Einzelinterpretationen ausgewählter Tagebücher

Für die Beschäftigung mit autobiographischen Texten schreibender Laien gilt dasselbe, was der Historiker Lutz Niethammer in bezug auf lebensgeschichtliche Interviews sagt: Die Komplexität dieser Form lebensgeschichtlicher Überlieferung läßt sich nicht auf die Dimension von Quantitäten reduzieren, sondern erschließt sich nur einer qualitativen Analyse. Nur wenn man die Texte in ihrem Sinnund Formzusammenhang und in längeren Passagen interpretiert, wird der Eigensinn dieser Form der lebensgeschichtlichen Überlieferung deutlich (Niethammer 1985, 418). Daher sind 4 eingehende Gesamtinterpretationen ausgewählter Tagebücher Gegenstand der folgenden Kapitel.
Bei der Auswahl der Texte zur Einzelinterpretation ging es erst einmal um die typischen Formen der Tagebuchberichterstattung: von der Kalendernotiz über das Brieftagebuch hin zum reflexiven Tagebuch auf der einen und dem ereignisorientierten Erlebnistagebuch auf der anderen Seite. So soll eine Bandbreite unterschiedlicher Funktionen des Schreibens deutlich werden. Kalendernotizen eignen sich eher für Chroniken und Register, für Reflexionen ist wenig Raum. Ein Tagebuch, das zu großen Teilen aus Abschriften von Briefen Dritter besteht, weist auf die zentrale Bedeutung hin, den die Tagebuchautorin den Korrespondenten für die eigene Biographie zumißt. Der Ich-Profilierung kann ein Ereignistagebuch ebenso dienen wie ein reflexives Tagebuch. Im ersten Fall jedoch profilieren sich die Schreibenden als Chronistinnen. Idealbildungen sind im zweiten Fall ein häufiger Weg der Ich-Konturierung.
Da die Monate April und Mai 1945 der Schwerpunkt der autobiographischen Berichterstattung sind, habe ich 4 Texte ausgewählt, in denen das Kriegsende zum Gegenstand des Schreibens wird. 3 der 4 Autorinnen beschreiben ihre Erfahrungen im umkämpften Berlin. Neben dieser Gemeinsamkeit waren vor allem die Unterschiedlichkeiten und die Prägnanz der Texte ein Kriterium der Auswahl. So erleben und beschreiben die Verfasserinnen den Krieg in sehr verschiedenen biographischen Phasen. Lieselotte G. beginnt mit 14 Jahren ihr Tagebuch; die Suche nach einer Frauenrolle steht im Mittelpunkt ihres Interesses. Dagegen ist die Pfarrerswitwe Marie von N. am Ende des Krieges 84 Jahre alt. Ihre autobiographische Reflexion zur deutschen Niederlage im Mai 1945 ist auch eine abschließende Lebensbilanz. Außerdem unterscheiden sich die Verfasserinnen in ihrer politischen Orientierung. Hannah Hoch hat als innere Emigrantin ein deutlich abgegrenztes Verhältnis zum Nationalsozialismus. Marie von N. und Lieselotte G. stimmen bis kurz vor Kriegsende Teilen des nationalsozialistischen Wertesystems zu. Beiden fällt es nach Kriegsende schwer, die veränderte Situation zu akzeptieren, während die 20jährige Sabine K., die sich selbst als nicht sehr politischen Menschen begreift, schnell bereit ist, sich mit den neuen Verhältnissen zu arrangieren.
Darüber hinaus sind die ausgewählten Texte aufschlußreich in bezug auf Frauen- und Mädchenbiographien im Nationalsozialismus. Das Brieftagebuch der Marie von N. erhellt den Zusammenhang von kriegsunterstützenden Haltungen und biographischer Vorgeschichte. Das reflexive Diarium der Schülerin Lieselotte G. läßt Hypothesen über die besonderen Bedingungen der Mädchensozialisation im Nationalsozialismus zu. Die stichwortartigen Notizen zum Kriegsende, die die Malerin Hannah Hoch in einem Kalender des Jahres 1945 festhielt, führen vor Augen, wie grundsätzlich anders die Ereignisse des Kriegsendes interpretiert werden, wenn man die vorherrschende deutschnationale Sicht nicht teilt. Die Geschichten von Kriegsende und Neubeginn im Ereignistagebuch von Sabine K. wiederum enthalten charakteristische Verarbeitungs- und Deutungsmuster der Interregnumsmentalität im April und Mai 1945.

Das Brieftagebuch der Marie von N.

Im vorherigen Kapitel habe ich bereits ausgeführt, daß die diaristische Aktivität im Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt durch die Feldpostkommunikation forciert wurde, die zu einer breiten Schreibschule wurde. Die zunehmenden Unterbrechungen des Briefkontaktes zwischen >Heimat< und >Front< bis hin zum kurzfristigen Zusammenbruch aller postalischen Verbindungen wurden zum Stimulus des Tagebuchschreibens. Das Brieftagebuch, das Marie von N. 1943-1945
in hohem Alter in ihren letzten beiden Lebensjahren verfaßte, besteht zu einem großen Teil aus der Zusammenfassung und Abschrift von Briefen Dritter.
In Briefen, aber auch in Tagebüchern versuchten Frauen während des Zweiten Weltkrieges schreibend der Zerrissenheit familiärer und freundschaftlicher Bezüge, der Einsamkeit und der Sorge etwas entgegenzusetzen. Um eine narrative Zusammenführung ihrer weitverzweigten Familie handelt es sich bei den Aufzeichnungen der Marie von N. Die Mutter und vielfache Großmutter schreibt die Briefe ab, die sie während der Jahre 1943-1945 vor allem von den an unterschiedlichen Fronten rekrutierten Enkeln erhält. Manche dieser Briefe hat Marie von N. wörtlich in das Tagebuch übernommen, andere in eigenen Worten zusammengefaßt oder auch kommentiert. Die Briefwiedergaben werden oft durch Passagen unterbrochen, in denen die Autorin von ihrem Alltag und von wichtigen Ereignissen aus ihrer großen Familie berichtet. Nach dem Zusammenbruch der Briefkommunikation im April 1945 steht in den folgenden Wochen erst einmal die eigene Person im Mittelpunkt des Diariums. Die ersten Briefe, die die Verfasserin im September 1945 erreichen, sind dann aber wieder das zentrale Thema des Tagebuchs. »Sie verbrachte die meiste Zeit in ihrem Zimmer lesend und schreibend, führte eine vielfältige Korrespondenz mit ihren Kindern und Enkeln und verfaßte das Tagebuch als eine Art Summe der bei ihr ankommenden Informationen«, kommentierte  ihr  Enkel  Eberhart W.,  der das Tagebuch  seiner Großmutter 1983 zu einem Manuskript verarbeitete und ihre Aufzeichnungen durch persönliche Erläuterungen, Familienbilder und
Dokumente aus dem Familienarchiv ergänzte.[23]

Marie von N. beginnt ihr Tagebuch, als sie vom Tod eines ihrer Enkel an der Ostfront erfährt. Die Auseinandersetzung mit diesem Verlust beherrscht den ersten Teil ihres Tagebuchs. Der Zusammenhang zwischen Schreiben und Trauerarbeit ist Gegenstand des ersten Interpretationsteils. Die Lebensgeschichte Marie von N.s, die in Podolien (Südrußland) aufwuchs, ist unentwirrbar mit den einschneidenden Veränderungen in Osteuropa seit Beginn dieses Jahrhunderts verknüpft. Diese biographischen Erfahrungen prägen ihre Deutungen des Zeitgeschehens. Ihr Glauben an den militärischen Sieg Deutschlands ist mit der Hoffnung verknüpft, daß die Erfahrungen ihrer Generation und so auch ihr persönliches Leid durch die Erfolge der jungen Generation nachträglich einen Sinn bekommen.
Von dem narrativen Faden, den sie schreibend zwischen den Generationen knüpft und von dem sie sich erhofft, er möge der rote Faden ihrer Biographie sein, handelt der zweite Teil der Interpretation. Die Frage nach der Lebensernte beschäftigt die Tagebuchautorin in der letzten Schreibphase ab Mai 1945. Die militärische Niederlage Deutschlands bedeutet für die Greisin auch ein Stück negativer Lebensbilanz. Wie individuelle und nationale Krise hier ineinandergreifen und mit welchen Deutungsmustern Marie von N. diesen persönlichen Einbruch mildert, wird im letzten Interpretationsteil untersucht.

