Abend - «Ich bin keine Poetesse»

Dem Sonnenstrahl gilt mein Gebet-
Dem zarten, graden, blassen.
Am Morgen bin ich stumm und steh
Als wär mein Herz, gespalten.
Auf meinem Waschgefäß
Grünt des Kupfers Span?[36]
Anna Achmatowa (1909)

Im März 1912 erschien im Selbstverlag der neuen literarischen Gruppe in St. Petersburg Anna Achmatowas erster eigener Gedichtband Abend. Er vereinte knapp fünfzig kürzere und längere Texte, entstanden zwischen 1909 und 1911. Seine Auflage war klein und sehr bald verkauft.
Anna Gorenko hatte nach eigenen Aussagen schon mit elf Jahren, im Gymnasium von Zarskoje Selo, angefangen zu schreiben. Auch in der Kiewer Gymnasialzeit 1906/07 und den anschließenden Jahren als Hörerin in den Kiewer Höheren Frauenkursen 1908 bis 1910 hatte sie Gedichte geschrieben, aber sie waren offenbar so weinerlich, daß selbst der über beide Ohren in sie verliebte Gumiljow nicht imstande war, sie zu ertragen oder gar zu loben. Er hörte sie an, weil ich es war, beurteilte sie jedoch sehr negativ; er riet mir, mich für irgendeine andere Beschäftigung zu entscheiden. Er hatte recht: Ich schrieb damals wirklich grauenhafte Gedichte?[37] Erst bei der Korrektur von Annen-skijs «Zypressenholzschatulle» ahnte sie nach ihren Worten etwas von Poesie. Dies war nach der Rückkehr von ihrer ersten Parisreise. In jenem Jahr übrigens entschied sich Anna Gorenko wegen einer Intervention ihres Vaters für das Pseudonym «Achmatowa».
Um diesen Namen gibt es verschiedene Legenden. Am überzeugendsten erscheint uns, daß der Name Bezug nimmt auf den letzten Tataren-Khan, da mit Anna Gorenkos Geburtstag auch das Ende der Tatarenherrschaft in Rußland zusammenfiel. Anderen Legenden zufolge ist dieser Name einer Verwandten zuzuschreiben, die Tatarin gewesen sein soll. Das aber ist bisher nicht nachgewiesen.
Leser und Kritiker nahmen die neue Dichterin sofort freundlich auf. Leider stehen dem deutschen Leser ohne russische Sprachkenntnisse bisher kaum mehr als ein Viertel der Gedichte des Abend-Bandes zur Verfügung, so daß hier auch zusammenfassend und bes^relk bend eine Annäheruns versucht werden muß. Zunächst im einige Texte, zusammengestellt aus verschiedenen Ausgaben ersten Achmatowa-Anthologie.

Das Lied der letzten Begegnung

Mir war kalt, und ich glaubte zu sinken,
aber leicht war mein Schritt und gewandt.
Und ich streifte den Handschuh der Linken
verwirrt auf die rechte Hand.

Mir erschienen so zahllos die Stufen;
doch ich wußte: es waren vier!
Aus dem Ahorn herbstliches Rufen
bat mich flehend: «Stirb doch mit mir!

Grausam-launisch hat stets betrogen
mich das Schicksal. Es zürnte mir.» -
«Ich bin auch», rief ich aus, «belogen.
Wenn du stirbst, sterbe ich mit dir.»

Dies das Lied der letzten Begegnung!
Dieses Haus war so schwarz und kahl.
Nur im Schlafgemach gelb, ohne Regung
brannten Kerzen, teilnahmslos-fahl.[38]
(1911)

Das Kissen ist schon heiß

Auf beiden Seiten.
Der zweiten Kerze Weiß
Erlischt. Draußen gleiten
Raben mit lautem Gekrächz.
Ich habe nicht geschlafen,
Die Nacht geht vorbei...
Wie mich die Vorhänge trafen,
Weiß triebs herbei.
Sei gegrüßt![39]
(1909)

Halboffen die Türe,

Die Linden wehen süß ...
Auf dem Tisch vergessen
Die Gerte, der Handschuh.
Gelb von der Lampe ein Kreis.
Ich höre es rascheln.
Weshalb gingst du fort?
Ich verstehe es nicht...
Hell und froh wird
Morgen der Tag sein.
Das Leben ist schön doch,
Herz, sei jetzt auch klug.
Du bist sehr, sehr müde,
schlägst leise und dumpf...
Ich las, weißt du,
Daß Seelen unsterblich.[40]

Der grauäugige König

Ruhm dir, ewigwährender Schmerz!
Der grauäugige König ist nicht mehr.
Der Herbst war blutrot und drückend am Abend,
Mein Mann kehrte ruhig nach Haus und sagte:
«Weißt du, sie fänden ihn unter der Eiche,
Vier Männer trugen ihn von der Jagd
So jung ... Die Königin tut mir leid.
Sie ist in einer Nacht ergraut.»
Er fand die Pfeife am Kamin,
Er ging zur nächtlichen Arbeit fort.
So werde ich nun mein Töchterlein wecken,
Ihr in die Äuglein, die grauen, blicken.
Die hohen Pappeln rauschen im Hof:
«Dein König ist tot...»[41]
(1910; Nachdichtung: Sarah Kirsch)

Willst du wissen, wies erging ihr? -
Drei schlug es im Zimmer,
Und beim Abschied, das Geländer suchten schon die Finger,
Sagte sie, als ob sie mit sich ringe,
«Das ist alles ... Doch vor allen Dingen,
Dies: Ich liebe Sie, schon immer
Liebe ich Sie ja!»
«Ja.»[42]
(ohne Titel, 1910; Nachdichtung: Roland Erb)

