücklicherweise ein Mädchen war, zur Künstlenn bestimmt. Mit 13 Jahren hatte ich den ersten Unterricht im Gipszeichnen bei Kupferstecher Maurer und einem Königsberger jungen Maler, bis meine Eltern mich, als ich 17 Jahre alt war, auf ein Probejahr nach Berlin gaben. Hier hatte ich das Glück, in der Malennnenschule zu Stauffer-Bern [17] zu kommen. Es war das letzte Jahr, das er an der Schule zubrachte. Unter den Schülerinnen der Klasse befand sich damals Cornelia Wagner, jetzt Paczka-Wagner [18]. Offiziell malte ich Köpfe bei Stauffer, zeichnete jedoch auf sein Anraten mehr, als ich malte. Er war ein vorzüglicher Lehrer. Dies ganze Berliner Jahr gab mir die wichtigsten Eindrücke und Anregungen. Damals sah ich zuerst etwas von Klinger, es war der Zyklus «Ein Leben», den er in der Ausstellung hatte.
Nach Königsberg zurückgekehrt, wurde der Akademieprofessor Neide [19] mein Lehrer, und allmählich durfte ich unter ihm daran denken, «Bilder» zu malen. Es war eine tnste Zeit, ich hatte reichlichen Malkater, und so gnffen meine Eltern auf eine Weise ein, für die ich ihnen noch herzlich dankbar bin. Sie schickten mich auf zwei Jahre 88 und 89) nach München. Ich ging zu Herterich in die Künstlennnenschule. Seine geistvolle Art des Unterrichtens, das ganze lustige Münchner Leben, der Verkehr mit Leuten wie Greiner, Fiedler, Kögel und anderen mehr, war wie fnsches Wasser. Als ich von dort nach Königsberg zurückkam, hatte ich arbeiten gelernt, mietete mir von dem Erlös eines früher fertiggestellten «Bildes» ein handgroßes Atelierchen und arbeitete. Schon in Berlin und dann in München hatte ich Gelegenheit gehabt, Klingersche Radierungen zu sehen, und zwar hauptsächlich die aus seiner Berliner Penode stammenden, sie, waren mit dem, was ich damals in der Literatur kennenlernte - und da ist als der Markstein für mich der Zolasche «Germinal» zu nennen - ausschlaggebend. Ich kannte jetzt meinen Weg. Da meine Verheiratung und damit Übersiedlung nach Berlin (9D bevorstand, bat ich Kupferstecher Meurer, mir noch zu zeigen, wie man eine Platte grundiert und was für Ätzwasser man gebraucht - zu weiterem Unterrichte reichte mir die Zeit nicht - und dann versucht ich in Berlin in mühsamem Lernen auf eigene Hand der Radiertechnik beizukommen. Es glückte nur sehr langsam, da auch meine Zeit, weil ich zwei Kinder hatte, knapp bemessen war. Ich arbeitete damals an dem Weberzyklus, zu welchem mich Hauptmanns großartige «Weber», die ich in der Erstaufführung sah, veranlaßt hatten.
Mein Vater starb im Jahre 98. Mit inniger Anteilnahme hatte er immer meine Arbeiten verfolgt. Aber er wünschte einen anderen Weg für mich, als den ich eingeschlagen hatte. Er dachte an die große Lessingsche Historie. Da auch meine Verheiratung meinen Weg scheinbar kreuzte, hatte er es aufgegeben, viel von mir zu hoffen [20]. Aber als ich ein halbes Jahr vor seinem Tode die «Weber» brachte, war er herzlich froh und rief erfreut aus: Es ist gut, du kannst doch etwas. Den Erfolg der «Weber» hat er nicht mehr erlebt. Derselbe war mir sehr überraschend. Die meiste Freude machten mir Ihre Ankäufe und die Verleihung der kleinen goldnen Plakette. Ich stellte dann im nächsten Jahr 99 - nachdem ich zur damals sich bildenden Sezession [21] übergegangen war - den «Bauernkrieg» aus, 1900 die «Zertretenen», 1901 die «Carmagnole». 1900 engagierte mich die Vorsteherin der Künstlerinnenschule hierselbst, Frl. Hönerbach, zur Leitung, einer Radier- und Lithographierklasse, die noch fortbesteht, wenngleich auf das dürftigste besucht. Das Lithographieren betreibe ich neben dem Radieren und verspreche mir von einer Mischung beider Techniken - zu Experimenten steht mir jetzt eine eigne Presse zur Verfügung - viel.
So, da ist bis jetzt mein höchst simpler Lebenslauf.
Ich bin mit besten Grüßen Ihre Käthe Kollwitz
An Lise Stern
Liebe Lise - ich möchte mal wieder ordentlich an Dich schreiben. Mitunter krieg ich Heimweh nach meinen Leuten zu Haus, aber auch nach Euch. Besonders jetzt, wo Hansens Geburtstag [24] kommt, sitzen mir die Tränen sehr lose. Aber es geht wieder vorbei. Ich träumte vor kurzem genau denselben Traum, den ich einmal in Pans träumte, nämlich, daß ich vor Heimweh früher nach Hause fuhr, als nötig war, und daß nach der Wiedersehensfreude zu Haus ich mir vor den Kopf schlug und mich verrückt schalt, früher nach Haus gekommen zu sein. So will ich natürlich auch hier bleiben, bis meine Zeit abgelaufen ist, aber ich werdc leichteren Herzens von hier nach Haus fahren als von Pans. Dies ist mir zuguterletzt alles doch fremd. Vielleicht, daß in Rom ich mich heimischer fühlen werde, aber ich glaube es kaum.
Seit Peter fort ist [25], habe ich hier erst recht angefangen, Florenz zu studieren. An Durchkommen ist aber nicht zu denken. Ich glaube, man kann ein halbes Jahr hier sein und hat noch nicht alles gesehen was sehenswert ist. Die enormen Galenen verwirren und wirken durch das massenhaft weniger Gute, geschwollen Italienische, abschreckend. So versuchte ich es mit den Kirchen und mit viel mehr Glück. Da sind wunderschöne Sachen dnn an Fresken, und wie anders wirken sie an Ort und Stelle. Ich bin alle Kirchen und Klöster durchgepilgert heut war ich in San Marco [26]in Savonarolas Zelle. Dann ist der Bargello [27] [28], wo alle Donatellos sind, prachtvolle Sachen, einige. [29] [30]Seine Verkündigung in S. Croce liebe ich nicht so sehr, ich finde sie für ihn etwas weich. Aber prachtvoll sind seine Knaben und jungen Männer, der David ist wunderschön. Und zum Schluß wage ich mich dann auch wieder in den Pitti und die Uffizien. Wunderschöne Sachen sind darunter, [32] aber eben nur darunter, finde ich. Mit Botticelli [33] ist es merkwürdig, er hat hin und wieder Figuren in seinen Bildern, die ganz wunderbar schön sind sowohl in Auffassung, Kolont und Zeichnung, und dann wieder kann ich ihn nicht ausstehen, kommt er mir so unnaiv und dekadent vor. Der Verzückungsausdruck ennnert direkt an die Heilsarmee mitunter, der Gesichtsausdruck blöd dämlig wie nach einem Rausch und dabei affektiert. Doch eine «Verkündigung» ist da: prachtvoll! Am eindringlichsten ist mir bis jetzt Masaccio [34] gewesen in einer Freske in S. Maria del Carmine [35], wo ein nackter Knabe zwischen einer Versammlung von steifen Männern kniet, und dann in einer Maria, die das Kind auf dem Schoß hat und selbst im Schoß der heiligen Anna sitzt. Das sind zwei sehr schöne Sachen. Weißt Du übrigens, daß Botticelli so sich von Savonarola beeinflussen ließ, daß er keinen Pinsel mehr anrührte?
