Mit der Entstehung der Entwicklungspsychologie werden die Selbstzeugnisse von Jugendlichen als psychologische Quelle entdeckt. Tagebuchaufzeichnungen Jugendlicher geraten so in den 20er und 30er Jahren kurzfristig ins Zentrum wissenschaftlichen Interesses und werden editionswürdig. Wegweisend wurden hier die Arbeiten von Charlotte Bühler, die den »Trieb« zum Tagebuchschreiben aus dem Isolationsbedürfnis problematisch Pubertierender erklärte und die Texte als authentische Selbstaussagen dieser Entwicklungsphase interpretierte (1922).
In seiner Kritik an Charlotte Bühlers »nativistischen« Implikationen entwickelte Siegfried Bernfeld in seiner kulturpsychologischen Studie Trieb und Tradition im Jugendalter. (1931) eine durch psychoanalytische Prämissen geprägte Theorie der Tagebuchform. Bernfeld sucht nach Gründen, warum Jugendliche ihre Texte der kulturellen Norm eines Tagebuchs anpassen. Er betont, daß es sich dabei nicht notwendig um konkrete Lektüreerfahrungen handeln muß, sondern daß sich die Versuche der Verfasserinnen, im Schreiben einer Norm gerecht zu werden, an einem allgemeinen »Wissen um Tagebücher« orientiere, das allerdings stark differieren könne (1931, 76). In bezug auf den Quellenwert von Tagebüchern wies er in seiner Kritik an Charlotte Bühler schon 1927 daraufhin, man könne Tagebuchautoren nicht unkritisch als »Zeugen für Tatbestände« anführen. Tagebücher seien vielmehr durch bewußte und unbewußte Tendenzen beeinflußte Darstellungen, »genauso wie Träume, Phantasien, Dichtungen Jugendlicher«. Gerade aus diesem Grund könnten Jugendtagebücher aber Kenntnisse des »manifesten (also durch Tendenzen mannigfach entstellten) Fühlens, Wünschens und Erlebens der Pubertät« vermitteln (1927, 38f.).
Siegfried Bernfeld deutet die schreibende Introversion im Tagebuch als eine Ausdrucksmöglichkeit intensivierter psychischer Arbeit und sieht in der Tagebuchpraxis eine Form der Ich-Konturierung. Das Diarium ist für ihn der Produktionsort des »virtuellen Selbst« (1931, 39). In seiner Interpretation erkennen sich die Tagebuchautorinnen durch die Anpassungsleistung an die kulturelle Norm des Tagebuchschreibens als das wieder, was sie schreibend bemüht sind zu sein oder zu werden. Das Tagebuch wird somit zu einem Ort der Individuation. Die Erkenntnis der eigenen Situation und die Arbeit am Selbstbild sind zentrale Funktionen autobiographischer Aufzeichnungen. Die Tagebuchautorinnen suchen aber nicht interesselos Wahrheit, sondern Orientierung, Entlastung und Sicherheit. Die
Ich-Konturierung ist nicht nur der Realität, sondern ebenso den Wünschen des Individuums verpflichtet. Diarien können somit auch zum Ort werden, an dem sich »das virtuelle Selbst in seinen wenig real angepaßten Partien dokumentiert« (Bernfeld 1931, 43). Nicht selten erholen sich die Autorinnen dort von den Mühen der Einschränkungen ihrer Wünsche.
Nach der Phase der enthusiastischen Nutzung von Tagebüchern für die Erforschung des Jugendalters in den 30er Jahren geraten diese unter dem Einfluß der größtenteils mit quantitativ-empirischen Forschungsmethoden arbeitenden, behavioristisch geprägten amerikanischen Psychologie wieder aus dem Blickpunkt der Forschung. Und so gibt es bis zum Beginn der 80er Jahre nur eine umfassendere Untersuchung von Waltraud Küppers (1964) zu Tagebüchern, die Mädchen und junge Frauen in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg verfaßten. Küppers greift die Ergebnisse Charlotte Bühlers auf und geht der Frage nach, ob ein Wertewandel in den Aufzeichnungen der Generation zu beobachten ist, die im Nachkriegsdeutschland Tagebuch führte.
