Kapitel 17
Die verzogene Tür klemmte noch mehr als gewöhnlich, und der Griff hatte sich unter der gewaltsamen Benutzung gelockert. Ich lehnte mich mit der Schulter dagegen und sann über meinen Lebensstil nach in diesem verwestlichten Katmandu-Haus, das mehr auf Show und Unterhaltung angelegt war als auf Funktionstüchtigkeit.
Nichts klappte. Ich hatte einen Mann angestellt, der nichts anderes zu tun hatte, als das Haus instand zu halten. Er reparierte die Wasserpumpe, erneuerte die elektrischen Steckdosen, stellte Kerzen auf, um den nächtlichen Stromausfall zu überbrücken, fütterte die Bulldogge, bekniete das Fernmeldeamt, die chronisch gestörte Telefonleitung in Ordnung zu bringen und verpflanzte die Zimmerpflanzen nach draußen in die subtropische Vegetation, die das Haus überwucherte und sich durch die Wegplatten zwängte.
Es reichte mir. Selbst wenn diese Annehmlichkeiten funktionierten, machten sie das Leben nicht besser als in Aamas Dorf - eher schlechter, wenn ich mein hektisches Stadtleben mit dem ruhigen, friedlichen Rhythmus auf dem Land verglich. Begehren führt zu Leiden, hatte der tibetische Lama gesagt. Glück müßte sich also finden lassen, wenn die Begierden eingedämmt würden.
Plötzlich gab die Tür nach, der Griff glitt mir aus der Hand, und sie knallte an die Wand. Ich fing sie beim Zurückschlagen auf und schloß sie langsam hinter mir. Mein Koch und mein Hausmeister unterhielten sich in der Küche, ziemlich still, wie mir schien. Etwas stimmte nicht im Haus, als sei noch jemand da oder als fehlte etwas. Ich ging die halbe Treppe zum Wohnzimmer hinauf, horchend, überlegend. Eine merkwürdige Beklommenheit stieg in mir auf. Ich hörte nicht, daß der Koch hinter mir die Treppe hinaufgestiegen war. »Es ist ein Telefonanruf gekommen«, sagte er vom Flur aus. Seine Stimme erschreckte mich. »Von einem Verwandten der alten Gurung-Dame. Sie ist gestorben. Sie ist tot.«
Ich drehte mich nicht zu ihm um, sondern fixierte statt dessen die Maserung des Holztisches, verfolgte mit den Augen die hellen und dunklen Linien, als könne ich in sie hineinschauen und ihre molekulare Struktur erkennen.
Ein Augenzucken lenkte meinen Blick zum Fenster, das auf einen typisch asiatischen Vorort hinausschaute. Plötzlich war alles bedeutungslos und fremd geworden. Das Gefühl der Machtlosigkeit überschwemmte mich.
Wieder passiert es. Meine Mutter hatte das gleiche getan, sie war gestorben, ohne mir Gelegenheit zu geben, mit ihr zu sprechen. Mein Verstand war darauf vorbereitet gewesen, aber nicht mein Gefühl. Da war noch etwas, das ich von Aama brauchte, noch etwas, das ich verstehen mußte. Und es gab etwas, das ich ihr noch geben wollte. Ich wollte ihr sagen, daß ich sie liebte.
Warum mußte ich ihr das sagen?
Weil ich es meiner Mutter nicht hatte sagen können oder es aus irgendeinem Grund nicht getan hatte. Vielleicht wußte sie trotzdem, daß ich sie liebte. Aber ich hätte es aussprechen sollen.
Nein, du darfst jetzt nicht sterben.
Mütter sterben, das wußte ich doch nur zu gut.
Wer wird mich vor meinen zügellosen, bösartigen, um mich selbst kreisenden Gedanken bewahren? Wer wird mich daran erinnern, daß ich das Leben nicht so ernst nehmen soll? Wer wird mich von der Last meiner Verhaftungen befreien? Auch Aama hatte sich gehenlassen - in ihren Erinnerungen und in ihren Sorgen. Aber alle Zustände des Körpers, des Fühlens und des Denkens sind vorübergehend - wie die Lamas und Brahmanen-Priester sagen. Und für alles gibt es einen Grund. In meinem engen Garten fiel mein Blick auf eine Tonfigur von Maitreya, dem Buddha der Zukunft, wie er gelassen an dem kleinen Fischteich sitzt. Daneben war ein Wasserhahn. Ich formte mit meinen Händen das muära des Annehmens, das die Form der Blatt-Opfergabe hatte, welche die Menschen auf den Ganges legen. Das Wasser füllte meine Hände, als seien es Tränen - reiner, reicher Nektar. Amrita, das Elixier der Unsterblichkeit. Wasser, der Samen von Shiva, der von Kailash heruntersprudelt, um Leben in die Ebenen zu tragen; eine Flüssigkeit, die zu Eis werden oder verdampfen kann, die aber immer wieder zu Flüssigkeit wird - das Grundelement des menschlichen Lebens. Inkarnation über Inkarnation. Wie das Leben selbst ändern sich nur seine Form und seine Grenzen. Wie Aama mir in Montana geraten hatte, stellte ich mich mit dem Gesicht nach Osten, hob die Hände und ließ von meinen Fingerspitzen Wasser über meine rechte Seite laufen; dann sprach ich ein Gebet. Die Orchideen und Paradiesblumen am Fischteich verwandelten sich in die Blumengebinde in der Kirche bei der Beerdigung meiner Mutter, vibrierend und beredt in ihrer Stummheit.
Ich konnte nicht im Haus bleiben. Mit weichen Schritten, als würde ich die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz mit meinen Füßen betasten, ging ich aus dem eisernen Tor hinaus und tauchte in der Nachbarschaft unter. In der unpersönlichen, überfüllten Vorstadt, die im Zwielicht zwischen Stadt und Land im Begriff war, ihre Identität zu verlieren, war ich anonym. Zementbauten thronten über Abdobeziegelhäusern, die mit Stroh oder dem Blech von alten Ölkanistern gedeckt waren. Tagelöhner, Bauern, Straßenverkäufer und Bettelmönche waren Teil dieser brüchigen Zivilisation. Und jeder hatte, so empfand ich es jedenfalls, von Aamas Tod schon zuvor erfahren.
Etwas zerriß mich. Es war nicht so sehr Trauer als vielmehr ein Fegefeuer der Angst und Verwirrung. Ich schrie zum Boden vor meinen Füßen, was Aama über Amerika gesagt hatte: Es ist alles sinnlos. Wie sie verlor ich die Energie, zu verstehen oder zu reagieren. Eh, Bhagwan. Alles, was wir sehen und wissen, entsteht aus Bhagwan. Ich lief ziellos herum, kehrte schließlich zum Haus zurück und rief Didi an.
Ich spürte, daß es auch für sie ein Stoß ins Herz war. »Ich werde für sie beten. Sie hatte ein gutes Leben und eine gläubige Seele. Ihre Wiedergeburt wird gut sein. Ich hoffe, daß du damit fertig wirst.« Sie hängte auf. Mein Magen verkrampfte sich. Von einer Exfreundin konnte ich nicht erwarten, meine Leere zu füllen.
Woher war diese Depression gekommen, und wann würde sie, verdammt noch mal, wieder vorbeigehen? Warum war sie so zäh - welche verborgene Bindung steckte dahinter? Die Depression hatte eine eigene Identität angenommen. In der Nacht hielt sie mich wach, klammerte sich an mich wie ein Kind und entließ mich nur widerwillig in einen ruhelosen und oberflächlichen Schlaf. Am Morgen fiel sie schon in den ersten Sekunden des Erwachens aggressiv über mich her, gerade dann, wenn ich am hilflosesten war.
