Sprich ordentlich, Kind!

Wenn Ihnen dieses Thema komisch vorkommt, weil doch die Sprache der Kinder etwas ganz Natürliches ist, worüber man sich keine Gedanken zu machen braucht, dann herzlichen Glückwunsch. Sie sind lobenswert selbstbewußt und kommen aus einer klassenlosen Gesellschaft. Für die meisten Eltern, besonders die der Mittelschicht, klingeln ständig Alarmglocken, wenn ihre Kinder sprechen. Akzente, Dialekte, Aussprache, Flüche, Euphemismen - alles läßt die Eltern aufhorchen. Manche Eltern geraten dabei ganz schön aus den Fugen. In dem britischen Serienrührstück The Archers gab es eine herrliche Szene, in der die schreckliche Jennifer Aldridge ein Mädchen aus Birmingham als Kindermädchen für ihr Baby einstellt. Abends im Bett erzählt sie dann ihrem Mann Brian von ihren Bedenken, das drei Monate alte Baby Alice könnte den starken Birmingham-Akzent des Kindermädchens übernehmen und später womöglich auch so »gewöhnlich« sprechen. Die Vorstellung ist um so absurder, als Jennifers eigener Akzent höchst zweifelhaft ist. Mehr schlecht als recht versucht sie den Akzent oberer Gesellschaftsschichten nachzumachen. Brian lassen die Sorgen seiner Frau kalt.
Es ist eine typisch britische Eigenschaft, die Menschen nach ihrem Akzent einzustufen. Aber Ähnliches gibt es wohl in jedem Land. Wenn ein Kind aus Boston plötzlich in den typischen Dialekt der Bronx verfällt, kann es die Eltern in größere Unruhe stürzen, und provenzalische Ausdrücke aus dem Mund eines kleinen wohlerzogenen Kindes aus Paris sind absolut verpönt. Hier beweist sich wieder einmal eine Aussage aus Shaws Pygmalion: Ein Engländer kann den Mund nicht aufmachen, ohne daß ihn ein anderer Engländer deswegen verachtet. Klick, macht es im Gehirn, und die Nachricht leuchtet auf: »Sie kommt aus Wales... Irland ... Schottland.« Nur allzu oft ist aber damit gemeint: vulgäre Person oder Bauerntrampel oder einfach Landziege. Eine ebensolche aus dem weiteren Umkreis der königlichen Familie äußerte sich einmal in meinem Beisein: »Dieses Kind spricht wie ein Besenbinder.« Das war wohl für diese Frau der Inbegriff von Vulgarität.
Die viel strapazierte Ermahnung: »Sag nicht Klo, man sagt Toilette! « ist eigentlich auch den Aufwand nicht wert. Denn Ihr Kind wird noch viele soziale Stolpersteine zu überwinden haben, ehe es in die Akademie des Heiligen Snobinian für soziale Aufsteiger aufgenommen werden kann. Bei Teenagern hat sich ohnehin eine ganz eigene Sprache entwickelt, und sie finden es auch schick, Wörter aus anderen sozialen Schichten provokativ einzusetzen. Aber bleiben wir bei unseren kleinen Kindern. Hat es Sinn, ihnen einzutrichtern, sie sollen richtig, in der korrekten Form sprechen? Gibt es überhaupt eine allgemein gültige, korrekte Form? Ist das, was der Sprecher im Radio spricht, die korrekte Form? Die Menschen in Norddeutschland behaupten von sich, sie sprächen das einzig korrekte Deutsch, und fragen mit einem kleinen Augenzwinkern, aber durchaus ernsthaften Bedenken: »Spricht man in Bayern auch deutsch?« Ein Kind aus Bayern hingegen wundert sich über die norddeutsche Aussprache: »Warum sagen sie >Ferd<, wenn sie >Pferd< meinen, und >Zuch<, wenn sie >Zug< meinen?«