Was die Architektur betrifft, so geht es mir fast wie Peterchen der ganz frech den Palazzo Vecchio [36] «scheußlich» fand. Alle diese Paläste wirken feindlich, bockig, mögen vorzüglich gewesen sein und sehr sachgemäß wegen der vielen Bürgerkriege, aber eine unliebenswürdige Architektur. [37] Und der Pitti, find ich, wirkt nur massig, man kann ihn übrigens nie recht übersehn, es ist einfach zu groß. Die Kirchen sind fast alle mit schwarz-weißem Marmor verkleidet, was Peter wieder «scheußlich» fand. Die Domfassade, die erst kürzlich so fertig geworden ist [38], find ich auch viel zu bunt und unruhig. Bei Santa Maria Novella [39] dagegen hat das Alter das allzu Unruhige ganz verwischt. Die Fassade von Santa Maria Novella und der Platz davor ist eine der schönsten Sachen hier. Schön ist auch das ganz alte Baptisterium [40]. Am Dom ist herrlich die zusammenfassende Kuppel von Brunelleschi [41]. Im ganzen wirkt Florenz innen düster. Als ich neulich, nachdem ich einsam zu Abend gegessen hatte, nach Hause kam durch all die engen Gassen, kam mir ein Leichenzug entgegen, da hatte ich für einen Moment ganz das Empfinden, tatsächlich im alten Florenz zu sein. Die Begräbnisse finden nach Sonnenuntergang statt, und der Sarg wird getragen von der Bruderschaft der Misecordia, die zur Pestzeit sich bildete. Aus der Zeit stammt noch die Sitte, daß sie ganz schwarz vermummt gehen mit Kapuzen, die über das Gesicht gezogen werden und die nur Löcher für die Augen haben. Sie tragen Fackeln und gehn ganz schweigend. Jetzt in der beginnenden Hitze wirkt Florenz freilich wieder anders. Erstens sieht man Blumen, Rosen an allen Ecken und Enden. Und dann der Gesang. Ich esse abends meist bei Lapi, einer Art Künstlerkneipe, einem alten Kellerlokal. Da kommen abends immer ein Guitarrespieler, ein Sänger, ein Castagnettenspieler hin und machen Musik. Wenn ich dann fertig bin mit meinem Abendbrotchen und geh durch die - für Berlin - düstern Gassen nach Haus, dann ist Musik ülerall. Ich glaube, sämtliche Italiener haben Tenorstimmen, und mit denen tremolieren sie so herzbeweglich, daß es kaum zum Aushalten ist. Neulich an einer Brücke vor einem Haus stehn drei Männer und singen zur Guitarre nach oben zu einem Fenster rauf. Mit einemmal singt eine schmachtende Frauenstimme, deren Mann war es. Ob es ein Eunuche war, weiß ich nicht, er sah mir nicht danach aus. Als ich mich da eine Weile ergötzt hatte, klang von der Nachbarbrücke schon wieder Gesang, rechts, links, man weiß nicht, wo folgen, bis man endlich nach Haus trollt.
... Wie ich aussehen werde, wenn ich dann nach Rom kommen werde, darauf bin ich selbst neugieng. Jetzt schon sehe ich aus, wie sonst im Sommer, wie aber werde ich erst im Juli aussehen? Jetzt blühen die Rosen - aber einfach in Masse. Auf der Straße werden einem für so gut wie nichts Rosen angeboten. Wenn dann nichts haben will, sagt der Verkäufer, man soll wenigstens daran nechen, und geht immer neben einem her, den Strauß einem an die Nase haltend. Schließlich muß man lachen und er auch, und dann kauft man sie.
An Beate Bonus-Jeep
Piombino 1907 [42]
Jeep, heute sind wir in Piombino und suchen billige Gelegenheit, mit einem Schiff bis Grosseto [43] mitzufahren. Ich sehe aus wie Leder, hab wenigstens zehn Pfund abgenommen, und ich weiß nicht, ob Stan Harfred oder ich reduzierter aussieht [44]. Aber es ist prachtvoll bei allen Strapazen. Zwei Nächte sind wir ganz durchgewandert, die letzte Nacht von Castagneto und Populonia [45], und mit allem, was dazu gehört: Vollmond, Leuchtkäfern, daß es einem vor den Augen flimmerte und Heuschreckengesang. Wir gingen viele Stunden längs der See, und der Mond ging unter, und die Sonne ging auf. Um sechs waren wir in Populonia, das ist ein ganz hoch gelegenes Städtchen am Meer. Es besteht nur aus einer kleinen Straße, hat aber eine alte Mauer. Wir gingen die Straße bis zum Ende zu einem kleinen Söller. Da lag unten die Bucht von Populonia und Elba im Morgenlicht. Und alles so unglaublich schön. In dem Söller wohnte eine achtzigjähnge Frau mit ihrem Enkelchen. Sie fragt, uns, ob wir Pilgennnen wären und nach Rom gingen. Wir sagten ja, wir gingen nach Sankt Peter beten, worauf sie seufzend sagte, sie wollte, sie könnte mit uns gehen. Ihrer großen Sünden wegen. Sie gab uns zu essen und zu tnnken und wollte nichts von uns haben. Im ganzen und großen ist aber die Bevölkerung hier in der Maremmengegend lange nicht so vertrauenserweckend wie die toskanische. Ich sehe, daß der Revolver der Harfred notwendig ist. Aber ich sehe auch das bleiche Entsetzen und die jagende Flucht, wenn er vorgehalten wird. Die Stan gfällt mir immer besser; ihre Geistesgegenwart Ruhe und Fröhlichkeit sind fein. - Über Perugia auf der Hinreise zu gehen, haben wir aufgegeben, es liegt zu weit ab. Wir wollen von Grosseto nach Orvieto hinüber, dort mehrere Tage bleiben und dann weiter über Viterbo. Jedenfalls hoffen wir es durchzusetzen, zu Fuß in die Ewige Roma einzuziehen; ich denke, am 15. werden wir dort sein. Leb wohl - Grüß Deinen Mann. Von Orvieto aus geb ich wieder ein Lebenszeichen.
An Beate Bonus-Jeep
Rom, im Sommer 1907
... Reue ergreift mich, daß ich Dir noch gar nicht wieder schrieb. In Gedanken tat ich es längst.
Schon denke ich sehr an den letzten Teil meines Hierseins und das Nachhausegehen an die Arbeit. Jetzt ist genug aufgenommen. Gestern abend ganz spät ist mein lieber Junge [46] angekommen. Jetzt liegt er noch und schläft. Er wird sieben Tage etwa hier sein, und ich habe mir zusammengestellt, was man ihm am besten zeigen kann. Seitdem ich Rom kenne, bin ich zweifelhaft, ob er überhaupt etwas Ordentliches davon haben wird. Ich glaube, man muß lange in Rom leben, um einen geschlossenen Eindruck zu haben. Es wirkt nach wie vor auf mich unübersichtlich und nicht geschlossen. Und direkt enttäuscht hat es mich, wie das alte Rom nur noch Ruine ist, das pietätvoll, museumartig, aufrechterhalten wird. Vor allem das Forum. Und weil es auf mich so wirkt, dann wahrscheinlich desto mehr auf einen Jungen, der in der Phantasie das glänzende Rom der Kaiserzeit hat. So muß man mit einer Enttäuschung rechnen, wenn er sie auch nicht eingestehen wird. Immerhin hoffe ich, daß einiges, wie die alte Via Appia, Katakomben, vor allem das Kolosseum, der Konstantinsbogen stark wirken werden. Ich hoffte, daß er das Kolosseum bei Mondenschein würde sehen können, wie ich es sah, aber der Mond kommt jetzt erst mitternächtlich zu der Höhe, die er dazu braucht. Am vierten oder fünften werden wir hier wohl fortfahren bis Assis, das zusammen ansehen, und dann nach Perugia. Für Florenz wird wohl nur ein Tag bleiben, aber ganz sicher kommen wir dann zu Euch heraus. Unsere Pilgerfahrt war noch ganz besonders fein von Orbetello bis nach Orvieto. Da kamen wir über kleine Städtchen, so abgelegen von der gewöhnlichen Route, die Reisende nehmen, so seltsam in ihrer Architektur, daß ich nur immer die Augen aufnß, Das seltsamste davon war Pitigliano, das im Bädecker kaum erwähnt ist. Es liegt auf einem Felsen wie eine Burg, nur von einer Seite mit Wagen zugänglich. nngsherum in dem Gestein sieht man etruskische Gräber in den Fels hineingegraben. Jetzt bewahren die Leute von Pinghano ihre Esel und Schweine da auf. Von Pinghano machten wir noch einen Abstecher nach einem kleinen Ort, von dem die Leute sagen, wir würden da noch vielerlei Etruskisches finden. Tatsächlich ging man den ganzen Weg auf uralten ausgefahrenen Steingleisen, Spuren von gewesenen Städten waren hier zur Rechten und zur Linken. Wieviel muß da noch zu finden sein, wenn man nachgräbt. In Silvano, einem unsäglich armen, verlassenen Örtchen, zeigte man uns eine Scheune, wo sie altes etruskisches Gerümpel, auf das sie beim Graben gestoßen waren, zusammengeworfen hatten. Wir suchten uns ein paar feine Scherben zusammen - für eine Lira - packten alles in einen Sack und schleppten unsere Schätze bis nach Pinghano. Von Orvieto ab waren wir so unruhig, nach Rom zu kommen, daß wir den letzten Teil der Reise im Galopp machten. In Montefiascone waren wir am Dienstag abend, schliefen da noch bis drei Uhr morgens und gingen dann diese halbe Nacht, den ganzen nächsten Tag, die folgende Nacht und noch den nächsten Tag.