Ich spürte einen wilden Drang zum Selbstmord, was in dieser Stadt, in der man sich alle Mühe geben mußte, nicht durch einen Autounfall, Krankheit, Katastrophen oder Revolution ums Leben zu kommen, nicht schwer gewesen wäre. Aber etwas wollte, daß ich am Leben blieb. Eine Quelle der Energie und des Lebens war dabei, mich für das Unbekannte vorzubereiten, vielleicht für den Tod selbst, und sie würde mich nicht eher endassen, als bis ich verstanden hatte. Eine tantrische Wandmalerei kam mir in den Sinn, wie sie in den Höfen von buddhistischen Klöstern zu finden ist: ein Mönch, der an einen Tiger gekettet ist und sich tanzend mit ihm im Dialog befindet. Der Mönch ist Meister darin, ein Tier zu zügeln und zu zähmen, an das er unauflöslich gebunden ist. Auf diese Weise würde es durch Beharrlichkeit in der Übung des Dharma gelingen, den machtvollen und launischen Verstand an den Zügel zu nehmen. Das Zähmen eines Tigers schien mir weit einfacher zu sein.
Vor drei Monaten hatte ich Aama zum letztenmal gesehen. Jetzt hatte einer ihrer Großneffen, der in Katmandu bei der Polizei stationiert war, sich gemeldet, und ich rief ihn an. Er sagte, ihr Körper sei vor ein paar Tagen verbrannt worden. Ein Verwandter habe ihn vom Distriktzentrum aus angerufen und ihn gebeten, mir die Nachricht zu überbringen.
In der Woche vor ihrem Tod war Aamas Angst vor dem Hinfallen noch größer geworden, und sie hatte sich nicht mehr ohne Stock bewegt. Sie war vergeßlich geworden, und ihr Appetit war so gut wie verschwunden. Um den Anschein zu erwecken, sie würde essen, setzte sie sich wie gewöhnlich auf ihren niedrigen Hocker und steckte ein paar Bissen in den Mund. Sie gestand einer Verwandten, daß sie nur noch ihrer Tochter zuliebe von dem Essen kostete.
Sun Maya wußte, was bevorstand. Aama wurde schwach und schwächer und legte sich auf eine Strohmatte auf der Veranda, von wo aus sie auf die Berge schauen konnte, die sie seit ihrer Geburt kannte.
Die Gurung sagen, daß in der Zeit des Sterbens alle Ahnen in Erscheinung treten. Wie Sun Maya mir später erzählte, muß es wohl so gewesen sein, denn Aama sprach in den Augenblicken vor ihrem letzten Atemzug ihre Namen laut vor sich hin, auch Didis und meinen. Am Morgen, unter den positiven Auspizien des Magh-Vollmonds, ging Aama hinüber.
Magh ist der günstigste Moment, um zu sterben, und Vollmond der beste Tag. Es war der zweiunddreißigste und letzte Abend der alljährlichen Lesung aus der Legende des Parbati, der Weggefährten Shivas, die in dem Werk Swasthani aufgezeichnet ist. Die Frauen des Dorfes versammelten sich auf einer Veranda, um das abschließende Kapitel dieser Parabel zu lesen und dann zu fasten und zu beten. Durch Fasten und Meditation wird dem Ego die Nahrung verweigert, die es aufrechterhält. Oft hören die Alten, wenn sie den Tod nahen fühlen, einfach auf zu essen. Sich der Nahrung zu enthalten ist eine Form des asketischen Gebets, ein Lösen der Verhaftungen an die physische Welt vor der endgültigen und letzten Aufgabe des Egos - der Vereinigung mit Gott im Tod.
Als Aama ihren letzten Atemzug getan hatte, rief Sun Maya den Lama. In Aamas Haus wusch er ihren Körper und sang dabei Invo-kationen. Eine Verwandte band ein Kleidungsstück von Aama mit ein paar Früchten und Blumen an einen langen Bambusstock und befestigte diesen an der Dachspitze, um zu kennzeichnen, daß das Haus ein Ort der Trauer war. Sun Maya zerbrach ihre Glasarmreifen und ließ ihr Haar herunter, um allem Schmuck zu entsagen. Aamas drei Neffen, ihre nächsten männlichen Verwandten, begrüßten still die anderen Angehörigen, die auf Aamas Veranda zusammenkamen. Mit übertriebener Höflichkeit organisierte Sun Mayas Mann, Mani Prasad, Sitzgelegenheiten für sie. Er beauftragte seine Töchter, zusätzliche Strohmatten zu besorgen, Bambusstöcke, um eine Totenbahre zu fertigen. Ritualgegenstände, ßaumwolltuch und Steichhölzer, um Räucherwerk zu entzünden und den Scheiterhaufen anzustecken. Seine Bewegungen wirkten geübt, als habe er auf den Tag gewartet, an dem er das letzte Wort über das, was mit Aama geschah, haben konnte. Er legte öffentlich eine Ehrerbietung an den Tag, von der nichts zu merken war, als Aama noch lebte. Wegen der Trauer der nahen Angehörigen war es bei den Gurung traditionell die Aufgabe des Schwiegersohns, die Zeremonien durchzuführen. Das hinderte Mai Prasad aber nicht daran, sein gewöhnliches Alkoholquantum zu sich zu nehmen.
Der älteste Neffe überreichte dem Lama ein handgesponnenes Baumwolltuch, um Aamas Körper einzuhüllen. Dann trugen die Neffen sie aus dem Haus und legten sie auf eine kurze Bambusbahre, die auf der Terrasse stand. Der Lama schnitt ein wenig von ihren Fingernägeln ab und eine Haarsträhne, steckte sie in eine kleine Bambusröhre und versteckte diese im Dorf. Falls Hexen oder Geister diese symbolischen Körperteile entdeckten, könnten sie das Hinüberwandern ihrer Seele stören. Sowohl der Lama als auch der Schamane brauchten sie später, um Aamas Geist nach Siminasa zu leiten, der letzten Ruhestätte der Seelen der Ahnen.
Vor der Totenprozession schritt der drittälteste Neffe einher, Schamane wie sein Vater, und schoß Pfeile in die vier Himmelsrichtungen ab, um üble Geister von der Bahre abzuwehren, die von den anderen beiden Neffen getragen wurde. Die Verwandten hatten Feuerholz aus Aamas Haus mitgenommen, das sie selbst noch ein paar Wochen zuvor gesägt hatte. Jetzt sollte es für ihre eigene Verbrennung benutzt werden. Jeder trug ein Bündel auf seiner rechten Schulter. Als die Bahre oben auf dem Bergkamm am Verbrennungsplatz angelangt war, der dem Shiva-Schrein gegenüberlag, blies der Lama in sein Muschel-horn - einen langen, melancholischen Ton. Mani Prasad schichtete den Scheiterhaufen auf, eine Aufgabe, die kein Blutsverwandter ausführen durfte. Indem er an der Verbrennung seiner Schwiegermutter mitwirkte, konnte er seine Dankbarkeit dafür ausdrücken, daß Aama ihm ihre Tochter zur Frau gegeben hatte, und die Verbindung mit der Abstammungslinie seiner Frau festigen. Der Lama saß im Schneidersitz auf einer Matte und öffnete ein Tuch, in das ein Buch eingewickelt war: ein Stapel alter, mit Holzdruck beschrifteter Seiten. Sein Oberkörper wiegte sich leicht hin und her, während er tibetische Gebete rezitierte.
