Die frühen Hellenen
Während der religiösen und politischen
Vorherrschaft der Frau besaß sie
(die früh-hellenische Welt) den Keim
erhabener Werke, die durch spätere Entwicklungen
unterdrückt und oft zerstört wurde.
J.J. Bachofen
Mit der Blüte Kretas im 2. und 3. Jahrhundert vor Chr. erreichte die große allumfassende Kultur der alten Welt ihren Höhepunkt. Die Vorherrschaft der Frauen in der Organisation der kretischen Gesellschaft - zwischen 3700 v. Chr. und der mykenischen Assimilation Kretas um 1400 - ist allgemein bekannt und durch archäologische Nachforschungen sorgfältig dokumentiert worden. Aber weniger bekannt ist, daß die vor-mykenischen Griechen, die Pelasger, auch ein gynaikokratisches Volk waren, »das durch das weibliche Prinzip beherrscht wurde; auf der Jagd, auf dem Feld, in der Liebe und im Kampf waren die Männer lediglich Diener der Frauen.«[1] Inzwischen hat die Archäologie entdeckt, daß die Mykener selber ein gynaikokratisches Volk waren. Ausgrabungen auf dem Gelände des großen mykenischen Palastes zeigen, daß die frühen Griechen einen ebenso echten Frauenstaat besaßen wie ihre pelasgischen Vorfahren und die von ihnen assimilierten Kreten.
Bilderfragmente, wie sie in Pylos, Mykene, Tiryns und anderen früh-griechischen Stätten - auf der Insel Kreta zum Beispiel - gefunden wurden, belegen Charles Seltmans Bemerkung, daß ,.Männer lediglich Diener von Frauen waren.« Sie zeigen Frauen, die Streitwagen fahren, Jagdzüge anführen, die besten Plätze bei Theaterspielen innehaben und Huldigungen von Männern entgegennehmen. Auf einem in Mykene ausgegrabenen goldenen Siegelring ist eine Frau dargestellt, die »ermahnend den Finger gegen den vor ihr stehenden Mann richtet«. Archäologen bezeichneten diese Dame als »die Göttin«, doch sie trägt keine der typischen Insignien einer minoisch-mykenischen Göttin: den langen, in Falten gelegten Rock, die um den Arm gewundene Schlange oder die Doppelaxt. Sie sitzt im Minirock bloßarmig auf einem Hocker und erinnert eher an einen modernen weiblichen »Chef« als an eine Göttin. Der von ihr gemaßregelte Mann trägt einen Speer. Er ist wahrscheinlich Jäger oder Krieger, dem wegen einer Pflichtversäumnis von seinem Häuptling »die Leviten gelesen« werden.
Ein anderer mykenischer Ring zeigt eine Frau mit in die Hüften gestemmten Armen, die einen am Altar knienden Mann beaufsichtigt. Ihr Gesichtsausdruck und auch die Haltung bedeuten nichts Gutes für den Missetäter, den sie wahrscheinlich als Strafe für geringfügigen Ungehorsam zur Buße an den Altar beordert hat.
Über die Herkunft der Mykener gibt es noch verschiedene Meinungen, aber die Funde deuten mehr und mehr auf einen anatolischen Ursprung hin. Sie waren ein indo-europäisches Volk, wie die Menschen von Catal Hüyük. Als sie vor etwa fünftausend Jahren nach Griechenland zogen, brachten sie zwei ausschließlich anatolische Fertigkeiten mit - die Töpferkunst und ihren besonderen Baustil, »beides den mittleren Teilen Anatoliens eigen« und sonst nirgendwo bekannt.[2] Nach etwa 1500 Jahren trafen diese ehemaligen Anatolier auf das minoische Kreta, nahmen deren Bräuche an, erlernten deren Künste und Handwerk - einschließlich der Klempnerei - und entwickelten, was wir heute die große minoisch-mykenische Kultur nennen.