Als die Sonne sank am Donnerstag abend, zogen [47] wir durch die alte Porta del Popolo in Rom ein. So war die «Durapenitenza» (harte Buße), von der die Leute oft so mitleidig sprachen, wenn sie uns zu Fuß nach Rom pilgern sahen, wirklich wahrhaftig geworden, denn so toll müde bin ich wohl kaum je gewesen. Stan Harfred hatte mir gesagt, es kämen sicher Fuhrleute des Weges, wo man aufbocken könnte. Aber es kam keiner. Überhaupt etwas so Verlassenes wie die römische Campagna habe ich noch nie gesehen. Nur alle paar Stunden Hirten, Viehherden mit bösen Hunden und diese charaktenstischen Maremmenreiter, die so aussehen, wie ich mir die Buren denke: ein kleines, mageres, langschwänziges Pferdchen, ein brauner, magerer Reiter, die Flinte quer über den Sattel gelegt. jetzt ist Hans aufgewacht, endlich! Nun lebt wohl, und auf Wiedersehn. Deine alte Schmidt
An Beate Bonus-Jeep
Berlin 1909
Als heute bei Tisch die Islandsagen [48] auf Peters Platz lagen - mit dem: «Ergebenst überreicht von Verfasser!» - wurde mein langgehegter Vorsatz, an Dich zu schreiben, schleunigst zur Tat. Auch schicke ich Dir endlich die Van Goghschen Briefe [49], die Stan mir leihweise lieh, die aber Euch gehören. die Briefe sind direkt herrlich. Welche Leidenschaft liegt darin. Ich freue mich ordentlich, daß Ihr sie lesen werdet.
... Bei uns hat sich in der dazwischenliegenden Zeit etwas ereignet, was mich immer noch dämpft, trotzdem es jetzt einen Monat her ist. Hans war nahe am Tode. Er hatte eine diphterieverdächtige Erkrankung, und um sicher zu gehen, spritzte ihn mein Mann mit dem Behringschen Diphterieserum. Es wurde dann bald besser. Er stand auf und man glaubte, alles wäre vorüber, als er eine Woche nach der Einspritzung ganz plötzlich eines Abends um acht Uhr einen solchen Zustand von Herzschwächc bekam, daß wir glaubten, der Junge stürbe unter unseren Händen. Weißt Du Jeep, viel Angst habe ich schon um die Kinder gehabt, aber dieses kalte Entsetzen, das einen anfällt, wenn man fühlt, weiß, in den nächsten Minuten ist dieses junge Leben vielleicht abgeschnitten, und das Kind ist weg - das war doch wohl das schlimmste bis jetzt, und das ist auch nicht so bald zu verwinden, obwohl er bei uns geblieben ist! Die ganze Nacht haben wir gearbeitet um den Jungen. Am Morgen um drei sagte mein Mann, er glaubte, er sei jetzt zurückgewonnen. Und dann blieb es gut, doch hat er noch Wochen ganz liegen müssen. ... Peter geht es bis jetzt gut. Er hält sich gesundheitlich wacker. Augenblicklich ist oben bei ihnen ein großes Gehämmere und Gearbeite, Pfäffingers Junge ist da, und sie machen zusammen ein Motorschiff für meinen Mann zu Weihnachten. Der Stapellauf wird etwas kläglicherweise in der Badewanne vor sich gehn.
... Stan hat Dir gesagt, daß ich plastisch arbeiten will. Ja, Lust habe ich freilich riesig, aber ich bin doch zaghaft mit dem ordentlich Loslegen. Kraft und Zeit sind beschränkt, und die Schwierigkeiten kommen mir oft zu groß vor. So hab ich seit Monaten keinen Ton vorgehabt, besonders deswegen, weil ich für den «Simplicissimus» gezeichnet habe [50]. Diese Arbeit freut mich außerordentlich. Eine Zeichnung, die zu dem Grubenunglück in Hamm paßt, hat er abgedruckt, zwei andere hat er noch liegen, eine vierte habe ich eben fertig gemacht. Er zahlt für das Blatt hundert Mark; falls er das Original behält (was bei dem Bild für Hamm der Fall war), noch einmal hundert Mark. Vorausgesetzt, daß er dauernd Zeichnungen braucht, wäre es also eine sehr schöne Einnahme. Nur leider braucht er nicht allzu viele. Die Art der Zeichnung überläßt er mir ganz, Motiv auch, und ich hätte wohl Stoff für ein ganzes Jahr zu Zeichnungen für ihn. Radiert habe ich infolgedessen aber gar nicht jetzt, auch komme ich ja überhaupt erst in den letzten Wochen wegen Hansens Krankheit wieder zum Arbeiten. Das Rasch-fertig-sein-müssen, die Notwendigkeit, eine Sache populär ausdrücken zu müssen, und doch die Möglichkeit - da es doch eben für den «Simpel» ist - künstlerisch bleiben zu können, vor allem aber die Tatsache, von einem großen Publikum des öftern aussprechen zu können, was mich immer wieder reizt und was noch lange nicht genug gesagt worden ist: die vielen stillen und lauten Tragödien des Großstadtlebens - das alles zusammen macht, daß mir diese Arbeit außerordentlich lieb ist. Schlimm ist nur eins dabei, daß, seitdem ich am «Simpel» zeichne, die Jungen selbstverstätidlich auch ein Anrecht auf ihn zu haben meinen, ich kann ihn ihnen nicht mehr unterschlagen, wie ich wegen seiner Schweinerelen oft möchte. Jeep, ich sehe aber, dieser Brief artet direkt aus, das ist schon die zehnte Seite. Also nur noch schnell zu Stan. Was macht sie, die Liebe, Feine? Sicher seht Ihr sie einmal, vielleicht bald? Ihr müßt sie sehr grüßen. Wann seh ich sie und Euch wieder? Wenn es doch bald wäre, aber ich sehe gar keine Möglichkeit.
Im Katalog der hiesigen Sezession (Zeichnende Künste) sah ich Marianne Gesellschap. [51] Wie nett den Namen mal wieder zu finden. Sie hat also geheiratet. Ihre Arbeit habe ich noch nicht gesehen. Kehler [52] sprach ich. Es geht ihr recht gut. Sie hat hier Portraitaufträge. Von Kögel erzählte sie mir leider, daß sie recht leidend gewesen ist. Nun bin ich aber wirklich fertig, und seid gegrüßt zu Weihnachten, und schreib mir mal!
An Hans Kollwiltz
Berlin, Zum 14. Mai 1911
Mein liebster Junge! Vor mir steht Deine Büste [53]. Wenn ich aufseh, seh ich in Dein liebes Gesicht, das ich so gut kenne in jeder Stimmung. Liebster Junge, Du weißt, wie in diesen Iagen hier an Dich gedacht wird, immer in Liebe, aber in dieser Zeit wird man sich deren noch mehr bewußt. Vor 19 Jahren, als Du geboren wurdest, blühte auch schon der Flieder, ganze Büsche davon hatte ich in meinem Zimmer, wo ich mit Dir eben zur Welt Gekommenen lag. Du hattest schon damals ein ernsthaftes Gesicht. Und dann von dem ersten Geburtstag an - wo ein einzelnes Lichtchen brannte - daneben das Lebenslicht - bis herauf zu dem jetzigen - all die vielen Jahre. Nur ein einziges Mal konnte ich an Deinem Geburstag nicht bei Dir sein, das war, als ich in Italien war, und das war mir damals recht schwer. Nur eines hat in der ganzen Zeit Deiner Entwicklung uns Sorge gemacht, das war Deine Neigung zur Melancholie und zum Gedrücktsein. Aber wir können nichts mehr dagegen tun, nur abwarten und hoffen, daß Du ihrer Herr wirst. Du hast soviel Kraft - Hans, Du wirst auch mit diesem Hang zur Traurigkeit fertig werden. Ich denke immer daran, daß auch mir die jungen jahre schwerer zu tragen waren als die späteren. Die Lobpreisung auf das Leben, wie der alte Goethe sie im «Lyriceus» anstimmt, ist wohl nur im Alter denkbar; derselbe Goethe ging in seiner Jugend mit Selbstmordgedanken um und, um nur an eines seiner Gedichte zu denken: «Immer ist dem Herzen bang - Schmerzen sind der Jugend Nahrung - Tränen seliger Lobgesang.» Liebster Junge - durch durch das Leben - es ist schließlich doch immer lebenswert. Mit Ausnahme natürlich, aber warum sollen diese Ausnahmen, diese wirklichen Unerträglichkeiten, Dich treffen?