Ebenfalls in der Tradition Charlotte Bühlers steht die 1989 von Marianne Soff veröffentlichte Studie Jugend im Tagebuch. Unveröffentlichte Tagebücher, die sie in Auszügen im Anhang zugänglich macht, dienen ihr als empirische Grundlage für einen Generationsvergleich und zur Verifizierung eines Phasenmodells jugendlicher Ich-Entwicklung.
Da das Tagebuchschreiben als Praxis vieler adoleszenter Verfasserinnen im Mittelpunkt des Interesses der psychologischen Abhandlungen steht, wird die Frage nach Repräsentativität und Aussagegehalt dieser Textsorte als Quelle für die Erforschung des Jugendalters immer wieder diskutiert. Tagebuchschreiben ist an bestimmte Leseund Schreibtraditionen geknüpft. Es wird verstärkt im bildungsbürgerlichen Kontext geschrieben. Daher lassen sich die durch Tagebücher erzielten Ergebnisse nicht ohne weiteres auf alle sozialen Schichten übertragen. Auch wird die Frage des »Wahrheitsgehalts« der Tagebücher diskutiert. Gerade die neueren Untersuchungen betonen, daß die Konzeptionalisierungen der eigenen Person und des eigenen Erlebens eine »nicht zu unterschätzende Gefahr« bei der Nutzung der persönlichen Dokumente in der psychologischen Forschung darstellen (Soff 1989, 19).
Das in der Bundesrepublik mit der Studentenbewegung wiedererwachte Interesse an der Geschichte der Arbeiterbewegung führt zu einer teilweisen Erschließung und Auseinandersetzung mit Arbeiterinnenautobiographien, die zum Gegenstand von Quelleneditionen und literatursoziologischen Untersuchungen werden. Bei der Fülle der seit Ende der 70er Jahre publizierten Untersuchungen zur Alltagsgeschichte steht zwar primär das lebensgeschichtliche Interview als neubewertete Quelle historischer Arbeit im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses, am Rande treten aber auch autobiographische Laienschriften in das Blickfeld der Forschung.[8] Bernd Jürgen Warneken weist in seiner Untersuchung Populäre Autobiographik (1985) nachdrücklich auf das Defizit an wissenschaftlicher Aufarbeitung der Texte schreibender Laien hin und widmet Tagebuch und Brief als »Gattungen« der populären Autobiographik je ein eigenes Kapitel. Er interpretiert jedoch letztlich die literarische Ebene lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen als Faktor, der den Quellenwert mindert und spricht von der Möglichkeit eines »Realitätsverlustes durch >Literarisierung<« (Warneken 1987, 48f.).
Für Tagebücher gilt aber ebenso wie für autobiographische Lebensberichte und Erinnerungen, daß sie nicht von der literarischen Tradition und den Vorbildern, an denen sie sich orientieren, abzulösen sind. Literarische Darstellungsmuster sind dabei ein integraler Bestandteil der deutenden Aneignung des Lebens. Statt also von literarisierenden Elementen abzusehen und nach einer darunterliegenden Alltäglichkeit zu fragen, sollte die Funktionalität der literarischen Deutungsmuster analysiert werden.
Im Grenzbereich zwischen Soziologie und Literaturwissenschaft versteht sich die Arbeit von Klaus Bergmann Lebensgeschichte als Appell. Autobiographische Schriften der >kleinen Leute< und Außenseiter. Bergmann kritisiert, daß in der Geschichtswissenschaft und Volkskunde autobiographische Laientexte als »subjektive Quellen« herangezogen worden seien, wobei »deren spezifische literarische Qualität eher als Problem, d.h. als Faktor der Verzerrung« angesehen werde, und stellt im Gegensatz dazu das »autobiographische Projekt« in den Mittelpunkt seiner Analyse (Bergmann 1991, 34). Er grenzt jedoch unveröffentlichte Tagebücher und Briefe aus seinem Untersuchungsfeld »populäre Autobiographik« aus, da sie durch das Fehlen von Publikationsabsicht und Adressatenbezug »mehr oder weniger privaten Charakter« hätten (Bergmann 1991, 25). Die private Schreibsituation, die von einem Teil der literaturwissenschaftlichen Untersuchungen als Beleg für eine erlebnisunmittelbare Authentizität verwendet wird, dient hier als Argument, um diese Form der Schreibpraxis in den Bereich des Vor- oder Ungesellschaftlichen zu verweisen.
