Auf den Deckengemälden der sixtinischen Kapelle, jenen Offenbarungen einer höchsten Künstlerseele, treten Adam und Eva in die Welt und werden, wie es nach ihrer Natur geschehen mußte, aus dem Paradiese des ursprünglichen Lebens verstoßen. Aber um sie her reihen sich die Gestalten derjenigen, die dem Menschen einen Weg in ein anderes Paradies bahnen wollen, Sibyllen und Propheten, die Verkündiger seiner Zukunft, die Lehrer und Pfadfinder eines erhöhten Lebens. Und neben ihnen in gläubiger Vorbereitung die Vorfahren dessen, der da kommen soll, dieses erhöhte Leben zu verwirklichen, der die tausendjährigen Hoffnungen erfüllen und die unbeirrbare Erwartung krönen wird.
Damit ist die tiefste menschliche Sehnsucht dargestellt, eine Sehnsucht, die in unendlich vielen Formen nach Ausdruck ringt, in den mannigfaltigsten Vorstellungen sich spiegelt, in religiösen und profanen Träumen eine vernehmliche Sprache redet. Sie zieht sich durch die ganze Geistesgeschichte der Menschheit, und die ist eben so gegenwärtig in den enthusiastisch-ekstatischen Epochen des Denkens wie in den positivistisch-rationalen. Es ist die Sehnsucht nach einem höheren Dasein, nach einem vollendeteren Zustand, in dem das unzulängliche alte Menschentum eine Erhebung und Verklärung finden soll.
Auch die Gegenwart gibt Zeugnis davon. Die religiösen Vorstellungen, welche diese Sehnsucht mit der Verheißung eines jenseitigen Lebens der Seligkeit beschwichtigen, sind von einer evolutionistischen Naturbetrachtung abgelöst worden, die in der Vorstellung einer nach immer wachsender Vollkommenheit zielenden Entwicklungsreihe gipfelt und dem Menschen Anwartschaft auf eine schönere Zukunft gibt, die die Frucht seiner eigenen, durch die unabsehbare Kette der Generationen fortgesetzten Arbeit sein wird.
Den vollendetsten, von religiöser Glut erwärmten Ausdruck hat dieser evolutionistische Gedanke in Nietzsches Zarathustra gefunden, der den Übermenschen zu lehren kommt. Ihm erscheint der Mensch, wie er jetzt ist, als Übergang und Untergang, als ein Pfeil der Sehnsucht nach dem, was er dereinst sein wird, nach der neuen, höheren Form des Seins.
Und so geht auch durch das Problem der Geschlechter als Unterströmung jener Wille nach einer vollendeteren, harmonischeren, der sinnlosen Gewalt des Elementaren entrückten Form des persönlichen Lebens. Denn das Gebiet des Geschlechtes, das den vergänglichen Einzelnen mit dem Unvergänglichen verknüpft, mit der Gattung, deren Glied er ist, es ist auch der Boden, aus welchem alles menschliche Streben nach höheren Daseinszuständen aufsteigt.
Wenn in der Gegenwart das Interesse an diesem Problem in seinen niedrigsten Äußerungen als ein neugieriges Wühlen in den sexuellen Untiefen, in seinen höchsten als eine unermüdliche Analyse aller Bedingungen, denen das Männliche und das Weibliche für sich und in ihrem Verhältnis zueinander unterstehen - besonders stark vorherrscht, so ist das auch ein Symptom dafür, daß ein zwiespältiger Zustand des Empfindens, in dem eine unangemessene Norm auf neue Elemente stößt, mit Hilfe der Erkenntnis nach einer anderen Ordnung drängt.
Den Untersuchungen über Mann und Weib entspringen zuletzt zwei kardinale Fragen: die Frage nach dem Sinn und Wert der individuellen Entwicklung und die Frage nach dem Ziele, das dieser Entwicklung vorgezeichnet werden kann. Die Freiheit der Individualität, das souveräne Recht des Einzelnen, sich ganz dem Gesetze seines eigenen Innern zu ergeben, schließt zwar allgemeine Bestimmungen im Sinne von Vorschriften aus; aber nicht nur die sozialen Einrichtungen, die auf der Grundlage allgemeiner Bewertungen ruhen, auch der Trieb nach der vollendeteren Daseinsform, der Trieb, in sich ein Höheres zu verwirklichen, der gerade in den vorzüglichsten Individuen am lebendigsten ist, lassen die objektive Bewertung nach dem Geschlechtscharakter auch für den Standpunkt der freien Individualität keineswegs gleichgültig erscheinen.