An Hans Kollwiltz
Berlin, den 20. Mai 1911
Mein lieber Junge! Nun muß ich Dir das Traurige schreiben, daß Pitti gestern getötet ist. Es wurde uns allen schwer, besonders Peter. Aber da das arme Tier ganz verändert war und ganz ohne Fröhlichkeit, mußte es geschehen, und nun es geschehen, bin ich zufrieden damit. Ich brachte ihn selbst hin nach dem Tierschutzverein, und es wurde mir sehr schwer, ihn dazulassen. Er ist sofort getötet. Am traurigsten war es wohl den Abend vorher. Ich sprach mit Peter von der Notwendigkeit, es zu tun, da hörten wir Pitti an der Tür kratzen. Wir nahmen ihn herein und Peter ihn auf den Schoß. Wir sprachen noch weiter über ihn. Wir sind beide überzeugt, daß Pitti es geahnt hat. Er war so wunderbar. Durch nichts, auch durch kein Locken mit Fleisch war er von uns fortzubringen, er folgte Peter ins Badezimmer und in die Schlafstube, bis er im Bett war, und dann kam er wieder zu mir zurück und legte sich vor mich hin, den Kopf auf meine Füße, und es war schon ganz spät nachts, als ich ihn endlich herausbringen konnte. So traurig anhänglich und zärtlich war er selten gewesen. Desto trauriger war es für uns am nächsten Tage. Als Peter nicht da war, machte ich ein rasches Ende.
Übrigens war ich gestern zum erstenmal in der «Großen». [54] Die erdrückende Fülle des Halbguten auch in Plastik war aber so niederschlagend, daß ich zu mir sagte, ich gehe rasch noch in die Nationalgalerie und seh mir was ganz Gutes an. Das war denn auch sehr fein. Da die unteren Räume umgebaut werden, haben sie in dem großen Oberlichtsaal oben so ziemlich die Elite zusammengebracht: [56] Menzel, Böcklin, Feuerbach [55], Trübner, Thoma [57], Liebermann [58]. Dann ging ich noch zu den Franzosen rauf, und gleich im ersten Raum - wo auch die famose Rodinbüste ist - fiel mir schwer auf die Seele meine Unterschnft unter den [59] Vinnenschen Protest [60]. Denn hier sah ich wieder einmal die Franzosen in ganz guten Werken vertreten und sagte mir, daß die deutsche Kunst unter allen Umständen die romanische Befruchtung braucht. Die Franzosen sind eben mit ihren Sinnen viel glücklicher beanlagt für die Malerei, den Deutschen mangelt der kolonistische Sinn, und ein Sich-auf-sich-selbst-Stellen würde für Deutschland vielleicht bedeuten, daß es auf die malerischen Qualitäten der Dresdner Schule, die ich verabscheue, herauskommt. Natürlich sagte ich mir so etwas auch, bevor ich Vinnen unterschrieb, aber ich war damals so erbost über die letzten Geschenke aus Paris, daß ich eben unterschrieb. Ich hätte mir lieber sagen sollen, die ganze Matisse-Periode [61] wird ein Ende haben, das man ruhig abwarten müsse. Während ich so stand und mir derartiges überlegte, wurde ich auf ein Gespräch aufmerksam, das neben mir ein Museumsdiener mit einer kopierenden Malerin führte. Auf einmal wurde mir klar, daß sie von mir sprachen, und zwar rühmte der Museumsdiener mich über die Maßen. Aber er hatte keinen Charakter, denn als die Malerin, ihm opponierte, wurde er immer kleinlauter und zu guter Letzt sagte er: «Ja, natürlich, das ist auch so, die Frau gehört ins Haus.»
An Hans Kollwiltz
Berlin, den 15. Oktober 1911
Mein lieber Junge! ... Gestern war ein fröhlicher Tag. Es wurde die «Juryfreie» eröffnet unter entsetzlichem Andrang des Publikums. Durch alle drei Stockwerke ein rasendes Gedränge. Die Ausstellung macht einen sehr guten Eindruck. Mit großem Geschick sind die langweiligen Sachen zusammen gruppiert und die besseren hängen in würdiger Gesellschaft. [62] Es scheinen, so weit ich gesehen habe, viele gute und interessante Sachen da zu sein. Das Plakat stellt ein neugeborenes Kind dar, das von zwei Händen in die Höh gehoben wird und das furchtbar vergnügt kräht und von derber Konstitution zu sein scheint. Am Abend gaben die Leute ein großes Festessen im Künstlerhaus und telephonierten mir immerfort, ich solle hinkommen. Zuletzt tat ich es, kam aber erst um zehn, als sie alle an langen Tafeln speisten. Denk Dir meinen Schreck, als, wie ich reinkam, mich gleich Sandkuhl erspähte, aufstand und ein Hoch auf mich ausbrachte, und die Musik blies Tusch und alle schrien Hoch[63] . Ich war so verlegen, daß ich gar nicht wußte, wo ich bleiben sollte. Zum Glück entdeckte ich die Lene Bloch [64] und kam an ihrer Seite zur Ruhe. Es waren überhaupt so viele Bekannte auch anderer Art, daß ich rasch noch an Vater telephonierte, der auch noch kam. Es war sehr nett, aber dauerte furchtbar spät, heut bin ich ganz schläfrig.
An Hans Kollwiltz
Berlin, den 2. Februar 1913
Lieber Junge! ... Peter kommt heute doch nicht zum Schreiben. Der sitzt drüben über «Frühlings Erwachen». Ich hatte das Buch heut auf die Elektrische mitgenommen, es sind wohl bald zehn Jahr her, seit ich es damals las. Auch heut war die Wirkung enorm. Der jugendliche Wedekind, [65] das ist doch was sehr Starkes und Lebendiges. Seine späteren Sachen mag ich nicht, aber «Frühlings Erwachen», «Erdgeist», «Pandora»! Wenn ich sie lese, empfinde ich wieder etwas Ähnliches, wie ich damals empfand. Nämlich, daß das Leben in seiner Gewalt, Wucht, Unerbittlichkeit fast nicht zu tragen ist. Das Nackte in seinen Sachen, das brutal Nackte, das leidenschaftlich Vergrößernde, das Krasse ähnlich sah ich das Leben, nur daß eine Nuance bei mir vorherrschte, die bei ihm weniger betont wird. Ich glaube nicht, daß ich das Leben jetzt verschleierter sehe, im Gegenteil, aber ich sehe es ehr von weitem, übersehe es mehr, und es scheint mir nun auch sinnvoller. Damals war es so, als ob man unmittelbar vor sich, mit der Nase daraufstoßend, einen Koloß hatte, von dessen Gefüge man nichts kannte, der durch krasse Beleuchtung grelles Licht und kohlschwarze Schatten bekam. Jetzt bin ich diesem Monstrum fernergerückt, hab mich bekannt gemacht mit seinen Formen, und es hat z. T. seine Schrecken verloren. Lese ich aber Wedekind, dann schwinden wieder zwanzig Jahre aus meinem Leben, stecke ich wieder drin in dem leidenschaftlichen Gefühl des Sich-wehren-Müssens gegen das Monstrum. Aber genug davon. Noch mal möchte ich übrigens kaum meine Jugend wieder durchleben, wohl aber die Jahre des Heraushebens aus dem Leidenszustand, des klar Empfindens meiner Kräfte. Schließ1ich aber geht das ähnlich wie bei einem Musikstück. Die Fugen greifen immer wieder durcheinander. Wenn man meint, ein Thema ist beiseite gelegt, dann kommt es doch immer wieder zum Vorschein, nur freilich in etwas veränderter und abgebogener Gestalt, meist reicher. Und das ist ja auch sehr gut so.