Der älteste Neffe steckte einen mit Senföl getränkten Baumwolldocht in Aamas Mund und zündete ihn und die Zweige unter dem Scheiterhaufen an. Die Verwandten stiegen wieder ins Tal hinab und streuten dabei Dornenzweige hinter sich auf den Pfad, damit ihnen keine Geister folgten, während Mani Prasad und die Neffen oben blieben, um das Feuer zu schüren und zu bewachen. Die Funken, die von ihrem Körper aufstiegen, trugen flackernd ihr prana fort, ihren Lebensatem, dieselbe vitale Essenz, welche die Erde belebte und aus welcher der christliche Gott die Menschheit geformt hat. Aama hatte über das, was jetzt geschah, gesprochen.
»Während der Körper brennt, löst sich das Fleisch von den Knochen. Manchmal erscheinen im Licht der Flammen die Buchstaben, die auf die Stirn des Toten geschrieben wurden. Diese Buchstaben haben sein Schicksal bestimmt und wurden am Tag des chainti, des sechsten Tages nach der Geburt, aufgezeichnet. Sind sie schwarz, so heißt das, daß die Person ein schwieriges Leben hatte, sind sie rot, hatte sie ein gutes Leben und kann eine gute Wiedergeburt erwarten.« Sun Maya fragte Mani Prasad nach den Buchstaben. Er sagte, er habe nicht danach geschaut, denn er halte nichts von Aberglauben. Die Sonne war untergegangen, aber die Glut von Aamas Scheiterhaufen schwelte weiter. Die Neffen rechten den immer kleiner werdenden Haufen zusammen. Am Morgen war nur noch Asche übrig.
Nach der Verbrennung betrat der Lama als erster Aamas Haus. Die Verwandten schauten zu, während er sang und einen rituellen Dolch schwang, den gwiyantar, der die tantrische Energie, die ihn wie eine Aura umgibt, verstärkt. Das verleiht ihm die Kraft, böse Geister hinauszujagen, die vom Tod angezogen werden und sich im Haus einnisten wollen.
Nach der Auffassung der Gurung verweilte Aamas Seele noch einen Tag im Haus, um sich dort Schritt für Schritt hinauszubewegen: am zweiten Tag auf die Veranda, am dritten auf den Hof, von dort in die Nachbarschaft, das Dorf, die Felder und den Wald, wobei sie auf jeder Stufe bewußter und beweglicher wurde.
In den ersten Tagen nach Aamas Tod kamen jeden Abend Verwandte und Dorfbewohner und setzten sich vor den Eingang, um ihr noch einmal nahe zu sein und ihr Unterstützung für den Übergang zu geben. Die Seele eines Verstorbenen ist schwach. Sie weiß nicht, wo sie sich befindet, und ist deswegen verletzlich. Der Lama kam ebenfalls, um dafür zu beten, daß sie den letzten Ruheplatz, Siminasa, sicher erreichte und ihr eine günstige Reinkarnation als Mensch vergönnt war.
Reinkarnation - intuitiv und logisch ergab es einen Sinn. Pundits, Priestern, Lamas, Schamanen und allen Generationen, die ihnen vorausgingen, ist es nicht gelungen, die Seele dingfest zu machen oder sie voll zu beschreiben. Kann die Seele also, so fragten sie, eine eigene, greifbare Form besitzen? Wenn sie keine Form hat, ist sie dann etwas Geschaffenes? Wenn eine Seele nicht geschaffen werden kann, dann kann sie auch nicht zerstört werden. Wenn Materie weder geschaffen noch zerstört werden kann, dann muß es noch schwerer sein, etwas Nichtmaterielles zu erschaffen oder zu zerstören. Ich vermochte mir nicht vorzustellen, wie man Reinkarnation wissenschaftlich beweisen oder widerlegen kann, aber das Konzept schien mit wissenschafdichem Denken vereinbar.
Hinduismus und Buddhismus beschreiben mit gewissen Abweichungen, wie die Seele vom Diesseits ins Jenseits wandert und wieder zurückkehrt. Bei den meisten von uns wird beim Tod das Karma aus früheren Leben zum Karma aus diesem Leben - sei es Verdienst oder Versagen - hinzugezählt, um die Qualität unserer nächsten Wiedergeburt zu bestimmen. Letztlich werden wir alle erleuchtet, sagen die Lamas, und vom karmischen Kreislauf - Geburt, Tod und Wiedergeburt - erlöst, auch wenn das zahllose Inkarnationen dauern kann.
Am Tag, bevor Aamas Seele die Terrasse verließ, verkündete der Lama - der so sang, daß sie es würde hören können - den Termin ihres arghaun, der Totenzeremonie, in der sie nach Siminasa geleitet wurde. Das arghaun sollte in sechs Monaten abgehalten werden, während des Monsuns im Sommer. Bis zu dieser Zeremonie würde Aamas Seele keine Ruhe finden. Als ich zur festgesetzten Zeit wieder den Pfad zum Dorf hinaufwanderte und mein Weg die Felder am Rand des Dorfes kreuzte, stieß ich auf eine Gruppe Kinder, die dort mit einer Mischung aus Spiel und Unkrautjäten beschäftigt waren. Die älteren Buben flüsterten lachend miteinander, dann rief einer: »Deine Aama ist gerade unterwegs in ein anderes Dorf, aber geh nur in ihr Haus und warte - sie wird bald zurück sein.« Feiner, dichter Regen hatte mein Hemd durchnäßt und die rote Erde aufgeweicht. Durch das sarkastische Gejohle der Kinder wurde der Weg noch rutschiger. Als ich um die letzte Kurve bog, klang mir das rhythmische TUN-a-ku-toe, TUN-a-ku-toe einer tablaähnlichen Trommel aus dem Dorf entgegen, begleitet vom langsamen Baß einer größeren Trommel, der dhön-du. Die Verwandten und Dorfbewohner wurden zu Aamas arghaun gerufen. Zum erstenmal kam ich ins Dorf, ohne daß Aama anwesend war. Die Terrasse war voll mit Menschen, von denen ich viele nicht kannte. Die Menge breitete sich bis in die Nachbarhäuser und die Büffelställe aus. Sun Maya war im Haus. Mit 58 Jahren sah sie älter aus als Aama zu der Zeit, als ich ins Dorf gekommen war. Ihre Wangen waren ausgehöhlt von der harten Arbeit und wiederkehrender Krankheit. Ihr Haar hing für das arghaun lose in graumelierten Strähnen herunter. Deswegen wollte Aama also, daß die amerikanischen Frauen ihr Haar zurückbanden: Wo sie hinschaute, erinnerten sie die Frisuren der Frauen an den Tod.
