Schlußbemerkungen

»Ein großes Geheimnis bleibt in bezug auf das Ende des Zweiten Weltkrieges bestehen. Wie vermochten die Deutschen während der Niederlage mit so unentwegter Standhaftigkeit weiterzumachen? Die Deutschen selbst können sich jetzt nicht mehr erinnern, und deshalb wird die Antwort nie zu finden sein«, schrieb der britische Historiker A.J.P. Taylor im Observer.[30]
Tagebücher, die Frauen am Ende des Krieges verfaßten, tragen dazu bei, etwas von jener Standhaftigkeit zu begreifen, die vielen im nachhinein zum Geheimnis wurde, das sich ihrer Erinnerung entzog. Mit dem Zusammenbruch des kollektiven Wertesystems waren für viele auch die eigenen Handlungsmotivationen nicht mehr nachvollziehbar. Hier bestätigt sich die Auffassung von Maurice Halbwachs, wonach Erinnerungen »bewegliche Reflexe eines sozialen Raums, einer sozialen Zeit, eines sozialen Milieus« sind (1966, 147). Man kann sich nur dann erinnern, wenn die Erinnerung in den unterschiedlichen Bezugsrahmen des kollektiven Gedächtnisses zu verorten ist. Mit dem Ende des Nationalsozialismus fehlte nicht nur der kollektive Rahmen, sondern mit diesem auch die Deckung, der Schutz der Gemeinschaft. Vieles, was vorher gängige Meinung, d.h. fraglos hingenommene Selbstverständlichkeit der deutschen Mehrheit war, hatte an Relevanz verloren. Vorstellungen, die bis zum Kriegsende im Bereich dessen blieben, was man sich nicht ausdenken wollte und durfte, wie die vom Sieg der Roten Armee, wurden zur Realität. Haltungen, die man vor Kriegsende als moralisch integer ansah, galten als inhuman und wurden kompromittierend. Die einzelnen Menschen mußten solche Meinungen mit dem Zusammenbruch des Systems nun selbst verantworten. Aus der kollektiven Übereinkunft, was Deutsche allgemein meinten und glaubten, wurde nun die dringliche Frage, warum man persönlich auch so etwas hatte meinen und glauben können. Das Gefühl, sich selber nicht mehr zu verstehen, und das Ringen um Verständnis scheint mir ein wesentlicher Grund für das Bedürfnis nach Selbstreflexion zu sein. Versuche, sich der persönlichen Verantwortung zu entziehen, das anklagende Selbstmitleid, das sich für Außenstehende unangemessen und larmoyant anhört, sind als Reaktionen auf den Zusammenbruch kollektiver Wertungs- und Deutungssysteme zu verstehen.
Die Journalistin Margret Boveri sprach im Hinblick auf ihre damaligen Aufzeichnungen Tage des Überlebens - Berlin 1945 von einem »Zustand belagerter Phantasie« (1985, 30). »Was am damaligen Geisteszustand heute am meisten erstaunt, ist die enge Verbindung von rational Unvereinbarem: von Angepaßtsein an die herrschenden Verhältnisse und von Mißtrauen gegenüber den Taten und Verlautbarungen der jeweiligen Herrschenden.« Das Bevorstehen der Niederlage sei erkannt worden. »Trotzdem lebte man, als sei das Gegebene von Dauer« (ebd. 8).
»Wo immer Angst auftritt, neigt sie dazu, die Umstände, von denen sie hervorgerufen wurde, der Aufmerksamkeit zu entziehen«, schreibt Hans-Dieter Schäfer in seiner Untersuchung Das gespaltene Bewußtsein und diagnostiziert für die Jahre des Nationalsozialismus einen Prozeß zunehmender kollektiver Versteinerung und Realitätsabspaltung (1985, 186).
Tatsächlich schreiben die Tagebuchverfasserinnen gegen ihre eigenen Zweifel und Friedenswünsche an. Darüber hinaus dokumentieren die Tagebücher eben diese Versuche der Realitätsabspaltung, indem die nationalsozialistischen Verbrechen, die Deportation und Ermordung der Juden und Jüdinnen, die Ausbeutung der ZwangsarbeiterInnen, die Gewalttaten im Krieg praktisch nie zum Gegenstand diaristischer Reflexion werden. Vielleicht ist dieses Schweigen, das das »Dritte Reich« überdauerte, der erschreckendste Beweis dafür, wie weit bei vielen der >autobiographische Pakt< mit dem Nationalsozialismus ging. »Niemals haben Menschen so vieles vergessen sollen, um funktionsfähig zu bleiben, wie die, mit denen wir leben«, schreibt Christa Wolf in ihrem Roman Kindheitsmuster, in dem sie den Spuren ihrer Geschichte als Kind im Nationalsozialismus nachgeht (1977, 388). »Nicht, daß es nicht gewagt, sondern daß es gar nicht gedacht wurde. Vor dieser Tatsache bleiben die Erklärungsversuche stecken« (ebd., 292).
