Turbulenzen - Genesis der Dichterin

Wofür ich sang, wovon ich träumte,
Es hat mir nur das Herz zerrissen.[15]
Anna Achmatowa (1917)

Besondere Anziehungskraft für Biographen und Leser haben die frühen Jahre eines Dichters: Kindheitsmuster, die Mutter, der Vater, das Familienklima, Bildungsweg, Lehrer, Freunde, frühe Liebe; nicht zuletzt Landschaft, Natur, die Interieurs der Wohnung, die Sprache. Man liest vieles darüber und weiß doch immer zuwenig über das Geheimnis der Genesis des Künstlers. Bei der Achmatowa ist es nicht anders. Woher kommt ihr Talent? Woher ihre Fähigkeit, es zu entdecken und sich konsequent zu ihm zu bekennen? Wo müssen die Quellen gesucht werden, die die unwiederholbare ästhetische Welt ihres Werkes gespeist haben?
Es bleibt kaum ein anderer Weg zur Beantwortung der vielen Fragen, als eine möglichst große Vielfalt sozialer, psychischer und materieller Faktoren herauszufinden, um dadurch Annäherungen an das Geheimnis der Genesis des Künstlers zu erreichen. Nicht unbeachtet dürfen auch die Aussagen der Achmatowa über sich selbst bleiben. Ihre Biographin Jelena Kusmina ist der Ansicht, daß früher oder später jeden Künstler der Erklärungszwang gegenüber der eigenen Person und dem Werk erfaßt. Dann komme es nicht selten, wie auch bei der Achmatowa, zur Legendenbildung um die eigene Person und die Wurzeln des Talents. Das Vergnügen daran sei offenbar groß und habe viel mit künstlerischer Phantasie zu tun. Man wird sehen, wie Anna Andrejewna Gorenko, die spätere Achmatowa, das betreibt, mit welchem Vergnügen, mit welcher Ironie, manchmal spielerischlistig, manchmal selbstsicher und ernsthaft. Die Arbeit an der eigenen Legende wird Teil des künstlerischen Schaffensprozesses und verwebt sich untrennbar mit ihrem Werk.
Die sogenannte «immanente Schule», eine literaturwissenschaftliche Richtung, verlangte einst, sich einzig mit dem Werk des Autors zu beschäftigen, mit Textstrukturen, Sprachformen, Botschaften und dergleichen, alles ohne Betracht der realen Biographie des Autors. In unserer Monographie wird ein anderer Weg gegangen: es wird versucht, eine Art Koordinatensystem wichtiger Faktoren zu finden, in dem sich Persönlichkeit und Werk der Dichterin gebildet haben und das zugleich Veränderungen beschreibbar macht.
Überblickt man mit diesem Ansatz Anna Achmatowas fast acht Lebensjahrzehnte von 1889 bis 1966, fällt als erstes ihre Zeugenschaft in einer an Ereignissen, Wendepunkten und Katastrophen kaum mehr zu überbietenden Zeit ins Auge. Aus der für sie geltenden Perspektive betrifft das: die Agonie des russischen Zarismus und Rußlands totale Katastrophe; drei Revolutionen, die die Zerstörung jahrhundertelang bestimmender wirtschaftlicher, politischer und kultureller Traditionen zur Folge hatten; zwei Weltkriege; stalinistischen Personenkult und Massenrepressalien.[16]
Wichtiger aber noch als die bloße Zeitzeugenschaft ist, daß Anna Achmatowa stets direkt von den Ereignissen betroffen war. Sie war als Zeitgenossin immer auch Leidensgenossin.
So wie sie eines Tages ihre Biographin Lidija Tschukowskaja mit der Äußerung schockierte, sie sei im selben Jahr wie Hitler geboren, aber sogleich mit dem Hinweis beruhigte, das sei auch das Geburtsjahr von Charlie Chaplin, so notierte sie es in ihren Erinnerungen: Ich bin mit Charlie Chaplin, Tolstojs «Kreutzersonate», Hitler [...] zur Welt gekommen.[17] Auf diesen Bezug, den sie meistens ironisch artikuliert hat, ist sie später wiederholt zurückgekommen und hat ihn mit sichtlichem Vergnügen über die Jahre hinweg weiter ausgesponnen: 1889 wurde auch die chilenisch-indianische Schriftstellerin Gabriela Mistral geboren (die von der Achmatowa in späteren Jahren verehrt und bewundert wurde); und 1889 wurde der Pariser Eiffelturm als triumphales  Symbol für  Industriegesellschaft und Technikoptimismus erbaut; schließlich war 1889 die hundertste Wiederkehr der Französischen Revolution ... Sie sah in all diesen Bezügen etwas für sie Wesentliches. Außerdem hatten diese Synopsen etwas von einem schönen Spiel. Irgendwann später fiel ihr dazu immer wieder etwas ein, zum Beispiel, daß ihr Geburtstag der geheimnisumwitterte heidnische Johannistag sei. Ihre Phantasie hat eine für sie spannende Legende geschaffen, in der sie Platz nahm oder sich beeinflußt und eingeschlossen sah. Ohne die verschiedenen mythologisch-phantastischen Anreicherungen ihres Lebens sollte sie in Zukunft nicht mehr auskommen.