Der Fischer

Arme nackt bis an den Bizeps
Und Augen blauer als Eis.
Stickig und beißend Teergeruch,
Wie die Bräune dir steht.
Ewig und immer ist offen
Der Kragen am blauen Hemd.
Die Fischerfrauen seufzen
Errötend vor dir.
Sogar das kleine Mädchen, das
Zur Stadt geht mit Sprotten,
Läuft abends verloren Die Bucht hin und her.
Blaß ihre Wangen,
die Arme schlaff,
Müde ihr Blick und tief,
Krabben kitzeln um ihre Füße,
Kriechend im Sand.
Sie kann sie schon nicht mehr
Fangen, mit langgestreckter Hand.
Immer stärker schlägt ihr das Blut,
Von Sehnsucht wund.[43]
(1911)

Den Zeitgenossen fiel diese neue Stimme unter den Petersburger Poeten schnell auf. Achmatowas selten verstecktes lyrisches Ich offenbarte freimütig die innere Welt einer jungen Frau mit einer ungewöhnlich anziehenden und klingenden, faszinierenden poetischen Stimme. Es führte eine widerspruchsreiche Gefühlswelt vor, eigenartig und magnetisierend, so nie gehört und doch in allem seit ewig vertraut. An ihrem ersten Gedichtband kann man heute noch feststellen, wie gut ihre Bilder sind. Es sind ganz im akmeistischen Sinn genaue poetische Fixierungen von wechselnden Stimmungen; von Trauer, Schmerz, Nichtfaßbarem, von Aufruhr, grenzenloser Sehnsucht, Verlorensein - ohne hinschmelzende Sentimentalität. Oh-Rufe gibt es ganz selten. In dieser Gefühlswelt fanden sich damals viele junge Leserinnen und Leser wieder. Für sie wurde die Achmatowa zum Inbegriff der modernen jungen Frau. Sie ahmten die Achmatowa bis in Gesten, Stimme und Kleidung nach. Das verflog zwar bald wieder, die Wirkung vieler ihrer Gedichte, die den Leser dadurch emotionalisieren konnten, daß sie dessen eigene Erlebnisse m der Erinnerung erwachen ließen, blieb. Sie hatten eine solche Anziehungskraft, daß man sie auswendig lernte. Der «Achmatowa-Kult» betraf verständlicherweise vor allem jüngere Frauen. Sie fühlten sich durch dieses Sprechen aus ihrer Mitte heraus verstanden, vertreten -und auch ermutigt.
Ein Geheimnis ihrer Wirkung waren mit Sicherheit die nicht abgenutzten einfachen und doch seltenen und edlen, aber ganz und gar nicht erzwungenen Wörter und Bilder. Sie kamen wie selbstverständlich aus einer jedermann verständlichen Umwelt, Landschaft und einfachen Dingwelt. Es waren allbekannte Gerüche und Geräusche, Farben und Licht, das Atmosphärische, Schrilles und Stilles. Ihr elegischer Ton läßt nichts zerfließen, er bannt und zähmt die Gefühle, nimmt ihnen ihre chaotische Gewalt.
Das folgende mehrteilige und umfangreichste Gedicht des Bandes kann auch noch in seiner interlinear wiedergegebenen Form unsere Aussagen anschaulich machen. Der Text ist der Frau ihres ältesten Bruders Andrej Gorenko, Maria Alexandrowna, gewidmet.

Betrug
Für M. A. Gorenko
I
Von Frühlingssonne trunken dieser Morgen,
Auf der Terrasse hörbar - Duft von Rosen,
Der Himmel klarer als Fayencen.
Ein Band in weichem Saffianleder;
Ich les darin die Elegien und Stanzen,
Für meine Großmutter geschrieben.
Ich seh den Weg zum Tor, die Pforten
Glänzen weiß und deutlich im smaragdnen Rasen.
O, wonnig blind verliebt mein Herz,
Freude schenken bunte Beete,
Am Himmel schwarz ein Krähenschrei,
Am Ende der Allee der Bogen eines Kellers.
II
Heiß weht der schwüle Wind,
Die Sonne hat die Hand verbrannt,
Das Luftgewölbe über mir
Ist blauer noch als Glas;
Trocken duften Immortellen
Im zerfransten Zopf.
Am Stumpf der rauhen Tanne
Eine Ameisenstraße.
Faul glitzert der Teich im Silber,
Mein Leben ist wieder leicht...
Wen träume ich mir heute
Ins bunte Hängemattennetz ?
III
Blauer Abend. Die Winde sanft gelegt,
Ein helles Licht ruft mich nach Haus.
Ich rate, wer dort ist? Der Bräutigam
Doch nicht, mein Liebster...?
Bekannt die Silhouette, 
Kaum hörbar leises Sprechen.
O, schöne Mattigkeit, die hab
Ich bisher nicht gekannt.
Die Pappeln rauschen aufgeregt,
Zärtliche Träume suchen sie auf.
Der Himmel wie krähenschwarzer Stahl,
Blaß glanzlos sind die Sterne.
Ich trag mein Bukett mit weißen Levkojen.
Verborgen heimliches Feuer darin,
Wenn er die Blumen aus ängstlicher Hand
Nimmt, fühlt er die Wärme von mir.
IV
Ich habe die Worte geschrieben,
Die ich lange nicht sagen konnte.
Dumpf schmerzt mir der Kopf,
Seltsam stumm wird mein Leib.
Verstummt ist das Jagdhorn fern,
Im Herzen dieselben Rätsel noch,
Leichter Herbstschnee lag
Auf dem Krocketplatz.
Solln doch die letzten Blätter rauschen!
Solln die Gedanken mich quälen!
Ich will nicht stören
Den, der das Scherzen gewöhnt ist.
Den geliebten Lippen verziehen
Hab ich den grausamen Scherz.
O, Ihr werdet zu uns kommen
Morgen zur ersten Schlittenpartie.
Kerzen brennen in der Diele,
Zärtlicher ihr Glänzen tags.
Ein ganzes Bukett wird sein:
Rosen aus der Orangerie.[44]
(1910; Übertragung: Wolfgang Hässner)