Es könnte ja sein, daß der männlichste Mann und das weiblichste Weib, wenn auch in Wirklichkeit vielleicht gar nicht die Mehrzahl, doch die vollendetsten Repräsentanten der menschlichen Gattung sind, jene nämlich, deren Vereinigung den beiden Beteiligten die größtmögliche Summe von individuellem Glück verspricht, oder auch jene, die den vollkommensten Gesellschaftszustand garantieren, so daß es eine Aufgabe, ein »Ideal« der menschlichen Sozietät wäre, ihre Heranzüchtung zu fördern und alles, was der Entfaltung dieser Menschen abträglich wäre, also jede Annäherung und Vermischung der psychischen Geschlechtscharaktere, durchaus zu unterdrücken.
Den Ansprüchen auf Gleichheit oder selbst nur Verwandtschaft der Geschlechter in geistigen Dingen steht die Auffassung gegenüber, daß eine scharf ausgeprägte Geschlechtsphysiognomie der Persönlichkeit das Resultat der historischen Menschheitsentwicklung, und die entschiedene Differenzierung der Individuen nach den Endpolen der Männlichkeit und Weiblichkeit eine hohe Kulturstufe bedeute. Kraft dieser Auffassung wäre das Ideal einer »reinen« Menschlichkeit abzulehnen; denn der Mensch existiert in der Realität entweder als Mann oder als Weib und kann sich nur seiner Geschlechtlichkeit gemäß entwickeln. Ein gemeinsames Menschheitsideal, dem das Weib sich nähert, wenn es Eigenschaften vom Manne annimmt, oder gar der Mann, wenn er weibliche Züge an sich ausbildet, gebe es nicht, sondern nur ein Mannesideal und ein Weibesideal, dem der Einzelne je nach seinem Geschlecht nachstreben und von dem er sich nicht wesentlich entfernen dürfe, ohne in seiner persönlichen Tüchtigkeit und Vollkommenheit herabgesetzt zu werden.
Aber »der Mensch« existiert dennoch: wenn schon nicht in der Außenwelt, so doch in der menschlichen Gedankenwelt, als Begriff. Indem man sagt, »der Mensch als Weib« oder »der Mensch als Mann« hat man etwas gesetzt, das weder von der Vorstellung des Weibes, noch des Mannes zu trennen ist - eben das Gemeinsame, das im menschlichen Denken den Gattungscharakter des Menschen bezeichnet.
Diese Idee der Gemeinsamkeit hat, wie sehr auch scheinbar im realen Leben die Geschlechtstrennung dominiert, zu allen Zeiten eine große Bedeutung besessen. Betrachtet man die historische Menschheitsentwicklung daraufhin, so wird man sehen, daß nur die Formulierung des Problemes und seine Zuspitzung auf das Wesen des weiblichen Geschlechtes der Gegenwart angehört, das Problem selbst aber, vornehmlich in religiöse Ideen gekleidet, etwas sehr altes ist.
Die Vorstellungen über das, was den höheren Menschen ausmacht, was ihn zu einer über das Gewöhnliche hinausführenden Lebensform erhebt, weisen auf eine tief in der menschlichen Natur liegende Neigung hin, die Schranken des Geschlechtes zu durchbrechen. Die Geschlechtstrennung gehört den niedrigen Regionen des Seins an; in den Höhen herrscht die Gemeinsamkeit, die aus der Vereinigung der beiden Lebensformen besteht: diese Anschauung nimmt in dunkleren oder helleren Zügen vielfältig Gestalt an, sobald der menschliche Geist sich mit seinem Verhältnis zur Geschlechtlichkeit beschäftigt.
Eingehüllt in mythische Symbole und Allegorien, in die esoterische Unnahbarkeit der Mysterien, erscheint in der antiken Kultur der Gedanke der Gemeinsamkeit unter der geheimnisvollen religiösen Bedeutung, welche die Hermaphrodisie besaß. Das grob Sinnenfällige der körperlichen Bisexualität, wie es beispielsweise bei den ältesten Darstellungen der cyprischen Aphrodite als eines hermaphroditischen Idoles hervortritt, ist bloß der naive Ausdruck für jene Auffassung, welche die Natur des Göttlichen, die Vollendung, als Vereinigung der Geschlechter in einer Person erblickte. Auch andere griechische Götter zeigen die Spuren dieser Auffassung. Hera erzeugt den Hephästos ohne Mitwirkung des Zeus, um ihre mannweibliche Natur zu offenbaren; Zeus bringt die Athene aus sich selbst hervor und gebiert sie, indem er sie aus seinem Kopf entspringen läßt. Hier ist die Symbolisierung eines geistigen Vorganges als einer Vereinigung männlicher und weiblicher Funktionen ganz deutlich.