Eine erfahrungsgeschichtlich orientierte Einzelstudie eines Mädchentagebuches aus der Zeit des Nationalsozialismus legte Dorothee Wierling vor (1989, 67-84). Sie interpretiert das Mädchentagebuch als Dokument einer biographischen Initiation und arbeitet heraus, daß das Tagebuch der Jugendlichen geholfen habe, Angst zu binden und Orientierung zu suchen. Sie findet im Tagebuch der Schülerin eine Sprache, »in der sich Versatzstücke aus nationalsozialistischer Propaganda, Trivialliteratur und mütterlichen Redensarten mischen mit jugendlicher Schnodderigkeit und unkontrollierten sprachlichen Ausbrüchen« (82). Obwohl Dorothee Wierling betont, daß eine klare Unterscheidung von »>geliehener< und >authentischer<« Sprache und »eine Zuordnung zu >echten< und >falschen< Gefühlen« sich als schwierig erweise, kommt sie letztlich doch zu dem Ergebnis, die »formelhaften nationalsozialistischen oder auch religiösen Sprachmuster« seien eine »Ersatz- und Decksprache«, die der Tagebuchautorin kurzfristig Trost gegeben und Ordnung im verstörten Innern geschaffen habe (83). Anstatt jedoch von dem für Wierling selbst problematischen Konzept der »fremden« versus der »authentischen« Sprache auszugehen, ist es Aufgabe der Tagebuchinterpretation herauszufinden, zu welchem Zweck und in welcher Form diskursive Elemente aus unterschiedlichen Kontexten miteinander verknüpft werden.
Zugespitzt formulierte der Schriftsteller Arno Schmidt den zentralen Vorbehalt, der auch in der Forschung immer wieder gegen Tagebücher als Quelle psychologischer oder historischer Forschung vorgebracht wird: Es sei »eines der zu bekämpfendsten Vorurteile, daß das Tagebuch besonders ehrlich sei!«
Fein umgekehrt ist's: nahezu alle Menschen sind gewohnt, aus Gründen der Selbsterhaltung, also zeitlebens, mit sich im Ton innig ausführlicher Verlogenheit zu verkehren. Hübsch unbewußt natürlich, wie sich's geziemt, aber dennoch. Das Tagebuch >spontan<? - ajà sicher; ebenso spontan, wie sich, & gerade im Umgang mit sich = selbst, prompt Verstellung & Geltungsbedürfnis einzustellen pflegen. (1982, 114)
Was Arno Schmidt hier beobachtet, macht aber gerade die besondere Qualität von Tagebüchern als Forschungsgegenstand aus. Für die Rekonstruktion von Fakten sind Tagebücher keine verläßliche Quelle. Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg rapportieren z.B. eine Fülle nachweislich falscher Gerüchte. Um so ergiebiger sind sie aber für eine Untersuchung, die nach subjektiven Deutungsmustern, nach sozialem und psychischem Selbstschutz, nach Selbsterhaltungsstrategien oder nach lebensgeschichtlichen Konstruktionen bis hin zu >Lebenslügen< fragt.
Ich möchte nun resümieren, inwieweit sich die Problemstellungen und Ergebnisse der unterschiedlichen Fachrichtungen für meine Fragestellung nach den Funktionen des autobiographischen Schreibens nutzbar machen lassen.