Der Abend-Band der Achmatowa bedeutete kein bewußtes Eingreifen in poetologisch-literarische Auseinandersetzungen und Richtungskämpfe. Ihre Verse waren schon da, ehe es die akmeistische Programmatik gab. Sie spiegeln das vielschichtige Psychogramm einer zwanzigjährigen jungen Frau wider, wie das von Achmatowa später erst hinzugefügte Epigraph für den ganzen Band verdeutlicht. Es hieß: Der Weinstock erblüht / Und ich werd heute abend zwanzig (Andre Therier)
Sicher hat Olga Obuchowa recht, die auf der ersten Achmatowa-Konferenz davor warnte, die Dinge allzu kurzschlüssig zu sehen: «Die von Achmatowa in der ersten Person geschriebenen und mit achma-towscher Genauigkeit dargestellten Situationen, Landschaften, diejeweilige psychologische Atmosphäre erscheinen dem Leser autobiographisch; die lyrische Heldin wird in seiner Vorstellung völlig mit der Person des Autors identifiziert. Bei einer retrospektiven Analyse von Achmatowas Frühschaffen jedoch zeigt sich, wie ungenau eine solche Identifizierung ist. So begegnen uns in <Abend> wie auch in den folgenden Gedichtbänden die verschiedensten Versuche der Autorin, äußere und innere Gestalten ganz anderer Art als die eigenen auf sichzu beziehen.»[45] Wenn von Frische die Rede ist, so kommtsie von der Unmittelbarkeit ihrer Bilder, die meistens frei sind von Kommentaren und Reflexionen. Lapidar wird der Katalogpoetischer Realien aufgeschlagen: Dinge, Orte, Blumen, Bäume, Geräusche, Lichterscheinungen sollen die Gefühle bezeugen und beim Leser neu hervorrufen oder in Erinnerung bringen. Jedes Gedicht ist wie eine kleine lyrische Novelle. Wie ein «lyrisches Tagebuch» erscheint, was in dem Band an Situationen der Liebe, psychischen Erlebnissen, Geschehensorten und Zeiten in einer Überfülle geboten wird. Die Gedichte sind in der Form meist einfach. Vorherrschend sind volksliedhafte Strophen aus vier kreuzreimverbundenen Versen, mit wenigen Enjambements und Inversionen. Es fließt alles leicht dahin, wie elegisch die Stimmung in den Texten auch sein mag.
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschien Achmatowas zweiter Gedichtband Rosenkranz (Cetki) in einer Auflage von 1100 Exemplaren. Die Wahl des bekannten Kultgegenstands - im Hinduismus, Buddhismus und katholischen Christentum als oft sehr individuell gestaltete Perlen- oder Knotenschnur für stille Gebetsübungen benutzt - erscheint auf den ersten Blick überraschend, denn etwa sechzig Gedichte dieses Bandes, vorwiegend aus den Jahren 1912 und 1913, verweigern sich religiöser Thematik im traditionellen Sinn. Achmatowa setzte «ihr» Thema fort: verletzte Liebe, Trennungsschmerz, der Andere - die Andere. Die junge lyrische Heldin kennt Todessehnsucht und Todesahnung. Einige Gedichte dieses Bandes brachten den für die akmeistische Richtung charakteristischen Topos «Stadt» - nach ersten Anklängen im Band A bend - neu in Achmatowas Dichtung ein, in der er dann einen zentralen Platz behalten sollte. Neben St. Petersburg waren es die von ihr 1910/11 besuchten italienischen Städte Florenz und Venedig, die zunächst in ihren Versen auftauchten. Noch auffälliger als diese thematische Neuerung waren aber Grundton und Gestus in diesem Band: Text um Text klingt ihre lyrische Stimme fester, ja härter und hin und wieder leicht ironisch. Selbstzuspruch, Ermutigung und Befreiung von einer inneren Last, von einem Trauma kehren als Motive in immer neuen Variationen wieder.
                                                      