Selbst der spiritualisierte Gottesbegriff, dessen Träger das Judentum war, enthält Anklänge an die Vorstellung der Doppelgeschlechtlichkeit. In der hebräischen Kabbala erscheint die »Schwester des Alten« unter den Namen Schekinah als Teil der göttlichen Trinität. Nach einer gleichfalls der jüdischen Mystik angehörenden Vorstellung ist Gott ein männliches, der heilige Geist ein weibliches Urwesen, aus deren geschlechtlicher Vermischung der Sohn und mit ihm die Welt entstanden. (Feuerbach) Diese Auffassung zieht sich bis in das christliche Denken herein: es gibt Anhaltspunkte, daß der heilige Geist, der in der Gestalt der Taube vorgestellt wird, ursprünglich das weibliche Element in der Dreieinigkeit bildete, und unter den frühen christlichen Sekten waren auch solche, die im heiligen Geist eine weibliche Gottheit verehrten; ja noch die Herrenhuter nannten den heiligen Geist die Mutter des Heilands. Nach den herrschenden religiösen Anschauungen ist allerdings das weibliche Element aus der Dreieinigkeit ausgeschieden worden, um in der Gestalt der Muttergottes, der unbefleckten Jungfrau, eine besondere Stellung zu erhalten.
Auch in dieser Gestalt wirkt noch eine alte religiöse Vorstellung fort: die Vorstellung der außergeschlechtlichen oder doch übernatürlichen Zeugung. Danach werden Menschen von besonderer, höherer Bedeutung außerhalb des gewöhnlichen Geschlechtsvorganges geboren, entweder durch ein Herabsteigen der Gottheit unter physischen Bedingungen wie bei den griechischen Heroen, oder von einer jungfräulichen Mutter durch eine bloß spiritualistische Einwirkung des Göttlichen, wie in der Legende von Buddha und von Christus. Denn der Überwinder des gewöhnlichen, geschlechtlich unfreien Menschentumes konnte seinen Ursprung nicht dem verdanken, was den Menschen an das niedrige Leben bindet. In einer späteren Paraphrase findet sich noch bei Paracelsus, der die Geschlechtsteile ein »monstrosisch Zeichen« nennt, der Gedanke, daß die Fortpflanzung des Menschen nach dem ursprünglichen Schöpfungsplan nicht nach »viehischer Weise«, nicht »salnitrisch« geschehen sollte, sondern »iliastrisch«, durch magische Imagination - auf die Weise, wie Gott aus sich die Welt geschaffen hat.
Dieser iliastrische Mensch, der ursprüngliche, gottähnlich vollendete, der Mensch vor dem Sündenfall, wird als ein doppelgeschlechtliches Wesen gedacht. Die jüdische Mystik kennt einen Adam Kadmon, den ersten Adam, den Gott unsterblich und vollkommen als ein mannweibliches Geschöpf in die Welt gesetzt hatte - eine Vorstellung vom Urmenschen, die auch bei der gnostischen Sekte der Ophiten auftritt - um später, zur Strafe seiner Überhebung, die weibliche Hälfte in Gestalt der Eva von ihm loszulösen.
Mit dieser Mythe verwandt ist die bekannte Erzählung des Aristophanes in Platons Gastmahl. Auch hier erscheinen die Menschen in ihrer Urgestalt so geschaffen, daß sie beide Geschlechter in sich vereinigen. In diesem Zustande waren sie so voll Stärke und großer Gedanken, daß Zeus daran gehen mußte, ihre Kraft zu beschränken, weshalb er sie auseinander schnitt und als Hälften weiterleben ließ. Da nun jeder Mensch nur das Stück von einem ehemaligen Ganzen bildet, suchen noch immer die beiden Teile wieder eins zu werden; und die Liebe ist der Ausdruck für dieses Streben, die ursprüngliche Vollkommenheit der menschlichen Natur wieder herzustellen.
