Um eine Übergangsform zwischen Tagebuchaufzeichnungen und Kalendernotiz handelt es sich bei den Eintragungen, die die Malerin Hannah Höch im Notizkalender des Jahres 1945 festhielt. Von Hannah Höch sind sonst keine Tagebuchaufzeichnungen überliefert. In ihrem Nachlaß, den die Berlinische Galerie übernahm, finden sich die Jahresnotizkalender von 1939-1945, in denen die Malerin nur wenige sporadische Termine festhält. Ihre Notizen im Kalender des Jahres 1945 fallen hier deutlich aus dem Rahmen. Ihre Eintragungen sind ein Beispiel dafür, wie Frauen häufig die sich überschlagenden Ereignisse des Kriegsendes - oft nur in Stichworten - festhielten. Hannah Höch unterscheidet sich aber in einem Punkt deutlich von der Mehrheit der Tagebuchautorinnen: Sie ist eine der wenigen, die das Kriegsende vorbehaltlos begrüßen und es nicht als Zusammenbruch, sondern als Befreiung erfahren.
Den kleinformatigen Taschenkalender des Jahres 1945 läßt Hannah Höch während der meisten Zeit dieses Jahres unbenutzt, notiert dort nur einige wenige private Termine. Anders ist dies jedoch in den Monaten April bis Anfang Juni. Während dieser Tage füllt sie einen Großteil der Tagesfelder mit autobiographischen Notizen. Diese machen schon allein optisch deutlich, daß ihr der Taschenkalender während eines kurzen Zeitraums zu einem Zweck dient, der den begrenzten Raum sprengt. An den Tagen, an denen der Krieg vor ihrer Haustür stattfindet und an denen für sie persönlich der
Krieg und der Nationalsozialismus zu Ende sind, sind die Schreibfelder zu klein, um die Fülle ihrer Erinnerungsvermerke festhalten zu können. »Die Russen sind in nächster Nähe«, beginnen ihre Notate am 19. April, als die Eroberung Berlins unmittelbar bevorsteht und das Herannahen der sowjetischen Front hörbar wird. Die Felder vom 22. bis zum 28. April füllt Hannah Höch mit durchlaufenden Notizen. Während dieser Woche erlebt sie den Einmarsch der Roten Armee an ihrem Wohnort in Berlin-Heiligensee. Die darauffolgenden Notizen vom 1. bis zum 4. Mai betreffen das Kriegsende in Berlin: »heute Waffenstillstand«, notiert sie am 7. Mai. Nach der Beendigung der militärischen Auseinandersetzung hält sie bedeutsame Ereignisse des politischen Geschehens oft in Form knapper Tageseintragungen fest. Während des ersten Monats nach Kriegsende sind die Eintragungen noch relativ dicht. Im Juni finden sich nur noch vereinzelte Notizen. Ihre Aufzeichnungen brechen mit der Konsolidierung des Alltags ab, der Taschenkalender bleibt im folgenden ungenutzt.
Biographische Notiz
}Als einzige Frau in der Gruppe der Dadaisten machte sich Hannah Höch schon in der Weimarer Republik durch ihre Photocollagen einen Namen. Sie verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens als Malerin in Berlin. Da die verschiedenen Etappen ihrer Lebensgeschichte in Hannah Höch. 1889-1978. Ihr Werk, ihr Leben, ihre Freunde (Berlinische Galerie 1989) nachlesbar sind, beschränke ich mich hier auf einige Informationen, die ihr Leben während der Jahre des Nationalsozialismus betreffen.
Die Ausgrenzung durch die Nationalsozialisten traf die Künstlerin schon vor der Machtübernahme. Bereits 1932 wird eine geplante Ausstellung ihrer Werke in Dessau nach dem Wahlsieg der NSDAP in Sachsen verhindert. In den Jahren 1933-1945 wurde der Dadaismus als »entartete Kunst« diffamiert. Hannah Höch stuften die neuen Machthaber als »Kulturbolschewistin« ein, was praktisch einem Berufsverbot gleichkam. Anders als die Mehrzahl der Dadaisten emigrierte Hannah Höch nicht. Sie lebte vollkommen zurückgezogen in ihrem kleinen Haus am Stadtrand in Berlin-Heiligensee
und wurde dort im April 1945 Zeugin des Einmarsches der Roten Armee. Nach der Neukonstituierung der Berliner Regierung wurde Hannah Höch als Künstlerin anerkannt. Obwohl sie in den folgenden Jahren an mehreren Ausstellungen mitwirkte, wurde sie erst zu Beginn der 70er Jahre als wichtige Vertreterin des Dadaismus neu entdeckt und gewürdigt.