Von allen bisherigen Achmatowa-Biographen und von ihr selbst wissen wir, daß sie keine schöne, behütete, von Poesie und Kunst erfüllte Kindheit gehabt hat. Sicher stimmt es, daß ihre sanfte, gütige, zugleich immer zerstreute und in sich gekehrte Mutter Inna Eras-mowna ihr erste Begegnungen mit russischer Poesie verschaffte. Sie las ihren Kindern gern aus dem Poem des volkstümlichen Dichters Nikolaj Nekrassow «Frost Rotnase» vor. Das war aber keine gezielt ausgewählte Lektüre; späteren Äußerungen Achmatowas zufolge war dies überhaupt das einzige Buch im Hause Gorenko, ein Geschenk von Inna Erasmownas erstem Mann, der sich 1881 erschossen hatte, um Verhaftung und Verbannung zu entgehen. Er war Mitglied der Terrororganisation «Narodnaja Wolja» (Volkswille) gewesen, die 1881 den Zaren Alexander II. ermordet hatte.[18]
                                                             

                 

In der Gorenko-Familie war kein Klima für rosenrote Kindheit und Harmonie, entnimmt man einem von Achmatowas Gedichten. Turbulenzen bestimmten das Familienklima ständig. Vor allem der Vater, der Maschineningenieur bei der Marine war, trug diese hinein. Andrej Antonowitsch Gorenko war ein unsensibler, dominanter und wahrscheinlich auch jähzorniger Mann. Anna hat ihren Vater nie geliebt, wohl nicht einmal wirklich achten können. Er ist 1915 bereits gestorben. Inna Erasmowna überlebte ihn um fünfzehn Jahre. Die meisten ihrer Kinder starben früh, drei ihrer vier Töchter an Tuberkulose, ein Sohn nahm sich wegen des Malariatodes seines Kindes das Leben. Nur Anna und ihr jüngerer Bruder Viktor blieben aus der großen Gorenko-Familie übrig. Viktor starb im Jahre 1976 als Bürger der USA. Er hatte ein sehr abenteuerliches Leben geführt, worüber er zwei Jahre vor seinem Tod in einem ausführlichen Interview berichtet hat. Darin sind auch interessante Erinnerungen an seine Schwester Anna zu finden, mit der er noch 1964/65 einige Briefe gewechselt hat.[19]
Die Turbulenzen und tragischen Ereignisse in der Familie haben Anna Achmatowa ihr Leben lang wie ein Trauma begleitet. Sie trugen sicher auch mit dazu bei, daß sie selbst zu einem harmonischen Familien- bzw. Eheleben nicht imstande war. Weitere Spannungen kamen hinzu, als die Eltern wegen einer Dienstversetzung des Vaters in die Nähe von Petersburg übersiedelten.
Vom Süden, vom Schwarzen Meer, von der besonderen Landschaft und Kultur dieser Gegend mit ihrer langen historischen Tradition hat Anna Achmatowa erst aus späteren Jahren, von den Sommcraufent-halten dort, tiefere Eindrücke empfangen. Zunächst wurde die ästhetische und soziale Realität von Zarskoje Selo [20] bei Petersburg für sie prägend. Hier lebten die Gorenkos bis zu ihrer Scheidung im Jahre 1905. Kusmina widmet diesem Zarskoje Selo, das bis 1917 Sommerresidenz des russischen Zaren war, in ihrer Biographie viele Seiten, sie nennt es mit Recht einen besonderen Ort in Rußland. In diesem «russischen Versailles» fielen der jungen Anna bald die scharfen sozialen Gegensätze ins Auge: die prachtvolle Zarenresidenz mit ihren barocken Palästen, die französischen Parks und antiken Marmorskulpturen, ein paar Schritte daneben ein ärmliches, staubiges russisches Provinznest mit niedrigen Hütten, vom Verfall geprägt. Die
junge Anna nahm diese Gegensätze jedoch nicht als Aufeinanderprallen feindlicher Welten wahr, sondern als unheimliches und, wie sie es später einmal nennt, infernalisches Nebeneinander von a rem Frieden und innerer Leere. Das sensible junge Mädchen na m vor allem das Atmosphärische dieses Ortes wahr: die Faszination Farbkompositionen des russischen Barock aus Weiß, Blau, Gold und Grün, die zu ausgedehnten Parks geordnete Natur, die Strenge Stille. Dieses kleine Städtchen hat die Achmatowa nachhaltig beeinflußt. Selbst heute noch, nach der Restaurierung, weht hier so etwas wie der Hauch der Geschichte.