Die Ergebnisse der literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zum Tagebuch taugen für meine Untersuchung nur bedingt, da die Bestimmung der Spezifik der Tagebuchform aus der Differenz zu traditionellen literarischen Gattungen häufig in einer Mystifizierung der Form endet, die zum Ausdruck einer erlebnisunmittelbaren Authentizität oder eines den herrschenden gesellschaftlichen Normen entgegengesetzten Widerstandes stilisiert werden. Literaturwissenschaftliche Bemühungen, das Tagebuch den traditionellen Kunstgattungen gleichzustellen, können vor allem spezifische Merkmale der meisten Laientagebücher nicht greifen, die sich weniger nach den Maßstäben der Kunst, als primär nach der Funktionalität für die Verfasserinnen beurteilen und charakterisieren lassen.
Bernfelds Konzept, in dem das Tagebuch als Produktionsort des »virtuellen Selbst« verstanden wird und die Anpassungsleistungen als Identifikationsprozesse interpretiert werden, scheint mir vor allem aus folgendem Grund produktiv zu sein: Das Tagebuch wird in dieser Sichtweise nicht unter den falschen Alternativen von »authentischem Lebenszeugnis« versus »verzerrtem Abbild« von »Welt« und »Ich« interpretiert. Der Prozeß der Erfahrungsaneignung und der Internalisierung vorgegebener Muster wird vielmehr als eine Form der Vergesellschaftung verstanden, deren wesentliches Ziel die Ich-Konturierung ist. Allerdings ist man bei der Lektüre von Tagebüchern häufig mit divergierenden, oft widersprüchlichen und unterschiedlich ausgearbeiteten Selbstentwürfen konfrontiert. Deswegen ziehe ich die Begriffe »Konzeptionalisierungen des Ich« und »Ich-Konturierung« vor, weil der Begriff »virtuelles Selbst« eine Einheitlichkeit und Geschlossenheit suggeriert, die in der Regel nicht existiert. Ein solches theoretisches Verständnis fordert eine genaue Interpretation der Quellen, bei der die gesellschaftlichen Vorgaben, die Schreib- und Deutungsmuster ebenso berücksichtigt werden wie die persönlichen Anliegen der Schreibenden. Die Wünsche nach Selbststilisierung, das Verlangen, eine bedrohliche Realität abzuwehren oder eine kränkende Erfahrung zu kompensieren, und das Bedürfnis nach Aufklärung und Orientierung müssen hierbei ernst genommen werden.
Bernfelds Konzept läßt sich mit den im diskursanalytischen Kontext entstandenen Überlegungen zur Selbstsorge von Michel Foucault verbinden. Foucault hat in seinen späteren Untersuchungen mit dem Begriff der Selbstsorge die Interessen des Individuums in den Mittelpunkt seiner Analyse gestellt. Die unterschiedlichen Praktiken der Selbsterkenntnis und -kontrolle versteht Foucault als Wege, »um sich umzubilden, zu läutern, sein Heil zu schaffen« (1991, 59). Durch die Intensivierung des Selbstbezuges konstituiere man sich als Subjekt seiner Handlungen (57). Daß es sich beim Tagebuchschreiben um eine »Selbsttechnik« handelt, bei der die Ich-Konturierung und die Lebensbewältigung im Mittelpunkt stehen, werde ich im folgenden Kapitel ausführen, in dem es um die Entstehungsbedingungen und die Besonderheiten der Tagebuchkultur geht.
Das Tagebuchschreiben ist eine Praxis vieler, die nicht auf die Veröffentlichung zielt. Sie bedarf keines interessierten Publikums und ist dennoch eine durch gesellschaftliche Normen konstituierte kulturelle Praxis. Wie zur Durchsetzung und Veränderung einer für die literarische Öffentlichkeit bestimmten Gattung die Bedürfnisse des Publikums prägend sind, so muß die Textsorte Tagebuch für ihre Verbreitung bestimmte Bedürfnisse der Schreibenden erfüllen. Zu fragen ist also nach dem Zweck und Nutzen des seit 200 Jahren populären Brauchs, die persönlichen Erlebnisse vom Tage für sich selbst in schriftlicher Form festzuhalten.