Wir erkennen in den primitiven Bräuchen die Überreste
einer alten und reinen, von weisen Lehrern übernommenen
Ordnung, die von abergläubischen und herabgesunkenen
Völkern verfälscht worden ist.
Sylvain Bailly
Die erste Familie und der Ursprung der Tabus
Von außerordentlicher Wichtigkeit bei den archäologischen Entdeckungen in Anatolien ist die Bestätigung des Mythos von der weiblichen Herrschaft im Goldenen und Silbernen Zeitalter des Menschen gewesen, der Beweis dafür, daß die Frauenherrschaft nicht nur im alt- und neusteinzeitlichen Leben bestand, sondern bis in die hochkultivierte Bronzezeit hinein andauerte.
Die allgemeine Vorstellung von der primitiven Familiengruppe, zu der der beherrschende Vater, die eingeschüchterte und unterwürfige Mutter und die den Boden der Höhlenwohnung beschmutzenden kleinen Kinder gehören, ist vollkommen unhaltbar geworden. Doch dieses Bild vom Leben des »Höhlenmenschen« wird immer noch in den weit verbreiteten comic Strips und Fernsehserien verbreitet.
Tatsache ist, daß die früheste menschliche Familie aus einer Frau und ihren Kindern bestand. »Die patriarchale Familie war vollkommen unbekannt«, schreibt Lewis Henry Morgan. »Sie entstand erst nach Beginn der überlieferten Zivilisation.«[1] Vaterschaft und die Vorstellung vom ständigen Zusammenleben tauchten erst sehr spät in der menschlichen Geschichte auf. Erstere so spät, daß es, wie der Philologe Roland Kent hervorhebt, in der ursprünglichen indo-europäischen Sprache überhaupt kein Wort für Vater gab.[2]
Die Encyclopedia Britannica (Ausgabe 1964) sagt, daß dort, wo es in der alten indo-europäischen Sprache kein Wort für einen Begriff oder ein Objekt gab, als Binsenwahrheit anzunehmen ist, daß der Begriff oder das Objekt den Indo-Europäern unbekannt war. Und da sich nach Kent die ursprüngliche Sprache nicht vor 3000 v. Chr. in die von ihr abgeleiteten klassischen und modernen Sprachen abgespalten hat,[3] scheint es offensichtlich, daß selbst noch vor 5000 Jahren die Vaterschaft unbekannt war.
Selbst heute noch gibt es Völker, die glauben, daß Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Bronislaw Malinowski beschreibt einen Volksstamm, der annimmt, es erleichtere den Eintritt des Geistes des zukünftigen Kindes in den Mutterleib, wenn die Vagina der Jungfrau von einem Mann geöffnet worden sei. Doch die Vorstellung, daß der Mann irgend etwas mit der Zeugung des Kindes zu tun habe, geht über das Verständnis der Eingeborenen hinaus.
Auf verschiedenen Inseln Ozeaniens, wo noch viele Spuren der ursprünglichen weltweiten Frauenherrschaft vorhanden sind, hält der Mann seine eigenen Kinder für die seiner Frau. »Was immer er für seine Kinder tut, ist ein Ausgleich (mapula) für das, was deren Mutter, seine Frau, für ihn getan hat.«[4] So ist in der Vorstellung des Eingeborenen der Grund für die Anteilnahme des Mannes an seiner Nachkommenschaft die Dankbarkeit, die der Gatte für seine Frau fühlt, »jedoch ganz und gar nicht die Vorstellung körperlicher Vaterschaft.«»Wir müssen uns klar darüber sein, daß es in der Vorstellung der Eingeborenen keine biologische Vaterschaft gibt.«[5]
Unsere frühesten Vorfahren waren auch nicht klüger. Der Mann fühlte sich nicht verpflichtet, seine Nachkommen zu schützen oder zu unterstützen, aus dem einfachen Grund, weil er gar nicht wußte, daß er welche hatte. Die Kinder gehörten zu den Frauen, die allein ihre Schöpferinnen und Erzeugerinnen waren. So fiel die volle Verantwortung für die Kinder der Mutter zu, wie dies immer noch sowohl bei den höheren Säugetieren als auch bei manchen Menschengruppen, wie z.B. bei den amerikanischen Schwarzen, den Melanesiern und Mikronesiern der Fall ist.