Biographische Notiz

Marie von N. war über 80 Jahre alt, als sie in Gütersloh im August 1943 ihr Tagebuch begann. Sie war gläubige Protestantin und keine Parteigängerin des Nationalsozialismus. »Der Katechismus«, schrieb sie in einem Brief von 1942, sei »der einzige >Ismus<, der nichts übertreibt« (12).
Marie von N. wurde 1860 in Podolien als Tochter eines protestantischen Pfarrers geboren, der in einer deutschen Kolonistengemeinde in Rußland arbeitete. Sie wurde in Sankt Petersburg zur Hauslehrerin ausgebildet. Ihre Eltern und ihre Schwester wurden 1904 bei frühen revolutionären Unruhen in Prischib ermordet. 1881 heiratete sie den Pfarrer einer ukrainischen Kolonistengemeinde und war dort bis zu dessen Tod 1907 als Lehrerin und Pfarrfrau tätig. Früh verwitwet
mußte sie nach der Oktoberrevolution die Ukraine verlassen und siedelte nach Goldingen, später nach Wenden ins damalige Kurland (Lettland/Estland) über. Dort half sie den Familien ihrer Kinder, die Enkel großzuziehen. In den 30er Jahren verfaßte sie einen nachträglichen Erinnerungsbericht über die »schreckliche Bolschewikenzeit«. Im Zweiten Weltkrieg siedelte sie nach der sowjetischen Okkupation von Lettland/Estland mit ihrer Familie nach Posen (Polen), in den von deutschen Truppen annektierten sogenannten »Warthegau« über, zog dann aber 1941 zu einer anderen Tochter nach Gütersloh und lebte somit zum ersten Mal im Westen Deutschlands im sogenannten »alten Reichsgebiet«. In Gütersloh nahm sie 1943 ihre autobiographische Tätigkeit wieder auf und begann ihr Tagebuch. Über zwei Jahre lang hielt sie Ereignisse der letzten Kriegsphase und das Kriegsende in Gütersloh fest. Ihre Aufzeichnungen enden im September 1945 zweieinhalb Monate vor ihrem Tod am 6. Dezember 1945.

»Kein Raum für Traurigkeit«

Die Berichte der Zeitung glichen Tag für Tag einander u. zeigten, daß unsere Männer dabei Unvorstellbares leisteten u. erlitten. Was das Endergebnis dieser Ereignisse sein wird, können wir eben weder sehen noch sagen, wir müssen abwarten. Gott danken dürfen wir für das mildere Wetter dieses Winters u. für den tapferen Mut unserer lieben Soldaten, die ohne Zagen und Klagen soviel Schweres für uns ertragen, u. Gottes Segen, u. Beistand für sie erbitten. (...) Am Nachmittag Kaffee mit den Tanten u. dann Andacht am brennenden Christbaum über den 103. Psalm, - die versöhnenden väterlichen heilenden u. regierenden Hände Gottes - u. Spittas Ehestandslieder. Kein Raum für Traurigkeit. (57 u. 67)

»Kein Raum für Traurigkeit«, dieser Satz ist bezeichnend für Marie von N., die ihren Gefühlen im Tagebuch wenig Platz zugesteht. Er scheint mir auch treffend für ihre Form der Trauerarbeit zu sein, die stark von Trauerabwehr geprägt ist. Sie dankt den Soldaten dafür, daß sie »ohne Zagen und Klagen« soviel Schweres ertragen; diese Haltung ist nicht nur ihr Bewertungsmaßstab, sondern auch das Auswahlkriterium der Briefstellen, die sie in ihr Tagebuch übernimmt. Sie kopiert vorrangig solche Briefpassagen, in denen die Enkel an den zusammenbrechenden Fronten sich selber und den Adressatinnen Mut zuschreiben.
Marie von N. beginnt ihren ersten Tagebucheintrag am 2. August 1943. Einige Zeit zuvor erreichte sie die Nachricht, daß ihr Enkel Dieter W. an der Ostfront in Südrußland ums Leben gekommen ist. Die Tagebuchautorin schildert kurz die häusliche Situation in Gütersloh, die durch die Aufnahme ausgebombter Verwandter geprägt ist, und widmet sich dann dem Andenken des Verstorbenen. Am 8. Juli habe man mit der einquartierten Familie des Pastors B. dessen Geburtstag gefeiert.

Am Vormittag um 12 Uhr sangen wir zusammen unser liebes Geburtstags- Lob- und Danklied »Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren«, ohne zu ahnen, daß in der selben Stunde unser lieber Dieter an der Front bei Orel sein irdisches Leben aushauchte und einging zu einem neuen Leben in einer anderen Welt. Am 22. Juli erst erreichte uns der Brief des Kommandeurs und unseres Rüdigers Briefe, die ich hier auch eintrage. (19)

Nacheinander schreibt sie mit kurzen Überleitungen das offizielle Beileidsschreiben des Kommandanten und Auszüge aus den Karten und Briefen von Rüdiger W. ab. Der Brief des Kommandanten enthält die stereotypen Formeln vom Heldentod, wie zum Beispiel: »Möge es Ihnen ein kleiner Trost sein, daß Ihr Sohn sein für die Größe und den Bestand des Volkes und Reiches geopfertes Leben in soldatischer Pflichterfüllung hingegeben hat« (25). Rüdiger W., der Bruder des Verstorbenen, der in der Nähe stationiert war, fügt der Todesmitteilung emphatische Worte des Dankes an die Eltern hinzu, in denen der Tod in einer Mischung aus religiösen Deutungen und nationaler Opferideologie zu einer beglückenden Liebesgabe stilisiert wird:

Ich bin Euch noch nie so dankbar gewesen für all das, was Ihr uns gegeben habt, wie in diesen Tagen. Der Gedanke, daß wir hier für unser Liebstes leben dürfen: »freudig opfern, jauchzend wagen, aufrecht fallen!«, hat uns immer so glücklich gemacht, und das Wissen, daß ohne den Willen unseres Gottes nichts geschehen kann, hat uns Kraft gegeben. (...) Ihr wißt von dem Glück, von dem Gorch Fock sagt: »Dann ist mir's als ob ich in die offenen Arme meines Gottes falle.« Dieters Leben hat so früh seine Erfüllung gefunden, könnte es schöner und reicher sein? (26)