An Hans Kollwitz
Berlin den 2. Februar 1913
Lieber Junge! ... jetzt ist immer eine Sezessionssitzung nach der anderen. Und ich bin meinem Schicksal wirklich nicht entgangen, sie haben mir ein greuliches Amt angepackt, nämlich zweiter Schriftführer, d. h. wenn Baluschek fehlt, muß ich Protokoll führen usw. Ich wehrte mich und sagte, ich könnte es nicht, aber Cassirer sagte, ich solle es versuchen, wenn ich es nicht kann, setzen sie mich wieder ab. So hab ich es nun wirklich auf dem Rücken. Wie mich dieses Amt aber beunruhigt, siehst Du daraus, daß mir in der darauffolgenden Nacht träumte, die Sezession hätte mich beauftragt, eine Menge roter Zettel an die Litfaßsäulen zu kleben [66]. Da lief ich nun mit einem vorgebundenen Kleistertopf und einem großen Pinsel atemlos von Säule zu Säule und klebte meine roten Zettel auf, zitternd, ich könnte es nicht recht machen. Abgesehen aber von diesen Sorgen, die ich damit habe, sind die Sitzungen mir interessant. Cassirer ist voller Pläne und ist wirklich eine solche Energie, [67] daß er mir imponiert.
Wie wunderschön, daß Du jetzt noch im halben Winter schon draußen bist. Auch ich hab manchmal solche Sehnsucht nach Land, weitem Himmel, Wolken, Geruch von Erde, Krähenschwärmen, nach all dem, was es außer Berlin gibt. Aber so trottet man täglich den einen Weg nach dem Atelier. Barlach [68] hat sich in einem mecklenburgischen Dorf eingemietet, aber das könnte ich doch nicht. Bei aller sentimentalen Sehnsucht nach dem Land brauch ich doch wohl die Stadt.
Leb wohl, lieber alter Junge. Und Ostern? Da wirst Du wohl wieder aufs Land? Wenn mich der Sezessionsvorstand, statt mich zum Schriftführer zu machen, lieber jetzt nach Düsseldorf schicken würde zur Ordnung der dortigen Ausstellungsangelegenheiten. Leb wohl, bleib gesund. Mutter
An Hans Kollwitz
Georgenwalde den 14. Juli 1914
Lieber Junge! ... Dann gehen wir essen und gehen meist noch nach der See oben oder unten und sehen den Sonnenuntergang. Hier gibt es wieder die rechten Sonnenuntergänge. Die Sonne so weit und groß unter einem ausgebreitet, und dann sinkt die Sonne am wolkenlosen Himmel langsam in diesen rauschenden Schoß. Nun habe ich Eure Geschenke, liebe Jungen, und danke Euch herzlich dafür. Viel schöner wäre es gewesen, Ihr hättet sie mir selbst geben können. Nun muß ich, wie Peter sagt, «allein damit fertig werden». Es ist mir gar nicht schwer geworden. Trotzdem - um mit Peter anzufangen - ja, ich finde, daß es ein absoluter Holzweg ist, auf dem er geht. Das weißt Du ja, Peter. Ich wünsche so sehr für Dich, daß ein gründliches Studium einsetzt. Wie Du selbst sagtest, hört das Studium auf, sobald Du an die Farbe gehst. Ich freue mich über Deine Art, Formen zu sehen, ich finde, daß Du das Organische siehst. Aber Deine Farbe ist ein Gefühlserguß. Und Gefühlsergüsse darf man sich eigentlich erst gestatten nach angestrengter Verstandesarbeit. Setzt man sie vor die Verstandesarbeit, so hat man bald ein flaues Gefühl im Magen, man wird verkatert. Und empfindet Dilettantismus. Das ist der Punkt, über den wir uns noch unendlich oft streiten werden. Darin sind wir ja aber doch einig, daß eine Schulung not tut. Wüßte man nur erst, was und wo. Dein Selbstbildnis habe ich in seinen früheren Stadien nicht gesehen; so kommt es mir verquält vor. Es wäre besser gewesen, ich hätte nicht immer gewissenhaft den Kopf weggewandt, wenn ich in Deine Stube kam.
An Beate Bonus-Jeep
Berlin, Ende 1914
Jeep - liebe alte Jeep nicht war, es geht viel herein in ein Menschenleben! Es geht so viel herein, daß sogar noch für etwas Neues Platz ist, das ist merkwürdigerweise eine Art neue Kraft. Du weißt, es war furchtbar verdunkelt um mich. Wenn nicht das Bangen vor dem Abschied, von den paar so geliebten Menschen gewesen wäre, der Tod war mir willkommen. Da kam am Mittwoch ganz still Hans zu mir herein und nahm mich in seine liebevollen Arme, und ich wußte alles [69]. Von da ab, wie er wieder ging, kam das Neue und war auch da, als am nächsten Tage Ottilie [70] und Hans kamen. Ich spürte, mein Leben hat doch noch etwas Wert. Die große Liebe zu den anderen ließ mich Worte finden, denen sie glaubten, weil sie wußten, daß alles das durchgelebt war. Es ist ja seltsam jetzt, unser Peter und dieser Peter, das webt sich alles so durcheinander wie ein großer Teppich. Was vor fast dreißig Jahren geschah, weiß ich bis ins kleinste. Weiß, wie Karl mir zu helfen sich mühte und wie es in mir sitzen blieb, als er sagte: Ich gehe gern mit dir aus dem Leben wenn ich aber im Leben bleibe, dann will ich es ganz tun. Und wie dann endlich ich wieder zurückfand zur Arbeit, wo Peter schon auf mich wartete und immer neben mir war.
So, Jeep, meinst Du es wohl auch, wenn Du von denen sprichst, die helfend ihre Hände reichen. Meine eigene jetzige Arbeit, nein, die ist tot und wohl kaum mehr ins Leben zu bringen. Es kommt auch kaum mehr darauf an. Noch vor nicht sehr langer Zeit glaubte ich, das würde mir sehr schwer sein. Es ist aber nicht, ich habe alles sagen können, was ich glaubte sagen zu müssen. Und nun, Du Liebe, daß Du hast fertigbringen können, woran Du so gearbeitet hast, das erfüllt mich immer mit großer Freude. Und Deine Kraft soll bleiben, und Du sollst weiter schaffen können. Dein Heinz [71] war bei mir und war so sehr bewegt. Er schrieb auch an die Kinder und gedachte Eurer großen Fassung damals, als Ihr zur Helga [72] herüberkamt. Er könnte es dazu nicht bringen. Du Geliebte, wie sind wir so vielfach verbunden. Bleib noch gesund. Deine alte Schmidt
An Erich Krems [73]
Berlin, den 4. Januar 1915
Lieber Erich Krems! ... Vor nun sechs Wochen brachte uns Walter Koch die erste Nachricht. Dann waren wir bei Hans Koch im Lazarett, und er sagte uns das Nähere. Ihr Brief berichtete uns das auch, und was in Hans Kochs Bericht nicht drin war, war in Ihrem Brief, die Liebe und der Schmerz um Peter.
Ich habe Sie lieb, Krems, weil Sie Peter lieben und er Sie liebte. Sie haben den Freund verloren. In unser Leben ist ein Riß gekommen, der nie wieder heil wird. Soll auch nicht.
Ein Kind zu gebären und groß zu ziehen und nach achtzehn köstlichen Jahren zu sehen, wie alle Anlagen sich entfalten, wie reich der Baum Frucht tragen will - und dann aus.
Ich habe eine Arbeit im Sinn, Peter zu Ehren. Das ist ein Ziel. Sie schreiben, Sie halten Peter die Treue. Sie tun es, ich weiß es. Hier haben Sie ein Bild, das Regula Stern damals aufnahm. Auf Wiedersehen, Erich Krems.