Der Mann der Art war »ein plünderndes Tier« und die Frau »seine sexuelle Beute«, so hat es Briffault ausgedrückt. [6] Um sich und ihre Kinder vor diesen plündernden Tieren zu schützen, schlössen sich die Frauen bald zusammen und bildeten die ersten Gemeinschaften - männerlos bis auf die jungen Knaben der Gruppe.
»Als die Sippe entstand, vereinigte sie mehrere Schwestern mit deren Kindern und Nachkommen in der weiblichen Linie für immer in einem Stamm, der die Organisationseinheit im gesellschaftlichen System wurde.«[7] Der über Jahrtausende andauernde Zeitraum dieser Gesellschaftsstufe ist an der Vielzahl der daraus entstandenen Tabus und deren Dauerhaftigkeit zu erkennen. Viele reichen in christlichen Verhaltensmaßregeln bis hinein in das moderne amerikanische Leben. Das dauerhafteste dieser Tabus ist der Inzest, ein Verbot, das von der ersten Matriarchin erlassen wurde, um sich und ihre Töchter vor dem sexuellen Mißbrauch durch ihre heranwachsenden Söhne zu schützen.
Das Verbrechen des Inzests
Der Inzest ist unter bestimmten modernen Primitiven ein so unaussprechliches Verbrechen, daß lächerliche Übertreibungen angewendet werden, um es zu verhindern. Auf den Pazifischen Inseln werden Brüder und Schwestern von Kindheit an voneinander getrennt, und »der Tod wird geheimnisvollerweise über einen Jungen kommen, der mit seinen Schwestern oder seiner Mutter ißt«.[8] Daß das ein unter dem Matriarchat angenommener Brauch ist, wird durch die Tatsache bewiesen, daß er auf Hawaii im 19. Jahrhundert von einer Königin namens Kaahumanu abgeschafft wurde, als sie »in aller Öffentlichkeit mit ihrem Sohn aß.«[9]
In Melanesien »meidet ein Junge von dem Zeitpunkt an, wenn er zum erstenmal bekleidet wird, sehr auffällig seine Schwestern und seine Mutter (...)«[10] In Neukaledonien müssen sich Brüder und Schwestern ihr ganzes Leben lang meiden, was sogar so weit geht, daß sie sich bemühen, sich nicht zufällig zu treffen.[11] Und im polynesischen Tonga zollt ein Mann seine größte Achtung und seine Treue seiner Schwester, doch darf er nie deren Haus betreten.[12]
»In Samoa und Tonga gibt es zwei gesellschaftliche Bräuche«, schreibt Bück. ,, Der eine ist das Bruder-Schwester Tabu, das Vettern einschließt, die im selben Verwandtschaftsverhältnis zueinander stehen, wie Bruder und Schwester«, d.h. mütterliche oder verwandte Vettern. »Ab dem zehnten Lebensjahr wurden Brüder und Schwestern in verschiedenen Häusern erzogen, und sie hörten auf, miteinander zu spielen. Wenn einer von beiden sich in einem Haus aufhielt, durfte es der andere nicht betreten (...). Ein anderer Brauch war die große Achtung, die Männer ihren Schwestern entgegenbrachten. In Tonga wurde die Schwester im Vergleich zum Bruder als höherstehend angesehen, und diese überragende Stellung teilten ihre Kinder. In Samoa waren die Kinder der Schwester heilig.«[13]
Man vergleiche diesen Bericht über die pazifischen Inselbewohner aus dem 20. Jahrhundert mit einem aus dem ersten Jahrhundert über die Kelten Europas: »Die Kinder der Schwester werden sowohl von ihren Onkeln als auch von ihren Vätern sehr hoch geschätzt. In der Tat betrachten sie diese Verwandtschaft als sogar noch heiliger und verpflichtender.«[14] Daß diese Schwesternverehrung ein Überrest der ursprünglichen allgemeinen Kultur ist, kann kaum bezweifelt werden. Sie ist nicht nur im unberührten Pazifik von heute üblich, sondern war es auch unter den Kelten vor zweitausend Jahren. Die Kelten, die Tacitus fälschlicherweise Germanen nannte, scheinen diese Bräuche und Überlieferungen der alten Kultur länger als irgendwelche anderen Völker der Geschichte bewahrt zu haben.