Die Mykener, Homers Achäer, vertrieben ihre ionischen Vettern, die sie auf dem Peleponnes vorfanden, drängten sie hinauf nach Attika und über die Ägäis zurück nach Anatolien. Als ungefähr 500 Jahre später die Dorier aus dem Norden herunterstürmten und die glorreiche Ära der Mykener zerstörten, bewahrte allein das ionische Attika auf dem griechischen Festland den Keim der untergegangenen Kultur, und es war hier, im attischen Athen, wo etwa 600 Jahre nach dem dorischen Sieg die klassische Renaissance der Griechen ihren Anfang finden sollte.
Die lonier, so scheint es, waren für die Griechen das lebenswichtige Chromosom im genetischen Komplex. Denn eben diese lonier, die Vorfahren dessen, was die Größe des klassischen Griechenlands ausmachte, die unbewußt in ihr altes Heimatland zurückgekehrt waren, gründeten dort die ionischen Staaten Lydien und Karien - jene kleinen Nationen im westlichen Asien, die zu den Begründern der europäischen Kultur wurden.
Denn auch als Athen keine Gynaikokratie mehr war, blieben ihre Tochterländer in Anatolien gynaikokratisch und konnten die große minoisch-ionische Kultur nicht nur an das klassische Griechenland, sondern auch an Rom, an die italienische Halbinsel, an Europa und an die Britischen Inseln weitergeben.
Die Lydier besaßen den Teil Ioniens, der heute die Türkei ausmacht, das alte Anatolien, westlich und südlich der heutigen türkischen Stadt Izmir (Smyrna). Als die zurückkehrenden lonier ihre Göttin Athene nach Lydien brachten, fanden sie dort in einer Felsnische am Fuß des Sipylusberges jenseits von Smyrna das riesige Abbild einer Göttin, in der sie sofort ihre eigene Große Göttin Athene erkannten, welches aber tatsächlich das Urbild Athenes war, Potnia-Tiamat, die Große Göttin der Ureinwohner Anatoliens und der späteren historischen Völker im Nahen Osten von Sumer bis Palästina.
Über Lydien schreibt Herodot, daß zu seiner Zeit - dem 5. Jahrhundert v. Chr. - das Bemerkenswerteste an diesem Land »ein Gebilde enormen Ausmaßes« sei, »welches den riesigen Monumenten Ägyptens kaum nachstand, dessen Sockel gewaltige Steinblöcke bildeten, und dessen gesamter Umfang ,6 furlongs (Achtelmeilen) und 2 plethron' betrug« (etwa 1500 m). [3] Hier haben wir wieder Überreste einer technischen Konstruktion der alten Seefahrer, deren Umgang mit Steinen nicht einmal heute von Ingenieuren nachvollzogen werden kann. Die verschollene Kultur klingt auch in der Überlieferung bei den Lydiern zu Herodots Zeit an, die besagt, daß die riesigen Monumente »von den Frauen von damals« erbaut worden seien,[4] offensichtlich eine Erinnerung an die früheren Fähigkeiten der Frauen, auf geheimnisvolle Art Mauern zu bauen und Steine zu bewegen.
Sogar heute hat Lykien einen ähnlichen Megalithen, einen säulenartigen, 80 Tonnen schweren Steinblock, dessen Ursprung im Dunkel der Zeit verloren gegangen ist.[5] Im 6. oder 5. Jahrhundert schnitten die hellenistischen Griechen Figuren in die Säule, von der Geschichte und dem Ursprung des Megalithen jedoch hatten sie keine Kenntnis.
Herodot bestätigt, daß sich noch zu seiner Zeit der Einfluß der alten Matriarchate in Lykien auswirkte: »Frage einen Lykier nach seinem Namen, und er nennt den eignen und den seiner Mutter und den ihrer Mutter, aber nie den seines Vaters. Sollte, darüber hinaus, eine freie Frau einen Sklaven heiraten, so sind ihre Kinder freie Bürger; aber sollte ein freier Mann eine Sklavin heiraten, so wird seinen Kindern, auch wenn er der erste Mann im Staate wäre, das Bürgerrecht verwehrt«.[6] Dies war sicherlich in den alten Matriarchaten Sitte, eine Sitte, die von den alten Seefahrern über die ganze Welt verbreitet wurde, die bis heute in Ozeanien und Polynesien erhalten ist.