Sun Maya hatte in der Küche alle Hände voll zu tun, mit ihren Töchtern den Tee für die vielen Gäste zuzubereiten. Sie nickte mir zu und öffnete mir einen Weg durch die zahlreichen Mädchen, die dicht an dicht vor dem Eingang hockten. Regentropfen hingen wie Tränen an den herabhängenden Halmen des Strohdaches. Es roch nach Schweiß und Räucherstäbchen und Haaröl aus Senfsamen. Sun Maya gab mir einen Platz neben den drei Neffen, welche die Plätze der Söhne einnahmen, da Aama keine eigenen hatte. Wie die anderen Ex-Armee-Verwandten draußen trugen zwei der Neffen dunkle Westen und Röcke aus weißem Baumwollstoff, der mehrmals um die Taille gewickelt war und von einem Munitionsgürtel der britischen Armee zusammengehalten wurde. Sie tauschten Informationen aus, machten laute Witze und erzählten Geschichten, die für diese Art Zusammenkunft reserviert waren. Sun Maya drückte mir einen Becher mit Hirseschnaps in die Hand. Wir sprachen über ihre Töchter und ob der Reis für die fast zweihundert Verwandten und Gäste reichen würde. Ich fragte sie, wo Bujay sei, Aamas ältere Kusine, die im unteren Haus gelebt hatte. Bujay war einen Monat nach Aama gestorben. Damit blieb von ihrer Generation niemand mehr übrig.
Draußen signalisierten das sonore Singen der Lamas und die Stakkatotöne aus ihren Trompeten, die aus menschlichen Oberschenkelknochen bestanden, daß die Totenstatue aufgerichtet sei. Die Neffen gingen zur Terrasse, und ich drängte mich mit auf die Veranda.
In dem Augenblick, als ich die Statue sah, hörte und sah ich nichts mehr von der Menschenmenge und wurde zurückversetzt zu einem Morgen vor mehreren Jahren. Ich hatte genau an derselben Stelle gesessen wie jetzt, und Aama hatte auf den leeren Hof geschaut und ihre Todeszeremonie vorausgesehen mit allen Einzelheiten: Die Lamas werden kaum Platz haben mit ihren Ritualgegenständen. Sie werden auf Strohmatten hier am Fuß meiner Veranda sitzen, mährend die Frauen mit offenen Haaren meine Totenstatue, das plah, umschreiten. Das plah steht auf einem Sockel, den sie aus dem Holzbett gebaut haben, in dem ich schlafe. Er ist mit Butterlampen geschmückt. Nahrungsmittel stehen darauf Räucherstäbchen, Baumwollstoff und Blumen. Meine Verwandten bringen Opfergaben, und meine Gurkha-Neffen aus weit entfernten Dörfern werden dasein, die ich jahrelang nicht gesehen habe. Sie werden meistens an der Seite stehen, außer wenn sie drinnen trinken und Geschichten erzählen oder wenn sie von den Lamas oder Schamanen nach draußen gerufen werden...
Aamas Prophezeiung schien die Zeremonie, die sich vor uns entfaltete, zu leiten. Mani Prasad hatte das plah aus zwei Meter hohen Bambusstangen errichtet, über die ein weißes Tuch gebreitet war. Die Brille, die wir Aama in San Francisco gekauft hatten, saß über der Gold- und Korallenkette. Unter das Tuch wurde die Bambusröhre mit den Fingernägeln und der Haarsträhne gelegt, zusammen mit einem jantar, einem zusammengefalteten Blatt Papier, auf dem Aamas Name und ein geweihtes mystisches Symbol, das bildliche Gegenstück zu einem Schutzmantra, standen. Über dem plah wurde ein symbolisches Dach aus Bambusblättern errichtet und mit den Blüten von Weihnachtssternen geschmückt. Aamas grauhaarige Kusinen und Nichten zweiten Grades brachten immer neue Essensgaben, um ihr zu zeigen, daß sie sie nicht vergessen hatten. Sun Maya legte noch Eier dazu und eine Flasche Rum, die ich mitgebracht hatte, nicht ohne sie vorher zu öffnen, damit Aama daraus trinken konnte. Die Frauen, die das plah umkreisten, warfen ihre Köpfe zurück, weinten und flehten laut singend, Aamas umherschweifender Geist möge kommen und ihre Opfergaben annehmen, um sich sodann für immer nach Siminasa zurückzuziehen und niemals mehr ins Dorf zurückzukehren. Nach jeder Umkreisung hielten sie an, wärmten ihre Handflächen an den Butterlampen und hoben die Hände in Richtung des plah, um der Toten Energie zuzuführen.
... Und mein Schwiegersohn wird auch da sein, dieser Halunke. Er wird rauchen und trinken und sich als Ex-Armeeoffizier aufführen und meine Tochter in Verlegenheit bringen...
Mani Prasad saß respektlos mit dem Rücken zum plah am Boden. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen, die er zwischen die ersten beiden Finger seiner rechten Faust klemmte. Die Adern an der Stirn traten hervor, wenn er mit einem pfeifenden Geräusch an der Öffnung seiner Faust sog, dann ließ er die Hand wie einen Stein fallen. In der anderen Hand hielt er eine alte Glasflasche, die noch halbvoll mit Schnaps war. Er nahm einen tiefen Schluck aus der Pulle, warf den Kopf herum und schleuderte den Arm zur Seite, so daß die Kinder, die in der Nähe saßen, erschreckt zusammenfuhren. Dann klopfte er sich grinsend auf die Schenkel. Die umstehenden Verwandten lächelten halb mitfühlend, halb peinlich berührt, als sei er nicht ganz zurechnungsfähig. Mani Prasad war eine Karikatur seiner selbst geworden und genoß es, auf diese Weise die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ein befriedigtes Lächeln huschte über seine Lippen, wenn es ihm wieder gelungen war, jemanden zu schockieren.
»Über Sun Maya bekommt er vielleicht doch noch Aamas Haus«, meinte der Zweitälteste Neffe zu mir. »Aber bei seinem Gesundheitszustand wird er Aama vielleicht schneller nachfolgen, als er glaubt.« Die meisten Verwandten beachteten Mani Prasad kaum. Er würde Aamas Seele nicht daran hindern, in den plah einzufahren.
Einer der Schamanen schlug vorsichtig ein rohes Ei auf und schüttete es in eine Messingschale. Das unverletzte Eigelb würde einen Hinweis darauf geben, in welcher Form Aamas Seele zurückkehren würde: ob als Vogel, als Maus oder als ein anderes Tier. Der Schamane stellte die Schüssel auf eine Bambusmatte und streute Asche außen herum, um Spuren feststellen zu können. Ein anderer Schamane hängte ein Huhn an einem Fuß an einem niedrigen Bambusbogen auf, um genau den Augenblick zu markieren, an dem Aamas Seele in das plah einfuhr. Das Tier blieb bewegungslos für einige Minuten hängen. Plötzlich flatterte die Henne heftig mit den Flügeln, was bedeutete, daß Aamas Seele nun das plah bewohnte. Augenblicklich fielen die Frauen laut klagend auf die Knie und warfen ihre Arme nach vorne zum Fuß des plah.
Aama war hier. Sie war noch einmal ins Land der Lebenden zurückgekehrt. Vor Schreck und Verwirrung wurde ich über und über rot, dieser Zustand wich jedoch allmählich einem Gefühl der Ehrfurcht und Zuneigung. Sie sah genauso aus wie damals, als sie in Amerika neben uns im Auto saß, still beobachtend und bereit zu sprechen, wenn sie die richtigen Worte, oft in Form eines Sprichworts, gefunden hatte. Sie schien glücklich zu sein, daß sie bei uns war.
Die Verwandten können eine Seele vielleicht anlocken, aber nur ein Schamane vermag sie weiterzuleiten. Die Schamanen teilten sich in zwei Gruppen, und beide umschritten das plah entgegen dem Uhrzeigersinn, so daß sich die Totenstatue zwischen ihnen befand. Sie gingen im Gleichschritt und schlugen die Trommel im Einsekundentakt. Dabei sangen sie eine Ballade, die shyerga, welche die Gefahren auf dem Weg beschrieb, um Aama sicher zum Ziel zu geleiten.