»Auf Ceylon darf ein Vater seine Tochter, die in die Reifezeit gekommen ist«, und ein heiratsfähiger Sohn seine Mutter »überhaupt nicht mehr sehen.«[15] Unter den Todas in Indien fühlt sich ein Mädchen verunreinigt, wenn ihre Kleidung die eines männlichen Verwandten streift, und ,,es wird von einem Fall berichtet, daß ein Mädchen sich entsetzte, als es unabsichtlich von seinem Vater berührt wurde«.[16] In Korea wurden die Knaben gelehrt, es sei unmännlich, die für ihre Schwestern und Mütter abgetrennten Räume zu betreten.[17] Und im Vorkriegsjapan lebten die männlichen und weiblichen Mitglieder einer Familie vollkommen getrennt, wobei jede Möglichkeit körperlichen Kontakts als außerordentlich gefährlich angesehen wurde.[18]
Diese Bräuche enthalten eine Abneigung gegen den Inzest, die biologisch nicht erklärt werden kann. Der Inzest ist unter Tieren allgemein verbreitet, und es gibt gegen ihn keine genetischen Einwände. »In der Tierwelt sind Paarungen zwischen Geschwistern und Eltern und Kindern durchaus üblich, was sich nicht nachteilig auf die Art auszuwirken scheint«, schreibt die Zoologin Susan Michelmore. [19] Das kirchliche Verbot der Vetternheirat hat also nicht, wie behauptet wird, erbliche Gründe, sondern rührt, wie die Furcht des Wilden vor dem Inzest, von der mütterlichen Erziehung der Männer her. Die mater familias hielt es einst für nötig, die Begierde ihrer Söhne durch strenge Maßnahmen zu zügeln, um so sich und ihre Töchter zu schützen. So erzog sie ihren Nachkommen einen unauslöschlichen Abscheu vor inzestartigen geschlechtlichen Beziehungen an.
Wenn die Knaben der mütterlichen Familiengruppe älter wurden, verließen viele von ihnen ihr Heim und schlossen sich den plündernden Banden der erwachsenen Männer an. Aber nach und nach blieben immer mehr Knaben zu Hause und wurden seßhaft. Aus diesen daheimgebliebenen Männern der mütterlichen Sippe entwickelte sich das Volk der großen gynaikokratischen Stadtstaaten, die den Ruhm der frühesten geschichtlichen Gesellschaften darstellten. Von den Männern, die sich dem Einfluß der Mutter entzogen, um Nomaden und Jäger zu werden, die, abgesehen von Überfall und Raub, frauenlos waren, stammten die barbarischen Horden ab, die die Kultur des Nahen Ostens zerstörten, als sie sich im 3. Jahrtausend v. Chr. der Stadtstaaten bemächtigten, so wie die nomadischen Dorier etwa fünfzehnhundert Jahre später die ägäische Kultur zerstörten.
Die Archäologie bestätigt hier den Beweis der Anthropologie, denn G. Ernest Wright sagt: »Semitische Stämme, die als Nomaden rund um den Fruchtbaren Halbmond lebten, zogen bereits 2500 v. Chr. in die bestellten Länder (der matriarchalen Stadtstaaten), und um 2300 v. Chr. fiel ein Dunkles Zeitalter über das Land, folgend der Zerstörung jedes bisher untersuchten Stadtstaates.«[20] Die sumerische Stadt Ur war einer von ihnen und die Bibel berichtet von dem Einfall einer solchen nomadischen Horde in seine bestellten Länder, als der Stamm Terah über ihn hereinbrach. Schechem im Kanaan, ein anderer der großen Stadtstaaten, fiel später dem semitischen Stamm des barbarischen Nomaden Abraham zum Opfer, als ,,er sich anschickte, in das Land Kanaan zu gehen (...) bis an die Stätte Sichem«.
Das Inzest-Tabu, zum Schutz der Frauen in der Familiengruppe eingesetzt, wurde schließlich auf alle Frauen des Stammes ausgedehnt, und so entstand der Brauch »fortzuheiraten«. »In der primitiven Welt«, schreibt E.B. Taylor, »besteht heute weitgehend die Regel der Exogamie, des Fortheiratens, die einem Mann verbietet, eine Frau seiner eigenen mütterlichen Sippe zu heiraten, eine Tat, die als verbrecherisch angesehen wird und mit dem Tode bestraft werden kann.«[21] Bei bestimmten Indianerstämmen Nordamerikas »nehmen die Kinder den Sippennamen der Mutter an. Wenn nun diese zum Beispiel der Bärensippe angehört, ist ihr Sohn ebenfalls ein Bär, weshalb er kein Bärenmädchen heiraten darf (...). In Indien darf kein Brahmane eine Frau heiraten, die denselben Sippennamen trägt wie er, noch ist einem Chinesen erlaubt, eine Frau gleichen Nachnamens zu ehelichen«.[22] Die gleichen Beschränkungen bestanden in der großen hochentwickelten römischen Kultur, die eine Heirat zwischen Verwandten väterlicherseits gestattete, nicht aber eine zwischen solchen mütterlicherseits. Der Brauch besteht auch heute noch unter jungen Leuten in dem Aberglauben, daß es Unglück bringe, jemanden mit dem gleichen Nachnahmen zu heiraten.