Daß die Karier in alten Zeiten ein mächtiges Volk waren, bezeugen die Schrifttafeln, die in den zwanziger Jahren bei Ugarit (Ras Schamra in Syrien) ausgegraben wurden. Diese Texte beziehen sich auf die Karier als die Khr, die zur Zeit der Tafelbeschriftungen im 15. Jahrhundert v. Chr. ein mächtiges Volk waren.
Herodot beschreibt die Karier als großartige Seefahrer und sagt, daß sie »in jenen Tagen bei weitem die berühmteste Nation der Erde waren.«[7] Noch in geschichtlicher Zeit nannten die Ägypter das Mittelmeer nach den Kariern »das Meer von Kharu« Mit eben diesen Kariern, sagt Herodot, vermischten sich die vertriebenen griechischen lonier, nachdem sie um 1400 v. Chr. von dem Peleponnes gedrängt worden waren. Und es ist von Bedeutung, daß einige der größten Persönlichkeiten im späteren Griechenland - angefangen mit Thaies, Anaximander und Pythagoras bis hin zu Aspasia und Herodot - aus diesen karisch-ionischen Ehen früherer Zeiten stammten.
Karien wurde auch wegen der Frauen, die es hervorbrachte, berühmt. Artemisia von Halikarnassos war Karierin und erlangte als berühmte Admiralin in den Persischen Kriegen geschichtlichen Ruhm. »Ihre Tapferkeit«, so schreibt Herodot, »führte sie in den Krieg« an der Spitze der Männer von Kos und Halikarnassos. »Ihre Kriegsflotte war allen persischen überlegen, mit Ausnahme der sidonischen (phönizischen) (...). Und sie beriet Xerxes besser als irgendein anderer seiner Verbündeten.«[8] 500 Jahre nach den Persischen Kriegen sollte Apollonius von Tyana den unentschlossenen Athenern seiner Zeit Artemisia als ein Beispiel der Tapferkeit vor Augen führen und auf sie als »jenen weiblichen Admiral, an der nichts weibisch war« hinweisen. [9]
Ihre nahen Verwandten, die Mysier, hatten in Hiera ebenfalls eine berühmte Kriegerin, die an der Spitze ihrer Armee im Trojanischen Krieg kämpfte. Philostratus sagt in Heroicus über Hiera, daß Homer sie nicht in der Ilias erwähnt habe, weil »diese größte und edelste aller Frauen, Generalin der vor Troja liegenden mysischen Truppen, seine Heldin Helena überstrahlt hätte.«[10]
Diese Frauen lassen die keltischen Frauen eines späteren Europa ahnen, und es drängt sich die Vermutung auf, daß sie die direkten Vorfahren der späteren keltischen Kriegerköniginnen Britanniens, Europas und Irlands waren. Die karischen Frauen waren nicht nur tapfere Kriegerinnen, sondern auch von hoher Intelligenz. Denn Aspasia, von Perikles und Sokrates als klügster griechischer Mensch ihrer Zeit bezeichnet, war eine Karierin aus Milet.
Die Karier waren aber offensichtlich nicht nur die Herren der Meere und Abenteurer, sondern echte Weltbürger. Ihre Allgegenwärtigkeit war so weitläufig, daß der römische Historiker und Geograph Strabo schrieb: »Die Unternehmen der Karier entziehen sich aller Kenntnis.«[11] Es ist bekannt, daß die Karier die phönizische Königin Dido begleiteten, als diese im 13. Jahrhundert aus Tyros floh und im Norden Afrikas die Stadt Karthago gründete. Nicht nur in der Leibgarde der Königin Nofretete waren Karier, auch in der der Königin Athalia von Jerusalem zur Zeit des Jehoschaphat. Das in so vielen Ortsnamen der alten Welt enthaltene Stammwort »Car« bekundet den Einfluß, den dieses Volk auf die alte Geographie und Geschichte hatte. Sie gaben berühmten Städten wie Karchemis und Karthago ihre Namen. Es ist sogar möglich, daß die Silbe »Caer«, die sich in keltischen Ortsnamen in Wales und Irland findet - Caerlon, Caernavon oder heute Carnevon, Caerphilly und Caermarthen - auf dasselbe »Car« zurückzuführen ist.