Der Gedanke einer solchen vorzeitlichen oder mystischen Verbundenheit, der durch die neuplatonische Philosophie tiefer ausgebildet worden ist, taucht in der Phantasie großer Seelen immer wieder auf, wenn sie lieben. Michelangelo spricht in seinen Sonetten von dem Heimweh, das ihn durch die Augen der geliebten Frau nach dem
»Eden, wo wir einst Gespielen waren«,
zieht; Goethe sagt in einem Gedicht an Frau von Stein:
»Ach, du warst in abgelebten Zeiten
meine Schwester oder meine Frau«
und Schiller hat mit der ganzen leidenschaftlichen Gewalt seiner Jugendperiode diesen Gedanken in dem an Laura gerichteten »Geheimnis der Reminiszenz« ausgedrückt:
»Waren wir im Strahl erlosch'ner Sonnen
schon in Eins zerronnen? Ja wir waren's!...
in innig festverbundenem Wesen
waren wir ein Gott... Weine Laura!
Dieser Gott ist nimmer;
du und ich des Gottes schöne Trümmer -.«
Aber diese Abschweifung in das Gebiet der hohen Liebe, wo das Geschlechtliche mit den edelsten Tendenzen der menschlichen Natur verschmilzt, gehört nicht ganz hierher, wiewohl diese Illusionen symptomatisch für eine bestimmte Art des Geschlechtsempfindens sind, die gemeinsame Quelle auch der Vorstellungen, um welche es sich hier handelt.
Der Zustand der Vollendung als vorzeitliche Einheit der Geschlechter ist nahe verwandt mit der Verwandlung von einem Geschlecht ins andere. Aus der griechischen Welt sind es vor allem zwei überragende Gestalten, die diese Verwandlung durchmachen. Der Seher Tiresias, der Übermensch der Erkenntnis, der an der Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen steht, verwandelt sich aus einem Mann in ein Weib und nach neun Monaten aus einem Weibe wieder in einen Mann, und bei Herakles, dem Übermenschen der Tat, der den ganzen Kreis menschlicher Ausgaben durchmißt, findet sich der gleiche Gedanke in seinem Verhältnis zu Omphale, wenn auch in einer banalisierten Auslegung.
Auch jene orgiastischen Feste der antiken Kultur gehören hierher, bei welchen Männer und Weiber ihre Kleider vertauschten - eine symbolische Handlung, deren esoterischer Sinn darauf hinweist, daß die Geschlechter einen höheren Zustand des Seins durch Tausch erlangen können. Um in das tiefste Mysterium des Lebens einzudringen, muß der Mann etwas vom Weibe annehmen, er muß über die profane Anschauung hinaus, die auf eine absolute und ungeteilte Entfaltung der Männlichkeit gerichtet ist, den Willen zur Überwindung des Geschlechtes haben.
Der barbarisch energische Ausdruck für diesen Willen ist die Verstümmelung, der sich die Cybelepriester unterzogen; um alles Männliche vollends abzustreifen, mußten sie sich überdies den Bart scheren und Weiberkleider tragen. Eine letzte Spur der Forderung, daß der höhere Mensch selbst in seiner Erscheinung keine Geschlechtsmerkmale an sich haben soll, läßt sich noch in der katholischen Sitte erkennen, die dem Priester eine der weiblichen verwandte Kleidung - den bis an die Sohlen reichenden Talar - und ein bartloses Gesicht vorschreibt. Und wenn der Apostel Paulus von solchen spricht, die sich »um des Himmelreiches willen verstümmeln«, so ist die Anspielung auf jene Riten und ihre Nutzanwendung im Sinne der neuen Lehre unverkennbar.
Was in der antiken Welt hinter den Geheimnissen einzelner Kulte verborgen lag, trat im Christentum als neues Lebensideal Allen zugänglich ans Licht. Und niemals ist die Verleugnung und Unterdrückung des Geschlechtlichen stärker, umfassender, überzeugender gepredigt worden als durch dieses neue Lebensideal. Das paulinische Wort:
»Hier ist weder Jude noch Grieche,
weder Herr noch Knecht,
weder Mann noch Weib,
sondern ihr seid allesamt eins
in Jesu Christo«,
ist die bündige Formel dafür, daß ein Allgemein-menschliches, jenseits von Rasse, Stand und Geschlecht, das christliche Wesen begründet. In Ansehung ihrer höchsten sittlichen Werte kennt die christliche Weltanschauung, solange sie konsequent bleibt, keinen Unterschied der Geschlechter, weil sie von ihren vollendeten Bekennern ein Hinaussein über alles Geschlechtliche fordert. Innerhalb dieser Weltanschauung haben Männlichkeit und Weiblichkeit als sittliche Werte gar keinen Raum. Oder, wenn man die Auffassung Hartpole Leckys teilen will, daß der Übergang von der antiken Lebensauffassung zu christlichen der Übergang von einem männlichen zu einem weiblichen Lebensideal war, so mußte zum mindesten der Mann alles Spezifische seiner Geschlechtsnatur aufgeben. Die Geschlechtstugenden fehlen in der geistigen Erscheinung der Heiligen gänzlich; beide Geschlechter unterscheiden sich in Wandel und Gesinnung nicht voneinander. Vorzüge spezifisch geschlechtlicher Art
gehören dem profanen, also dem niedrigen Leben an; und wenn die christlichen Vorschriften keineswegs immer von dem Standpunkt, daß es in der christlichen Gemeinde »weder Mann noch Weib« gebe, ausgehen, so äußert sich darin nur jener Abstand zwischen Theorie und Praxis, der für alle höheren menschlichen Bestrebungen bezeichnend ist.