Die Heiligkeit des weiblichen Blutes
Neben dem Inzest-Tabu ist das mit dem Frauenblut verbundene das von den gynaikokratischen Tabus mächtigste und ausdauerndste. Dieses Tabu, das das Mittelalter hindurch wirksam und für die Gewohnheit der Kirche verantwortlich war, Frauen lebendig zu verbrennen, Männer jedoch nur zu köpfen oder zu vierteilen, wurde während des gynaikokratischen Zeitalters ebenfalls eingesetzt, um menstruierende Mädchen und alle Frauen vor der Gier ihrer männlichen Verwandten zu schützen.
Reste des Glaubens an die kraftvolle Heiligkeit des weiblichen Blutes finden wir heute nicht nur in dem christlichen Ritus von der »kirchlichen Reinigung« der Frauen nach der Kindgeburt, um die im plazentaren Blut enthaltene gefährliche Macht zu zerstören, sondern auch in den Bräuchen und Tabus von weniger »zivilisierten« Völkern. Unter den Primitiven herrscht, wie auch früher bei den Hebräern, fast allgemein der Glaube vor, daß es für den Mann gefährlich sei, wenn er eine menstruierende oder schwangere Frau berührt oder eine, die erst kurz zuvor entbunden hat. »Wenn eine Frau Blutungen hat, (...) so ist jeder, der sie berührt, unrein«. So schrieb der Autor des Leviticus vor 3000 Jahren.
»Es scheint«, schreibt Paolo Mantegazza, »als habe die Natur die Wilden Australiens das gelehrt, was der von Gott inspirierte Moses den Hebräern mitteilte, um ihre Gesundheit zu bewahren.«[23] Mantegazza verfiel in den allgemeinen Irrtum, diese alten Tabus als Schutzmaßnahmen für die Männer auszulegen, eine Erklärung, die schwer zu verstehen ist, denn Geschlechtsverkehr während der Menstruation oder Schwangerschaft ist sicherlich für die Frau mit größerer Gefahr verbunden als für den Mann. Doch der Trugschluß, daß weibliche Tabus geschaffen worden seien, Männer vor dem verderblichen Einfluß der Frauen zu schützen, bleibt hartnäckig bestehen.
Berührt zum Beispiel in Südafrika ein Mann seine Frau während der monatlichen Regel, so »werden seine Knochen weich, und er verliert seine Kraft«[24] Selbst den gleichen Raum mit einer menstruierenden Frau zu teilen, wird als schwächend angesehen, während der tatsächliche Anblick weiblichen Blutes den Tod verursachen kann. Von einem leidenschaftlichen Liebhaber Westafrikas, der »so schwach war, daß er sich kaum bewegen konnte, nahm man an, daß er durch den Anblick weiblichen Blutes so geworden sei«.[25] Und bei den Damaras im südlichen Afrika »dürfen die Männer keine Frau im Wochenbett sehen, da sie sonst schwach und im Kampf getötet werden«.[26]
»Niemand wäre in der Lage, all die Völker aufzuzählen,« schreibt Mantegazza, »bei denen die menstruierende Frau als unrein angesehen wird, und keiner könnte die lange Liste der abergläubischen Vorstellungen aufstellen, die bis in unsere Tage hinein den Vorgang der Menstruation, das Menstruationsblut und alles umgeben, was mit der geheimnisvollen Geschlechtsfunktion der Frau zu tun hat.«[27]
Diese Geschichten von der Gefahr, die Männern von menstruierenden, schwangeren oder im Kindbett liegenden Frauen drohen, die überall geglaubt werden, klingen wie Ammenmärchen von Menschenfressern und Kobolden, die erzählt werden, um Gehorsam durch Furcht vor deren Drohungen zu erreichen. Und gerade das sollte ursprünglich damit auch bezweckt werden. Diese Geschichten erzählten die ursprünglichen Matriarchinnen, um die kleinen Jungen einzuschüchtern und ihnen Gehorsam und Respekt vor den Frauen beizubringen. Daß so viele Anthropologen wie Mantegazza folgerten, diese Bluttabus seien zum Schutze des Mannes bestimmt, ist naiv. Wie die Furcht vor dem Inzest, sind diese Tabus das Endergebnis alter Erziehung zum Schutz der Frauen und Mädchen. Wenn später die Bedeutung ins Gegenteil verkehrt wurde, so deshalb, weil der Mann in einer Zeit, als »er es nicht wagte, seiner Mutter gegenüber ungehorsam zu sein«, aus einer von dieser ihm auferlegten Notwendigkeit eine Tugend machte.