Ihr tatsächliches, eigenes Leben in diesen Jahren war beinahe die einzige Quelle, aus der sie ihre lyrischen Anregungen schöpfte. Immer kraftvoller klang in ihren Versen der Selbstzuspruch auf der einen Seite, immer deutlicher aber auch die Verzagtheit, das ihr aufgebürdete Schicksal wenden zu können, auf der anderen. Gründe für diesen inneren Aufruhr muß man in ihren komplizierten Partnerbeziehungen suchen. Dabei kam in dieser Zeit das Verhältnis zu ihrem Ehemann Gumiljow schon kaum noch als lyrisches Motiv zum Tragen. Es war beiden längst klargeworden, daß für sie ein übliches «bürgerliches» Familienleben trotz ihres gemeinsamen Sohnes unmöglich war.
Bald nach dem Erscheinen der Rosenkranz-Gedichte zerstörte der Erste Weltkrieg ihre Beziehung vollends. In den ersten beiden Kriegsjahren trafen sie sich noch gelegentlich auf dem Gut der Schwiegermutter in Slepnjowo bei Twer, wo Achmatowa mit ihrem am 1. Oktober 1912 geborenen Sohn Lew (genannt Ljowa) ein eigenes Zimmerchen bewohnte. Aber auch das hörte schließlich auf.
Jeder der beiden jungen Dichter war ein eigenwilliger, egozentrischer Charakter, von seinem künstlerischen Talent absolut überzeugt. Beim geringsten Versuch einer Bevormundung oder Kritik kam es zu heftigen gegenseitigen Reaktionen. Dazu belastete die patriarchalische Atmosphäre auf dem Gumiljow-Gut Anna Achmatowa zusätzlich. Ständig hatte sie die Vorwürfe der Schwiegermutter wegen mangelnder Sorge um ihr Kind anzuhören.
So kann man sich die gespannte Atmosphäre dieser Jahre vorstellen, die den emotionalen Hintergrund vieler Gedichte prägte. In Achmatowas erster Ehe trafen zu viele Belastungen aufeinander. Das überforderte die junge Frau psychisch. Auf dem Gut war sie eine Fremde, ein exotischer Vogel. Zu den Streitereien und Eifersuchtsszenen kam noch ihre Unfähigkeit zu allen praktischen Verrichtungen im Haushalt.
Diese Tatsache sollte man keiner moralisierenden Bewertung unterziehen. Wesentlich ist eher, daß man deren künstlerisch-produktive Verarbeitung und Sublimierung bei beiden Dichtern ins Zentrum des Interesses stellt. Anna Achmatowa hat Nikolaj Gumiljow als Künstler hochgeschätzt und später gegen Verunglimpfungen zu verteidigen gewußt. Das vertrug sich durchaus mit ihrer Kritik an seinem Abenteuer- und Reisewahn, an seiner Befangenheit im Kriegsmythos und im Exotischen.
Um das Jahr 1913 rückten andere Persönlichkeiten des literarischen Lebens von Petersburg ins Zentrum von Achmatowas Interesse. Eine besondere Rolle unter diesen sollte Nikolaj Nedobrowo (1884-1919) spielen. Er gehörte als Lyriker und Publizist in Petersburg zum engsten Kreis der Dichterin. Sie war mit seinen Bewertungen ihrer Dichtung sehr einverstanden. In einer ersten gründlichen Arbeit über ihr Werk war er zu anderen, tieferlotenden Einschätzungen als seine Zeitgenossen gekommen. Später sagte Achmatowa einmal, in Aufzeichnungen von 1963, daß Nedobrowo der einzige war, der ihr Wesen richtig erkannt habe. Nach Kenntnis ihres Rosenkranz-Bandes, zu dem er ein Vorwort geschrieben hatte, verfaßte er einen längeren Essay. Die wichtigste darin enthaltene Aussage war, daß er in ihrer Dichtung eine starke Kraft und Härte, ja geradezu Grausamkeit auszumachen glaubte. Die in Liebeslyrik von Frauen übliche Weinerlichkeit sei der Achmatowa fremd. Nedobrowos Feststellung bleibt bis heute eine treffende, ins Wesen zielende Merkmalsbestimmung. Wichtig ist auch seine - später von der offiziellen sowjetischen Kulturpolitik heftig bestrittene - Feststellung, daß die Achmatowa besondere Beachtung verdiene, weil sie in vielem den Geist der neuen, jungen Generation Rußlands zum Ausdruck bringe und ihr Werk von dieser Generation geliebt werde. Nedobrowo hat in Achmatowas Dichtung durch mehrere Widmungsgedichte einen wichtigen Platz erhalten. Sie hat in dem schwer erkrankten Freund auch einen Leidensgenossen gesehen. Er starb 1919 mit dreiunddreißig Jahren an offener Tuberkulose.
Zu den besonders wichtigen Zeitgenossen für Achmatowa gehörte ferner der Petersburger Lyriker und Übersetzer Michail Losinskij (1886-1955).[46] Achmatowa war mit ihm in der «Dichterzunft» 1911 bekannt geworden. Im Rosenkranz-Band, dessen Redakteur er als Sekretär der Zeitschrift «Apollon» war, findet man das folgende Widmungsgedicht:

Er dauert ohne Ende - der schwere Bernsteintag!
Unmöglich jetzt die Trauer, und nutzlos jetzt das Warten!
Und wieder spricht mit Silberstimme der Hirsch
Vom Nordlicht - in der Tierschau.
Ich glaubte, es gibt den kühlen Schnee für die
Und den Taufstein, die bettelarm und krank sind
Und diese ungewisse Fahrt der kleinen Schütten
Im Gedröhn der fernen alten Glockentürme.[47]
(ohne Titel, 1912; Übersetzung: Wolfgang Hässner)

Zusammenhänge mit realen Geschehnissen sind in diesem Tex schwer auszumachen. Er fasziniert im Russischen durch seine s- und z-Klangbrücken. Er ist geheimnisvoll, vermittelt zugleich, wie eine geschichtliche Dimension in Achmatowas Dichtung kommt, hier getragen vom Topos der russischen Glockentürme.
Losinskij, dem genialen Übersetzer von Dantes «Göttlicher Komödie» und einiger Shakespeare-Tragödien («Macbeth», «Hamlet»), widmete Anna Achmatowa 1965 auch einen kleinen Essay anläßlich seines zehnten Todestages - In der schweren und verdienstvollen Kunst des Übersetzens war Losinski für das 20. Jahrhundert das was  Shukowski fürs 19. Jahrhundert war. Freunden war Michail Losinski sein Leben lang unendlich verbunden. Immer und in allem war er bereit, Menschen zu helfen, Treue war sein wichtigster Charakterzug. Als der Akmeismus geboren und Michail L. uns besonders nahe war, wollte er sich dennoch nicht vom Symbolismus trennen, wurde Redakteur unserer Zeitschrift «Hyperhoreus» und eines der wichtigsten Mitglieder der «Dichterzunft» - und unser aller Freund.[48]
In der Rosenkranz-Sammlung gibt es noch weitere Widmungsgedichte für verschiedene Petersburger Künstler wie Boris Anrep, Olga Glebowa-Sudejkina, Walerija Sresnewskaja. Auf Zusammenhänge mit Achmatowas Leben und Schaffen kommen wir an späterer Stelle zurück.
Das folgende, Gumiljow gewidmete Gedicht zeigt etwas von der Grundstimmung des ganzen Bandes:

Im Ranzen war'n die Bücher und Lineale,
Ich kehrte aus der Schule heim.
Die Linden haben sicher nicht vergessen
Unsern Treff, mein fröhlicher Junge.
Nun hat sich's graue Schwänlein
Zum stolzen Schwan gewandelt.
Auf mein Lehen hat sich für immer
Die Trauer gelegt. Die Stimme ist tonlos.[49]
(ohne Titel, 1912; Übertragung: Wolfgang Hässner)

Die Rosenkranz-Gedichte haben die Achmatowa in Rußland endgültig berühmt gemacht und gehören heute zum bleibenden Schatz, den russische Lyrik in die Weltliteratur eingebracht hat. Es sind meistens leidenschaftliche Offenbarungen, oft Gebeten gleich in ihrem heilig-ernsten und eindringlichen Ton. Die nuancenreiche Palette an Emotionen und Gedanken, die diese Texte vermitteln, zeigt in ihrer Vielfarbigkeit zugleich auch eine erstaunliche innere Ausgewogenheit, Achmatowas Vermögen, Leiden und Widerstehen, Selbstaufgabe und Selbstbehauptung in ihrer Dialektik zu erfassen. Wie die folgenden drei Strophen eines ihrer bekanntesten frühen Gedichte zeigen, gelingt ihr das nicht selten in einem einzigen Text.

Wir werden nicht aus einem Glase trinken,
Nicht Wasser trinken wir, nicht süßen Wein,
Wir werden morgens nicht im Kuß versinken
Und abends nicht am Fenster schauend sein.
Dich muß die Sonne, mich der Mond bescheinen,
Und doch weiß eine Liebe uns zu einen.
Mit mir ist stets mein Freund, der gut und treu,
Mit dir der Freundin Ausgelassenheiten.
Doch versteh der Augen Angst und Scheu,
Und du hast alle Schuld an meinem Leiden.
Wir wollen uns nicht häufig sehn - wozu?
Wir sollen sie bewahren, unsre Ruh.
Nur deine Stimme zieht durch mein Gedicht,
Durch deine Verse wird mein Atem wehen.
Ein Feuer gibt's, zu dem wagt nicht zu gehen
Die Angst, gesellt sich das Vergessen nicht.
O wenn du wüßtest, wie sie mich entzücken,
Wenn rosarot und trocken deine Lippen [50] 
(ohne Titel, 1913; Nachdichtung: Kay Borowsky)