Irische Legenden berichten, daß die Milesier, die ersten keltischen Siedler Irlands, aus Milet in Karien stammen. Es wurde immer angenommen, dieser Mythos entbehre jeglicher Grundlage, aber ist das wirklich der Fall? Die Karier waren die Herren der Meere und - wie die Phönizier, die allen Ruhm geerntet haben - besuchten sie wiederholt die Zimmerbergwerke in Cornwall. Warum sollten sie nicht auch nach Irland gekommen sein?
Daß die Karier, nachdem sie sich mit den Ioniern vermischt hatten, im frühen 2. Jahrtausend die Britischen Inseln über das Meer erreicht haben könnten, ist eine ganz logische Folgerung. Noch sehr viel früher jedoch waren diese blonden Karier aus der alten Heimat in Anatolien auf dem Landweg nach Norden und Westen ins eigentliche Europa gezogen. Auf ihren unendlich langen Wanderungen durch das unbewohnte, südliche und mittlere Europa hatten sie ihr Erbe vergessen und bewahrten nur die heiligen Relikte der glorreichen Vergangenheit, die goldenen Relikte, die vom Himmel herabgefallen waren, und deren Bedeutung sie längst vergessen hatten.
Und könnten diese Kelten die letzten Überlebenden der alten Rasse sein, das rothaarige Volk, deren Erinnerungen den ältesten Ägyptern heilig war, die rot-goldenen Fremden, die in alter Zeit die Welt umsegelten und deren Bild sich für immer in die Erinnerung aller Völker eingegraben hatte?
Die Ionier Anatoliens, so berichtet Herodot, «waren die ersten unter den Griechen, die lange Fahrten unternahmen«, und diese Ionier brachten die Griechen mit dem Adriatischen Meer und mit Thyrrhenien (Italien), mit Iberia (Spanien) und der Stadt Tartessos (Tarschisch, Cadiz) in Berührung.[12] Sie gründeten auch das heutige Marseilles (das alte Massalia) in Frankreich und die große Stadt Elia im italienischen Lukanien, wo Jason einst einen Tempel für Hera erbaut hatte.
Aber noch vor diesen Städtegründungen hatten die Ionier Korsika, Sardinien, Sizilien und die gesamte Spitze des italienischen Stiefels kolonisiert. Vor dem Trojanischen Krieg hatte sich eine Kolonie Lykier in Italien angesiedelt - wie Virgil in der Äneis schreibt - die Volskianer, deren Königin Camilla Oberkommandierende jener italienischen Verbündeten war, die Äneas' einfallende Trojaner nach dem Fall Trojas angriffen.
Ihre Zahl erfüllte vom Volskerstamme Camilla,
brachte Reitervolk mit und ehernblinkende Scharen.
Kriegerin ist sie, hat nicht an Spindel und Körbchen
Minervas frauliche Hände gewöhnt, nein,
härtete sich, die Jungfrau, Kämpfe zu dulden,
im Lauf zu überholen die Winde.