Später, als Frauen die Gesellschaft zu eigentlicher Zivilisation entwickelt hatten, wurden diese zwei Tabus (und Tabu heißt ja geheiligt) - die Heiligkeit weiblicher Verwandtschaftsbeziehungen und die allen weiblichen Blutes - die Lehrsätze und eigentliche Grundlage des Rechts. Muttermord, eine Verbindung dieser beiden mächtigsten Tabus, war das unaussprechlichste der Verbrechen, ein Verbrechen, das weder hier noch im Jenseits gebüßt oder vergeben werden konnte. Selbst zu Ödipus' Zeiten war Vatermord kein Verbrechen. Ödipus' ungeheuerliche Tat bestand nicht darin, daß er seinen Vater getötet, sondern daß er mit seiner Mutter Blutschande begangen hatte, was nicht einmal seine sich selbst zugefügte Blindheit und sein Exil tilgen konnten. Dieser Mythos ist rein matriarchal. Und Erich Fromm geht in seiner matriarchalen Auslegung so weit, zu behaupten, Jokaste, und nicht Ödipus, sei das Ziel der göttlichen Rache, der Rache der Großen Göttin gewesen. Nach Fromm war es Jokastes Sünde, ihr Kind zum Vorteil ihres Gatten ausgesetzt zu haben - aus patriarchaler Sicht ein entschuldbarer Ausweg, in matriarchaler aber das schlimmste aller Verbrechen [28] - die all das Leid von Laios' Haus verursachte. Es ist bezeichnend, daß im Ödipus Mythos die Töchter des Ödipus, Antigone und Ismene, starke und mutige Personen sind, während die Söhne schwach, wankelmütig, treulos und egoistisch erscheinen.
Die spätere Sage von Orest, der von den matriarchalen achäischen Furien wegen Muttermordes verfolgt, dem aber dann von den patriarchalen dorischen Göttern vergeben wurde, weil er ihn begangen hatte, um seinen Vater zu rächen, kennzeichnet den sehr späten Übergang von der Mutter- zur Vaterverehrung, die. nach dem dorischen Einfall in Griechenland und der damit dort einhergehenden patriarchalen Revolution stattfand.
Stärke und sexuelle Auswahl
Mystische Kraft und überragender Verstand könnten in gewissem Maße die Gründe für die Scheu und Furcht sein, mit der die Männer der Frühzeit den Frauen begegneten. Aber es muß auch auf der Seite der Männer eine körperliche Furcht gegeben haben, die sie für so lange Zeit in solch abgrundtiefer Unterwerfung gehalten hat. Alle Zeugnisse des Mythos, der Tradition, der Physiologie und auch der Anthropologie weisen auf eine ursprüngliche Gleichheit der Geschlechter in Größe und Stärke hin.
Biologisch gesehen, ist es, wie Michelmore sagt, »logisch, daß der Mann der kleinere Partner sein sollte. Seine einzige Funktion besteht darin, für Spermien zu sorgen; und obwohl das menschliche Ei nur gerade noch sichtbar ist, ist das Sperma noch viel, viel kleiner«. Der Mann ist in der Sicht der Natur nur eine »verherrlichte Keimdrüse«, bei der die Größe keine Rolle spielt.[29]
Die Wahrscheinlichkeit, daß die Frauen einst den Männern körperlich gleichwertig waren, wird durch solche Mythen wie den von den lemnischen Frauen angedeutet, die mit Leichtigkeit ihre Mannsleute in einem Bürgerkrieg überwanden, in dem alle Männer erschlagen wurden. Das Gleiche gilt für die ähnliche Sage von den Frauen von Amathonte, die sich standhaft weigerten, mit den Männern zu schlafen, und auch für die wahrscheinlich geschichtliche Sage von den Amazonen, die bis auf eine Nacht im Jahr männerlos lebten, selbst ihre eigenen männlichen Säuglinge töteten und nur ihre Töchter großzogen. Die Mythen von solchen Frauen wie Atalanta, die alle männlichen Herausforderer im Ringen und beim Wettlauf bezwang, und die auf der ganzen Welt verbreiteten Sagen von den Jungfrauen, die als Ehegatten nur die seltenen Männer wählten, die sie im Zweikampf überwältigen konnten, weisen ebenfalls auf eine ursprüngliche körperliche Gleichheit der Geschlechter hin.