Sollen Sie nun ob solcher Unterschiede in Panik geraten oder einfach lächelnd darüber hinweg gehen? Doch wohl letzteres! Zuerst einmal muß man wissen, daß Kinder alles liebend gern nachmachen. Sie versuchen alles, was sie hören. Mein Sohn, noch keine zwei Jahre alt, konnte brillant Mamis vergeblichen Versuch, den Landrover zu starten, imitieren: »Ololololoi. Oloi. Ololoi ol - BRUMM!« Der Linguist David Crystal zitiert in seinem ausgezeichneten Buch Listen to your child einen kleinen Jungen, der immer wieder »Herrgott noch mal!« sagte. Als man ihn fragte, was das bedeutete, antwortete er: »Es bedeutet, daß kein Parkplatz frei ist.« Kinder plappern die Spracheigenheiten und den Sprachklang aller Personen in Hörweite nach. Sie können auch sehr gut zweisprachig sein, zweisprachig nicht nur im Sinn von zwei verschiedenen Sprachen, wie es oft ohne Schwierigkeiten bei Eltern ist, die zwei unterschiedlichen Nationalitäten angehören, sondern innerhalb derselben Sprache. Viele Kinder sprechen zu Hause und in der Schule ganz korrekt, verfallen jedoch auf dem Schulhof und in ihrer Freizeit in einen breiten, regionalen Dialekt. Gelegentlich funktioniert die Trennung nicht so ganz, aber nach einem entsetzten Blick der Eltern, die das Kind sagen hören: »Schleich dich da mal weg, du doofe Nuß!« oder dem Erstaunen eines Kameraden, der sich darüber wundert, daß sein Freund ihm gegenüber »großes Bedauern« ausdrückt, wird das schnell korrigiert.
Das einzige, was Jennifer und Brian also tun müssen, wenn sie nicht wollen, daß ihr Baby einen Birmingham-Akzent  annimmt, ist, sich selbst sehr, sehr viel mit ihrem Kind zu beschäftigen, um ein Beispiel zu geben. Ein sehr wichtiger Punkt ist, daß Kinder den Umgang mit der Sprache lieben. Und zwar die ganze Bandbreite der Sprache, ohne Vorurteile und Ausnahmen. Wörter sind Neuland für das heranwachsende Kleinkind und deshalb besonders aufregend. An der Erprobung einfacher Wörter verliert das Kind bald das Interesse. Versuchen Sie statt dessen »Rimski-Korsakow« oder »Supercalifragilisticexpialidocious«, und es wird begeistert mitzuhalten versuchen. Ein zweijähriges Kind liebt einfache Reime und Wortspiele, ein dreijähriges lernt neugierig ein paar fremdsprachige Brocken (englische Kinder sagen statt »danke« viel lieber »merci bokuu«, französische ziehen natürlich »sänkju« vor). Ein vierjähriger Junge zeigte einmal auf das Meer und meinte: »Hier gibt's Dauerwellen!« Danach krümmte er sich vor Lachen. Meine eigene Tochter sagte: »Großmama hat ein wehes Bein, das findet sie nun gar nicht fein.« Diese »Übungen« gehören zum freudigen Umgang mit der Sprache, eine sehr hoch zu bewertende Leistung des Menschen. Wenn Ihr sechsjähriges Kind kichernd aus der Schule kommt, dann machen Sie sich auf die schlimmsten Kalauer gefaßt, die aus der Mehrdeutigkeit von Wörtern oder der falschen Anwendung entstehen:

» Welches Tier kann höher springen als ein Haus? Jedes Tier. Häuser können nämlich nicht springen.«
» Was sagte die eine Wand zu der anderen ? Treffen wir uns an der Ecke!«
»Klopf, klopf! Wer ist da? Eine Banane.
Klopf, klopf! Wer ist da? Eine Banane.
Klopf, klopf! Wer ist da? Eine Orange!