Marie von N. kommentiert diese ersten Briefabschriften nicht. Die eigenen Emotionen in Reaktion auf die Todesnachricht, die psychische Verfassung der Familienmitglieder werden nicht zum Thema des Tagebuchs. Es ist wohl das Resultat einer streng protestantischen Verhaltensmaxime, daß hier keine eigenen Worte der Trauer verloren werden. Was Marie von N. für Gottes Wille hält, glaubt sie annehmen zu müssen, ohne mit ihm zu hadern. Der Brief von Rüdiger W. und Marie von N.s schriftliche Verarbeitung des Todes zeigen, wie eng protestantischer Rigorismus und nationale Opferideologie zusammengehen können. Die Tagebuchautorin läßt ausschließlich die Briefschreiber zu Worte kommen, die sich in der klaglosen Annahme des Geschehenen üben und dem Kriegstod eine sinnhafte, heroische Deutung unterlegen. Die standardisierten Sprachformen, wie die des Nachrufs und die Tröstungsformeln Rüdiger W.s, zeigen, daß Trauerarbeit und -abwehr ineinandergreifen. Schmerz wird weniger gebunden als - zumindest aus dem Text - verbannt. Auch die Wortwahl weist auf eine Abwehr gegenüber der Kriegsrealität hin; vom »Aushauchen des irdischen Lebens« zu schreiben, ist ein Euphemismus, mit dem dem Kriegstod die Grausamkeit genommen werden soll. Lediglich in der narrativen Konstruktion, der Enkel sei in dem Moment gestorben, als man Gott gelobt habe, schwingt eine latente Klage mit. Daß der Tod des Enkels zum Auslöser wird, um mit über 80 Jahren ein Tagebuch zu beginnen, läßt aber etwas von der psychischen Verstörung ahnen, die die Nachricht bei der Verfasserin auslöste.
Neben der Abwehr von Trauer kann eine solche Form schriftlicher Verarbeitung auch helfen, sich mit einer unabänderlichen Tatsache wie dem Tod abfinden zu lernen. Marie von N. fügt alle ihrzur Verfügung stehenden Informationen und Kommentare zu einem Mosaik zusammen. Narrative Rekonstruktionen sind eine häufig gewählte Hilfe, um Dinge, die man in erster Abwehr von Schmerz kaum glauben mag, begreifen zu lernen. Die Sammlung aller Informationen, derer man habhaft werden kann, scheint ein verbreitetes Verfahren für den Beginn von Trauerarbeit zu sein. Die Todesmitteilung des Kommandanten enthält, wie es bei Mitteilungen dieser Art die Regel ist, neben den stereotypen Trostfloskeln vom »Heldentod« eine genaue Beschreibung der Umstände des Todes und den Ort des
Grabes. Stereotyp - und sicher nicht immer der Wahrheit entsprechend - wird in solchen Briefen auf den schnellen schmerzlosen Tod hingewiesen und betont, es sei, wenn auch vergeblich, alles getan worden, um den Verletzten zu retten. Auch hier schreibt der Kommandant, ärztliche Hilfe sei sofort zur Stelle gewesen (23). Über das Aussehen des Grabes und von den Aussagen anderer Soldaten über die letzten Worte des Verstorbenen berichten auch die Auszüge der Briefe des Bruders. Das Abschreiben der Briefe ist eine Form der symbolischen Hinwendung zu dem Verstorbenen. Gleichzeitig eignete sich Marie von N. die Briefe, die nicht an direkt an sie, sondern an die Eltern des Verstorbenen adressiert waren, auch an. Der Tod des Enkels wird so zu einem für sie verfügbaren Teil ihrer Geschichte, den sie für sich, aber auch für die Familie schriftlich festhält.

»So schließt sich der Ring«

Wie der Enkel im Vorwort des Manuskriptes betont, summierte Marie von N. in ihrem Tagebuch die unterschiedlichen Nachrichten der vielen Mitglieder ihrer Familie. Dies war vor allem deshalb möglich, weil die große Verwandtschaftsgruppe während des Krieges durch ein enges Netz von Korrespondenzen miteinander in Verbindung stand. Marie von N. resümierte die Briefe, die die Gütersloher Familie erhielt. Ein Teil der Enkel schrieb aber auch direkt an die
Großmutter. Diese Briefe schrieb sie u.a. auch deswegen ab, weil manche der Originale an andere Familienmitglieder weitergeschickt wurden. Einmal im Monat wurden Rundbriefe und auch Auszüge von Feldpostbriefen mit den wichtigsten großfamiliären Nachrichten verschickt. Die Briefe hatten einen halböffentlichen Charakter und dienten der familiären Kommunikation. Auch Marie von N.s Tagebuch hat aus diesem Grund nicht den geheimen Charakter anderer
Tagebücher, sondern ist ein Teil der familiären Überlieferung.
Ein Tagebucheintrag vom Oktober 1943 zeigt den engen Zusammenhang von Korrespondenz und Familienzusammenhalt:

Gestern kam schon der Oktober-Rundbrief zurück u. brachte die erfreuliche Nachricht, (...) daß (...) sich die beiden Generationen, meine Kinder u. meine Enkel, fast vollständig in Gnesen im Pastorat versammelten. Natürlich fehlten die Soldaten u. die Gütersloher, aber ganz vollkommen ist ja nichts hier auf Erden, jedenfalls ist es sehr dankenswert, daß so viele kommen konnten. (...) Die 3 Soldaten, die eben in Russland sind, stehen eben in heftigen Abwehrkämpfen (...). Kiew, Tschernikow, Welikije Luki, - an jedem unserer Orte steht einer unserer 3 Russlandkämpfer. Heute am 20. Okt. kamen Briefe von Rüdiger v. 12. u. von Hartmut v. 13. Okt. (45f.)

Es sind nicht nur die Einberufungen der Wehrpflichtigen, die hier die familiären Bezüge geographisch auseinander brachten. Der Zweig des Familienverbandes, der bis zur sowjetischen Okkupation im ehemaligen »Kurland« im Baltikum lebte, hat sich nach dem deutsch-sowjetischen Überfall auf Polen, in dem von der deutschen Wehrmacht besetzten zuvor polnischen Staatsgebiet im »Warthegau« in der oben erwähnten Stadt Gnesen, angesiedelt. Marie von N.s Familie hat zum Zeitpunkt des Tagebuchbeginns einen - um im zeitgenössischen Jargon zu bleiben - »reichsdeutschen« und »auslandsdeutschen« Flügel.
Im Tagebuch schreibt die Großmutter vor allem die Briefe derjenigen Enkel ab, die in der Sowjetunion und in Polen im militärischen Einsatz sind. Die Enkel umkämpfen und besuchen die Orte, die die beiden vorangegangenen Generationen verlassen mußten. Der wichtigste Korrespondent der Großmutter, dessen Briefe seitenlang im Tagebuch kopiert werden, ist Wilfred S., der dem »auslandsdeutschen« Familienflügel angehört. Er ist in den beiden Jahren des Briefwechsels hinter den Frontlinien in der Ukraine und in Polen Ordonnanzoffizier einer Truppe, die sich aus sowjetischen und polnischen Söldnern unter Führung von »Auslandsdeutschen« zusammensetzte und bei der sogenannten »Bandenbekämpfung« mitwirkte. Truppen wie diese wurden gegen polnische und sowjetische Partisanen eingesetzt. Historische Untersuchungen belegen, daß sie hierbei vorsätzlich und systematisch Kriegsverbrechen begingen (Rürup 1991, 127-139). Zu den gängigen Maßnahmen gehörten Erschießung und Folterung mutmaßlicher Partisanen ohne jede Verhandlung, kollektive Gewaltmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung, Abbrennen der Dörfer, in denen es zu Widerstand gegen die deutschen Okkupanten kam, und Gruppenexekutionen von Zivilisten als »Abschreckungsmaßnahme«. Derartige Kriegs verbrechen, vor allem die Massenerschießungen sowjetischer Juden, die von den Einsatztruppen der
SS organisiert wurden, an denen aber Teile der deutschen Wehrmacht mitwirkten, begleiteten den Überfall auf die Sowjetunion seit dem Kriegsbeginn am 22. Juli 1941. Die geheimen Instruktionen, die von Seiten der NS-Führung in der Vorbereitung des Überfalls bereits im Mai 1941 an die Wehrmachtsführung ergingen, kamen einem Freibrief für Kriegsverbrechen gleich. Der Krieg gegen die Sowjetunion war vom ersten Tag an von deutscher Seite ein »beispiellos barbarisches Ereignis in der Geschichte der Kriegsführung« (Bartov 1989, 159).
Die Enkel verhehlen in ihren Briefen nicht, daß sie an solchen kollektiven Strafmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung wie dem Abbrennen von Dörfern und Ernten, Massendeportationen der Bevölkerung und an Erschießungen von Partisanen beteiligt waren.
Wilfreds Dienstreisen, die Marie von N. in allen Stationen im Tagebuch festhält, führten ihn nach Südrußland, u.a. an den Ort, andem Marie von N. über 30 Jahre als Pfarrfrau wirkte. In einem der Briefe kommentiert Wilfred S. seine Reise: »Und nun komme ich in Richtung Kiew, werde (...) wohl auch nach B. kommen, vielleicht ogar dienstlich. So schließt sich der Ring vom Großvater zum Großsohn. Herzlich grüßt Dich Dein dankbarer Großsohn Wilfred« (36).
Die Handlungs- und Deutungsmuster der Großmutter sind wie die des Enkels in ein Konzept generationenbezogenen Handelns eingebunden. Die Suche nach der eigenen Geschichte motiviert Marie von N.s Interesse an den Erlebnissen und Handlungen der Enkel. Ein durch historisch-politische Wechselfälle zerrissenes Leben scheint durch die Taten der Enkel eine späte Abrundung finden zu können. Marie von N. erhofft sich durch die Taten der jüngeren Generation die Weiterführung ihrer Geschichte. Der Enkel interpretiert entsprechend seinen militärischen Einsatz in Osteuropa als Ausführung einer familiären Mission. Die Metapher vom Ring bringt die Selbstverpflichtung zum Ausdruck, daß der »Großsohn« die Geschichte seiner Vorfahren zur Erfüllung bringen will. Diese Vorstellung ist einem zutiefst mythischen Denkmodell verpflichtet.
Wilfred S. begreift und deutet seinen militärischen Einsatz als eine Mission gegen den »Bolschewismus« und weiß jeden der Wehrmachtsbefehle, die in der Phase des Zusammenbruchs der Ostfront zunehmend allein auf Vernichtung zielten, zu legitimieren. Das zeigt der folgende Brief, der in einer Phase einschneidender militärischer Niederlagen der deutschen Truppen im Herbst 1943 verfaßt wurde. Der Frontabschnitt, von dem Wilfred S. berichtet, die Dnjepr-Linie, mußte von den deutschen Truppen in überstürzten und verlustreichen Rückzugsgefechten geräumt werden.

