Das Tagebuch in der literaturwissenschaftlichen Forschung
Trotz ihrer Popularität gehören Tagebücher in der Literaturwissenschaft bis heute zu den Stiefkindern der Forschung. Während die Sekundärliteratur zur Autobiographie und Briefliteratur kaum zu überblicken ist, finden Tagebücher selten Beachtung. Ein Grund hierfür scheint mir die bis heute ungeklärte >Statusfrage< der Textsorte zu sein - die Frage nämlich, ob das Tagebuch überhaupt zu den literarischen Gattungen zu zählen ist. »Literatur im Rohzustand« lautet die jüngste Kompromißformel, für die sich Ralph Rainer Wuthenow in seiner Untersuchung Europäische Tagebücher entscheidet (1990, IX). Die wenigen Untersuchungen zum Tagebuch stellen - ausgehend von Aufzeichnungen anerkannter Schriftsteller die Frage nach dem künstlerischen Wert der Textform. Bei den Bemühungen, die diaristischen Aufzeichnungen renommierter Schriftsteller von den »gewöhnlichen« Tagebüchern abzugrenzen, werden Eigenarten ausgefeilter Literatentagebücher immer wieder normativ für die Textsorte verallgemeinert.[6] Die »Mischform« und »Mannigfaltigkeit der Ausprägungen« stehen allerdings im Mittelpunkt der Monographie Gustav Rene Hockes Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten (1991). In einer umfangreichen Anthologie stellt Hocke im zweiten Band seiner Veröffentlichung Auszüge aus 110 europäischen Tagebüchern zusammen. Hier hat das Tränenregister des Geistlichen Ignatius von Loyola, der Fülle und Ausbleiben seiner Tränen bei der Messe registriert und zum Gradmesser seiner religiösen Erschütterung macht, ebenso seinen Raum wie die Tagebücher eines Nürnberger Henkers, der die Untaten der Verurteilten festhält. E.T.A. Hoffmanns Notizenfolge steht gleichrangig neben den ausgefeilten Tagebuchaufzeichnungen Ernst Jüngers. Den über 100 Tagebuchauszügen männlicher Autoren stehen jedoch nur 7 Textbeispiele schreibender Frauen gegenüber.
Abgesehen von einem Aufsatz Richard M. Meyers »Zur Entwicklungsgeschichte des Tagebuchs« von 1905 und der vergleichenden Fallstudie der zeitgleichen Tagebücher aus dem 18. Jahrhundert des Literaten Lavaters und des Händlers Bräker von Karl Pestalozzi (Pestalozzi 1982, 154-174) stehen kulturhistorische Überlegungen zum Thema noch aus. Gustav Rene Hockes materialreiche Untersuchung und die 1990 erschienene Arbeit von Ralph Rainer Wuthenow Europäische Tagebücher behandeln eine beeindruckende Materialfülle diaristischer Aufzeichnungen europäischer Geistesgrößen und enthalten interessante Überlegungen über die sich verändernden Konzeptionalisierungen von Subjektivität vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Der Frage nach der Entwicklung und Verbreitung des kulturellen Brauchs gehen beide Untersuchungen jedoch nicht nach. Vor allem lassen sich die großen Entwicklungslinien und Typisierungsversuche, die die Autoren in den europäischen Tagebüchern der letzten 400 Jahre herausarbeiten, nicht ohne weiteres für die Mehrzahl der Laientagebücher verallgemeinern. Treffend bemerkt Heinrich Breloer im Vorwort der von ihm herausgegebenen Sammlung von Kriegstagebüchern schreibender Laien:
Die säuberliche Trennung in historische, dokumentarische oder persönliche, intime Tagebücher wird im Alltagsgebrauch selten durchgehalten. Neben der Radiomeldung von Hitlers Tod beginnt eine Liebesgeschichte, und vom Hexenschuß bis zur Währungsreform braucht es nur eine Zeile weiter. (Breloer 1984, 7)
Meist geraten die Tagebücher von Laien aus dem Blickfeld der Untersuchung. Die »gewöhnlichen« Tagebücher fallen durch das Raster der literarischen Werthaltigkeit, die immer noch die Voraussetzung dafür zu sein scheint, daß Texte an der Weihe literaturwissenschaftlicher Analyse teilhaben dürfen.[7] Wird auf die Mode des Tagebuchschreibens eingegangen, so wird die »Flut der Journale höherer Töchter« als »fragwürdige Neuauflage« der Seelentagebücher der Empfindsamen abgewertet, und mit dem Hinweis, bei den unzähligen Bekenntnistagebüchern von Schülern und Studenten handele es sich um »lauter Hebbels en miniature«, werden Laientagebücher von einer weiteren Betrachtung ausgeschlossen (Boerner 1969, 52). Trotz unterschiedlicher theoretischer Ansätze ist in der Sekundärliteratur zum Tagebuch ein Argumentationsmuster dominant: Durch die Profilierung des ästhetischen Wertes versuchen die Verfasser, das Tagebuch als Gattung an anderen literarischen Gattungen zu messen, um