Eine Orange? Bist du denn nicht froh, daß es nicht noch eine Banane ist?«

Nun ja, Sie kennen diese Späße. Sie sind, so albern sie klingen mögen, Zeichen für einen enormen Fortschritt. Schätzen Sie das! Kinder sollten auch mit der wirklich schönen Sprache konfrontiert werden, mit feierlichen, großen poetischen Worten. Es ist schade, daß die Sprache in Büchern, Gedichten und Gebeten für Kinder oft so sehr vereinfacht wird. Ein sechsjähriges Kind ist durchaus Ton der Sprache der Bibel fasziniert, oder von Rilke-Gedichten. Es muß keine altertümliche Sprache sein, nur vielfältig sollte sie sein: Lesen Sie Ihren Kindern stilvoll geschriebene Bücher vor, und lassen Sie sich dabei nicht von langen, episch ausladenden Passagen abschrecken, es sei denn, Ihre Kinder rutschen unruhig auf dem Stuhl hin und her. Versuchen Sie es einmal mit altmodischen Texten oder Märchen, die noch nach altem Muster geschrieben sind. Ausgefallene Satzkonstruktionen und schöne Worte werden sich automatisch in den Wortschatz Ihrer Kinder einschleichen und auch wieder zur Anwendung kommen. Nie werde ich die Nacht vergessen, in der meine Tochter, noch fast ein Baby, einen angstvollen Traum hatte und mein fünfjähriger Sohn zu ihr ging, ihr die Hand auf die Schulter legte und mit ernstem Gesichtsausdruck und feierlichem Ton sagte: »Rose, fürchte dich nicht. Kein Fremder soll dir je ein Leid antun.« Woher er diese Formulierung hatte, weiß ich nicht. Aber er hatte diesen emotionsbeladenen Augenblick abgepaßt, um sie zur Anwendung zu bringen. Bei einer anderen Gelegenheit sang uns unsere kleine Tochter Rose auf dem Schiff ein Lied vor, in das sie alle großartigen Worte aus Gedichten, Liedern oder Geschichten hinein packte, die ihr einfielen:

Ruhmreicher Westen im gleißenden Sonnenlicht,
vor den Landen Südaustraliens, Spanische Schiffe
im Wind vor der Ostküste
freie Fahrt gen Westen
Seemann segle, segle in den Hafen
bis hinauf nach Beth-le-hem!

Ich will mit diesem Beispiel nicht angeben. Jedes Kind, wirklich jedes Kind, steckt voller Phantasie und verwendet Worte, die es irgendwann einmal gehört hat. Wenn das Worte sind wie ruhmreich und wundersam, erhaben, altehrwürdig, frohlocken und Hoffnungslosigkeit, dann wird das Kind sie auch gebrauchen. Sicher auch gelegentlich falsch, aber mit viel Begeisterung und Einsatzfreude. Hören Kinder hingegen immer nur Wörter wie schön, super, großartig, braver Junge, ungezogen, böse, iß jetzt, dann wird ihr sprachliches Vermögen verkümmern. Sprache ist ein Mittel der Kommunikation, Sprache ist aber auch Musik. Geben Sie Ihren Kindern gute Bücher in die Hand, nicht die verkümmerte Machosprache von Masters of the Universe und auch nicht die schrecklich süßliche Sprache schlecht gemachter Märchenbücher. Kaufen Sie alte und neue Kinderbuchklassiker. Nehmen Sie die Kinder, wenn möglich, ins Theater mit, oder lassen Sie sie klassische Kinderserien im Fernsehen ansehen. Lesen Sie ihnen aus einer altmodischen Gedichtesammlung vor. Ich selbst erinnere mich, als Kind monatelang den Satz vor mich hingeplappert zu haben: »Nächtiger Rauhfrost macht den Äther lasch.« Ich wußte weder genau, was Rauhfrost noch was Äther war, aber ich berauschte mich an den schön klingenden Worten.