Wilfreds letzter Brief vom 26. Sept. Meine Lieben alle miteinander (...)
Mein Kommandeur, Hptm. A., ist ein prima Kerl. Es ist schön mit ihm zusammen zu arbeiten. (...) Auch unsere 22 Russlanddeutschen sind sehr gut. Einer bekommt jetzt das EK II. (...) Unsere Legionäre schlagen sich im allgemeinen recht gut, vor allem, wenn man den Einfluß berücksichtigt, den die bolschewistische Propaganda durch die Zivilbevölkerung bei der augenblicklichen Lage auf sie haben mußte. (...) Die Männer, die ich 1942 in Waltersdorf ausbildete und erzog, sind hier heute die besten; sie haben mir fast ausnahmslos Ehre gemacht. (...) Korobai, mein Bursche, sorgt hervorragend für mich. (...) Schickt ihm doch wieder mal ein Päckchen, vielleicht ein interessantes russisches oder vielleicht sogar ein turkestanisches Buch u. ein paar Zeilen. Er freut sich so darüber. Meine Sachen u. mein Zimmer sind immer tadellos in Ordnung, das letztere wie eine Puppenstube, u. alle beneiden mich um Korobai. (...) Die Stellungen am Dnjepr wurden ja seit März ausgebaut. Der Rückzug auf dieselben war längst erwogen u. wurde durchgeführt, als die Ernte geborgen war. Den Roten bleibt nichts, alles, einschließlich Menschen, wird mitgenommen. Dörfer u. Vorräte verbrannt. Oft war der Himmel rot in der Ferne. Die Dnjeprlinie wird gehalten, - das steht fest, u. wir haben auch alle Voraussetzungen dazu (Kräfte, Material u.s.w.) in unserer Hand. (...)
Trotzdem bin ich froh, mich hierher gemeldet zu haben: wir gehören nun einmal hierher in dieser Zeit. Zu Streifzügen durch die Welt hatten wir ja vorher schon Zeit genug. Neulich fand ich einen hervorragenden Ausspruch von Reichsjugendführer Axmann bei einer Kundgebung in Posen '42: »Man gebe den Menschen Macht und Geld u. man erkennt ihren Charakter. Man sende sie in den Osten, u. man sieht, wes Geistes Kind sie sind.« Das bewahrheitet sich hier alltäglich klar. Die Führenden in den Banden sind hier überall die Polen neben den aus Moskau geschickten Großrussen. Die Ukrainer sind dumme Mitläufer. Ich hoffe, Vati wird zurückgestellt (Ist geschehen [Ergänzung Marie von N.s]). Euer Jahrgang hat im vergangenen Weltkrieg sein Teil doch schon restlos erfüllt. Aber wenn nötig müssen ja doch alle dran. (...) Es gilt ja jetzt den ersten u. zweiten Weltkrieg zusammen zu gewinnen. Schön ist, daß trotz des Krieges noch so viel gute Sachen über unser Baltisches Erbe geschrieben werden, droht es doch in der Zerstreuung verloren zu gehen bei seinen Trägern u., wo so viele von uns schon gefallen sind, und es ist doch unser baltisches Erbe das Teuerste, was das deutsche Volk im slavischen Raum neben dem lebendigen deutschen Menschen besitzt. Es darf nicht verloren gehen. (47-50)