»Dieses Grundgefühl von Frieden«
Im ausführlichsten Eintrag, der die Felder des Notizkalenders der Woche vom 22. bis zum 28. April 1945 füllt, berichtet die Verfasserin über ihre Eindrücke bei der ersten direkten Konfrontation mit den sowjetischen Eroberern. Ohne sich genau an die Tagesgrenzen zu halten, nutzt sie ihren Notizkalender für einen fortlaufenden chronologischen Ereignisbericht:
Mittags rücken die Russen ein. Kamen auf der Neuruppiner Chaussee von 2 Seiten. Um unsere Ecke, Richtung - Havel. Blieben die halbe Nacht hier bei uns stehen. Die Frauen der Nachbarschaft hatten alle Russenbesuch. Die Männer, die wenigen, die da waren, konnten nichts dagegen tun. Wir hielten uns versteckt. Niemand schlief diese Nacht. Wir blieben verschont.
Am Vormittag ging nun der Russenbetrieb los. Sprangen über den Zaun u. untersuchten die Garage nach Sprit, Wagen- u. Autoutensilien. Kamen in's Haus, wollten Wasser trinken. Einer wollte goldene Damenuhr partout in Herrenuhr umtauschen. Wir, Danilo u. ich wurden gut mit ihnen fertig. Inzwischen zogen die Trecks unentwegt um unsere Ecke. Inzwischen standen rundherum schwere Artillerie welche Berlin beschossen. Dabei unentwegt Angriffe deutscher Flieger aus der Luft. Die Bevölkerung war hier inzwischen beschäftigt die Kaserne auszurauben u. zu plündern. Montag früh hatte die Bevölkerung hier sämtliche Läden ausgeplündert.
Die Russen hatten Brücke über die Havel geschlagen in Heiligensee Dorf (an der Fähre). Die Russen verteilten Schokolade u. Keks an die Kinder.
Aber Frauen, die sie erwischten mussten alle dran glauben. Auch alle Fahrräder mussten mit. Trotzdem soviele Tage der Vorbeizug um meine Ecke dauerte hat man mir nichts getan - nichts genommen - ausser meiner Taschenlampe und ein paar Stückchen Schlauch haben sie abgeschnitten. Während die Nebenhäuser ständig von Russen belagert waren. Eine junge Frau mit ihrem Jungen hatte ich noch aufgenommen, die von einer tötlichen Angst besessen war. (Frau K.). Auf einem Wagen hatten die R.[ussen] ein ganzes Nest junger Hunde. - Am Montag luden sie vor meiner Tür einen Toten ab. Der auch an meiner Ecke begraben liegt. (Durch Tiefflieger getötet) Herr W, der das Grab mit ausheben musste bekam Tee u. Zigaretten von den R.fussen] - Abends immer schwere deutsche Fliegerangriffe. Über Berlin schreckliche Röte des Nachts und furchtbarer Geschützdonner.