An Hans Kollwitz
Berlin, den 21. Februar(1915
Mein lieber Hans! Ganz langsam und allmählich komme ich zu der Arbeit für Peter. Während dieser Arbeitswochen ist mir von neuem etwas klar geworden, was ich schon vor Monaten zu Dir aussprach, was in der dazwischenliegenden Zeit sich aber sehr verdunkelt hatte und woran ich fast nicht mehr glaubte. - Kurz bevor die Nachricht von Peter kam, waren wir beide nach Potsdam gefahren. Ich sagte Dir da von der neuen Erkenntnis, die diese Zeit mir gebracht hat. Daß der Egoismus abstürbe und daß das Recht auf freien Tod auch über Euern Tod heraus nicht mehr nur dem einzelnen zustände, wie ich früher glaubte. Hinter dem Einzelleben stände das Vaterland, und solange man diesem nutzen kann, hat man zu leben. Das war damals.
Warum in dieser Zeit hilft mir die Arbeit? Es ist nicht genügend, wenn ich sage, daß sie mich sehr interessiert. Weil sie eine Aufgabe ist, der ich mich nicht entziehen darf. Wie Ihr, meine leiblichen Kinder, meine Aufgaben wart, so auch meine andern Arbeiten. Das klingt Dir vielleicht so, als ob ich meinte, der Menschheit etwas zu entziehen, wenn ich nicht mehr arbeitete. In gewisser Weise: ja. Weil dies mein Posten ist, von dem ich nicht runter darf, bis ich mit meinem Pfund bis zu Ende gewuchert habe. Die Verpflichtung hat jeder, der zum Leben bestimmt ist, den in ihn gelegten Plan auszuarbeiten bis zur letzten Feile. Dann darf er gehn. Dann sterben wohl auch die meisten Menschen. Peter war «Saatfrucht, die nicht vermahlen werden soll». Er selbst war die Saatfrucht. Wäre es mir oder Vater möglich gewesen, für ihn zu sterben, daß er leben dürfte - o wie gern wären wir gegangen. Für Dich wie für ihn. Aber es ging nicht. Ich bin nicht Saatfrucht, ich habe nur die Aufgabe, das in mich gelegte Samenkorn zu Ende zu entwickeln. Und Du, mein Hans? O würdest Du doch zum Leben geboren sein. Du sollst es sein und sollst daran glauben.
An Hans Kollwitz
Rohrbrunn, den 24. Juni 1916 [74]
Mein lieber Junge - wir wären froh, fänden wir Dich dort noch vor, trotzdem ich Dir ein endliches Fortkommen wünsche. Am Freitag sind wir zu Haus. Heut ist Johanni. In der Nacht hat es sich wieder bezogen und geregnet, heut ist ein schwüler Westwind. Die Wiesen vor unserem Fenster sind nun zum großen Teil gemäht, was nur kriechen konnte, war draußen beim Heuen. Frau Förster, Babette, ein junger Bruder der Babette und ein Arbeiter, den es ihr endlich glückte zu bekommen, sind von fünf Uhr an bei der Arbeit. Ich wachte auf und hörte - es war noch dämmerig - den rauschenden Sichelton. Auch Vater, hat gemäht, daß der Schweiß troff. Herrlich sind diese Tage, ein strotzendes saftiges Leben in der Natur Tag und Nacht. Wirkliche Johanniszeit. Aber will man sich dem hingeben, dann taucht dahinter das andere auf. Für zwei Tage waren wir auf Extrareise. Wir sind am Main entlanggewandert, schön, schön war es. Als wir in Miltenberg ankamen, hingen überall Fahnen [75]. Wir dachten Sieg, aber es war schon für Fronleichnam. Wir wohnten in dem uralten Gasthaus «Zum Riesen». Luther hat dort schon gewohnt und weiß Gott wer alles. Als wir früh aus dem Fenster sahen, waren wir entzückt. So wird der Frieden wohl gefeiert werden. In den engen Gäßchen die langen, leise wehenden Fahnen, blau-weiß und schwarz-weiß-rot. Von Fenster zu Fenster zogen sich Girlanden vom hellsten Tannengrün Der Boden war und wurde immer mehr bestreut mit Gras und bunten Feldblumen. All die kleinen Vortreppchen, die von den Häusern auf die Straße führen, mit Rosen und Tannen belegt. Und schon gingen die Leute der Kirche zu im besten Staat, die kleinen Mädchen bis zu den lächerlich kleinsten im weißen Kleid mit Kleekränzchen im offenen Haar, ein Blumenkörbchen vor sich tragend. Wir sahen dann die ganze Prozession von unserem Fenster aus. Gerade am «Riesen» verbreitert sich die Straße etwas, hier war ein Madonnenbild angebracht und kam der Zug etwas zum Halten. Das war so wunderschön alles, die Gesänge der Männer und die Gesänge der Frauen und das Kerzenlicht in der Frühlingssonne. Aber am allerschönsten war das Trüppchen Feldgrauer, das mitging, einige an Stöcken. Einer trug eine himmelblaue Fahne, auf der stand: Deutsche Heimat. Da kniete ich in meinem innersten Herzen mit ihnen hin und dankte und betete. An demselben Tage kamen wir noch durch andere Örtchen. Überall dieselbe liebliche Ausschmückung. In einem Dorf hatten sie die ganze Strecke, durch die der Zug ging, rechts und links mit Maien bepflanzt, so daß man wie durch eine Allee kleiner Bäumchen schritt. Am Abend vorher fuhren wir auf einer Fähre über den Main und stiegen zum Kloster Engelsberg [76] auf. Am Wege waren die Leidensstationen Christi in Sandstein ausgehauen. Es waren alles neue Monumente. Oben drauf das Bild aus Christi Leben. Unten: dem Andenken des gefallenen Kriegers ... bei... Die Eltern, die Gattin, die Kinder. Einige vor Ypern [77] gefallen im Oktober 1914. Auf einem stand aus der Bibel: Er tat seinen Mund nicht auf, denn er wollte das Opfer sein. Es bezog sich auf Jesus, vielleicht auch auf den Gefallenen. Schön sind hier alle Tage. Aber diese beiden Wandertage waren noch besonders schön...
An Beate Bonus Jeep
Berlin 1916
... Die Zeit ist ausgefüllt. Zuallererst kommt die Arbeit, die nimmt die Hauptzeit. Am späteren Abend sehen wir, mein Mann und ich, daß wir ein wenig zusammen sein können es ist nie viel. Und dann der Hans, an den ich so viel schreibe. Und mein Tisch in Peters stiller Stube. Da schreibe ich, lese ich. Mit Peters Jungen in Gemeinschaft zu bleiben war mir sehr Bedürfnis. Die Jungen sind alle meine Freunde geworden, in einem Sinn meine Söhne. Und auch diese Söhne sind nun fast alle hin. Vier sind ihm gefolgt. Ihre Briefe liegen da, ihre Bilder. Alles tot. Einer lebt noch, der mit Peter auf der Kunstgewerbeschule war. Der steht im Osten, ein einsamer, mutterloser Junge. Der hat mir sein Vertrauen ganz geschenkt. Wenn der wiederkäme - ich will ihn liebhaben. - Es tut sehr weh, zu sehen, wie sie einer nach dem anderen sterben. Etwas von Mutterliebe hatte ich für sie alle, weil sie mit meinem eigenen Kind verbunden waren. Einer ist hier und kommt auch nicht mehr heraus, weil er einen zerschossenen Arm hat. Der kommt oft. Er ist nun ganz allein von den Jungen, die in Norwegen [78] waren, übrig. Jeep - wie sehn ich mich nach Frieden. Du auch, ich weiß es, jeder. Ich hab nur noch wenige draußen, um deren Leben ich Angst habe (Hans ist nicht an der Front), das ist es nicht. Aber Frieden, Frieden - nicht mehr Krieg. Bloß ein Ende mit diesem Töten. Zwei Jahre sind es jetzt her, daß Peter ging Heut vor zwei Jahren gingen wir Hand in Hand unter dem Sternenhimmel. Was für zwei Jahre waren das! Du, ich bin anders geworden. Ich will, wenn ich die große Arbeit fertig habe, die beiden Figuren zu einem Grabstein machen. Da wirst Du sehen, wie wir geworden sind.
Grüße Deinen Mann und Deine schönen, blühenden Kinder.