Noch im Jahre 1908 erhielt sich der Atalanta-Mythos in Sibirien, wo von den Koryak berichtet wurde, daß der Bewerber, der seine Geliebte nicht in einem Wettlauf bezwingen konnte, von dieser zurückgewiesen wurde.[30]
In Malakka in Malaysia war im 19. Jahrhundert eine ähnliche Probe in Mode. Die Braut flüchtete in den Wald, der Bräutigam lief ihr nach. Lief sie ihm davon, und kehrte er allein zurück, »empfing ihn die Hochzeitsgesellschaft mit Hohn und Spott und die Verbindung wurde aufgelöst.«[31]
Älian berichtete, daß bei den alten Saken der Bräutigam mit seiner Zukünftigen kämpfen und sie bezwingen mußte, ehe sie sich ihm als Frau gab.[32] Und moderne Autoren haben berichtet, daß dieser Brauch in weit voneinander entfernten Ländern überlebt habe, am nördlichen Polarkreis so wie in Südafrika. In der Kapkolonie »muß ein Makuana-Bewerber das Mädchen im Ringkampf zu Boden werfen, um ihre Hand zu erhalten« und sie wird nicht in die Ehe einwilligen, bis er sich so unter Beweis gestellt hat.[33] Bei den Samojeden im nördlichen Rußland, in Kamchatka und bei den Tungusen willigt das Mädchen erst dann in die Ehe ein, wenn der Bewerber »sie mit Gewalt genommen hat.«[34]
So ist der in heutigen Comics gängige Mythos vom Höhlenmenschen, der seiner Auserwählten einen Schlag auf den Kopf versetzt und sie an den Haaren davonzerrt, eine sehr abartige Darstellung eines Brauches, der einst allgemein gepflegt wurde: die sexuelle Auswahl eines »überlegenen Erzeugers« durch die Frau, ein Brauch, der vorherrschte, als Männer und Frauen sich in Größe und Stärke entsprachen.
Diese Bräuche, sagt Crawley im Gegensatz zur modernen männlichen Theorie, »haben nichts mit Heirat durch Raub zu tun« oder mit der Unterwerfung der Frauen.[35] Sie sind Ausdruck des Rechtes der Frau, ihren Partner sozusagen durch Kampf auszuwählen, die Form der sexuellen Auswahl, die schließlich zu der kräftemäßigen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern führte. Denn wenn, wie Lester Frank Ward sagt, »der Mann nach Größe und Kraft augenscheinlich überlegen ist, so deshalb, weil weibliche Bevorzugung die kleinen, schwachen Männer zugunsten stärkerer ausgemerzt hat. Sie (die Frau) hat ihren ursprünglichen Vorteil dem Wohle des Menschengeschlechts geopfert«.[36] Karen Horney nimmt an, daß die männliche Muskelstärke »ein erworbener Geschlechtsunterschied« ist, gefördert durch die sexuelle Auswahl von Seiten der Frau.[37] Die Tatsache, daß im allgemeinen die Männer in unserer Zeit weiterhin größer und stärker sind als die Frauen, ist ein Hinweis auf das junge Alter dieser Auswahlmethode. Unter den Kelten Europas waren im ersten Jahrhundert n. Chr. die jungen Männer und Frauen immer noch gleich groß und stark, wie Tacitus sagt: »Die jungen Männer heiraten spät, und auch die Mädchen werden nicht zur Ehe getrieben, das gleiche Alter und eine ähnliche Gestalt sind erforderlich. Sie passen gut zueinander und sind kräftig, wenn sie getraut werden.«[38] Edward Carpenter sieht eine Verschlechterung in der menschlichen Rasse, seit das Auswahlrecht von der Frau auf den Mann überging:
»Unter den meisten höheren Tieren, und tatsächlich auch unter den ersten Geschlechtern der Menschheit, wurden die männlichen Vertreter von den weiblichen entsprechend ihrer Tapferkeit, überragenden Stärke oder Schönheit ausgewählt, was weitgehend zu der Entwicklung einer Art führte, die der weiblichen Vorstellung entsprach. Doch als in der späteren Menschheitsgeschichte die Eigentumsliebe einsetzte, hörte diese Handlungsweise auf. Die Frau wurde nun >Eigentum<, und der Mann begann, die Frau nach Wesensmerkmalen auszuwählen, die ihm entsprachen, und folglich wurde dadurch die Qualität der ganzen Rasse beeinflußt. Mit der Rückkehr der Frauen in die Freiheit könnte das weibliche Ideal wieder seine Übermacht gewinnen und der geschlechtlichen Auswahl einen edleren Einfluß verleihen, als wenn sie von Männern ausgeübt wird. Der weibliche Einfluß könnte so zur Entwicklung eines männlicheren und würdigeren Geschlechts führen, als es sich in diesen letzten Tagen der patriarchalen Kultur gezeigt hat.«[39]
Mary Wollstonecraft bemerkte vor zweihundert Jahren, daß die Männer geneigt seien, die jämmerlichsten Muster der Frauenwelt zu heiraten und zur Mutter des Geschlechtes zu machen. [40] Und erst vor kurzem schrieb Horney: »Frauen, die die typischen Charakterzüge haben (die ihnen von des Mannes Ideologie zugeschrieben werden, nämlich Abhängigkeit, Schwäche, beschränkter Verstand), werden häufiger von Männern gewählt.«[41] Gleichzeitig, sagt Carpenter, »sind Frauen (durch gesellschaftliche Vorstellungen und geldliche Notwendigkeit) gezwungen worden, viele Arten (...) von Männern anzunehmen, die wirklich freie Frauen nicht als ihre Gatten oder als die Väter ihrer Kinder geduldet hätten«.[42] Denn das weibliche Geschlecht ist, wie Edmond Perrier schreibt, »das Geschlecht der physiologischen Vorausschau«.[43] »Die Frau ist die Hüterin der Erbqualitäten (...). Während die Stimme der Natur zum männlichen Geschlecht sagt: Befruchte! gibt sie dem weiblichen einen anderen Befehl: Sondere aus!«[44]
Die jetzige Neigung der »Wassermann«-Jungen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts, zur Partnerin lieber starke, fähige, intelligente Mädchen auszuwählen, von denen sie unterstützt werden können, ist wahrscheinlich ein gutes Zeichen für die Zukunft der Menschheit. Das deutet auch auf eine Umkehr der gegenwärtigen geschlechtlichen Rollen und auf eine Rückkehr zum ursprünglichen Zustand hin, als der Mann zweitrangig und die Frau das Rückgrat des Heimes, der Familie und der Gesellschaft war. Wie sie diese Stellung verloren hat, das ist die Frage, die uns im folgenden beschäftigen wird.
»Sie hat's vielleicht nicht anders gewollt«, wie man so sagt. Denn als die Banden plündernder Männer, die sich' von Wurzeln und Beeren ernährten und von den kultivierten Gemeinschaften ausgeschlossen waren, ihrem Affenerbe trotzten und Jäger wurden, kam ein neuer Bereich zur Sexualität hinzu. Während die Männer, die sich entschieden hatten, mit den Frauen daheimzubleiben, weiterhin unter der Aufsicht ihrer Mütter Pflanzenzüchter und Ackerbauern blieben, begannen die wilden Männer, vom Hunger getrieben, Tiere zu töten, deren Fleisch sie roh verzehrten.[45]
Die wilden Gebräuche und die Fleischrohkost der nichtdomestizierten Männer führten ohne Zweifel zu ihrer stufenweisen Entwicklung der Sexualität und schließlich zu ihrer Eroberung der Matriarchate. Denn Louis Berman weist darauf hin, daß Fleischfresser größere Geschlechtsorgane haben als Vegetarier [46], und diese Entwicklung kann für die Frauen unwiderstehlich gewesen sein. So ist es möglich, daß die Frauen der alten Gynaikokratie ihren eigenen Untergang verursachten, indem sie die phallischen wilden Männer den zivilisierteren ihrer eigenen friedlichen und ruhigen Welt vorzogen.