Staunend umdrängt sie, aus Häusern strömend
und Feldern, die Jugend, staunend der Frauen Schar,
schaut nach ihr, wie sie dahinzieht, starrt überwältigten
Herzens sie an, wie fürstliche Purpurtracht ihre leuchtenden
Schultern umhüllt, wie die goldene Spange fest ihr Haar
durchschlingt, wie sie selbst den lykischen Köcher trägt
und der Hirten Myrtenholzspeer mit eiserner Spitze.[13]
Camilla war ein Urbild der keltischen kriegerischen Königinnen des kommenden keltischen Europas und der Britischen Inseln, und sie trug einen »lykischen Köcher«. Aufgrund der Sprache ist ersichtlich, daß die frühen Latiner eng mit den europäischen Kelten verwandt waren. Der Historiker Mommsen schreibt: »Es besteht eine enge philologische Beziehung zwischen den Kelten und den alten Italienern - enger als zwischen den letzteren und den Hellenen (die hauptsächlich Dorer waren). Jener Zweig des großen Ahnenbaums, aus dem die indo-europäischen Völker Süd- und Westeuropas entstanden waren, spaltete sich zuerst in Griechen und Italo-Kelten und die Letzteren teilten sich nach einiger Zeit in Kelten und in vor-römische Italiener. Die Geschichtsschreibung muß mit dieser Theorie in Übereinstimmung gebracht werden, denn was bis heute als die .griechisch-römische' Kultur bezeichnet wurde, könnte sehr wohl griechisch-keltisch-römisch gewesen sein.«[14]
Da aber beide Kulturen, die römische und die griechische letzten Endes dem ionischen Anatolien entstammen, könnte Mommsens »griechisch-keltisch-römische« Kultur einfacher und treffender als keltisch-ionisch bezeichnet werden.
Die Lykier und Karier waren jedoch nicht die ersten anatolischen Ionier, die Italien kolonisierten. Noch vor ihnen, und vor Jason und Medea, waren dort die lydischen Etrusker. Dieses Volk - so berichtet Herodot - in ferner Zeit vom Hunger aus Lydien vertrieben, hatte sich unter Thyrrhenius in Smyrna (Izmir) eingeschifft, war im Westen Italiens, an der Tyrrhenischen Küste an Land gegangen und hatte dort eine der kultiviertesten Nationen der alten Welt gegründet.
»Wer hätte sich träumen lassen,« fragt Grimal, »daß auf der italienischen Halbinsel ein mächtiges Weltreich bestand, das in seiner Großartigkeit dem klassischen Rom nicht nachstand - ein Weltreich in der Tat, an dessen politischer Struktur sich selbst das große Rom orientierte« und dessen Kultur der Keim der römischen Zivilisation war,. Als sie der etruskischen Kultur in Latium begegneten, »erlebten die latinischen Stämme eine mit den eingewanderten Griechen vergleichbare Evolution, als diese mit der kretischen Kultur in Berührung kamen ... . Aus all diesem ist ersichtlich, daß die Verkettung der Umstände, die auf das Wunder Rom hinführte, sich nicht so sehr von der unterscheidet, die' das Wunder des klassischen Griechenlands hervorbrachte.«[15]
Die kretische und die etruskische Kultur hatten die Griechenlands und Roms überragt; und doch waren diese beiden großen Ahnen von ihren kulturellen Nachkommen vollständig vergessen worden, von ihrer Existenz selbst war bis gestern noch nicht einmal eine Vermutung laut geworden. Die hellenistischen Griechen hatten vielleicht für ihr Unwissen über das kretische Erbe eine Entschuldigung infolge des langen, dunklen Zeitalters, das die Blüte Kretas von der Blüte Athens trennte.
Aber für die Römer gab es keine solche Rechtfertigung. Als die etruskische Kultur im 4. Jahrhundert v. Chr. dahinzusiechen begann, war Rom schon auf dem besten Weg zu Ruhm und Größe. Es gab bis zum 5. Jahrhundert unserer Zeit, als sich ein allgemeines Dunkel über das mittelalterliche Europa senkte, kein dunkles Zeitalter in Italien. »Die Verdrängung der Etrusker in die Vergessenheit war willentlich geschehen«, so schreibt Grimal, ,,es war eine Verschwörung des Schweigens« seitens der Römer. [16] Für die Oberhäupter des Pax Romana war die eigene Kultur suigeneris, niemandem verpflichtet. Aus diesem Grund ignorierten die römischen Geschichtsschreiber und Dichter des klassischen Zeitalters ihre etruskischen Lehrer und so beschrieb Virgil in dem großen römischen Epos die frühen Etrusker als halbe Barbaren, etwa wie heutige Geschichtsschreiber die Kelten darstellen.