An Hans Kollwitz
Berlin im September 1916
Mein lieber Hans... Mit Julius Hoyer [79] und Richard Noll nenne ich mich jetzt auch «Du» [80]. Dem Erich sagte ich immer Du in meinen Gedanken. Aber doch ist das liebe Wort nie von ihm zu mir und mir zu ihm gebraucht. Er war mir von Peters Jungen der Nächste. Aber nun will ich die halten, die noch leben, und will sie lieb haben. Hans Koch habe ich seit seiner Reise noch nicht gesehen. Er kommt am Montag und will viel erzählen von einem neuen Bund [81] als Fortsetzung des alten. Er ist sehr jung und so elastisch. Das ist schön. Richard Noll ist anders. Er ist eben schon um sechs Jahre älter. Ihm werde ich ja nun auch näherkommen. Du weißt, daß mich seine Art nicht anzieht. Aber darauf kommt es nicht an. Wenn durch das «Duu», das ich ihm gebe, ich ein Versprechen gegeben habe, ihm nahekommen zu wollen, so weiß ich, daß ich dieses Versprechen halten kann. Ein anderes ist die Treue in jungen Jahren in Liebesangelegenheiten, die ist oft schwer zu halten, man kann da schlecht versprechen, und ein anderes ist die Treue, zu der ich mich innerlich ihm gegenüber bereit fühle. Er war Freund Euch beiden und dem Erich und bleibt Freund. So bin ich dankbar, wenn er vertrauensvoll sich auch mir anschließen will. Daß das, was Ihr - meine Kinder - mir seid, nie ein Dritter sein kann, das weiß er. Seine eigene Mutter lebt, und er liebt sie. Und der Julius Hoyer? Den liebe ich, weil er so verlassen ist und mit so inniger Treue an Peter hängt. Ihm gibt es ein Gefühl der Wärme und der Heimat, daß ich ihm mehr sein will als die «gnädige Frau», mit der er mich immer noch benannte. Er ist so früh mutterlos geworden, und der erste Mensch, der ihm Liebe entgegengebracht hat, war der Peter. Er ist ein innerlichst bescheidener Mensch, verkapselt in seinem Gefühl - einsam. Ich bin froh darüber, daß er sich nun nicht mehr so verlassen weiß.
So, mein liebes Kind, das wollte ich Dir noch sagen. Mir kommt es jetzt in dieser Zeit so vor, als ob es die wichtigste Aufgabe des alternden Menschen ist, Liebe und Wärme zu geben, wo er kann. Das Leben ist so furchtbar schwer jetzt. Lebwohl, mein geliebter Eigener.
An Hans Kollwitz
Berlin, Sonntag, den 15. Oktober 1916
Mein Junge, was hab ich heute vormittag für herrliche Musik gehört. Die Missa solemnis [82]. Welche Gewalt! Das Credo mit den felsenfesten unerschütterlichen Eingangstönen und dem geheimnisvollen et incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine et homo factus est [83]. Dann das herrliche gelöste Sanctus und der Schluß: dona nobis pacem [84]. Neulich las ich, daß Beethoven wie ein Besessener oft außerhalb der Stadt herumgelaufen ist, laut singend, einmal direkt in ein Fuhrwerk herein, und vom Kutscher grob ausgeschimpft wurde. Das glaube ich. Trotz der intensiven Arbeit, die der Musiker leistet, hat man doch nur von den zwei Künsten, der Poesie und der Musik, den Eindruck direkter göttlicher Eingebung und Offenbarung. Hat auf mich je ein Bild oder eine Plastik so gewirkt wie «Faust» oder die «Neunte»? Bei der Musik ist doch auch der Weg ein weiter von der ersten Konzeption bis zur Vollendung, die Mühe ist wohl mindestens dieselbe. Die Wirkung auf die anderen Menschen ist aber ungleich intensiver.
Am 13. war wundervolles Wetter. Frühlingswarmes Sonnenwetter. Ich war auf dem Wege ins Atelier, als mir einfiel, lieber herauszufahren. Ich tat es, war wieder auf den Schildhornhöhen. Ja, das ist wirklich die Stelle, wo die Arbeit [85] stehen muß, ich kann mir schon keinen anderen Platz dafür denken. Die alten Kiefern rauschten. Ich saß da und dachte an alles. Und denk mal, da fand ich die kleine rosenrote Federnelke blühen. Eine solche gab ich dem Peter damals. Es war die einzige Blume, die ich in Wünsdorf [86] fand. So gibt es immer sichtbare Zeichen für alle Zusammenhänge. Vor eineinhalb Jahren hab ich die Arbeit begonnen. Nach monatelangem Arbeiten kamen in diesem Sommer große Ermüdungen und zum ersten Male der Gedanke: Werde ich es vielleicht doch nicht machen können? Das ist wieder vorüber. Es war eine traurige Zeit. Ich werde sie machen können. Eine Arbeit, die für die Dauer vieler Jahrzehnte berechnet ist, kann nicht in kurzer Zeit fertig sein. Ob ich sie bei meiner großen Ausstellung in Gips werde zeigen können, weiß ich nicht. Ich fürchte nein. Aber die große Ausstellung soll dann für sie werben, sie soll zeigen, daß ich einer solchen Arbeit doch wohl gewachsen sein werde. Und dann in aller Ruhe fertig machen. Gewiß, ich will noch mehr machen als dieses, ich wäre dankbar, wenn ich es dürfte - vor allem aber dieses. Eher möchte ich nicht abberufen werden. Das klingt Dir vielleicht sehr trübe. Nein - ich fühle mich gesund. Aber Du weißt ja: Noch ist es Zeit ... es kommt die Nacht, wo niemand schaffen kann. Auch hält man seine Zeit besser zusammen, wenn man nicht denkt, daß es doch ungezählte Jahre so weiter fortgehen wird. Reinhardt [87] gibt in diesem Jahr einen Zyklus, der Soldatenleben behandelt. Er hat angefangen mit Lenz: «Soldaten». Der Lenz [88] aus der Sturm-und-Drang-Zeit. Es war interessant, aber eigentlich gefallen hat es mir nicht. Den «Tycho Brahe» [89] lese ich. Alles das, was Tycho und Kepler betrifft, ist sehr schön [90]. Wie wundervoll ist diese reine Männerliebe, die Brahe zu seinem «Benjamin» empfindet. Das übrige finde ich etwas breit und interessiert mich nicht so.
Leb wohl, Du lieber, lieber Junge. Deine Mutter
An Hans Kollwitz
Berlin, den 18. Februar 1917
Mein lieber Hans! Nun endlich will ich in Ruhe einen ordentlichen Brief schreiben... Eysoldts [91] gaben einen Vortragsabend [92] bei Cassirer. Nicht öffentlich, nur vor Geladenen. Vater und ich waren eingeladen. Das Programm bezog sich mehr oder weniger auf den Krieg. Die ersten Sachen gingen an einem vorüber (Kolb[93] und Däubler [94]). Dann aber las die Durieux [95] eine Geschichte von Leonhard Frank: «Der Kellner». [96] Ein Kellner bekommt im Jahre 94 ein Söhnchen, ein einziges. Die alte Geschichte vom Arbeiten nur für dies Kind. Besucht die höhere Schule, soll studieren. Dann kommt der Krieg. Der Sohn fällt. Der Vater bekommt den Zettel mit den bekannten Worten. Das «auf dem Felde der Ehre» bleibt ihm wie aus einer fremden Sprache. Die Arbeit wird sinnlos für ihn, er vergrübelt ganz. Und dann einmal geht ihm der Mund auf, als er bedient in einer Gewerkschaftsversammlung oder so etwas. Er fängt an zu sprechen und seinem Nichfassenkönnen des Krieges stammelnde Worte zu geben. Die Menschen, die alle geschlagen und getreten sind durch den Krieg, verstehen ihn. Große Erregung kommt über sie. Sie drängen heraus, draußen schließen sich andere an. Bald ist es ein Zug, ein drängender, von Leidenschaft vorwärtsgerissener. Das Wort Frieden schwillt an, alle zusammen schreien nach Frieden.
Dieses las die Durieux mit einer eigenen wachsenden Leidenschaft und Erregtheit. Es war fast nicht zum Aushalten. Ich fühlte, daß nicht nur ich es war, die kaum an sich halten konnte. Als sie geendet hatte und ihr letzter Ruf «Frieden» nachklang, rief einer aus den Zuhörern laut wie in übermäßiger Sehnsucht immer weiter - Frieden, Frieden - es war, als ob wir alle hochgehoben wurden von derselben Welle. Dann wurde das Licht angedreht und dann kam die Eysoldt und las noch anderes - aber ich glaube, niemand hörte das mehr.