Ich zitiere den Brief nicht nur deswegen so ausführlich, weil er den engen Zusammenhang zwischen biographischer Vorgeschichte, Handlungen und Haltungen der Familie Marie von N.s im Nationalsozialismus vor Augen führt. An der Zusammensetzung der Truppe wird vielmehr auch deutlich, daß die nationalsozialistische Führung kollektive biographische Traumata, wie die Umsiedlungen, Vertreibungen und Verfolgungen von Deutschen, die vor der
Oktoberrevolution bzw. vor dem Ersten Weltkrieg in den Ostgebieten lebten, politisch gezielt für ihre Kriegsziele zu nutzen wußte.
Bei der Lektüre eines solchen Feldpostbriefes gilt es zu berücksichtigen, daß sie die Meinung des Verfassers möglicherweise nicht vollständig wiedergibt. Jede kritische Anmerkung zum militärischen Verlauf hätte bei einer Kontrolle der Feldpostzensur eine Anklage wegen Defätismus vor einem Militärgericht nach sich ziehen können. Es gibt aber Belege dafür, daß durch die extremen Erfahrungen solcher Rückzugsgefechte, die oft die Mehrzahl der Kämpfenden nicht überlebte, die Wut und die Enttäuschung so massiv waren, daß Wehrmachtssoldaten trotz Briefzensur ihre Kritik äußerten.[24]
Wilfred S. zeigt sich jedoch in seinen Briefen so weitgehend mit der NS-Kriegspropaganda einig, daß hier unterdrückte Kritik aus Angst vor der Zensur keinesfalls angenommen werden muß. Die militärischen Niederlagen, die die deutschen Truppen zum Rückzug zwangen, stellt er im Sinne der beschönigenden Propaganda als taktisches Kalkül hin und versucht die prekäre militärische Lage an der Ostfront als Charakterschule positiv zu deuten.
Die familiäre und die engere kulturelle Prägung als »Baltikumsdeutscher« dienen Wilfred S. zur Legitimation und sinnhaften Einbindung des eigenen Handelns. Er versteht den Zweiten Weltkrieg aber auch im Kontext einer gesamtnationalen >Erfüllungspolitik<,  bei der sich die Notwendigkeit des Sieges aus der vorangegangenen Kriegsniederlage begründet. Jede Generation hat ihren »Teil« zur Vollendung eines teleologischen Geschichtsverlaufs zu erfüllen. Nach Auffassung des Ordonnanzoffiziers ist das Ziel der Geschichte, in dem das »baltische Erbe« ebenso aufgeht wie das familiäre, die Revision der Ergebnisse der Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Vorherrschaft der Deutschen in Osteuropa. Eine solche Geschichtsdeutung wurde im Fall von Wilfred S. sicherlich durch familiäre Erfahrungen gestützt. Sie deckt sich aber auch mit dem Denken der deutschnationalen Mehrheit. Schon in der Weimarer Republik wuchs die Generation nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland in einer politischen Atmosphäre auf, die - das beweist die populäre Rede von der »Schmach von Versailles« und die Verbreitung der Dolchstoßlegende - durch einen ausgeprägten Revisionismus gekennzeichnet war. Die nationalsozialistische Regierung konnte letztlich nur in diesem Klima und mit Billigung der Mehrheit ihre aggressive Eroberungspolitik realisieren.
Der erzählerischen Rekonstruktion des Kriegsalltags hat Wilfred S. weitreichende Deutungsmuster unterlegt. Er schildert den Frontalltag der Legionärstruppe wie eine Musterschule harmonischer multinationaler Kooperation unter deutscher pädagogischer Leitung. Der Krieg gegen die Sowjetunion scheint wie eine kulturpolitische Mission gegen den Bolschewismus. Das Verhalten des turkestanischen Burschen Korobai nimmt Wilfred S. hier als Beleg für seine Weltsicht. Seine Dienstbarkeit, die über Pflichterfüllung hinausgeht, dient dem deutschen Herrschaftsanspruch als Legitimation. Auch im pädagogischen Protektionismus - »Schickt ihm doch wieder mal ein Päckchen« - beweist sich das Herrschaftsdenken in seiner missionarischen Absicht. Der Briefschreiber greift auf Legitimationsmuster der osteuropäischen Siedlungs- und Kolonisationsbewegung zurück. Daß Marie von N. hier ihre alten Ideale wiedererkennt, zeigt sich nicht nur daran, daß Wilfreds Berichte einen Großteil des Tagebuchs ausmachen. Es wird auch deutlich an der Intensität, mit der Marie von N. selbst in Briefresümees immer wieder Schilderungen von Wilfred S. aufgreift, z.B. wiederholt von Korobai berichtet.
Marie von N. erkennt in den Beschreibungen von der Ostfront nicht nur ihr missionarisch-koloniales Ideengut wieder, sie billigt auch die außergewöhnliche Brutalität des Ostheers, die die Enkel in ihren Briefen nicht verheimlichen.
Schon im oben zitierten Brief legitimierte Wilfred S. die vollkommene Zerstörung der Ukraine und die Massendeportationen beim Rückzug der deutschen Truppen. Noch deutlicher schreibt er in einem Brief vom 10. Oktober 1943:

Ja, wir haben Gott sei Dank gelernt: nichts findet der Bolschewik mehr, nur verbrannte Erde. Er hat den Krieg so gewollt, er soll ihn so haben. Auch seine Banden, mit denen wir uns immer eingehender beschäftigen u. denen wir ausschließlich mit ihren eigenen Mitteln u. Methoden immer erfolgreicher zu Leibe gehen. (52)

Auf die paradoxe Verkehrung bei dieser Form von Verarbeitung der Erfahrungen an der Ostfront, die für deutsche Soldaten durchaus typisch war, hat der Historiker Omer Bartov hingewiesen: Die Angreifer suggerieren sich als Verteidiger und Opfer, die nur auf die Mittel des Gegners zurückgreifen. Der Widerstand von Polen und Russen gegen den Überfall auf die Sowjetunion wird zum Verbrechen erklärt. Die Truppen neigten dazu, »Ursache und Wirkung, Wirklichkeit und Propaganda zu verwechseln«, wenn es darum ging, die Verbindung zwischen den Entbehrungen an der Front und der Zerstörung zu sehen, die sie über die russische Bevölkerung und die Kriegsgefangenen brachten (Bartov 1989, 159f.).
Neben den kommentarlosen Abschriften belegen Zusammenfassungen der Tagebuchautorin, daß sie mit den Briefschreibern übereinstimmt. Bei der inhumanen Perspektive, die in Wertungen wie auch in der Wortwahl der Großmutter zum Ausdruck kommen, ist von christlicher Orientierung wenig zu spüren. In ihren Nacherzählungen der Briefe von Karl-Otto S., dem Bruder von Wilfred, ist ihre Zustimung deutlich herauszuhören:

Karlo schreibt (...) Bis jetzt führen wir hier in den Sümpfen einen dunklen, aber erbitterten Krieg mit aller List u. Grausamkeit, die man sich ausdenken kann. Das sind die einzigen »Werte«, die dem Gegner von vorn herein ein leichtes Unterlegenheitsgefühl zu geben in der Lage sind. (...) d.6.4.[44] Karl-Otto schreibt (...) daß sein Bataillon unterdes Hervorragendes geleistet hat. Sie haben viele Hundert Russen liquidiert, Geschütze u. Waffen erbeutet, alles mit geringen eigenen Verlusten. (75-77)

In einem Brief aus dem Jahr 1942, der dem Tagebuchmanuskript vorangestellt wurde, schreibt Marie von N. an ihren Enkel Rüdiger W.:

Wenn sich die Front nur hält! Die bösen Partisanen. Man hat wohl Grund zur Sorge: solls wieder alles vergeblich gewesen sein, was schon bis jetzt geschah? Das kann und darf nicht sein, das werdet Ihr nicht dulden, Ihr lieben, tapferen Jungen! Denkt an das viele schon verflossene Blut: es schreit ja schon zum Himmel! (12)

In Marie von N.s Sichtweise kann nur der militärische Sieg verhindern, daß Deutsche im Ersten Weltkrieg »vergeblich« gestorben sein sollen. Sie greift hier auf ein Argumentationsmuster zurück, das so stereotyp wie häufig in öffentlichen Reden und Schriften, in denen der Toten des Ersten Weltkrieges gedacht wurde, proklamiert wurde. Die Historikerin Karin Hausen hat in ihrer Untersuchung zum Volkstrauertag herausgearbeitet, wie die Parole, es gelte dagegen anzugehen, daß die Soldaten im Ersten Weltkrieg »umsonst gestorben« seien, bereits in der Weimarer Republik wie eine Münze in Umlauf gebracht wurde und von den Nationalsozialisten dann mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg militarisiert wurde (1989).
Was weiter oben als Revisionsklima beschrieben wurde, wird hier als direkte familiäre Mission von der Großmutter an die Enkel weitergegeben. Auch hier wird der Wunsch nach einer positiven Erfüllung der Geschichte deutlich, der durch das archaische Bild des zum Himmel schreienden Blutes, das Rache fordert, gestützt wird. Die Vorstellung der Blutrache, eine Konfliktlösung verfeindeter Familienclans, führt die Verknüpfung von familiären und politischen Handlungsorientierungen noch einmal eindrücklich vor Augen. Es ist evident, daß die nationalsozialistische Ideologie mit der Vorstellung der »Volksgemeinschaft« als »Blutsgemeinschaft« eben jene familiären Muster bediente.
Sind es bei den Enkeln die Fronterfahrungen, die die Brutalität und die Verbrechen beim Kampf an der Ostfront zu legitimieren scheinen, so werden bei Marie von N. die Lebenserfahrungen dazu beigetragen haben, daß sie der Grausamkeit ihrer Enkel zustimmte. Sie, die gläubige Christin und keine Nationalsozialistin war, träumte mit den Enkeln vom »Endsieg« und von einer deutschen Herrschaft über Osteuropa. Beim »Kreuzzug« gegen den Bolschewismus scheint ihr jedes Mittel recht gewesen zu sein.