In oft unvollständigen Sätzen oder Stichworten und mit Abkürzungen notiert Hannah Höch die für sie bedeutsamen Erlebnisse dieser Woche. Die Satzstruktur läßt erkennen, daß sie während der Tage des Kriegsendes, in denen sich die Ereignisse und Eindrücke überschlagen, mit der schriftlichen Erlebnischronologie kaum nachkommt. Mehrfach muß sie zeitlich Gleichzeitiges mit der stereotypen Wendung »inzwischen« nachholen. Es sind aber dennoch keine unüberlegten Erinnerungsvermerke oder eine einfache Aneinanderreihung von Kriegsgeschehnissen. Auch wenn die Verfasserin keine
direkten Wertungen abgibt, weisen die Notizen eine Tendenz auf, die ihre Haltung zum Ausdruck bringt. Für Hannah Höch bedeutet die militärische Eroberung Berlins durch die Rote Armee das Ende des Nationalsozialismus und einen Neuanfang, dem sie allerdings ohne »Illusionen« (4. Mai 1945) entgegensieht. Sie notiert, daß es zu Vergewaltigungen und Plünderungen durch Soldaten der Roten Armee kommt, beläßt es hier jedoch bei einer kurzen Erwähnung, ohne daß es zu einer Wertung oder einem Erklärungsversuch kommt. Hier unterscheiden sich Hannah Höchs Aufzeichnungen deutlich von den übrigen Berliner Notizen und Tagebüchern, in denen über dieses Thema in der Regel ausführlich und voller Empörung berichtet wird. Hannah Höch hält sich eher bei Beschreibungen auf, die die sowjetischen Soldaten als korrekt, in ihrer Tier- und Kinderfreundlichkeit menschlich und letztlich umgänglich zeigen. Die Geringfügigkeit der Verluste, die die Eroberung für sie persönlich mit sich bringt, ist ihr eine besondere Notiz wert. Sie schildert die sowjetischen Soldaten differenziert in unterschiedlichen Verhaltensweisen, wobei eine wohlwollende Charakterisierung dominiert. Weniger
nachsichtig wertet sie das Verhalten der Eroberten: Während sie die Plünderungen der sowjetischen Soldaten beschönigend »Russenbetrieb« und die Vergewaltigungen »Russenbesuch« nennt oder die zeittypische Umschreibung, die Frauen hätten »dran glauben« müssen verwendet, belegt sie die illegale Lebensmittelbeschaffung der »Bevölkerung« mit den kriminalisierenden Worten »plündern« und »ausrauben«. Die Art und Weise ihrer Schilderungen und die Auswahl dessen, was sie notierenswert findet, werden verständlich, wenn man sie als ein vorsätzliches Korrektiv der Endkampfpropaganda der NS-Regierung liest. Auch die Begriffswahl spricht dafür, daß Hannah Höch hier gegen den NS-Diskurs anschreibt. Die Verfasserin verwendet die Bezeichnung »die Russen« oder »R.«, nicht jedoch den in den übrigen Tagebüchern überaus häufigen Kollektivsingular »der Russe«. Kein einziges Mal spricht sie, anders als viele Tagebuchverfasserinnen, von »den Deutschen« oder von »uns Deutschen«. Der mehrfach verwendete Begriff »die Bevölkerung« weist auf eine Distanzierung hin. Das Adjektiv »deutsch« verwendet sie ausschließlich dann, wenn sie über deutsche Luftangriffe schreibt. Ihren Umgang mit der Nationalitätszuschreibung lese ich als ein weiteres Anzeichen dafür, daß sie sich hier vom NS-Diskurs abgrenzt.
Auch wenn die Kalendernotizen von der Form her flüchtig wirken, setzt Hannah Höch jedes Wort bewußt. In dem Eintrag vom 1. bis 4. Mai 1945 zum Kriegsende ringt sie regelrecht um Worte:
Bei uns ist heute Ruhe. Über Berlin donnern die Geschütze. - Spaziergang gemacht. Unsagbar dankbares Gefühl in der Brust. Eine 12jährige Leidenszeit, die von einer wahnsinnigen u. unmenschlichen ja viehischen Klike [? schwer leserlich] uns aufgezwungen war, mit allen Mitteln der gemeinen Kraft, mit allen Mitteln des Geistes, mit allen Mitteln des vor keinem Verbrechen zurückschreckenden Barbarentum - ist zu Ende. [graphische Hervorhebung v. H. Höch] In meiner Seele ist eine Ruhe wie ich sie seit vielen Jahren nicht gefühlt habe. Ich gebe mich dabei keinen Illusionen hin u. weiss - es wird jetzt noch viel viel schreckliches auf mich einstürzen - und doch - dieses Grundgefühl von Frieden ist da und ist unaussprechlich beglückend.