dann durch die Benennung der Differenz zwischen der Tagebuchform und fiktionaler Literatur ersterer die Weihe größerer Authentizität zuzuschreiben. Ausgehend von Literatentagebüchern wird das Tagebuch als Kunstform ausgewiesen, um es letztlich aber zum Gegenpol fiktionaler Literatur zu erklären. Gleichgültig, ob die Tagebücher der jeweils bevorzugten Autoren in die Nähe der »epischen Prosa« (Gräser 1955,112), des »Fragments« (Kraft 1983, 242) bzw. der »Formlosigkeit als Form« (Vogelsang 1985, 202) gerückt werden, stets werden die Texte zum Beleg für die »Unmittelbarkeit« der Tagebuchform. In Überbewertung der vermeintlichen Authentizität von Tagebüchern erklärt z.B. Gräser, da das Tagebuch auf Fabel, Fiktion und Vollendung verzichte, erreiche es ein hohes Gestaltungsziel, »die Farbigkeit, das Leben selbst zu offenbaren« (Gräser 1955, 122ff.). Aus einer anderen theoretischen Richtung, aber mit ähnlicher Schlußfolgerung, argumentiert Kraft, Tagebücher böten, da der »explizite Rezeptionsfaktor« fehle, nicht nur Raum für »Ungeformtes, sondern auch für das Unverformte« (Kraft 1983, 243). »Die Unmittelbarkeit, der Verzicht auf Stilisierung, das Nebeneinander von Persönlichem und Sachlichem, im Fragmentarischen die Mischung von Staccato und Legato« ist auch für Hocke das Charakteristische der »reinsten Tagebücher der letzten 500 Jahre« (1991, 20f.). Extrem formuliert Picard: »Als geschriebenes Wort ist das authentische Tagebuch das Gegenteil von Literatur« (1986, 18).
Ziel der meisten literaturwissenschaftlichen Untersuchungen ist es, die Tagebuchform, ausgehend von einzelnen kanonisierten Literatentagebüchern, den anderen literarischen Gattungen gleichzustellen. In den paradoxen Befunden, die Kunst des Tagebuchs bestehe in seiner Kunstlosigkeit und seine Formspezifik in der Formlosigkeit, bestätigen die Analysen letztlich die Norm, gegen die sie angetreten sind. Das nur vermeintlich >Unverformte< ist aber als spezifische Form der >Unmittelbarkeit< bereits tradiert. >Das andere<, >Wahre und Authentische< zu repräsentieren ist eine der kulturell überlieferten, konventionellen Festschreibungen dieser Textform. Das Tagebuch ist in der kulturellen Überlieferung eine nicht primär der literarischen Gestaltung verpflichtete Textsorte und hat eine genau umrissene Rolle im System literarischer Schreibweisen. Gerade der Nimbus des Intimen und Privaten läßt die modernen Schriftstellerinnen, die sich um die Herstellung von Authentizität und Distanzverringerung zum Publikum bemühen, seit Ende des 18. Jahrhunderts auf diaristische Verfahrensweisen bis hin zum fiktiven Tagebuch zurückgreifen.
Die Abgrenzung von der Öffentlichkeit ist ein stilbildendes Element in der Geschichte des Tagebuchschreibens, und die Proklamation des privaten Charakters der Aufzeichnungen ist ein konstitutives Merkmal der Textsorte. Die private Form des Schreibens, der radikale Selbstbezug und der nichtkünstlerische Schreibstil sind die Modi der Wahrheitsproduktion im Tagebuch. Nur im Geheimen, abgegrenzt von der als Gegenpol gedachten Gesellschaft, glaubt das Individuum, seinen >wahren< Kern finden zu können. Das Tagebuch ist gemäß festgeschriebener kultureller Norm nicht der künstlerischen Form, sondern dem >Leben<, nicht der künstlerischen Aussage, sondern der persönlichen Wahrheit der Schreibenden verpflichtet.
Die einfache Umkehrung des in der Literaturwissenschaft gängigen Argumentationsmusters führt Manfred Jurgensen in seiner Untersuchung Das fiktionale Ich (1979) vor. Er erklärt mit Hilfe psychoanalytischer Kriterien das Tagebuch zur reinen Fiktion. Auch Karl Pestalozzi kommt in Anschluß an Jurgensen als Schlußfolgerung seiner Untersuchung an Tagebüchern des 18. Jahrhunderts zu dem Ergebnis, es handele sich um Fiktionen, was er hier im Sinn von falschem Abbild statt Selbstbild verwendet: Was am Ende als »Inneres« des Diaristen im Tagebuch stehe, sei »abhängig von irgendeinem System, Abklatsch von Gelesenem, dargestellt in der grundsätzlich inadäquaten Sprache« und sei »im besten Fall eine entstellte Maske seines Inneren« (1982,171). Die Eigenart des Tagebuchs, das - anders als die fiktionale Literatur - der Faktizität und nicht der Wahrscheinlichkeit verpflichtet ist und selbst in den literarisch ausgefeiltesten Formen von der Verankerung in der alltäglichen Lebenswelt der Verfasserinnen lebt, kann bei diesen Ansätzen nicht mehr erfaßt werden.