In einem Punkt jedoch verhält sie sich den Einschätzungen ihrer Korrespondenten gegenüber zunehmend kritisch und beweist hier ihren Wunschträumen zum Trotz - die Fähigkeit, die Realität einschätzen zu können. Ihren Kommentaren ist zu entnehmen, daß Marie von N. immer weniger an einen militärischen Erfolg der deutschen Wehrmacht glaubte. Die Zusammenfassung der Berichte von den unterschiedlichen Fronten dienten ihr auch dazu, sich ein möglichst umfassendes Bild der militärischen Lage zu machen. Hierbei nimmt sie sich heraus, die Meinungen der Enkel zu korrigieren. So fügt sie z.B. Wilfreds Einschätzung, die Lage am Dnjepr habe sich stabilisiert, hinzu: »Das entspricht leider nicht den Tatsachen. Oma« (52).
Sie macht zwar im Tagebuch ihren bereits verlorenen Glauben an den militärischen Sieg nicht explizit zum Thema; sie legt vielmehr den Ausgang des Krieges in die Hände Gottes, dessen Segen und Beistand für die Frontsoldaten sie immer wieder erbittet, ihre Zweifel sind jedoch erkennbar. Wilfreds besorgte Anfrage, ob sein Vater vom Wehrdienst zurückgestellt worden sei, fügt sie einen ironischen Straßenwitz hinzu: »(Die Kinder sollen schon auf der Straße singen:
>Lieb Vaterland, kannst ruhig sein. Sie ziehen schon den Opa ein.< Großmama)« (50). Nach der Abschrift einer Feldpostkarte ihres Enkels Karl-Otto zitiert sie im Tagebuch den aufgedruckten Propagandatext: »Wenn unser Wille so stark ist, daß keine Not ihn zu zwingen vermag, dann wird unser Wille u. unser deutscher Stahl auch die Not meistern Adolf Hitler«. Marie von N. hat für diese Führerworte nur Spott übrig und ergänzt »(Einer spottete: >Wenn meine Großmutter 4 Räder hätte< u.s.w. Großm.)« (55).

Die eingeklammerten kritischen Kurzkommentare sind die Form, die die Tagebuchautorin wählt, um ihrer zunehmenden Einsicht in die militärische Niederlage Raum zu geben. So ist die Kritik im Text präsent und doch an den Rand gedrängt. Sie wird nicht auf die Ebene einer eigenständigen Tagebuchreflexion gehoben. Auch ihr Rekurs auf politische Witze macht deutlich, daß Kritik zwar geäußert, aber nicht zur eigenständigen Aussage wird. Somit wird sie zugelassen und zugleich verdrängt. Es ist charakteristisch für jenes widersprüchliche Nebeneinander, wie man es häufig in Tagebüchern findet, daß Marie von N.s kritisches Informationsbedürfnis über die Kriegslage und ihre Hoffnung auf eine für sie sinnreiche Erfüllung der Geschichte ebensowenig miteinander kollidieren wie ihre Kritik am Nationalsozialismus und ihre Hoffnung auf den »Endsieg«.

Kriegsniederlage und Lebensbilanz

»Kriegsende 1945. Nun gibt es eigentlich keine Briefe mehr abzuschreiben. Vom Januar 1945 erfährt man die Kriegsereignisse auch in der eigenen Wohnung« (122). Mit diesen Worten leitet der Enkel Eberhard W. den letzten Teil des Tagebuchs seiner Großmutter ein. Tatsächlich findet man im Tagebuch nun von März bis September 1945 keine Briefabschriften. Der Krieg kommt in die Heimat, die Westalliierten erobern den Westen, die Rote Armee den Osten
Deutschlands. Die deutschen Fronten brechen zusammen, der Briefkontakt versiegt und setzt Ende März vollkommen aus. Der Briefwechsel zwischen den 4 Besatzungszonen des besetzten Deutschland bleibt während der beiden kommenden Monate untersagt. Erst im Herbst 1945 kommt die Postzustellung langsam wieder in Gang. Das Tagebuch der Marie von N. hat so vorübergehend seine Hauptfunktion und sie selber ein zeiteinnehmendes Tätigkeitsfeld verloren. Immer noch aber bleibt die narrative Zusammenführung des großen Familienkreises eines der wesentlichen Anliegen der Verfasserin. Jede Mutmaßung, jede Nachricht über den Verbleib und die unerwartete Ankunft von Verwandten, von denen man keine Nachricht hatte, hält sie im Diarium fest. Die Sorge, wie es den »Jungen« geht, die kurz zuvor noch über alle Fronten verteilt waren, wird immer wieder zum Thema. So schreibt sie am 17. Juni 1945: »Wenn ich die Kinder u. Enkel meiner Schwester hinzuzähle, sind es eben 18 männliche Seelen, von denen ich nicht weiß, wo sie sind, u. weiß nicht, ob ich je erfahren werde, wo sie geblieben sind« (141).
Marie von N. hält zwar im Tagebuch auch in knappen chronologischen Vermerken Abrisse der sich überschlagenden militärpolitischen Ereignisse des Kriegsendes fest, die familiären Nachrichten nehmen aber weitaus größeren Raum ein. Briefe bleiben bis zum Ende des Tagebuchs der rote Faden ihrer Aufzeichnungen. Akribisch dokumentiert sie, wie die Korrespondenz, die für sie so bedeutsam ist, schrittweise wieder in Gang kommt. Am 1. September
1945 wird der Briefverkehr wieder zugelassen. Am selben Tag notiert die Pfarrwitwe in ihrem Tagebuch: »Also nun kann man wieder Briefe schreiben und geduldig auf die Antwort warten« (154). Eine Woche später, am 8. September 1945 schreibt sie emphatisch:

Heute kamen zwei Briefe von meinen heimgekehrten u. doch noch so heimatlosen Soldaten, von Karl-Otto und v. Achim, u. heute am 8. einer von Willy S. u. v. Frieda. O meine Lieben, wie soll ich Gott für so viel Freude nur danken? Was kann ich ihm für einen Dank opfern, damit er mir sein Heil dadurch zeige? (155)

In den Briefpassagen, die die Pfarrwitwe nun wieder abschreiben kann, berichtet sie vor allem über die aktuelle Situation ihrer Enkel, über ihre Skepsis und ihren Optimismus. Berührt und zustimmend äußert sie sich vor allem zu den Passagen, in denen ihre Briefpartner versuchen, eine Zukunftsperspektive zu gewinnen. So kopiert sie längere Auszüge aus den Mitteilungen ihres Enkels Achim, der in bezug auf seine Pläne schreibt: »Auch wäre es mir eben egal, ob Schule oder Universität, Hauptsache bleibt, daß man überhaupt wieder in den >Omnibus< einsteigt« (156).
Auf diesen Brief kommt sie am Ende ihres Tagebuches noch einmal zurück. Ihr letzter Eintrag, bevor sie krank wird und stirbt, gilt dem Andenken der Vermißten und Heimgekehrten, die sie Gottes Schutz anempfiehlt:

Gewiß ist nur das Eine: Gottes Arm ist nicht zu kurz - er kann, wen er behüten will, auch in den Händen der Russen behüten. Das ist die einzige Gewißheit, die wir für unsere Vermißten noch haben. Dankbar dürfen wir sein dafür, daß die Jungen unter den Heimgekehrten doch die Möglichkeit haben, wieder in den >Omnibus< einzusteigen, zu wachsen u. zu werden u. zuzunehmen an Weisheit, Alter und Gnade, die sie noch so notwendig brauchen, im Umgang mit Gott u. den Menschen. (160) (21.9.1945)