Selbst wenn Sie nicht sehr gut Gedichte vorlesen können, Sie geben Ihrem Kind ein unschätzbares Gut fürs Leben mit. Und - hier werden Sie mich wahrscheinlich für einen hoffnungslosen Optimisten halten - das Bedürfnis nach häßlichen Schimpfworten und Flüchen tritt in den Hintergrund. Immerhin wird ein Kind, das Sie als »niederträchtiges Ungeheuer« bezeichnet (wie ich es bei meinem Bruder tat), Sie wenigstens nicht »dumme, alte Kuh« nennen. Wollen Sie wirklich diese freudige Entdeckung der Sprache stören, indem Sie ständig an der Aussprache, der Grammatik oder der Ausdrucksweise Ihres Kindes herum meckern? Tun Sie es nicht! Und lassen Sie es auch Papi oder Großmama nicht tun. Zumindest nicht vor dem Teenageralter. Die einzigen Worte, für die Sie kämpfen müssen, sind »bitte« und »danke«. Kümmern Sie sich nicht um den Rest. Es gibt nur einen sicheren Weg, Ihrem Kind eine klare und akzeptable Sprache zu übermitteln, und das ist, sie ihm vorzuleben. Korrigieren Sie nicht, machen Sie es vor. Das ist das gleiche Prinzip wie damals, als Ihr Kind sprechen lernte. Wenn es sagte: »Ich habe einen Mischbetoner gesehen«, dann antworteten Sie: »Oh, wo war die Betonmischmaschine? Auf der Straße?« Ohne Vorwurf vermittelten Sie damals das richtige Wort. Kinder verstehen sich auf Anspielungen. Das funktioniert später genauso, sogar besser, weil sie in diesem Alter sehr empfindsam sind. Wenn Sie sich hingegen auf jeden falschen oder unglücklich gewählten Ausdruck stürzen, wird Ihr Kind überhaupt keine neuen Worte mehr in Ihrer Gegenwart ausprobieren. Sind Ihnen Akzent und Aussprache wichtig, dann achten Sie selbst auf grammatikalische Korrektheit (und auch interessant formulierte Sätze und gute Geschichten). Vermeiden Sie Slang. Noch wichtiger jedoch: Streichen Sie langweilige, bedeutungslose Phrasen wie »Sie wissen doch, was ich meine?« und »Genau das ist es!« aus Ihrem Vokabular.
Wenn Ihr Kind beim erfolglosen Legobau plötzlich »oh, Scheiße!« schreit, wissen Sie meist, woher es das hat. Aber Wortwahl, Kommunikation und Freude am Umgang mit der Sprache sind in jedem Fall wichtiger als Akzent, Dialekt oder Korrektheit. Sind Sie dagegen wirklich besorgt, daß Ihr Kind sich mit sechs oder sieben Jahren noch nicht richtig ausdrücken kann, dann gibt es Spiele, die Sie mit ihm spielen können - aber bitte ohne Druck. Ein Vorschlag ist Geschichtenerzählen. Ein Familienmitglied hört mitten in der Geschichte auf, der nächste muß weitermachen. Ein sehr gutes anderes Beispiel: Sie bekommen einen Satz Legobausteine, Ihr Kind exakt den gleichen. Sie sitzen am Boden und haben eine visuelle Barriere (eventuell einen Lehnstuhl) zwischen sich und dem Kind aufgestellt.
Dann fordern Sie Ihr Kind auf, ein Gebäude zu bauen und Ihnen genau zu sagen, was es tut, damit Sie es ihm gleichtun können. Dadurch lernt das Kind, Farben und Formen zu beschreiben und Richtungen wie »gegenüber« und »seitlich« auseinanderzuhalten. Und der riesige Vorteil ist, wenn Ihr Kind sich schwer damit tut, sind Sie es, dessen Gebäude wackelig ist. Aber zumindest regen Sie Ihr Kind dazu an, nach einem Blick auf Ihr Bauwerk folgenden oder ähnlichen Kommentar abzugeben: »Das sieht ja aus wie der Turmbau zu Babel! « Nicht schlecht.