Eine Gruppe der Schamanen ahmte Aamas Stimme nach. »Was geschieht mit mir?« riefen sie über das plah. Die andere Gruppe antwortete mit der Stimme der Schamanenführer. »Du bist tot, du bist gestorben.« »Wie bin ich gestorben?« fragte Aamas Seite. »An Altersschwäche nach einem langen, fruchtbaren, spirituellen Leben.« »Warum macht ihr dieses arghaun?«
»Du bist vom Gott des Todes genommen worden, aber wir, die Lebenden, haben dich ihm entwunden und dir den Weg freigemacht, damit du Siminasa erreichen kannst. Du wirst dort bei deinen Vorfahren verweilen, und von dort wirst du wiedergeboren.«
Die Christen sind unentschieden, welchen Weg die Seele einschlagen wird, aber im allgemeinen glauben sie, daß sie bis zum Tod im Körper wohnt und unmittelbar danach für immer in den Himmel oder die Hölle kommt. Mit der Totenfeier ist für Christen der Übergang der Seele abgeschlossen. Ich habe mich immer gefragt, ob der Tod ein so einfacher und kurzer Prozeß ist. Hindus und Buddhisten glauben, daß nur weit Fortgeschrittene im Nachtod-Zustand fähig sind, den massiven Ablenkungen zu widerstehen und sich nicht verwirren zu lassen. Es ist klar, daß Menschen, die zu Lebzeiten nicht geübt haben, nach dem Tod Führung brauchen. Diese Periode ist überaus schmerzvoll, weil die Seele sich nicht leicht zurückzieht. Sie klammert sich ängsüich an das verlorene Leben oder sucht sogleich nach einer Wiedergeburt. Wenn sie nicht erkennt, daß sie gestorben ist, dann lungert sie vielleicht im Dorf herum, ist den Einwirkungen anderer herumschweifender Geister ausgesetzt und widersetzt sich der Rückreise nach Siminasa. Nur ein kundiger Schamane kann solch eine rastlose Seele weiterführen. Es heißt, daß die Seelen von Menschen, die einen frühzeitigen Tod erlitten haben, den Lebenden die größten Schwierigkeiten machen und sich am meisten der Rückführung widersetzen.
Frühzeitiger Tod. Ich atmete heftig ein. Meine Mutter. Eine Flut der Erinnerungen und Visionen stieg angesichts des plah in mir auf, das mit Aamas Brille und Halsketten geschmückt war. Meine Mutter war 42 Jahre alt gewesen und bei guter Gesundheit. Sie war nicht auf den Tod vorbereitet, und sie wäre nicht freiwillig gegangen. Bilder eines Traums tauchten auf, der seit zwei Jahren in konsequenter Regelmäßigkeit wiederkehrte. Graphische Fragmente, sonst zu flüchtig, um im Gedächtnis haftenzubleiben, begannen nun, sich zu einem lebendigen Bild zusammenzufügen: In der Dichte aufgehobener Zeit irrte ich durch ein verdunkeltes, fremdes Haus. Meine Bewegungen wurden langsamer, mein Atem stockte, meine Zunge war wie gelähmt. In jedem Raum war etwas Bösartiges. Ich fühlte mich besonders zu einem Zimmer hingezogen, konnte mich aber nicht überwinden, es zu betreten. Ich erwachte von diesem Traum erst, nachdem ich ihn in die Verliese des Unbewußten verdrängt hatte. Eine vage Lethargie und Kopfweh waren die einzigen Spuren dieser langen Nächte. Jetzt, auf der Terrasse von Aamas Haus, war ich zum erstenmal fähig zu sehen, was sich in dem Zimmer befand: der in ein schwarzes Gewand gehüllte, enthauptete Körper meiner Mutter. Sie versteckte sich, suchte aber nach mir und sprang hervor, um mich zu erschrecken oder zu halten - meine Angst ließ mich im Ungewissen. Ich konnte die Vision nicht verscheuchen. Ich stellte Fragen, suchte nach Einzelheiten, analysierte. Auf Logik hatte ich mich bisher immer verlassen können. Hatte ich die Zimmer betreten wollen? War sie ein böser oder ein guter Geist? Hatte ich sie enttäuscht oder schlecht behandelt oder nicht richtig angesprochen? War sie jetzt hier bei uns?
Ich versuchte mich zu entspannen und wartete. Die Lamas richteten ihre Schenkelknochentrompeten zum Himmel und bliesen aus vollen Backen hinein. Von den Räucherstäbchen und Butterlampen stieg reinigender Rauch an Aamas Totenstatue empor. In hypnotischer Trance umkreisten die Schamanen weiter das Standbild.
Da war sie - meine Mutter. Sie hatte ihren Platz neben Aama auf dem Sockel der Totenstatue eingenommen. Beide hatten den Weg gefunden, und die Schamanen führten sie.
Meine Mutter fixierte mich mit ihrem schiefen, charmanten Lächeln. Ihr Gesicht war von alterslosen blonden Locken eingerahmt. Es schien ihr gutzugehen. Du hast mich gefunden.
Ich wollte ihr Bild dort festhalten, wollte die Wärme ihres Gesichts mitnehmen und in einem Schrein bewahren. Ich sah mich in ihren Gesichtszügen und erkannte ihre Gesten als Teil von mir - als jenen, der Liebe war: jener Liebe, die sich nach innen zurückgezogen hatte aus Angst, sich auszudrücken, weil sie dann weggenommen werden könnte, so wie es mit meiner Mutter geschehen war. Diese Liebe war die gefährliche und mächtige Kraft, die zusammen mit meiner Mutter die Räume bewohnte, die ich nicht zu betreten gewagt hatte.
Ich schaute zu Aama. Sie erwiderte meinen Blick mit einem Strahlen, das ja sagte. Wir sind die, die du glaubst, daß wir sind. Jetzt siehst du, Nani, daß ich nicht anders bin als deine Mutter, und sie ist nicht anders als ich. Im Tod sind wir alle verwandt.
Die Toten dürfen nicht im Reich der Lebenden verweilen. Die Schamanen blieben stehen und richteten sich gerade auf, um Aamas Seele in aller Form anzusprechen. Sie erklärten, daß sie die Schwelle zu Siminasa erreicht hätten. »Aama, bitte, erkenne die Grenzen: Menschen betreten nicht das Land der Ahnen. Bitte, kehre also nicht zum Land der Lebenden zurück. Laß deine Begierden los, löse deine Verhaftung an deine Tochter, deinen adoptierten Sohn, an dein Haus und deine Tiere, an dein Vermögen und auch an deinen Körper, denn du besitzt keine Körperform mehr, an der du festhalten könntest. Das ist dein Ruheplatz. Du mußt dort bleiben, während wir, die wir leben, dich jetzt verlassen und zurückkehren ...« »Aber wie werde ich überleben, was soll ich essen und trinken?« fragte ihre Seele. »Du wirst in der Fülle der Gaben deiner Vorfahren und Verwandten schwelgen, und das Tuch, das sie dir großzügig geschenkt haben, wird dich warmhalten.« Inzwischen war der Sockel des plah mit Lebensmitteln, Stoff und Alkoholflaschen bedeckt. Die Gurung wußten, daß die Fülle der Gaben Aamas Seele zufriedenstellen und sie sich vom Dorf entfernt halten würde. Aber die Tore nach Siminasa waren versperrt. Geister hatten ihr den Eintritt verstellt, um sie unter den Lebenden festzuhalten, damit auch sie herumirren mußte. Böse Geister vermögen ausschließlich im physischen Umkreis des Dorfes zu überleben, denn nur hier können sie Unglück bewirken.