Die polnische Achmatowa-Forscherin Jadwiga Szymak-Reifer schreibt: «Bei Achmatowa ist die Frau nicht mehr die edle Dame sondern die geheimnisvolle, die sündige Unbekannte.»[51] Gumiljow wußte am besten, daß Achmatowa mehr und mehr davon überzeugt war, für alle liebenden Frauen zu fühlen und zu schreiben, mit dem Geheimnisvollen der Liebe umzugehen. Gemeint waren in den Rosenkranz-Texten,  trotz der Rückgriffe auf orthodox-religiöse Bilder und Vokabeln, keine mystisch-dunklen Geheimnisse der Liebe, sondern die Dimensionen der irdischen Liebe, deren Höhen und Tiefen sie selbst erfahren hatte. In ihrer eigenen Liebe glaubte sie die der anderen Frauen aufgehoben und sich berufen zur poetischen Artikulation. So erscheint in diesen Gedichten Liebe in ihren unerschöpflichen, geheimnisvollen Bewegungen, Wendungen oder als Zustand in je neuem poetischen Glanz, in neuer, so nie dagewesener Welt der Gefühle, in unabgenutzter Sprache. Diese entzog sich allerdings jeglicher thematisch-pragmatischer Enge, etwa weiblicher «Lebenshilfe» oder aggressiv-feministischer Töne. Die Anziehungskraft ihrer Verse auf Leserinnen und Leser rührte vom Ausdruck des Menschlichen in ihrem Sprechen her.
Dieser zweite Gedichtband Achmatowas war von ihr einem Zeitgenossen Puschkins gewidmet worden, Jewgenij Baratynskij [52] (1800-1840), dessen elegischer Grundstimmung und psychologischer Genauigkeit sich die junge Dichterin verpflichtet fühlte. Ihr Epigraph lautete: «Verzeih für immer! Doch wisse / Zwei Schuldige, / Nicht nur den einen, findest du / In meinen Versen und Sendschreiben / Der Liebe.» (Baratynskij)
Der Rosenkranz-Band erschien im Frühjahr 1914 in Petersburg, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, den Achmatowa wie viele ihrer Zeitgenossen in Europa als drohendes Unheil und Ende aller Tradition und Kultur nahen sah. Auch davon kündete diese Gedichtsammlung.
Gumiljow meldete sich, seinem Kriegs- und Männlichkeitskult folgend, sofort nach Rußlands Kriegserklärung als Freiwilliger. Er kam ins Ulanen-Regiment der Leibgarde des Zaren und wurde zur Ausbildung ins nahegelegene Nowgorod [53] geschickt. Zu dieser Zeit war seine romantische Begeisterung für den Krieg als männlich-patriotische Bewährungsprobe noch ungebrochen. Seine «Aufzeichnungen eines Kavalleristen» (1915/16) bezeugen das. In Nowgorod hat er sich noch einige Male mit seiner Frau getroffen. Anna Achmatowa reiste mit ihrem zweijährigen Sohn für eine Zeit dorthin, die Spannungen zwischen den Eheleuten wurden aber damit nicht gemindert.
In mehreren biographischen Notizen über Gumiljow finden sich übereinstimmend Aussagen, daß er bei seinen Fronteinsätzen in den ersten beiden Kriegsjahren durch große Tapferkeit auffiel, wofür ihm zweimal die höchste militärische Auszeichnung Rußlands, das Georgskreuz, verliehen wurde. Im weiteren Kriegsverlauf rissen die Kontakte Achmatowas zu ihm schließlich ganz ab. Gumiljow wurde entgegen seinem drängenden Ersuchen nicht an die Front nach Griechenland versetzt, er hatte in Paris zu bleiben, wo er Adjutantendienste beim Militärvertreter der Kerenskij-Regierung leistete. Ein Jahr später wiederholte sich ähnliches: Ein gewünschter Einsatz an der Nahostfront kam nicht zustande, statt dessen mußte er 1918 auf abenteuerliche Weise über London und Murmansk nach Petrograd zurückkehren, wie Petersburg unterdessen in russifizierter Fassung genannt wurde.
Achmatowa verbrachte die meiste Zeit des Krieges, auch die Monate der beiden russischen Revolutionen vom Februar und Oktober 1917, auf dem Gut der Gumiljows in Slepnjowo. Dort entstanden zwischen Sommer 1914 und Frühjahr 1917 die meisten Gedichte ihres nächsten Sammelbandes Der weiße Schwärm (Belajastaja), der im Verlag der Zunft wenige Wochen vor der Oktoberrevolution erschien.[54] Das war auf lange Zeit ihre letzte und wichtigste künstlerische Leistung, und es war wie ein böses Schicksal, daß ausgerechnet dieser Band den chaotischen Verhältnissen der Revolutionszeit zum Opfer fiel. Er wurde nur in wenigen Exemplaren, vorwiegend unter Achmatowas Freunden und Bekannten, verbreitet. Rußlands gesellschaftliches Leben versank 1917 im Chaos der revolutionären Wirren und Machtkämpfe. Hungerrevolten und Meutereien hatten die militärische Disziplin völlig zersetzt. Wirtschaft und Verkehr waren weitgehend zusammengebrochen. Der zaristische Staatsapparat löste sich auf. Unter diesen Umständen waren Nachrichten aus dem literarischen Leben wohl mit das Entbehrlichste, was man sich hätte vorstellen können.
Für die Achmatowa hatte die Nichtverbreitung ihres jüngsten Werkes tragische Folgen. Die Unkenntnis über die neuesten Entwicklungen ihres Schaffens sogar in literarischen Fachkreisen erleichterte es der Kulturpolitik der Kommunistischen Partei ab Mitte der zwanziger Jahre, ihr Werk fast unwidersprochen zu verleumden. Wer hätte ohne Werkkenntnis die Lüge vom Erlöschen der schöpferischen Kräfte der Achmatowa widerlegen können? Wie hätte jemand den vernichtenden Vorwurf entkräften können, Achmatowas Dichtung erschöpfe sich in banaler Gefühlsduselei im Stil kleinbürgerlicher Kammerlyrik und sei für die neue revolutionäre Zeit entbehrlich oder gar schädlich?