Aber auch außerhalb der religiösen Vorstellungen und der asketischen Verneinung der Geschlechtsbestimmung lassen sich Symptome erkennen, die auf ein Streben nach Gemeinsamkeit jenseits des Geschlechtes deuten. Hatte das Christentum die Menschheit auf eine höhere Stufe zu heben gesucht, indem es weibliche Züge in der männlichen Psyche erweckte, so stellte die Renaissance, in der so viele antike Elemente wieder aufleben, einen männlichen Typus als den vorbildlichen auch für das Weib hin. Die Annäherung an die geistigen Vorzüge der Männlichkeit galt als eine Auszeichnung des Weibes: »Die Frau von Stande mußte damals ganz wie der Mann nach einer abgeschlossenen, in jeder Hinsicht vollendeten Persönlichkeit streben. Derselbe Hergang in Geist und Herz, der den Mann vollkommen machte, sollte auch das Weib vollkommen machen...
Man braucht nur die völlig männliche Haltung der meisten Weiber in den Heldengedichten, zumal bei Bojardo und Ariosto, zu beachten, um zu wissen, daß es sich hier um ein bestimmtes Ideal handelt.« (Burckhardt, Kultur der Renaissance.) Und es wird als das edelste Bündnis zwischen Mann und Weib gefeiert,
»wenn beider Herz derselbe Geist durchglüht,
in beider Leib dieselbe Seele blüht,
um beiden aufwärts gleichen Schwung zu leihen,...
und eins zum Herrn das andere sich erkor«.
Diese Worte stammen von dem prophetisch hohen Geist, der jenen Jesus-Apollo geschaffen hat, den Gott einer neuen Weltordnung, welcher in seiner übermenschlichen Erscheinung eine Synthese zweier großer Kulturepochen bildet. Aber nicht »zur rechten Hand Gottes«, wie es die christliche Tradition will, hat Michelangelo seinen Messias dargestellt, um ihn mit unsterblicher Richtergebärde unter den Menschen wählen und verwerfen zu lassen - an seiner Seite erscheint das Weib, in wissender Gnade über Erwählte und Verworfene sich neigend.
Wie das christliche Ideal ist auch das Renaissanceideal nur in den Höhen der Menschlichkeit, von besonderen Einzelnen, verwirklicht worden. Wer jedoch die Spuren dieses Ideals in den literarischen Dokumenten verfolgt, wird sehen, daß es nicht verloren gegangen ist.
Auffallend tritt es in jener Blütezeit des geistigen Lebens an der Wende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wieder hervor. Unter den Aussprüchen Goethes gibt es zahlreiche, denen die Idee der Gemeinsamkeit zugrunde liegt. Man braucht nur an das zu erinnern, was er über das Weib im allgemeinen sagt: daß es gewinne, wenn es etwas vom Mann annehme; »denn wenn es seine übrigen Vorzüge durch Energie erheben kann, so entsteht ein Wesen, das sich nicht vollkommener denken läßt«, oder an die Worte, die er »an Julien« richtet: »Seligen Erfolg zu schauen, einigest zu Manneskräften Liebenswürdiges der Frauen«, und nicht zuletzt an jenes esoterisch-vieldeutige und daher so wenig verstandene: »Das Ewig-weibliche zieht uns hinan.«
Ja in der Konzeption der Mignon, über die Goethe - in den Gesprächen mit dem Kanzler von Müller - selbst sagt, daß der ganze Roman dieses Charakters wegen geschrieben sei, und daß hinter den vorgeschobenen Personen durchaus etwas Allgemeines, Höheres verborgen liege, ist die künstlerische Absicht unverkennbar, ein Wesen darzustellen, dessen Seele das Geschlecht nicht erträgt. Der hohe poetische Zauber, der diese Gestalt umgibt, gehört halb dem Kinde, dem ungeschlechtlichen Wesen der Realität, und halb dem Engel, dem ungeschlechtlichen Wesen der Imagination: »So laßt mich scheinen, bis ich werde... und jene himmlischen Gestalten, sie fragen nicht nach Mann und Weib.«
Der Mignon verwandt, aber mit der noch deutlicher hervortretenden Absicht, an einer das gewöhnliche Maß der Sterblichen überragenden Person die mystische Vereinigung des Männlichen und Weiblichen zu zeigen, erscheint Balzacs Seraphita - ein Wesen von höchster geistiger Abkunft, das für die Augen des liebenden Mannes ein vollendetes Weib ist. Eine besondere persönliche Bedeutung erhält diese Erfindung dadurch, daß Balzac, wie er in der Widmung hervorhebt, auf Wunsch der von ihm geliebten Frau diese Gestalt - »par vous rêvée, comme elle le fut par moi dés l'enfance« - geschaffen hat.