Aamas Verwandte waren jetzt verpflichtet, die Tore gewaltsam zu öffnen. Sun Maya und Mani Prasad und die Neffen und Nichten versammelten sich neben dem Büffelstall. Der älteste Neffe ergriff einen symbolischen Speer, eine Art Spaten mit langem Griff, wie er zum Unkrautjäten in den Reisfeldern verwendet wird. Er balancierte ihn auf der Schulter. Die Anwesenden machten Platz. Drei Meter von ihm entfernt war das Tor nach Siminasa, versinnbildlicht durch ein taar, ein flachgedrücktes Bambusrohr, auf das mit Holzkohle geometrische Symbole gezeichnet waren. Er zielte und warf den Speer, verfehlte aber das Ziel. Mani Prasad hob den Speer vom schlammigen Weg auf und reichte ihn dem Zweitältesten Neffen. Wie sein Bruder sammelte er sich und warf. Er traf mitten auf das taar, das vom Weg auf die darunterliegende Terrasse fiel, hinter Bujays Haus. Die Verwandten stürzten auf den Zweitältesten Neffen zu und reckten die Arme, um seine Schulter zu berühren. Sobald sie ihn mit den Fingern berührt hatten, verfielen sie in lautes Singen, shaaai, shaai, shaai, um den Augenblick zu heiligen und seine Seele daran zu hindern, seinem Körper zu entweichen, was in diesem verletzlichen Zustand möglich ist. Ihre Arme wanden sich wie Schlangen um seine Brust und seine Schultern, und sie banden ihm Schnüre mit neun Knoten um den Hals, um ihn wieder mit den neun schützenden Planeten und den neun Elementen seiner Seele zu verbinden.
Die Tore nach Siminasa standen jetzt offen, und Aamas Seele konnte friedlich, aus eigenem Entschluß, eintreten. Die Seele meiner Mutter war mit ihr, und sie erschienen wie Schwestern. Im nächsten Moment waren sie verschwunden. Die Lamas schlossen und sicherten die Tore.
Um zum Land der Lebenden zurückzukehren, wechselten die Schamanen die Richtung und umschritten das plah jetzt im Uhrzeigersinn. Die Frauen flochten wieder ihre Haare. Nach mehreren Stunden wurde das langsame Dum-da-dum der Trommel, das gelegentlich vom Ton des Muschelhorns übertönt wurde, schneller. Die Schamanen kehrten in die Dorfgemeinschaft zurück.
Nun traten zwei Lamas in prächtigen Gewändern aus Samt und bunten Streifen aus dem Büffelstall heraus. Paneele mit Ikonen der wichtigsten Gottheiten zierten ihren Kopfschmuck. Die Menge wich zurück, um Platz zu machen für ihren Wirbeltanz um die Totenstatue, den die Zimbeln zu einem wilden Crescendo steigerten. Die Neffen entfernten die Opfergaben und Butterlampen und stellten sie für die Lamas und Schamanen zur Seite. Einer der Lamas entfaltete vorsichtig das jantar, auf dem Aamas Name stand, wickelte die Fingemägelschnipsel und die Haarsträhne hinein, verbrannte alles und verknetete die Asche mit rotem Ton. Daraus formte er eine Statuette von Avalokitesvara, dem Buddha der Barmherzigkeit, die später auf den Kraftplatz am Bergkamm gebracht werden würde. Der Hauptteil des arghaun war vollendet. Die Lamas nahmen die Totenstatue samt den Dekorationen ab und legten alles auf einen Haufen. Mani Prasad hockte in seinem schmutzigen T-Shirt und Baumwollrock auf dem Boden und versuchte seinen Sinn für Konvention zu demonstrieren, indem er alle Überbleibsel des Rituals vom schlammigen Boden aufsammelte; es durfte nichts liegenbleiben. Es schien, als wolle er die schädlichen Auswirkungen seines Verhaltens wiedergutmachen und Aamas Neffen, den Armee-Pensionären, zeigen, daß er in all den Jahren, die sie draußen in der Welt gewesen waren, im Dorf die Gurung-Tradition hochgehalten hatte. Die Neffen schauten spöttisch schmunzelnd auf ihn herab und waren erleichtert, als vom arghaun keine Spur mehr auf der Terrasse übrig war. Das war das mindeste, was Mani Prasad für seine Schwiegermutter tun konnte, die ihn trotz allem akzeptiert, ja, ihm sogar immer wieder Geld geliehen hatte, das zum Teil von ihrem Dharma-Sohn stammte. Schau nur meine Tochter an, hatte Aama gesagt, voller Sorgenfalten und beschämt.
Sun Maya und die Neffen organisierten den Zug der über hundert Verwandten in einer langen Reihe. Alle drei Sekunden ertönte ein Trommelschlag, und eine Person nach der anderen verließ den Hof. Die Prozession schlängelte sich am Büffelstall vorbei, duckte sich unter dem auf Stelzen stehenden Heuschober, stieg über den Zauntritt auf den Pfad, der aus dem Dorf hinausführte. Kinder klammerten sich an die Röcke ihrer Mütter, da sie offenbar die Gegenwart von Geistern fühlten. Sieben männliche Verwandte trugen ein zehn Meter langes Banner aus weißem Tuch, das zwischen dünnen Bambusstäben befestigt war. Dieses gyam-bal bewegte sich wie eine Raupe den Pfad entlang und hatte die Aufgabe, böse Geister abzuwehren, ähnlich wie das sogenannte »Schlagtuch«, das man im Dschungel zur Abwehr von Tigern benutzt. Der Pfad führte unterhalb eines einsamen Hauses vorbei. Der Dorfschmied stand mit seiner Familie am Rand seiner Maisterrasse und schaute schweigend auf die Prozession. Die Erinnerung an Sun Mayas Mutter erfüllte ihre Gesichter; die Regel der Unberührbarkeit vermochte nicht zu verhindern, daß sie Aama nahegestanden hatten. Die Karawane wand sich die Steintreppe hinauf bis zu dem Steilhang, der die Peripherie der Dorffelder markiert. Hier werden die Kleider der Toten auf Dornenbüsche geworfen, damit sie für die Zaubereien von Hexen untauglich werden. Über dem entferntesten Bergkamm, unterhalb der pastellfarbenen Wolken, ging ein Regenschauer vor der Abendsonne nieder.