Heute ist nicht schwer zu erkennen, daß sich mit den Gedichten im Weißen Schwarm Achmatowas künstlerisches Blickfeld nach mehreren Richtungen hin erweitert hatte. Eine werkgerechte Betrachtung, wie sich dieser Prozeß thematisch und formästhetisch vollzogen hat, ist nun möglich und wichtig, ebenso wie eine Analyse, aus welchen Motiven ihre Dichtung von der offiziellen Kulturpolitik weitgehend und fast bis an ihr Lebensende geächtet worden ist. Achmatowas Gewinn an künstlerischer Sicht, an philosophischer und historischer Tiefe ihrer Gedichte führte nicht wie bei anderen Schriftstellern und Dichtern der Revolutionszeit zum Umbruch ihres Schaffens und, verbunden damit, zum eigenen Verwerfen des bis zur Revolutionszeit Geleisteten. Ihr Werk kennt nur Übergänge, allmähliche Entwicklungen zwischen den verschiedenen Gedichtsammlungen. Für die meisten Kulturpolitiker der Kommunistischen Partei war Achmatowas Insistieren auf Kontinuität zwischen vorrevolutionärem und nachrevolutionärem Schaffen unvereinbar mit dem marxistischen Dogma vom Umsturz aller materiellen und geistigen Verhältnisse und Werte in der proletarischen Revolution.
Die Dichterin wollte und konnte nicht mit vordergründigen Bekenntnissen zur Oktoberrevolution und der neuen bolschewistischen Partei aufwarten. Demonstratives politisches Parteiergreifen widerstrebte ihrem Charakter und ihrem Kunstbegriff. Sie sah keine Veranlassung, sich politisch anzubiedern. Politik war im übrigen für ihr Verständnis eine Dimension, die mit Kunst wenig zu tun hatte. Zu betonen ist, daß Anna Achmatowa selbst bis Mitte der zwanziger Jahre weder negative noch positive Erfahrungen mit Politik und Macht sammeln konnte.
Um Mißverständnissen zuvorzukommen, folgen einige Überlegungen zum Titelbild vom Weißen Schwarm, das nichts mit der damals geläufigen politischen Metapher <weiß> gleich konterrevolutionär zu tun hatte. Ein Gedicht von 1914 liefert einen ersten Zugang zu der bei Achmatowa mehrfach benutzten Farbmetapher <weiß>: Alles gehört dir: mein tägliches Beten / Die betäubende Glut meiner Schlaflosigkeit / Und meiner Verse weißer Schwarm / Das blaue Feuer meiner Augen?[55](ohne Titel; Übersetzung: Wolfgang Hässner) Ein anderer Text aus demselben Jahr: Eifersüchtig war er, besorgt und zärtlich / Wie Gottes Sonne liebte er mich / Doch daß er von früher aufhöre zu singen / Erschlug er meinen weißen Vogel?[56] (ohne Titel; Übersetzung: Wolfgang Hässner) In einem späteren Text formulierte sie: Wie ein weißer Stein in des Brunnens Tiefe/Liegt die Erinnerung in mir?[57] (ohne Titel, 1916; Übersetzung: Wolfgang Hässner) Achmatowa gründet ihre Bildsprache auf jahrhundertealte farbästhetische Konventionen, erweitert zugleich diesen Rahmen, indem sie ihn mit der widersprüchlichen, differenzierten Gefühlswelt des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts ausfüllt. Weiß ist so bei ihr zum einen generelle Metapher für das Poetische, Schöne, zugleich für das Flüchtige, Vergängliche des Glücks, das ihm schicksalhaft folgt, für Verlorenes, für die unstillbare Sehnsucht. Ihre Bilder entfernen sich sehr selten von der realen, gegenständlichen Welt. Sie bleiben im akmeistischen Sinne faßbar.
In Verbindung mit «Schwärm» wird das Rahmenthema ihrer dritten Gedichtsammlung sehr deutlich: Die einzelnen Gedichte widerspiegeln, einer Äußerung von Achmatowa zufolge, selbst einen Zug weißer Vögel am Himmel oder eine Herde weißer Tiere, die dahintreibt in ewiger innerer Bewegung. «Staja» bedeutet im Russischen Schwärm, Herde, Zug, Rudel und andere Tiergemeinschaften. In den annähernd hundert Texten der Sammlung finden sich Bedeutungen wie Sehnsucht nach Wärme, Geborgenheit, Gemeinschaft, auch das Verlangen nach Schwung, Ungebundenheit, Leichtigkeit, Freiheit. Zusammen mit dem biographischen Hintergrund der Dichterin und den verwirrenden Zeitereignissen in Rußland und Europa erlauben diese Gedichte dem Leser bis heute, eine reiche Welt eigener Assoziationen aufzubauen.
In der Sammlung dominiert nicht allein die Erinnerung an eine verlorene Liebe; das lyrische Ich versucht, mit den Belastungen der Vergangenheit zurechtzukommen durch Verdrängung, durch Selbstbezichtigung und Reue, es ringt um Selbstbeherrschung: Noch gestern verliebt / Bat er: Vergiß mich nie! / Heute nur noch die Winde / Und der Hirten Schreien / Rauschende Zedern / Reine Quellen.[58] (Trennung, 1914; Übersetzung: Wolfgang Hässner). In schwungvollen Distichen wünscht es: Besser war mir's, Tschastuschkis zu grölen / Für dich, die heisre Harmonika zu spielen / Und: im Fortgehn zur Nacht im Hafer / Das Schleifenband aus dem Zopf zu verlieren / Besser mir, dein Kindchen zu wiegen / Und für dich, 'nen Halbrubel Trinkgeld/ Und auf den Friedhof zu gehn am Gedenktag/ Und den Gottesflieder zu sehn, weiß.[59] (ohne Titel, 19L4; Übersetzung: Wolfgang Hässner) Oder unter dem Schrei eines am Herbsthimmel dahinziehenden Kranichschwarmes heißt es: Komm, Zeit ist's zu fliegen, s'ist Zeit.[60] (ohne Titel, 1915; Übersetzung: Wolfgang Hässner)
Im ernsten Dialog mit dem mütterlichen Gewissen bezichtigt sich das lyrische Ich der Unwürdigkeit, eine Mutter zu sein:

Wo, Schlanke du, ist dein Zigeunerkind,
Das geweint hat im schwarzen Tuch? 
Wo ist es, dein erstes kleines Kind?
Was weißt du von ihm denn noch?
Das Los einer Mutter - die reinste Plage,
Ich war ihrer niemals würdig.
Das Himmelreich öffnete seine Pforte,
Mein Söhnchen nahm Magdalena mit.
Alle Tage hier warn fröhlich und schön,
Hab mich im langen Frühling verlorn.
Nun suchen die Arme immer die Last,
Nun hör ich sein Schluchzen im Traum.
Matt wird mein Herz mir - und ist erregt,
Und nichts weiß ich von ihm dann mehr.
Ich irr durch die finsteren Zimmer,
Suche - sein Bettchen ist leer.[61]
(ohne Titel, 1914; Übersetzung: Wolfgang Hässner)

Auf die ihr eigene Art knüpft Achmatowa in Weißer Schwarm ein Band zur Geschichte. Einige historisch bedeutsame russische Städte werden Gegenstand poetischer Auseinandersetzung. Charateristisch dafür ist zum Beispiel der Text Kiew.[62] Als die Dichterin diese einstige Hauptstadt des ersten russischen Staatswesens, »Die Mutter der russischen Städte»[63]«, wie verlassen und ausgestorben sieht, formuliert sie: Hier end' ich meinen opferreichen, ruhmvollen Weg mit mir bist du nur, mir gleich,/Und meine Liebe [64](Kiew, 1914; Übersetzung: Wolfgang Hässner)   
Noch intensiver kommt St. Petersburg [65] ins Blickfeld, es ist ihr eigener Schicksalsort, und es ist seit den Zeiten Peters I. der geschichtliche Ort des modernen Rußland: Hier trafen wir das letzte Mal zusammen / Am Newaufer, wo wir immer waren / Hochwasser führte sie / In Angst vor Überschwemmung lag die Stadt./ Er redete vom Sommer und davon / Daß eine Frau ein Unding sei als Dichter / Da dachte ich zum Zarenschloß hinüber / Und zur Festung Paul.[66] (ohne Titel, Januar 1914; Übersetzung: Wolfgang Hässner
Damit sind Assoziationen an die Dekabristenerschießungen [67] und Verbannungen aufgerufen, auch an Repressionen gegen Dostojewskij, Puschkin, Lermontow und andere russische Dichter.
Wenige Tage vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte Achmatowa das Gedicht Juli 1914 geschrieben, das ihren auf Geschichte und Geschicke des Landes hin erweiterten Blick deutlich zeigt.

I.
Welch ein Brandgeruch schon seit vier Wochen
überm Moor, wo der Torf brennt, sich hebt.
Selbst der Vögel Gesang klingt gebrochen,
und kein Blatt an der Espe erbebt.
Und zur Plage des Herrn ward die Sonne -
nicht ein Tropfen bei Tag und bei Nacht.
Und vorbei ist ein Krüppel gekommen,
und im Hofe hat jemand gesagt:
«Weh, es nahen schreckliche Tage:
Frische Gräben - sie drängen sich dicht.
Es kommt Erdbeben, Hungersnot, Plage
und Verdunklung vom himmlischen Licht.
Nur: Um unsere Länder sich streiten
wird der Feind nicht; uns trifft nicht sein Fluch.
Über endlose Trauer wird breiten
die Madonna ihr schneeweißes Tuch.»

II.
Des Wacholders Duft tragen Winde
aus dem brennenden Wald herbei.
Die Soldatenfraun stöhnen um Kinder;
durch das Dorf tönt der Witwen Schrei.
Da das Land sich um Regen verzehrte,
nicht umsonst man den Himmel drum bat.
Warm fiel purpurnes Naß auf die Erde,
die das Heer der Feinde zertrat.
Leerer Himmel sinkt tief nach unten;
des Betenden Schrei klingt von weit:
«Deinen heiligen Leib sie verwunden,
Sie würfeln um Dein Gewand.»[68]
(entstanden in Slepnjowo, 20. Juli 1914;
Übersetzung: Wolfgang Hässner)

Achmatowas lyrisches Sprechen hatte angesichts der dramatischen Erschütterungen durch den Krieg eine neue Dimension angenommen. Sie fühlte sich berufen, aus der Gemeinschaft Betroffener unü Bedrohter heraus zu empfinden und zu sprechen. Sie betrachte e sich zu dieser Zeit trotz Kriegschaos als dem Schwärm zugehörig. Was ihr in diesem Gedicht mit Bildern erschütternder Prophetie gelungen war, glich einem Kassandraruf und Orakelspruch zug eic . Die zaristische Zensur verstand den Text sofort als Politrkum un ließ ihn durch Streichungen verstümmeln und entschärfen. In ihrem Gedicht Gedenken an den 19. Juli 1914 wurde ihr neues Sprechen zum «kollektiven» lyrischen Wir. Aber Übergänge vom Ich zum sind durchaus noch zu erkennen:
Um hundert Jahre wurden wir schon älter, / indes in einer Stunde dies geschah: / Rauch hob sich über aufgepflügte Felder: / schon war des kurzen Sommers Ende nah. / Und auf dem stillen Weg lag bunter Schimmer, / und Klage tönte silbern übers Land, / und tief verhüllt erflehte ich vom Himmel / zu sterben, eh' die erste Schlacht entbrannt.[69]
(ohne Titel, 1916;
Übersetzung: Wolfgang Hässner)
Dieser Übergang oder Wechsel zwischen Wir und Ich ist bei Achmatowa sehr selten und Ausdruck einer prinzipiellen Überzeugung: sie hielt nichts davon, das lyrische Subjekt als Ich in kollektivem Sprechen aufgehen zu lassen, gewissermaßen als in einer höheren Form lyrischer Äußerung. Welche Gründe auch immer eine solche Sprechweise in der Literatur gerechtfertigt haben mögen, Achmatowa fand sie zu anonym. Ohne ein lyrisches Ich zu offenbaren, wäre für sie der Dichter nicht denkbar gewesen.
Die beiden folgenden Texte zeigen, daß Schwärm im Sinne des geschichtlichen Orts Rußland auch Achmatowas geistig-emotionale Verwurzelung in orthodox-religiösen Traditionen bedeutete. Hier kommen diese Traditionen in Lexik und Gestus als Gebet, als Klage, als Selbsterniedrigung und als Psychologie des Leidens zur Geltung:

Gebet
Gib mir bittere Jahre des Leidens,
Ersticken, Schlaflosigkeit, Fieber!
Nimm mir mein Kind, den Freund!
Nimm mein geheimes Talent des Gesangs!
So bet ich Deine Liturgie
Nach all den qualvollen Tagen,
Daß überm dunklen Rußland die Wolke
Sich wandet in Helle und Glanz.[70]
(1915; Nachdichtung: Wolfgang Hässner)

Meinten wir doch: Wir sind Bettler und haben rein nichts,
Aber als man dann eins nach dem andern verlor,
So daß jeglicher Tag geriet
Zum Erinnerungstag,
Hob man zu dichten an
Von der schenkenden Großmut Gottes
und von unserem früheren Reichtum.[71]
(ohne Titel, 1915;
Nachdichtung: Rolf-Dietrich Keil)