Für Hannah Höch ist die Niederlage des Nationalsozialismus Voraussetzung, auch persönlich wieder zu innerem Frieden zu kommen. Sie versucht die vergangenen zwölf Jahre Nationalsozialismus mit mehreren sprachlichen Anläufen begrifflich zu fassen und zu deuten und greift dabei mit der anaphorischen Steigerung auf eine stilistische Figur zurück, die Pathos signalisiert. Durch die dreimalige Wiederholung der Wendung »mit allen Mitteln« bekräftigt sie nachdrücklich die Skrupellosigkeit des Nationalsozialismus. Der sprachliche Aufwand signalisiert, welcher Mühe es bedurfte, dieser
Gewalt etwas entgegenzusetzen. In dieser sprachlichen Stilisierung wird noch etwas von dem performativen Gehalt des Schreibaktes deutlich. Der dreifache sprachliche Kraftakt erinnert an einen Fluch. Durch die graphische Gestaltung der letzten Worte wird der Eindruck verstärkt, daß es sich bei diesem Eintrag um einen Akt beschwörender Bannung handelt. Noch ein weiteres Mal arbeitet Hannah Höch mit einer graphischen Hervorhebung, wieder geht es ihr um die große Bedeutung des geschilderten Ereignisses. 13. Mai: »Der russische Komandant hat gesprochen zu den Einwohnern der
Umgegend. Friedensfeier, (sehr still, sehr ernst sind die Menschen) aber es ist Frieden.«
In den folgenden Tagen notiert sie in Stichworten Zeichen der ersten Normalisierung des Alltags, daneben aber auch die ihr bedeutsamen Ereignisse des politischen Neubeginns. Ihre emotionale Betroffenheit äußert sich nicht mehr im Ringen nach Worten; Gefühle werden allenfalls in Klammern angemerkt, ansonsten wird sachlich notiert. So trägt sie am 23. Mai in ihren Notizkalender ein: »Der Stadtkommandant von Berlin Generaloberst Bersarin sprach bei der ersten Sitzung der Berl. Stadtverwaltung (erschütternd).«
Die Mehrzahl ihrer Notizen nach dem Kriegsende betreffen das Hereinragen der unmittelbaren Vergangenheit in die Gegenwart. Die Nachrichten über die Opfer des Nationalsozialismus werden ebenso festgehalten wie Nachrichten über Verbleib und Verbrechen der Täter: »Köln feiert die Rückkehr von 5 000 Menschen aus Konzentrationslager Buchenwald. (...) Bake und Speer, Dietze (Göbbels Mitarbeiter) gefangen« (21. Mai 1945). Sprachlich mißverständlich klingt eine verkürzte Notiz vom 19. Mai 1945: »Grauenhaft sind die Befreiungen in den Konzentrationslagern«. Aus dem Kontext geht aber eindeutig hervor, daß sich ihr Entsetzen auf die Informationen über die Verfassung der Überlebenden und auf die begangenen Verbrechen beziehen.
Hannah Höchs Notizen sind ein Beispiel dafür, daß selbst scheinbar flüchtige Aufzeichnungen Positionsbestimmungen enthalten. Die Art der Berichterstattung, die Wortwahl, vor allem aber die Auswahl ihrer Notizen drücken ihre kritische Haltung zum Nationalsozialismus und ihre Hoffnung auf einen politischen Neubeginn aus. In keinem weiteren der mir bekannten unveröffentlichten Tagebücher von Frauen wird z.B. die Bekanntmachung der Verbrechen in den Konzentrationslagern als Thema aufgegriffen, obwohl es sich um Nachrichten handelte, mit denen alle Deutschen nach Kriegsende durch die Verlautbarungen der Alliierten konfrontiert wurden. Der Soziologe Alois Hahn betonte, daß es eine Frage sozialer Sinnzusammenhänge sei, welche »Akte ich nicht vergesse, welche mir nicht vergessen werden, welche Akte und Erlebnisse also zu mir gehören« (1987, 11). Nicht nur in der offiziellen Geschichtsschreibung, sondern auch in den privaten Aufzeichnungen ist es immer eine Frage von Standpunkt und Perspektive, was man berichtenswert findet, wem man ein schriftliches Andenken schafft und wen man glaubt, vergessen zu können.