                     

Es gab aber auch Tag für Tag für das intelligente junge Mädchen die Erlebnisse eines öden Schulbetriebs in jenem Maria-Fjodorowna-Gymnasium, das sie besuchte. Besonders hier bauten sich immer deutlicher psychische Spannungsfelder bei ihr auf. Sie verbanden sich mit dem Unbehagen über die Gegebenheiten in der Familie, über die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern.
Sie war vierzehnjährig, als ihr Nikolaj Gumiljow zum erstenmal begegnete: ein sensibler, vielseitig künstlerisch begabter junger Mann, Arztsohn, siebzehnjährig, ebenfalls Gymnasiast in Zarskoje Selo. Es war Weihnachten 1903. Gumiljow verliebte sich in die schöne, schlanke und sehr selbstbewußte Anna Gorenko. Ihr aber hatte es ein anderer Mann, ein Petersburger Student, angetan. Er wurde ihre erste Liebe. Sie blieb jedoch unerwidert. «Zu allen Zeiten und in allen Ländern», schreibt Kusmina, «nimmt das Schicksal bedeutender Frauen stets seinen Anfang mit einer unerwiderten Liebe.»[21] Auf Anna Achmatowa trifft das ganz sicher zu. Sie widmete einige Zeit später diesem für sie unerreichbaren «W. G. K.» ein trotzig-selbstbewußtes Gedicht aus zehn Distichen, in dem Nikolaj Gumiljow einen Funken dichterischen Talents gespürt haben muß, denn er veröffentlichte es kurzerhand in seiner neugegründeten Pariser Literaturzeitschrift «Sirius» im Jahre 1907.
Wie dieses erste gelungene Gedicht in seine Hände gekommen sein mochte, bleibt offen. Es wurde ein bekannter und auch für Achmatowa wichtiger Text. Er erschien noch unter dem Namen Gorenko, den hatte Gumiljow ohne ihr Wissen daruntergesetzt. In diesem Gedicht spürt man deutlich ihre Freude an exotisch-erlesener Sprache. Sie erfindet sich einen angeblich professionellen Verführer mit Brillanten, Opalen und Rubinen an jedem Finger. Sie sieht diese als Trophäen seiner Verführungskünste. Sie erfindet auch den ringeschmiedenden Mondstrahl, der sie in ihrem Stolz bestärkt, mein Ring aber fehlt an der blassen Hand, an niemand, niemals werd ich ihn verschenken.[22]
Das war im letzten Jahr ihrer Gymnasialzeit. Sie absolvierte nun das Funduklejew-Gymnasium in Kiew, wohin ihre Mutter sie nach Scheidung und Umzug geschickt hatte. In Erinnerungen ihrer Mit-Schülerinnen heißt es von dieser Zeit, daß sie viel las. Genau bezeugt sind zwei skandinavische Autoren, die damals großen Einfluß auf die russische Kultur ausübten: Knut Hamsun und Henrik Ibsen. Von Knut Hamsun mag sie die Romane «Hunger», «Mysterien», «Pan» und «Viktoria» gelesen haben. Ob sie von Hamsuns abenteuerlichem, unbehaustem Leben als Farmer, Schaffner, Schuhmacher gewußt hat, von seinem Außenseiterdasein? Bei Ibsen läßt sich nicht verläßlich rekonstruieren, welches seiner dramatischen Werke die junge Anna Gorenko gesehen haben könnte, wenn sie hin und wieder mit ihrem Vater in ein Petersburger Theater gehen durfte. Ibsen war in Moskau und Petersburg mit mehreren Stücken erfolgreich. Schließlich weiß man, daß Anna während ihrer Kiewer Gymnasialzeit ihrer Schwester Ija französische Romane vorgelesen hat und Gedichte von Alexander Blok. Überliefert ist auch, daß sie einen der ersten bedeutenden Poeten der russischen Moderne, Walerij Brjussow,[23] gekannt haben muß.