Die Verwandten sammelten sich neben dem Pfad. Sun Maya rollte Strohmatten für die Neffen, den Schwiegersohn und mich aus. In der Nähe schichteten die Lamas die Einzelteile der Totenstatue zu einer groben Pyramide auf. Einer zündete sie an. Sun Maya reichte ihm eine Messingurne. Singend goß er einen feinen Strahl flüssige Butter ins Feuer. Er gab die Urne an den ältesten Neffen weiter, der das gleiche tat. Seine Silhouette zeichnete sich dunkel vor den Flammen und der orangeroten Sonnenscheibe ab. Die anderen Neffen folgten. Der älteste Neffe saß neben mir auf der Matte und flüsterte mir zu: »Es ist vorbei. Das ist das Ende. Wenn du deine Opfergabe darbringst, verabschiede dich von Aama und gib ihr deine besten Wünsche mit auf den Weg.«
Wie die Neffen vor mir, nahm ich die Urne in die Hand und goß flüssige Butter in die erlöschende Glut der Totenstatue. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich fühlte mich verloren und wertlos, aber aufrichtig - der Mann-Junge, als den mich Aama und meine Mutter gekannt hatten. Ich sprach die Worte der Neffen nach, so gut ich konnte, aber der hohle Ton der Schwäche war nicht zu verbergen, mehr ein Hilferuf als ein Ausdruck der Trauer. Ich versuchte loszulassen. »Ich mache diese Opfergabe in Aamas Namen.« Aama - das Kinderwort für Mutter. Auch meine eigene Mutter war Aama.
Die Trauerzeremonie war zu Ende. Der Lama stieß die schwelenden Reste von Stoff und Bambus vom Pfad herab. Sie hatten nicht mehr Vitalität in sich als der Müll und die verwelkten Blumen, die auf dem Boden herumlagen. Als zwei Leute um die Kurve kamen, winkten die Lamas sie zu uns auf die Terrasse herauf. Immer noch lungerten böswillige Geister über den Resten der Totenstatue herum wie Räuber, die leer ausgegangen waren.
Ich setzte mich wieder zu den Neffen auf die Strohmatten. Unsere Stellung in der Verwandtschaftshierarchie mußte bekräftigt werden. Wir sollten als Älteste geehrt werden.
Sun Maya als einzige Tochter hockte sich vor jeden und goß sich Senföl in die Hände. Sie rieb uns damit Gesicht, Haare und Hals ein. Dann wickelte sie uns lange, weiße Stoffbahnen als Turban um den Kopf. Der Turban fühlte sich wie ein schützender Helm an, tröstlich wie ein Verband.
Langsam gingen wir den Pfad zurück ins Dorf. Ein qualvolles Ritual war zu Ende. Es wäre unzureichend gewesen, über den Tod Aamas und meiner Mutter nur zu sprechen und den Verlust irgendwie durchzustehen. Der Tod, wie das Leben, kann von der Wissenschaft oder einfachen Predigten nicht weggeredet werden. Für die Hinterbliebenen ist eine rituelle Loslösung notwendig, ein Durchtrennen der Verwandtschaft wie im arghaun. Ohne ein solches Ritual wird der Lebenskreislauf unterbrochen.
Unter den Gurung hatte ich Aama kennengelernt, und unter ihnen würde ich meine Verhaftung an sie wieder lösen. Und das war auch der Ort, an dem ich endlich lernen mußte, meine Mutter loszulassen.
Indem die Gurung die Seele im Übergang begleiten, stärken sie die Bande an ihre Familie und Clanmitglieder, an die Gu-rung-Bräuche und ihre Kosmologie und werden vertraut mit dem Pfad, den auch sie nach dem Tod beschreiten werden. Die Gurung sagen nicht »ich denke...«, sondern »wir glauben«-wir, das heißt die Familie, der Clan, der Stamm. Ihre Religion ist keine Meinung und keine Position. Sie ist eingeprägt in jede Faser des Lebens - und des Sterbens.
In dieser Nacht war das Dorf in einen anhaltenden, reinigenden Monsunregen getaucht, ein glückverheißendes Zeichen nach einem arghaun. Mehr als zwanzig Verwandte saßen schwatzend auf der Veranda und beobachteten die schlammigen Sturzbäche, die sich neben dem Haus bildeten.
Sun Mayas große Töchter kochten Tee und schenkten Alkohol aus. Sie waren ungewöhnlich ruhig, verglichen mit den Kindern, mit denen ich auf Aamas Terrasse gelacht und gespielt hatte. Aamas Urgroßenkelin krabbelte neben ihrer Mutter auf dem Boden herum, ein Bild, das ich vor achtzehn Jahren, eine Generation vorher, genauso gesehen hatte. Wenn dieses Kind eine Frau sein wird, wird sich das Dorf nicht wesentlich verändert haben. Und sie, wie ihre Mutter, wird in Aamas Form hineinwachsen. Sun Maya setzte sich neben mich, sie seufzte tief und lächelte dann. »Dieses arghaun, jüngerer Bruder, ist der Grund, warum auch du Kinder haben mußt - damit es jemand für dich ausführen kann, wenn du stirbst.«
Es war, als habe Aama gesprochen.
Kapitel 18
Das Telefon klingelte. Es war Didi. Zum erstenmal seit fast zwei Jahren klangen meine Worte merkwürdig frei von Begehren. Meine Wahrnehmung von ihr war geschrumpft; sie war ein Mensch von normaler Größe und mit normalen Fähigkeiten. Die innere Stimme, die mich gedrängt hatte, mich in die Privatheit meines Zimmers zurückzuziehen und mich meinen gewohnheitsmäßigen Selbstzweifeln zu überlassen, hatte an Kraft verloren. Didi fragte, wie es mir gehe und wer die Frau sei, mit der mich gestern einer ihrer Freunde gesehen habe. »Sie ist neu in der Stadt und arbeitet im Gesundheitsbereich. Ich habe sie letzte Woche kennengelernt. Warum?« Mein Verlangen nach Didi war so weit abgekühlt, daß ich es berühren konnte. »Du warst irgendwie seit einer Weile verschwunden. Ich bin froh, daß sich etwas bei dir tut.«
Ich erzählte Didi von Aamas arghaun.
»Ich habe etwas, das ich dir für ihr arghaun schicken wollte. Leider habe ich es vergessen. Warum kommst du nicht vorbei und holst es heute abend nach der Arbeit ab?«
Wir saßen an Didis Eßtisch. Es schien nur wenig Zeit vergangen zu sein, seit wir das letzte Mal zusammen waren, obwohl es mehr als zwei Jahre her war. Am Ende des Abends standen wir in einer langen und behutsamen Umarmung beieinander, und Hoffnung und Aufrichtigkeit keimten zwischen uns auf. Unsere Körperwärme führte unsere Lippen zu einem flüssigen Kuß zusammen - einem Kuß, wie ich noch keinen erlebt hatte. Ein Gefühl von Vertrauen stellte sich ein. Wir waren beide, unabhängig voneinander, gereift und wurden vom heiligen Bobaum gepflückt, der Inkarnation Vishnus im Pflanzenreich, unter dem Männer und Frauen zu einem Paar fürs Leben zusammengefügt werden - manchmal bis in den Tod.
Sie vergaß, mir die Dinge zu geben, die Aama gehörten: eine Halskette, ein T-Shirt und noch weitere Schneckenmuscheln, die bei Didis Sachen geblieben waren, als Aama ins Dorf zurückgekehrt war. Ich mußte lächeln, als ich mir Aamas Tom-und-Jerry-T-Shirt auf dem plah vorstellte.
Ein paar Tage später fragte ich Didi nach der Vergangenheit und der Amerikareise.
Sie schaute mich mit einem durchdringenden, amüsierten Stirnrunzeln an, als müßte ich inzwischen doch wissen, was sie darüber dachte - und wenn nicht, dann würde ich es wohl auch nicht wissen wollen. Sie nahm sich Zeit, um ihre Erfahrung ehrlich zusammenzufassen.