Das war mal eine Stichprobe. So sieht es in den Menschen aus, die scheinbar gut den Krieg ertragen. Und wie erst in denen die ganz und gar durch ihn zu Boden geworfen sind? So sieht es überall in Europa aus. Überall unter der Oberfläche blutige Wunden und Tränen. Und doch geht der Krieg weiter und kann nicht aufhören. Nach anderen Gesetzen.
An Hans Kollwitz
Berlin, den 22. April 1917
Mein lieber Hans! ... Du weißt, wie zu Anfang des Krieges Ihr sagtet: die Sozialdemokratie hat versagt. Wir sagten: die Idee des Internationalismus muß jetzt zurücktreten, hinter allem Nationalen steht aber doch das Internationale. Dann war mir diese Auffassung ganz zugeschüttet, und jetzt ist sie wieder da. Die nationale Entwicklung, wie sie jetzt ist, führt in Sackgassen. Es muß ein Zustand gefunden werden, der das völkische Leben erhält, der aber das verhängnisvolle nationale Wettrennen unmöglich macht. Die Sozialdemokraten in Rußland sprechen die wahre Sprache [97]. Das ist Internationalismus. Trotzdem sie ihr Heimatland weiß Gott lieben. Mir will scheinen, als ob hinter all den Krämpfen, die die Welt jetzt durchmacht, doch schon eine neue Schöpfung sich ankündigt. Und das millionenfach geflossene geliebte Blut, es ist geflossen, um die Menschheit höher zu heben, als sie stand. Das ist mein Politisieren, Junge, es kommt auf den Glauben heraus.
An Hans Kollwitz
Berlin, den 9. Juli 1917
Mein Hans. Gestern unter all den Grüßen [98] war keiner von Dir. Aber heute kam er. Hans- ich danke Dir. Das, was Du schreibst - von meiner Arbeit schreibst, macht mich ganz innerlich froh. Ja, der Tag war ein Feiertag. Anders als ich ihn mir früher gedacht hatte - unser Vierter fehlt ja. Aber ich fühle ihn doch, fühle sein liebes freundliches Lächeln. Vater ist hier, steht fest in Liebe neben mir, und Du Ferner bist doch auch da, uns ganz gegenwärtig. Und nun kommen die Freunde. Hätte man gedacht, daß man so viele hat? So viele Menschen einem die Hand geben wollen und sagen, daß man ihnen etwas gegeben hat? Junge, die Fülle von Briefen, Blumen, Telegrammen. Welch ein Widerhall meiner Arbeit, die ich so in aller Stille gemacht hatte. O ja, Hans, dafür bin ich tief dankbar, und das gibt wieder rückwirkende Kraft. Sehr wünschen tue ich mir auch noch, das sagen zu dürfen, was ich noch nicht gesagt habe. Ich halte es für wichtig. Wenn mir das doch auch noch geschenkt würde. Aber freilich, wann hört man auf und sagt: Nun ist nichts mehr zu sagen? Dürfte ich wenigstens die Arbeiten, die mir jetzt so nahestehen, noch gut fertigmachen. Ich hoffe es und bin froh. Aber keinen von Euch mehr verlieren müssen! Und doch - ich hätte immer noch die Arbeit.
Gott gebe, daß wir zusammenbleiben. Noch eine gute Weile auch auf dieser Welt. So wie Du es schreibst, sind wir immer zusammen - wir vier. Den Gundolf hatte Vater vergessen. [99] Ich hatte das Buch ja verpackt oben liegen sehen, war ihm aber nicht nahe gekommen, weil ich ahnte, es könnte etwas für mich sein. Nun, als Dein Brief heute kam, lief ich gleich herauf und holte es mir im Triumph herunter. Ich freue mich so sehr darüber, lieber Junge, und danke Dir herzlich. Nun will ich wieder lesen, lesen. Der Goethe ist für mich ein Brunnen, unerschöpflich, immer bereichernd. Was danke ich ihm!
An Erna Krüger
Berlin, den 22. März 1918 [100]
Meine liebe Erna Krüger! ... Es ist nicht nur dies, was das Leben beklemmt - meines. Es ist der allgemeine Druck. Wie wenig freut einen jetzt! Der russische Frieden [101] könnte herrlich sein. Aber so, wie er ist, ist er nicht gut. Ein Gewaltfrieden, der neue Kriege nach sich ziehen wird. Und jetzt die Offensive [102], vor der man sich fürchtete. Die Ostern, die blutigen Ostern!
Ich habe ein Buch gelesen von einem Franzosen. Es heißt «Le Feu» und ist von Henri Barbusse [103]. Die unsagbaren Leiden des Infanteriesoldaten! Und doch ist das Buch schon im Jahre 15 geschrieben, nachdem der Krieg erst ein Jahr dauerte. Bei dem Aufzählen der unerträglichen Schrecknisse fehlen da noch die Gase. Aber ein anderes Buch las ich, das aus einer andern Welt ist und wirklichen Himmelsfrieden und Freude mit sich bringt. Auch von einem Franzosen, von Rodin [104] - «Die Kathedralen». Diese Heiterkeit des alten Menschen, der ein redliches Lebenswerk hinter sich hat, diese Güte, diese Bescheidenheit, dieses Hochbeglücktsein durch die Schönheit - das färbt auch ein bißchcn auf einen ab. Gottseidank nicht immer ist Krieg und fördert alles Schlechte, dessen der Mensch fähig ist. Dahinter steht wieder ein anderes Leben. Aber vergessen dürfen wir den Krieg nie. An der ungeheuren Schuld hat jeder sein Teil. Und wir müssen abtragen unsere Schuld.
Ich habe meine Form in der Plastik nicht. Fast fürchte ich auch, ich finde sie nie. Es bleibt für mich immer nur der eine Weg, zu versuchen, den Ausdruck an erste Stelle zu setzen. In der Zeichnung komme ich damit aus, aber ob in der Plastik, das ist mir die Frage. Ob Plastik nicht immer langweilig bleibt, die ihren Hauptnachdruck im Ausdruck und nicht in der Form hat? Wann kommen Sie wohl wieder? Das wird sicher vom Zustand Ihrer Schwester abhängen. Wie herzlich wünsche ich Ihnen, daß Sie bald ganz ohne Sorgen sein können. Grüßen Sie bitte Ihr liebes «Tönchen». Ich kann ja nicht anders sagen, weil ich Ihre Schwester nur so kenne.
Seien Sie von meinem Mann und mir herzlich gegrüßt.
An Romain Rolland
Berlin, den 23. Oktober 1922 [105]
Verehrter Romain Roland, Ihr Brief und Gruß war mir eine große Freude. Während des ganzen Krieges, in den vier dunklen Jahren, war Ihr Name - und noch einige wenige andere - eine Art Trost. Weil sie das vertraten, was zu hören man sich sehnte. Ich danke Ihnen, daß Sie unseres toten Sohnes gedenken. Heute gerade sind es acht Jahre her, daß er fiel. Zehn Tage war er im Felde, dann war sein achtzehnjähriges Leben beendet. Er ging gläubig und starb so. Noch schwerer haben es seine Freunde gehabt, die auch alle fielen im Laufe dieser vier Jahre. Ihr Glaube wankte und wurde Haß und Abscheu gegen den Krieg. Aber der Krieg ließ sie nicht los, sie mußten fast alle verbluten in ihrer schönsten Jugend.
Wir alle - in allen kriegführenden Ländern - haben ja dasselbe getragen. Ich habe immer wieder versucht, den Krieg zu gestalten.
Ich konnte es nie fassen.
Jetzt endlich habe ich eine Folge von Holzschnitten fertiggebracht, die einigermqßen das sagen, was ich sagen wollte. Es sind sieben Blätter, betitelt: das Opfer - die Freiwilligen - die Eltern - die Mütter die Witwen [106] - das Volk. Diese Blätter sollen in alle Welt wandern und sollen allen Menschen zusammenfassend sagen: so war es - das haben wir alle getragen durch diese unaussprechlich schweren Jahre. Ich gebe Ihnen herzlich die Hand und danke Ihnen für Ihre guten Worte.
Käthe Kollwitz