Die Menschen dieser Epoche haben über den Geschlechtsgegensatz freier und tiefer gedacht, als die Menschen der Gegenwart. Chateaubriand legt in seinen Memoiren das bei Männern höchst seltene Bekenntnis ab, daß er, hatte er sich selbst erschaffen können, aus Vorliebe für die Frauen sich zum Weib gemacht hätte; und Gentz hat in einem Briefe an Rahel Varnhagen unumwunden geschrieben:
»Wissen Sie, Liebe, warum unser Verhältnis so groß und so vollkommen geworden ist?
Ich will es Ihnen sagen: Sie sind ein unendlich produzierendes,
ich bin ein unendlich empfangendes Wesen - Sie sind ein großer Mann,
ich bin das erste aller Weiber, die je gelebt haben.«
Wie ein Kommentar zu jener berühmten Schlußstelle im Faust klingt, was Daumer in seiner »Religion des neuen Weltalters« sagt: »Hingebung des Menschlichen an das Natürliche, des Männlichen an das Weibliche ist... die höchste, ja einzige Tugend und Frömmigkeit, die es gibt.« Ähnliche Gedanken äußert Schleiermacher in seinen »Vertrauten Briefen« über Schlegels Lucinde, wenn er davon spricht, daß nun »die wahre himmlische Venus entdeckt ist... Eins mit dem tiefsten und heiligsten Gefühl, mit der Verschmelzung und Vereinigung der Hälften der Menschheit zu einem mystischen Ganzen. Wer nicht so in das Innere der Gottheit und der Menschheit hineinschauen und die Mysterien dieser Religion nicht fassen kann, der ist nicht würdig, ein Bürger der neuen Welt zu sein«.
In diesem Sinne ist auch sein »Katechismus der Vernunft für edle Frauen« verfaßt, wo es heißt: »Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und Weiblichkeit annahm... Ich glaube an die Macht des Willens und der Bildung, mich dem Unendlichen wieder zu nähern... und mich von den Schranken des Geschlechts unabhängig zu machen.« Die Lucinde selbst, »dieses ernste, würdige und tugendhafte Werk«, wie Schleiermacher sagt, enthält Stellen, in denen die Aufhebung des Geschlechtsgegensatzes als das Höchste gepriesen wird. So nennt Friedrich Schlegel das Vertauschen der Rollen im Spiel der Liebe, »eine wunderbar sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit«. Und indem er »das bleibende Gefühl harmonischer Wärme« als höchsten Grad der Liebe bezeichnet, erklärt er: »Welcher Jüngling das hat, der liebt nicht mehr bloß wie ein Mann, sondern zugleich auch wie ein Weib. In ihm ist die Menschheit vollendet, und er hat den Gipfel des Lebens erstiegen.«
Allein nicht nur durch die Liebe, die auf eine Wesensverschmelzung, auf einen »Tausch der Seelen« ausgeht - durch das bloße Überwiegen der Intellektualität, wie es das Leben in den Regionen der hohen Kultur mit sich bringt, kommt ein hermaphroditischer Zug in die menschliche Persönlichkeit. Nach der Schopenhauerschen Weltinterpretation, nach welcher der Wille das primäre oder männliche, der Intellekt das sekundäre oder weibliche Prinzip darstellt, wäre der Mensch schon durch die Vereinigung dieser Prinzipien in einem Individuum als geistige Erscheinung ein mannweibliches Wesen - eine Konsequenz, die Schopenhauer allerdings nicht gezogen hat. Aber auch ohne diese metaphysisch-willkürliche Bezeichnung der menschlichen Grundtriebe nach Geschlechtsanalogien: das kontemplative Element, das die Beschäftigung mit geistigen Dingen mit sich bringt, nähert den Mann dem weiblichen Wesen. Nietzsche, der im übrigen ein Anwalt der extremen Geschlechtsdifferenzierung ist, verweist wiederholt auf die Verwandtschaft mit dem Weibe, in die der Mann durch die geistige Schwangerschaft gerät, und er liebt diesen Vergleich so sehr, daß er ihn in mehrfachen Varianten angewendet hat.