»Vor unserer Abreise bin ich zu einem Morgenteaching von Chyöki Nyima Rimpoche über buddhistische Philosophie gegangen. Danach habe ich ihn allein sprechen können und ihn nach meiner Zukunft mit dir befragt. Er sagte: >Didi, dieses Leben ist ein Witz: Alles ist Illusion. Ob du mit deinem Freund zusammenbleibst oder ob ihr euch trennt, spielt keine Rolle. Wenn das Eheglück für dich bestimmt ist, dann wirst du heiraten< Ich erinnere mich, daß ich lächelnd weggegangen bin. Irgendwie fühlte ich mich erleichtert.«
»Und auf dem Weg mit Aama in die Staaten, was hat die Hellseherin in Hongkong dir gesagt?« »Teddi meinte, sie sei ziemlich verläßlich. Die Frau schaute sich die Tarotkarten an und meditierte, während ich dahockte und Angst hatte. Nach mehreren Minuten erklärte sie, sie bewege sich wie in einem Trichter spiralförmig in die Tiefe, und es sei offensichdich, daß die Verbindung zu dir mich sehr viel Energie koste. Sie sagte: >Dein Parnter hat dir sehr viel Schmerz zugefügt, und es wäre am besten, die Beziehung zu beenden - außer die Situation verbessert sich dramatisch. Er ist vielleicht nicht fähig, dich zu lieben, und du mußt raus, damit du dich rettest.« Es machte mich traurig, von der Hellseherin das zu hören, was ich mir selbst nicht hatte eingestehen wollen.«
Konnte ein völlig fremder Mensch in Didi und mir sehen, was ich selbst nicht zu erkennen fähig war? Ja, vielleicht. Vertrautheit und eine unaufgelöste Vergangenheit hatten meine Wahrnehmung getrübt. Aus den gleichen Gründen war Didi nicht imstande gewesen zu handeln. »Deswegen warst du also in der Transithalle in Tokio so frostig.«
Sie schaute mich freundlich, aber ernst an. »Als du da vor mir gestanden bist, konnte ich kein Zeichen entdecken, daß du mir irgendwie liebevoll begegnen würdest. Du warst völlig vernagelt und dabei noch eingebildet, völlig mit dir selbst beschäftigt, einfach unreif. Wie du gefragt hast: Was ist los?, da hat es bei mir geklickt, und ich wußte, daß ich dem Rat der Hellseherin folgen würde. Ich sagte mir: >Im Augenblick muß ich den Gedanken beiseite lassen und ins Flugzeug steigen.««
Didi war mitteilsam wie selten, und jeder Gedanke fand seinen Platz in ihrer Geschichte. »Nach unserer Reise ging ich wieder zu einem Vortrag von Rimpoche. Danach blieb er bei mir stehen, drückte meine Hand und sagte: >Ich habe deinen Freund gesehen, und er hat mit mir über dich gesprochen.« Augenzwinkernd fügte er hinzu: >Es ist Karma«, drehte sich um und ging weiter. Dieses Zwinkern konnte Verschiedenes bedeuten. Von dem ganze Schmerz, den du mir zugefügt hast, war etwas zu dir zurückgekehrt, wie es unweigerlich geschieht. Aber vielleicht hieß es auch, daß das Schicksal und unser Karma uns dazu bestimmte, wieder zusammenzukommen.«
Jetzt war es an Didi, auf einer Spirale in die Tiefe zu gehen. Sie strich sich die Haare aus der Stirn. »Inzwischen weißt du wahrscheinlich, daß Aama deine Ersatzmutter war. Solange sie am Leben war, mußtest du dich nicht mit dem Tod deiner eigenen Mutter auseinandersetzen. Und Aama, die ja keinen eigenen Sohn hatte und dich als Gottesgeschenk annahm, hatte auch kein besonderes Interesse daran, daß du das tust. Ihr war es recht, daß du ein Sohn geblieben bist, der seine Mutter braucht. So bist du in einer zweiten Adoleszenz steckengeblieben - diesmal mit Aama - und wolltest nicht der Realität ins Auge sehen, daß dich eine Frau verlassen würde, wie es deine Mutter getan hat. Und dann ich, und dann noch Aama. Jetzt, nach der ganzen Qual, siehst du vielleicht, daß keine von uns die Liebe zu dir über Bord geworfen hat, als wir gingen.«
Didi machte sich einen Drink, dann schaute sie mir offen ins Gesicht. »Trotz all der Jahre, in denen ich gehofft habe, wir würden heiraten, weiß ich jetzt, daß unsere Ehe damals nicht gutgegangen wäre.« »Du hast recht«, sagte ich still. Ich hatte Didi meine Entdeckung mitteilen wollen, aber sie hatte schon alles gesagt. Die Leere, die Aamas Tod hinterlassen hatte, sollte in der Tat von Didi gefüllt werden, aber nicht nach meinem Zeitplan. In all den Jahren war meine Liebe in der Verhaftung ertrunken. Didi hatte in ihrer Nachsicht darauf gewartet, daß sie wieder auftauchen würde.
In Amerika hatte ich gehofft, meine Wahrnehmung zu erweitern, ja vielleicht sogar Weisheit zu erwerben, indem ich unser Land durch Aamas Augen betrachtete. Ich hatte erwartet, daß es mir in der physischen Landschaft entgegenscheinen würde. Aber die Boten dieses Verstehens waren in Wirklichkeit immer neben mir gewesen und haben geduldig darauf gewartet, daß ich sie sehen und ihre Gegenwart anerkennen würde: Aama, Didi und der Geist meiner Mutter. Meine Mutter war nicht mehr meine Mutter. Aamas Dorf war nicht mehr mein Zuhause. Das Zuhause ist das eigene Herz, das sich offenbart, wenn es sich aus Bindungen löst und neue Bindungen eingeht. Die Pilgerreise, die Aama und Didi vollendet hatten, schien für mich erst zu beginnen, eine innere Reise, von der ich annahm, daß sie lang und schwer sein würde. Aber Aamas Vetter, der Schamane, hatte betont, daß spiritueller Verdienst durch die Reise als solche erworben werden kann, indem man die unvermeidlichen Beschwernisse auf sich nimmt, die einem auf dem Weg zu einem unbekannten Ziel begegnen.
Didi und ich räkelten uns unter den Leintüchern, zusammen und doch allein, wie wir das immer sind. Ich lag auf dem Rücken, und mir war, als hörte ich Aama singen, so wie sie das allabendlich tat, und als würde sie mit ihrem ironischen, zur Vorsicht mahnenden Lächeln zu mir heraufschauen und durch mich hindurch. Sie sang auch für Didi, für die Amerikaner, für ihre Ahnen und Nachkommen und badete uns alle in Liebe.
»Wir kommen nackt und gehen nackt -
Ein Leben, nicht länger als zwei Tage.
Die Erde ist unsere Wiege.
Die Erde ist unser Kissen.
Und die Erde ist unser Leichentuch:
Ja, es ist, wie es ist...«
Durchs offene Fenster sah Didi eine Sternschnuppe. Sie sagte, sie habe sich etwas gewünscht. Ihr Lächeln schien auszudrücken, daß sie mich in diesen Wunsch eingeschlossen hatte. Ich erzählte ihr, daß die Gurung glauben, eine Sternschnuppe sei eine Seele, die zur Erde zurückkehrt und wiedergeboren wird. Sie schießt in dem Augenblick über den Himmel, wenn sie eine Frau gefunden hat, die bereit ist zu empfangen.
Phoebe Thunder-Coburn kam am 2. Januar 1993
als Tochter von Didi Thunder und Broughton Coburn
zur Welt.