Das bisher Gesagte zeigt, daß Anna Gorenko zwischen ihrem vierzehnten und siebzehnten Lebensjahr intensive und eigenständige Beziehungen zur zeitgenössischen europäischen Literatur aufnahm. Das geschah in einem deutlich erlebten Gegensatz zu ihrer wenig lesefreundlichen Familie. Persönliche Beziehungen zu Literaturkennern oder literarisch Tätigen spielen oft eine motivierende und formende Rolle bei der Entwicklung eines jungen Talents. Für die Achmatowa kann man davon ausgehen, daß sie im klassischen Sinne nie in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis zu einem zeitgenössischen Dichter gestanden hat. Keiner ihrer literarisch einflußreichen Zeitgenossen war im direkten Sinne ihr Lehrmeister oder Vorbild, wenngleich sie zeitlebens Innokentij Annenskij [24] wie einen solchen verehrt hat.
Zurückzukommen ist auf das Spannungsverhältnis zwischen den beiden großen Regionen Rußlands, zwischen denen sie nach 1905 einige Jahre, nun auch außerhalb der üblichen Sommeraufenthalte, hin-und herpendelte - zwischen dem Schulort Kiew und der Krim, wo Mutter und Geschwister lebten. Das bedeutete nicht einfach geographisch Süden und Norden, sondern tiefgehende Polaritäten: hier Leichtigkeit, Ungebundenheit, Freisein, Sommer; dort, im Norden, Starre, öde Disziplin, Winter. Sehr bezeichnend nennt sie sich einmal das wilde Mädchen vom Meer, das ihre Sommer in einer Bucht bei Sewastopol verbringt. Ihre nixenhafte Leidenschaft für das Meer, für stundenlanges Schwimmen und Tauchen deutete sie später als das Heidnische in ihrem Wesen. Es stand bald für sie fest, daß alles, was sie umgab und was in ihr Blickfeld geriet, von unausgleichbaren Spannungen erfüllt war. Diese wurden mit den Jahren immer umfassender und vielschichtiger. Sie selbst verstand sich als vom Schicksal dazu auserkoren oder verdammt, die Spannungen in sich auszutragen.
So sah sie zum Beispiel in den ihr vertrauten Regionen Rußlands nicht mehr bloß die Gegensätze zwischen klassizistisch-barocker Architektur von Petersburg und dem Süden Rußlands mit seinen Spuren der Antike (Cherson, Sewastopol). Drängender noch und in historischer Dimension fühlte sie die Spannung zwischen dem Westeuropäisch-Klassizistischen der Petrinischen Prachtbauten und der karg-vollkommenen Ästhetik altrussischer Sakralbauten in Nowgorod und Kiew. Was in den kommenden Jahren für sie auch an neuen Erfahrungswelten hinzukommen sollte (Italien, Frankreich, Mittelasien), sie versuchte alles in ihr einmal gefundenes Grundmuster dieser Widersprüche einzufügen. Das Wichtigste für die angehende Dichterin war, daß sie diese objektiven Kontraste in der Kultur, Landschaft und Tradition Rußlands schon in jungen Jahren als tragisch-schicksalhaft empfand und als latente, jederzeit sich entladende Bedrohung verinnerlicht hat. Sie allein fühlte sich berufen -oder auch verdammt dazu -, die Spannungen in sich auszutragen und zu lösen. Das war eine für ihr Selbstverständnis zentrale «Legende», die ihre Dichtung lebenslang motiviert und durchzieht.