Tagebücher von Frauen im zerstörten Deutschland dienten primär der eigenen Tröstung und Beruhigung. Trauerarbeit, Schreiben gegen die Angst, Versuche, die umfassenden Ohnmachtserfahrungen zu relativieren, erhalten einen großen Stellenwert. Als zentrale Krisenerfahrung steht die militärische Niederlage und das Ende des Nationalsozialismus im Zentrum der behandelten Diarien. Hierbei ist man nicht mit zwei getrennten Sphären konfrontiert, in denen sich die reglementierte öffentliche Rede von der Welt des privaten Wortes abtrennen läßt und das Tagebuch zu einem der Gesellschaft entgegengesetzten »Refugium« wird. Die Tagebuchautorinnen versuchen vielmehr immer wieder, Kriegsziele und biographische Anliegen zur Deckung zu bringen. So werden z.B. Zweifel am »Endsieg« als eine Form der Versuchung interpretiert; ihr zu widerstehen heißt, persönliche Charakterstärke und Haltung zu beweisen. Nach der Kriegsniederlage beklagen die Tagebuchautorinnen keineswegs nur ihre persönlichen Nöte. Die individuelle Krisenerfahrung im Mai 1945 ist vielmehr aufs engste mit der kollektiven Krisenerfahrung verknüpft. Die Tagebuchaufzeichnungen sind ein eindrücklicher Beleg dafür, daß Frauen im Nationalsozialismus nicht >außen vor< standen, sondern herrschende Perspektiven und Hoffnungen teilten und somit die psychischen Voraussetzungen dieser Gesellschaft mittrugen und mitproduzierten.
»Treue ist das Mark der Ehre«, zitierte Lieselotte G. einen Poesiealbenspruch im Tagebuch, um so ihre eigene Friedenssehnsucht übertönen zu können. »Gerade höre ich einen sehr wahren Spruch: Lebe beständig, das Unglück dauert nicht ewig. (...) Und so bin ich guten Mut's, mein Vertrauen auf den Führer ist unerschütterlich«, schrieb Dorette K. kurz vor Kriegsende, um ihre zuvor geäußerten Zweifel an einer militärischen Niederlage abzuwehren. Es »wäre doch eine ungeheuer große Ungerechtigkeit, daß unsere deutschen Soldaten ganz umsonst gekämpft haben und gestorben sein sollen. Es kann einfach nicht sein. Wir können nicht untergehen. Es muß einmal wieder aufwärts gehen«, trägt Charlotte G. ein halbes Jahr nach Kriegsende in ihr Diarium ein.
Je stereotyper die Rede, um so wirksamer scheint sie weiteres Nachdenken verhindern zu können. »Krieg ist Krieg« gehört zu solchen Formeln, die nichts sagen und dennoch eine Erklärung für all die Dinge geben sollen, die das Maß des rational Erklärbaren und Erträglichen übersteigen. Hannah Arendt schreibt: »Klischees, gängige Redensarten, konventionelle standardisierte Ausdrucks- und Verhaltensweisen haben die gesellschaftlich anerkannte Funktion, gegen die Wirklichkeit abzuschirmen«. Sie betont, daß es sehr erschöpfend wäre, wolle man den Anspruch, »den alle Ereignisse und Tatsachen an unsere denkende Zuwendung stellen«, ständig erfüllen (1989a, 14).
Aus den Frauentagebüchern im zerstörten Deutschland kann man ein Schutzbedürfnis herauslesen, das sich mit Hilfe von Realitätsabwehr und -ausgrenzung zu befriedigen sucht, ein Heilungs- und Therapiebedarf, der mit zunehmender Dauer des Krieges wächst. Hierbei dominiert nicht die Selbstaufklärung, die eine Gestaltung und Durcharbeitung des Verdrängten einschließt, sondern die Selbststabilisierung. Eine dezidierte Oppositionshaltung zum Nationalsozialismus ist offenbar die Voraussetzung für eine kritischere Durcharbeitung des Zeitgeschehens.
Die Tagebücher von Mädchen und Frauen, die nicht zum Widerstand gehörten und ebensowenig überzeugte Nationalsozialistinnen waren, lassen - gerade durch ihren Mangel an kritischer Aufarbeitung der eigenen Rolle im Nationalsozialismus - etwas von der psychischen Verfassung der Mehrheit und dem Ausmaß der Verstörung ahnen. Eben deshalb eröffnet die kritische Lektüre dieser persönlichen Texte, die durch die zeittypischen Wahrnehmungsgrenzen geprägt sind, die Möglichkeit, diese Überlieferung erinnernd durchzuarbeiten.