Wurde der Tod eines ihrer Enkel und das Andenken an ihn für Marie von N. zum Auslöser, ihr Tagebuch zu beginnen, so gilt ihr letzter Eintrag wieder ihren männlichen Nachkommen und der Sorge um deren Zukunft. »Das Weib«, hatte sie eine Bibelstelle zitiert, »bleibt und hängt an der Sippe« (136). Die eigene Geschichte war für die vielfache Mutter und Großmutter aufs engste mit ihrer Familiengeschichte verknüpft. Mit dem Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion schien es Marie von N. kurzfristig so, als könne diese Familiengeschichte aufgehen in einer nationalen Mission. Es war diese Verheißung einer umfassenden Einbindung der eigenen Lebensgeschichte in einen kollektiven Sinnzusammenhang, der Marie von N. bewog, den vom nationalsozialistischen Deutschland
begonnenen Krieg gutzuheißen und zu unterstützen. Mit der militärischen Niederlage Deutschlands hatte sich diese Hoffnung zerschlagen. Marie von N. mußte sich nun auch mit der Frage von Schuld und Verantwortung auseinandersetzen.
Mit dem Kriegsende wird daher auch die Frage nach den Beurteilungskriterien des eigenen Lebens problematisch. In ihrem Tagebuch findet man ab Mai 1945 wiederholt autobiographische Rückblicke. Marie von N. fragt in diesen Retrospektiven nach der Ernte des eigenen Lebens im Hinblick auf den bevorstehenden Tod. Sie setzt sich kritisch mit unterschiedlichen Lektüren auseinander, zitiert Gedichte und lange Passagen aus der Bibel und stellt religiöse Überlegungen an. Beim Nachdenken über sich selbst kommt sie immer wieder auf das Thema der nationalen Verantwortung zurück und setzt sich mit der Frage der Kollektivschuld auseinander.
Nicht allein der Abbruch der Feldpostkommunikation scheint somit die Ursache der schreibenden Introversion, auch das Gefühl, durch die historischen Entwicklungen persönlich angefochten zu werden, wird zu einem Antrieb des autobiographischen Schreibens. In dieser letzten Schreibphase scheint die seelische Bedrängnis der Verfasserin zwischen den Zeilen immer wieder durch. Die Pfarrwitwe formuliert häufiger das Gefühl des persönlichen Versagens,
das zuvor in ihren Aufzeichnungen keine Rolle spielte. Sie habe, schreibt sie im Andenken an ihren verstorbenen Mann, ihm gegenüber gewiß alles verkehrt gemacht, und dieser bitte nun Gott: »Vater vergib ihr, sie wußte nicht, was sie tat« (127). Im Rahmen einer religiösen Reflexion schlußfolgert sie: »Wir armen Laien u. Mittelmaßmenschen müssen uns damit zu begnügen wissen, daß unser Gott mit lauter schlechten u. schadhaften Werkzeugen zu arbeiten gezwungen war und noch ist« (140).
Auch wenn Marie von N. über ihre Lektüreerfahrungen berichtet, kommt sie immer wieder auf die Frage zurück, nach welchen Wertmaßstäben sich das menschliche Leben beurteilen lasse. So gibt sie einen Altersbrief aus den autobiographischen Aufzeichnungen General Moltkes wieder:

Aber welch ganz anderer Maßstab als hier wird in einer künftigen Welt an unser irdisches Wirken gelegt werden, nicht der Glanz des Erfolges, sondern die Lauterkeit des Strebens u. das treue Beharren in der Pflicht, auch da, wo das Ergebnis kaum in die äußeren Erscheinungen trat, wird den Wert eines Menschenlebens entscheiden. (139)

Forciert wird die Frage nach der persönlichen Lebensernte durch die Desillusionierung in bezug auf die gesellschaftliche Situation und ihre pessimistische Prognose in Hinsicht auf die zukünftige Entwicklung Deutschlands. Eine Woche nach Kriegsende notiert Marie von N.:

d.16.[5.45] (...) So alt muß ich wohl werden, um zu erleben, daß auch meine Kinder u. Enkel nur durch viele Trübsale in das Reich Gottes kommen können, - daß diese aber leicht, weil vorübergehend sind, der Herrlichkeit gegenüber, die denen, die Gott lieben in Aussicht gestellt ist, nicht ins Gewicht fallen. (133f.)

Der Rückgriff auf die Deutung des irdischen Lebens als Jammertal und Passion, das erst mit der Erlösung im Jenseits seine Erfüllung findet, ist der von Marie von N. gewählte Weg, ihre Enttäuschung zu lindern. Sie vermag so ihren Schmerz zu universalisieren und darüber hinaus die irdischen Versagungen im Hinblick auf die Freuden des ewigen Lebens zu relativieren. Den Leiden und Entbehrungen wird so ein transzendenter Sinn unterstellt, der sich dem menschlichen Verständnis entzieht.
Ein Eintrag, in dem sie einen Monat nach Kriegsende am 4. Juni 1945 ihrer Enttäuschung Raum gibt, zeigt deutlich, wie eng persönlicher Kummer und ihre Einschätzung der nationalen Lage zusammenhängen:

Wie erbärmlich hat sich das deutsche Volk vom Nationalsozialismus blenden u. betören lassen, solange noch groß Macht u. viel List sein grausam Rüstung war: die großen Erfolge, das viele Geld, die vielen Ehrenzeichen u. großen Versprechungen, die Versuchung war ja groß, u. unsere tapferen Soldaten, die werden es schaffen! So hielten wir Fleisch - unser Fleisch - für unseren Arm u. sind mit unserem Herzen vom Herrn gewichen. (138)

Die Wortwahl, das deutsche Volk habe sich »erbärmlich« verhalten, bringt die Kränkung der deutschnational Denkenden zum Ausdruck. Die gläubige Christin bezieht sich in diesem Tagebucheintrag auf eine Liedzeile aus Ein feste Burg ist unser Gott von Martin Luther: »groß Macht und viel List/sein grausam Rüstung ist«. Sie kennzeichnet so den Nationalsozialismus als »Werk Satans« und den Glauben daran als Götzendienst. Zusätzlich greift sie ein Zitat aus dem Alten Testament auf: »So spricht der Herr: Verflucht ist der Mann, der sich auf den Menschen verläßt und hält Fleisch für seinen Arm und mit seinem Herzen vom Herrn weicht« (Jeremia 17/5). Die Tagebuchautorin kann mit diesem religiösen Bild eine schuldhafte Verstrickung eingestehen. Die eigenen Kinder, beziehungsweise die eigene Nation in die Rolle des Richters zu setzen, deutet sie als einen Verstoß gegen die christlichen Werte. Das Schuldanerkenntnis im Kontext der religiösen Deutung hat bei Marie von N. aber immer auch die Komponente von Schuldabwehr. Den militärischen Siegern will sie mit dem Verweis auf religiöse Maßstäbe das Recht auf Verurteilung absprechen: »Die Menschen richten und strafen wird aber der heilige Geist u. nicht die Konferenz von Frisko«, notiert sie z.B. Anfang Juni (133). Die konkreten Vorwürfe gegen die Mehrheit der Deutschen, ein verbrecherisches System nicht verhindert, sondern mitgetragen und aktiv unterstützt zu haben, werden aufgelöst in eine allgemein menschliche Erbschuld. Einer Auseinandersetzung mit den Anklagepunkten geht sie so aus
dem Weg. Der Völkermord, die Vernichtung der europäischen Juden werden nicht zum Thema. Die nationalsozialistischen Verbrechen werden auch im weiteren Verlauf der Aufzeichnungen an keiner Stelle reflektiert. Im Mittelpunkt der diaristischen Bemühung steht vielmehr die Entlastung vom Schuldvorwurf:

9.6.[45] Ich bestreite, daß unseren Soldaten u. unserer Hitlerjugend ein Anteil an der Gesamtschuld des deutschen Volkes auferlegt werden kann u. darf, denn sie hatten faktisch keine Möglichkeit, der Obrigkeit, die die Gewalt über sie hatte, zu widerstehen. Ebenso bestreite ich es, daß man das, was sie gelitten haben, Gott dem Allmächtigen als »vollgültige Sühne« für etwa geschehene Verbrechen anbiete, denn unsere Kinder haben Anteil an der Gesamtschuld der Menschheit! Aber noch viel größeren Anteil haben die Alliierten, die ganz genau wußten, wie gefährlich beide, der Faschismus u. der Bolschewismus, sind, u. doch kaltblütig u. schadenfroh zusahen, wie die einander gegenüber standen, ohne einzugreifen, weil sie dachten, wenn sie müde sind, haben wir mit ihnen leichtere Mühe. (138)

Marie von N.s Identifikation mit den nationalsozialistischen Kriegszielen schlägt mit dem Kriegsende um in eine erinnerungslose Desidentifikation. Die Stilisierung ihrer »Kinder« zu durch Befehlsnotstand gezwungenen Opfern der Obrigkeit ist geprägt durch Abwehr, Leugnung und Verdrängung der eigenen Vergangenheit. Das Plädoyer für die »Kinder« soll letztlich aber die gesamte deutsche Wehrmacht von jedem Vorwurf freisprechen. Marie von N. streitet in ihrem Plädoyer zwar nicht direkt ab, daß es zu Verbrechen gekommen ist. Ihre Formulierung, das Leid der Kinder könne nicht als »>vollgültige Sühne<« für »etwa geschehene Verbrechen« gelten, macht ihren Vorbehalt gegenüber den Nachrichten über deutsche Verbrechen deutlich.
»(...) unsere Kinder haben Anteil an der Gesamtschuld der Menschheit!« Ich möchte diesen Satz noch einmal gesondert herausgreifen, weil er in mehrfacher Hinsicht für die Intention der Verfasserin funktional ist. Zum einen stoßen wir wieder auf die Universalisierung der Schuld. Hierfür bot sich der religiöse Diskurs, in dem die Sünde als allgemeinmenschliches Charakteristikum gilt, geradezu an. Indem Marie von N. von ihren »Kindern« spricht, greift sie wiederum auf das Generationsmodell zurück. Ihre Altersgruppe und damit sie selbst - wird so unversehens vom Schuldvorwurf wie auch der Verteidigung ausgenommen, gleichzeitig wird bei der Nachfolgegeneration auf Grund ihrer Jugend eine verantwortliche Schuldfähigkeit negiert. Vergessen sind die Haltungen und Handlungen der Enkel, die keine Kinder mehr waren, sondern es als Erwachsene zu militärischen Rängen gebracht hatten und Befehle erteilten. Und die - das belegen die Briefe - aus Überzeugung und nicht auf Befehl handelten.
Ähnliche Argumentationen sollten im deutschen Nachkriegsdiskurs zentrale Bedeutung bekommen. Diejenigen, die sich zur älteren Generation rechneten, wußten die eigene Rolle im Nationalsozialismus so darzustellen, als seien sie eine marginalisierte Randgruppe gewesen. Ältere Intellektuelle, die die Jahre des Nationalsozialismus in Deutschland verbrachten, beschrieben sich oft nach 1945 als »Innere Emigranten«, während sich viele ehemalige Wehrmachtssoldaten zur »jungen«, zur »betrogenen Generation« stilisierten. Die bei ehemaligen Wehrmachtssoldaten bis heute populäre Rede von den »gestohlenen Jahren«[25] scheint mir - richtig gedeutet - ein prägnantes Bild für Verdrängung und einen restlosen Abzug von Erinnerung zu sein.
Verblüffend, aber alles andere als untypisch, ist das völlige Fehlen der inneren Anteilnahme und die aggressive Wendung, mit der Marie von N. am Ende ihres Plädoyers nun das deutsche Volk zum eigentlichen Opfer erklärt, das von den Westalliierten verraten wurde. Schon unmittelbar nach Kriegsende stößt man somit auf die Rationalisierungs- und Leugnungsleistungen, wie man sie im Nachkriegsdeutschland als längst wieder etablierte öffentliche Meinung vorfand (Mitscherlich 1985).

Zusammenfassung

In den Jahren 1943 und 1944 waren die Feldpostbriefe von den unterschiedlichen Fronten für Marie von N. ein Anlaß zum Schreiben, seit März 1945 jedoch das Ausbleiben von Briefen. Besteht ihr Tagebuch in den letzten beiden Kriegsjahren primär aus einer Sammlung der Nachrichten von den verschiedenen Fronten, so werden mit dem Kriegsende das Nachdenken über die eigene Person und die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage wichtig. In den Monaten April bis
Juni 1945 wird ihr Tagebuch vorrangig zum Ort autobiographischer Selbstreflexion. Dieser kurzfristige Formwechsel selbst ist wiederum aufschlußreich für den Zusammenhang von Tagebuch und Brief. Die Verhinderung der gewohnten Korrespondenz und in diesem Fall auch des Kopierens der Briefe wie die Sorge um diejenigen, von denen die Nachricht fehlt, schlägt hier mit verstärkter selbstreflexiver Schreibaktivität zu Buche. Die blockierte Kommunikation führt bei Marie von N. dazu, in dieser Phase mehr und ausführlicher über die eigene Person zu schreiben.
Vor allem für Frauen läßt sich die eigene Geschichte oft kaum von der Geschichte ihrer Angehörigen trennen. Sie sind es, die sich durch geschlechtsspezifische Rollenzuweisung stärker als Männer für den Zusammenhalt der Familie verantwortlich fühlen. Im Krieg, mehr noch als in >normalen< Zeiten, sind Taten und Untaten, Erfolge und Niederlagen der Männer folgenreich für den familiären Alltag. Es ist somit nicht verwunderlich, daß Frauen den Geschichten der Männer im Krieg verstärkt Raum an dem Ort geben, an dem über die eigene Geschichte nachgedacht und geschrieben wird. Marie von N.s Biographie ist eng mit der Geschichte ihrer weitverzweigten Familie verknüpft. Das Brieftagebuch, in dem autobiographische Selbstthematisierung und briefliche Mitteilungen der Angehörigen auch formal ineinander übergehen, ist eine Form, die dieser Verknüpfung entspricht. »Großmutters Tagebuch« kann dann auch wie die Abschriften und nachträglichen Kommentierungen zeigen im nachhinein als Familienchronik der Kriegsjahre fungieren.
Eindrucksvoll demonstriert dieses Tagebuch den komplexen und problematischen Zusammenhang zwischen kollektiven biographischen Traumata und Haltungen im Nationalsozialismus. Es wird deutlich, daß Verstörungen in Folge unterschiedlicher gesellschaftlicher Eruptionen nicht nur diejenigen prägen, die sie unmittelbar selbst erlebt haben, sondern an die folgenden Generationen weitergegeben werden. Marie von N. weiß, daß sie zum Zeitpunkt der deutschen
Niederlage am Ende ihres Lebens steht. Ihr Traum, daß die Enkel ihr >Erbe<, die deutsche Kolonisierung der Ostgebiete, fortsetzen, hat sich mit der militärischen Niederlage zerschlagen. Trauerarbeit war der Anlaß, ihr Tagebuch zu beginnen. Auch die Abarbeitung an der Frage der persönlichen Lebensbilanz ist eine Form, schreibend mit dem Schmerz um eine verlorene Illusion umzugehen. Das Tagebuchschreiben dient Marie von N. in den Monaten nach Kriegsende dazu, die Niederlage, die das Ende des Nationalsozialismus auch für sie persönlich bedeutet, zu bearbeiten und Schuld abzuwehren.