Die Etrusker gaben dem späteren Rom »die Verfassung, die Sprache, die Künste, Sitten und die religiösen Bräuche.«[17] Und doch war dieses Volk tausende von Jahren alles andere als unbekannt.
Als gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. nach dem Untergang Trojas Äneas und seine Trojaner in Italien ankamen, fanden sie dort die Nachkommen der Lydier, die Etrusker - oder Tyrrhenier, wie sie sich selbst nannten - fest verwurzelt mit einer hochentwickelten Kultur vor.
Laut Livius und ebenso Virgil heiratete Äneas Lavinia, die etruskische Erbprinzessin von Latium, und wurde so König des Landes, wie es Sitte war in alter Zeit für alle, die König werden wollten. Nach Äneas' Tod, so Livius, blieb Lavinia nach echt gynaikokratischer Art Herrscherin, während der gemeinsame Sohn Askanius aus der Heimat vertrieben wurde und eine neue Stadt bei Alba Longa gründete.
Die großen Julianischen und Claudischen Familien des späteren Roms behaupteten, von Askanius abzustammen, dem Sohn von Äneas, obwohl es im frühen Rom weder einen Julius noch einen Claudius gab. Zur Aufklärung dieses Widerspruches führt Virgil an, Askanius habe sich in Julius umbenannt, aber Livius sagt nichts darüber. Auch wenn es so ist, erklärt es noch nicht den Namen Claudius. Die Namen Julius und Claudius müssen sich deshalb auf Matriarchinnen beziehen, auf Julia und Claudia, deren Namen auf römische Stämme übergingen, als Romulus das Volk in curiae aufteilte und, wie Livius feststellte, sie nach diesen Frauen benannte.[18]
Tacitus schreibt in den Annalen von der Existenz einer sehr frühen Claudia, einer »Claudia Quinta, deren Standbild von unseren Vorfahren im Tempel der Mutter der Götter geweiht war; seitdem -war die Claudische Linie heilig und zählt zu den Gottheiten.«[19] Es gab zweifellos auch eine frühe Julia, deren Namen in Vergessenheit geraten ist, wie es auch mit Claudia geschehen wäre, hätte Tacitus sie nicht nebenbei erwähnt.
Romulus selbst war nur deshalb rechtmäßiger König Roms, weil seine Mutter Rhea Silvia eine etruskische Prinzessin war. Um die Ausübung ihrer rechtmäßigen Herrschaft oder gar die Zeugung rechtmäßiger Erben zu verhindern, hielt der Usurpator Amulius sie bei den Vestalinnen gefangen. Aber trotz aller seiner Vorsichtsmaßnahmen konnte der Gott Mars Rhea erreichen, und sie gebar die Zwillinge Romulus und Remus. Und so wurde aufgrund matrilinearer Erbschaftsfolge Romulus König von Rom.
Diese Geschichte erinnert an König Akrisius von Argos in der griechischen Mythologie. Denn dieser König hielt seine Tochter Danae in einem bronzenen Turm gefangen, um eine Ehe zu verhindern, die ihn des Thrones, den er durch die Verheiratung mit der Königin erworben hatte, beraubt hätte. Aber Zeus kam zu ihr in einem Regen von Gold und sie wurde die Mutter des Perseus. Perseus ist ebensowenig eine mythologische Figur wie Romulus. Obwohl beide Könige an das Legendäre grenzen, waren sie unbestrittene echte, geschichtliche Persönlichkeiten. Perseus herrschte im 14. Jahrhundert in Mykene und Romulus im 8. Jahrhundert in Italien. Beide Legenden wurden mythologisiert, um ihre wirkliche Bedeutung zu verdecken: das absolute Recht der Tochter auf den Thron und die Machenschaften ihrer männlichen Verwandten, ihr dieses Recht vorzuenthalten.