Daß das Genie nicht die psychischen Züge der extremen Geschlechtsdifferenzierung trägt, sondern in vielen Stücken sich dem weiblichen und selbst dem kindlichen Wesen nähert, ist eine bekannte Beobachtung. Vielleicht liegt der Grund in der stärkeren Irritabilität - die als Eigentümlichkeit des weiblichen Geschlechtes gilt - vermöge welcher der geniale Mann auf Eindrücke von außen rascher und heftiger reagiert, als es der männlichen Durchschnittskonstitution entspricht. Die Heftigkeit dieser äußeren Eindrücke im Verein mit der Intensität innerer Impulse erzeugt auch jenen labilen Gemütszustand, der sich in einem unhemmbaren Stimmungswechsel ohne zureichende Motive äußert, wie er gleichfalls als Eigentümlichkeit des weiblichen Geschlechtes beobachtet wird. Die bekannteste Folgeerscheinung der weiblichen Irritabilität endlich, die Neigung zum Weinen, teilen die genialen Menschen ebenfalls; und es ist bekannt, wie leicht beispielsweise Goethe in Tränen ausbrach. Goethe war es auch, der sich zu einer Eigenschaft spezifisch weiblicher Art bekannte: der Rezeptivität, das heißt der Fähigkeit, Fremdes lebendig in sich aufzunehmen. Ohne eine das gewöhnliche Maß überragende Rezeptivität kann das Genie so wenig bestehen wie ohne eine erhöhte Produktivität, die man als seine wesentlichste Eigenschaft zu betrachten gewohnt ist. Nicht als eine Steigerung der spezifisch männlichen Natur ist das Genie zu begreifen, sondern als eine Ausdehnung über die Grenzen der einseitigen Geschlechtsdifferenzierung, als eine Synthese der männlichen und weiblichen Natur - was sich nicht bloß an der Erscheinung des erotischen Genies offenbart.
Auch in dem Verhältnis des bewußten Lebens zum Unbewußten erscheint das Genie als Synthese. Ricarda Huch spricht in ihrem Buche über die Blütezeit der Romantik davon, indem sie den unbewußt handelnden Menschen den männlichen Typus nennt, den erkennenden, dessen Triebe, weil sie ins Bewußtsein treten, sich nicht in Handlung umsetzen können, den artistischen oder weiblichen, den Typus aber, der diese beiden vereinigt, den mann-weiblichen, welchen das Genie trägt. Was sie im Anschluß an diese Ausführung unter dem »harmonischen Zukunftsmenschen« versteht, ist daher auch eine mannweibliche Erscheinung.
Das hervorragendste Beispiel dafür, wie deutlich die geistige Produktivität in der Vorstellung des genialen Menschen den Charakter der Hermaphrodisie annehmen kann, gibt Richard Wagner dort, wo er das Verhältnis von Dichtkunst und Musik zueinander darstellt. Ihm, der in seiner Person den Dichter und den Musiker vereinigte, erschien das Komponieren als eine weibliche Funktion. »Die Musik ist ein Weib«, das sich durch das männliche Wort befruchten lassen muß, um zu gebären - diesen Gedanken hat Wagner mit Kühnheit und Tiefe in »Oper und Drama« durchgeführt. Von welchen Vorstellungen über das Spezifisch-Geschlechtliche er dabei ausging, zeigen Aussprüche wie:
»Nur als höchstes Liebesverlangen ist das Weibliche zu fassen, offenbare es sich nun im Manne oder im Weibe«,
oder
»Das, wodurch der Verstand dem Gefühle verwandt ist, ist das Reinmenschliche, das, was das Wesen der menschlichen Gattung als solcher ausmacht. An diesem Reinmenschlichen nährt sich das Männliche wie das Weibliche, das durch die Liebe verbunden erst Mensch wird.«
Daher brauchte er nicht anzustehen, den Vorzug Mozarts im Don Juan darauf zurückzuführen, daß hier »der Musiker der Natur seiner Kunst nach nicht im mindesten etwas anderes war, als unbedingt liebendes Weib«, und die Größe Beethovens darin zu suchen, daß er, der in seinem Hauptwerke die Notwendigkeit fühlte, sich an den Dichter zu wenden, »ein ganzer, das heißt gemeinsamer, den geschlechtlichen Bedingungen des Männlichen und Weiblichen unterworfener Mensch« geworden war.