Über die Eigenart weiblicher Diaristik gibt nur Doris Niemeyers Untersuchung Die intime Frau. Das Frauentagebuch - eine Überlebens- und Widerstandsform (1986) Auskunft. Die Studie bezieht sich auf Tagebücher von Frauen, die mehrheitlich nach dem Zweiten
Weltkrieg verfaßt und seit Ende der 70er Jahre publiziert wurden. Auch in Niemeyers Untersuchung läßt sich eine Mystifizierung der
Tagebuchform feststellen, die in ihrer Interpretation zum Repräsentanten für das »andere«, das »ungelebte Leben«, die »Utopie« wird:
Weder inhaltlich noch formal festgelegt - im Gegensatz zu anderen literarischen Formen und zum begrenzten Leben der Frau - ermöglicht es (das Tagebuch) eine Eigenbewegung, einen Prozeß von Integration und Ausbruch in seiner ganzen Widersprüchlichkeit. (1986, 43)
Niemeyer sucht in den Tagebüchern Frauen (-Vorbilder), die »gegen patriarchalische Strukturen« Widerstand leisten und »um Identität kämpfen«, und glaubt im Tagebuch hierfür die »Schlüsselgattung für Frauen« gefunden zu haben (9). Ausgehend von dem Befund, daß Frauen mit und trotz der Aufklärung partiell aus der (literarischen) Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, wird in Niemeyers Argumentation jede Schreibende zur potentiellen Widerständlerin und die Tagebuchpraxis per se zum subversiven Akt:
An diesem geschützten Ort löst die Frau das von ihr erwartete Sein auf und fragt nach sich selbst. Sie verläßt ihr Dasein als Objekt, beginnt, sich zu bewegen. Dieser Prozeß könnte - sofern er massenhaft erfolgt die Basis des Patriarchats erschüttern. (68)
Einmal abgesehen davon, daß der ideologische Impetus der hier im Kollektivsingular vorgetragenen Bestimmung, welche Bedeutung »das Tagebuch« für »die Frau« habe, kaum zu übersehen ist, wäre an dieser Stelle einzuwenden, daß bei jüngeren Frauen und Mädchen (vor allem zwischen 16 und 19 Jahren) der Brauch, ein Tagebuch zu führen, derart verbreitet ist, daß in einer empirischen Untersuchung von 1985 schon gemutmaßt wurde, ob er »möglicherweise den Charakter einer konventionellen Norm im Rahmen der >Mädchen-Normalbiographie<« habe (Zinnecker 1985a, 347).
Die Tagebücher, die Verfolgte in den Jahren des Nationalsozialismus schrieben, stehen im Mittelpunkt der Arbeit von Renata Laqueur Schreiben im KZ (1992). Nur einige wenige Tagebücher, die jüdische Menschen in Konzentrationslagern verfaßten, sind überliefert worden. Renata Laqueur, die in Bergen-Belsen als Jüdin inhaftiert war und selber Tagebuch schrieb, hat 13 Tagebücher zusammengetragen und hierüber eine Doktorarbeit geschrieben, die in deutscher Übersetzung auszugsweise veröffentlicht wurde. Wer im Konzentrationslager ein Tagebuch führte, habe der Nachwelt Zeugnis ablegen wollen von den Greueltaten der Nazis, betont Renata Laqueur, »das empfanden sie als Pflicht gegenüber den Toten« (31). Ein Tagebuch zu führen war im KZ streng verboten und das Schreiben somit ein Akt des Widerstandes. Das Diarium war zugleich Überlebenshilfe und Selbstschutz, bot die Möglichkeit zu kleinen Fluchten ins Reich der Phantasie. Das Schreiben hatte große Bedeutung, um sich einen Rest menschlicher Würde in einer entwürdigenden Situation zu bewahren. Gerade die Literarisierung des Grauens konnte eine wichtige Hilfe zum Ertragen der Lagersituation sein. Auch die Beschreibungen der Erlebniswelt, die nicht im Terror aufging, war ein Mittel, dem »univers concentrationare« etwas entgegenzusetzen.
Nach Kriegsende erklärten auch die Schriftsteller, die sich zur Inneren Emigration zählten, ihr Tagebuchschreiben in den Jahren des Nationalsozialismus zu einer Form des »Inneren Widerstandes«. Dies zeigte sich vor allem in der Debatte um die Veröffentlichung der Tagebuchaufzeichnungen von Ernst Jünger, Strahlungen, die 1949 erschienen und auf große Resonanz stießen. Die in dieser Debatte geprägte Formel, das Tagebuch sei die »Literatur des Kerkers« (Nebel 1948, 5f.), wurde zum vielzitierten Motto. Im zweiten Teil dieses Buches, in dem es um die besonderen Bedingungen der Diaristik im Zweiten Weltkrieg geht, werde ich ausführen, inwiefern es sich hierbei um eine einseitige Stilisierung handelt und warum das Tagebuch keinesfalls als »Literatur des Kerkers«, sondern als populäre Gattungsform des Nationalsozialismus einzuschätzen ist.