Nicht die objektive Bedeutung dieser Aussprüche in musiktheoretischer Hinsicht kommt hier in Betracht, sondern ihre subjektive und symptomatische, die Auffassung, nach welcher der vollendete Mensch geistig den Bedingungen des Männlichen und des Weiblichen unterworfen ist. Auch Emerson drückt diese Auffassung aus, indem er sagt: »Im Gehirn finden sich sowohl männliche als weibliche Eigenschaften ... Tatsächlich wechseln wir in der geistigen Welt in jedem Augenblick das Geschlecht.« Er kommentiert damit Ideen Swedenborgs, jenes geheimnisvollen und schwer zugänglichen Geistes, unter dessen Einfluß Balzac seinen Roman Seraphita geschrieben, und Strindberg - im übrigen eine Natur von höchst einseitiger Sexualität - sich zu der Äußerung erhoben hat: »Ein Kind lieben, heißt für einen Mann zum Weibe werden, das Männliche ablegen und mit der geschlechtslosen Liebe der Himmlischen lieben, wie es Swedenborg nennt.«
***
Es behält sich auch im Physischen, in der formalen Erscheinung, der Umstand seine Bedeutung, daß die beiden Geschlechter sich ontogenetisch aus einer gemeinsamen hermaphroditischen Urform entwickeln, deren Spuren in der späteren Differenzierung nicht ganz verschwinden dürfen.
Wenn es ein Vorzug des modernen Denkens ist, daß es in der naturwissenschaftlichen Beleuchtung aller Probleme abseits von moralischen Standpunkten auch die geistigen Phänomene als Naturprozeß anzuschauen vermag, so ist es doch zugleich sein großer Mangel, daß es für diese Phänomene keinen anderen Vergleichswert hat, als das Mehrzahlsmäßige, das Gewöhnliche. Was die naturwissenschaftliche Auffassung gemeinhin als das Normale hinstellt, ist das Durchschnittliche, und sie erblickt in jedem Abweichen von dieser Norm schon ein Symptom der Krankhaftigkeit und der Entartung. Diese Verwechslung des Normalen als des Gewöhnlichen mit dem Normalen im Sinne des der Gattung und ihren höchsten Manifestationen Angemessenen ist schuld, daß der naturwissenschaftlichen Auffassung ein rechter Maßstab für das Große und Außergewöhnliche in der menschlichen Natur fehlt. Da sie den Durchschnittsmenschen zum ausschließlichen Typus des Gesunden erhebt, muß sie den über das Durchschnittliche hinausragenden Menschen notwendigerweise als Abnormität erklären. Daß gerade in ihm die Anzeichen und Vorboten einer Höherentwicklung gegeben sind, auf welche die evolutionistische Naturbetrachtung den höchsten Wert legen müßte, und daß diese Anzeichen nicht als pathologisch angesehen werden dürfen, weil das Genie eine erhöhte funktionelle Qualität darstellt, während pathologische Vorgänge die Funktion in ihrer Qualität herabmindern, bleibt auf diesem Wege unberücksichtigt.
Dadurch kommt eine philiströse Verflachung und Verödung in das geistige Leben. Das Hohe und Vorbildliche wird um seine soziale Funktion gebracht, und das gemeine Alltägliche auf einen Platz gestellt, auf den es nicht hingehört. In der abschreckend »durchschnittlich« gewordenen Kultur der Gegenwart dominiert der mit den Hilfsmitteln einer abstrakten Verstandesbildung ausgerüstete Durchschnittsmensch, der sich selbst als Muster betrachtet. Aber das Maß von Phantasie oder Impulsivität oder Verinnerlichung oder irgend einer anderen die Individualität bestimmenden Eigenschaft, das heute als das Normale gelten kann, ist nicht vor hundert Jahren das gleiche gewesen und wird es möglicherweise schon in der nächsten Generation nicht mehr sein.