In einem Brief an ihren Schwager Sergej Stejn schrieb sie 1907: Ich heirate meinen Jugendfreund Nikolai Stepanowitsch Gumiljow. Er lieht mich bereits seit drei Jahren, und ich glaube, daß es mir vom Schicksal beschieden ist, seine Frau zu sein. Tage später in einem anderen Brief: Was denken Sie, wie wird mein Vater reagieren, wenn er von meinem Entschluß erfährt? Sollte er gegen meine Heirat sein, so werde ich ausreißen und mich heimlich mit Nikolai trauen lassen.[25]
Als diese Briefe geschrieben wurden, studierte Nikolaj Gumiljow an der Pariser Sorbonne, übrigens Annas ältester Bruder Andrej auch. Beide waren ein Jahrgang. Gumiljow glaubte, Anna Gorenko leidenschaftlich zu lieben. Er widmete ihr seine Gedichte und andere Arbeiten. Alle, einschließlich der Achmatowa, bezeugen, daß Gumiljow ein äußerst komplizierter Charakter war, sensibel, hochgebildet, von der Mutter verwöhnt und verzogen, vielseitig talentiert und auf exotische Abenteuer orientiert. Außer zu seiner Mutter hatte er zu allen gespannte Beziehungen. 1907 unternahm er auf eigene Kosten eine Forschungsreise nach Afrika (Abessinien, Somalia, Djibouti). Im selben Jahr besuchte er Anna Gorenko auf der Krim. Über die Art der Beziehung zwischen beiden gibt es nicht mehr als eine Vielzahl von Mutmaßungen. Wir schließen uns einem der letzten Urteile, die publiziert wurden, an. David Samoilow schreibt lakonisch: «Ich fühle mich nicht dazu berechtigt, zu Schwierigkeiten und Dramatik der persönlichen Beziehungen zwischen Achmatowa und Gumiljow Stellung zu nehmen. Ich meine einfach, daß Beziehungen zwischen zwei Dichtern dieser Größenordnung, der Widerstand des einen Talents gegen das Diktat des anderen, schon ihrer Natur nach dramatisch sind.»[26]
Achmatowas Bruder Viktor hat in einem Interview gesagt, beide hätten sich oft gestritten, es habe gegenseitige Unterstellungen, herausfordernde Reaktionen gegeben. Gumiljow habe zum Beispiel eines seiner Stücke verbrannt, weil sie es angeblich nicht anhören wollte.
Dennoch, sie heirateten im April 1910 nach dreijähriger Verlobungszeit. Gumiljow war wieder nach Rußland zurückgekehrt und Student an der Petersburger Universität geworden, immatrikuliert an der Historisch-Philosophischen Fakultät. Er mußte für seine Eheschließung die schriftliche Einwilligung des Rektors einholen, die er auch bekam. Die Hochzeit mit kirchlicher Trauung wurde in einer Kiewer Kirche, allerdings ohne die Teilnahme des Vaters, vollzogen. Bald nach der Eheschließung brach das Paar nach Paris auf. Für die angehende Dichterin war das die erste Auslandsreise, angeregt durch Gumiljow, der Paris aus eigenem Erleben bereits kannte, zugleich einer Tradition folgend, die russische Künstler in der Regel in die westeuropäischen Kulturzentren von Paris bis Norditalien zog. Kurz vorher hatte Anna Gorenko zum erstenmal und im Beisein von Gumiljow Gelegenheit gehabt, im sogenannten «Turm» des Dichters Wjatscheslaw Iwanow [27] einige ihrer Gedichte zu lesen. Von einer Hochzeitsreise im traditionellen Sinn konnte allerdings bei den beiden jungen Dichtern keine Rede sein, in Paris ging jeder offensichtlich sogleich seiner Wege. Gumiljow begab sich erneut auf eine exotische Reise nach Afrika, und die Jungverheiratete Anna fand bald in dem damals noch völlig unbekannten italienischen Maler Amedeo Modigliani einen verständnisvollen und interessierten Gesprächspartner. Modigliani war ebenso wie sie künstlerisch auf der Suche.
Über ihr Zusammensein gibt es heute einigermaßen verläßliche Fakten, auch wenn ein geheimnisvoller Nimbus bleibt. Anna Achmatowa und Amedeo Modigliani begegneten sich 1911 erneut, wiederum in Paris. Ob Modigliani sie auch nach Norditalien begleitet hat und ob die beiden in Modiglianis Geburtsstadt Livorno waren, bleibt ungeklärt. Bei dieser zweiten Begegnung hat Modigliani die schöne junge Russin aber mit Sicherheit täglich gesehen. Er war ihr durch seine Briefe (die leider verlorengegangen sind) vertraut geworden. Achmatowa erwähnt in einem späteren Essay über ihn [28]  stundenlange Spaziergänge durchs Zentrum von Paris, Fortsetzungen vom Jahr davor, als «Modi» ihr den Jardin de Luxembourg, den Eiffelturm und vor allem den Louvre gezeigt hatte. Sie erwähnt im Essay auch den Verlaine-Kult, der sie beide verbunden habe. Wie mit einer Stimme, schreibt sie, seien die Verse dieses Dichters aus beider Mund geflossen. Sie kannten nicht nur Paul Verlaines, sondern auch Stephane Mallarmes und Charles Baudelaires Gedichte auswendig. Anna trug Modigliani eigene Gedichte vor. Leider verstand der Maler kein Wort Russisch, erriet nur an Klang, Melos und Gestus ihrer Verse, daß er es mit einem poetischen Talent zu tun hatte.
An dieser Begegnung reizt bis heute vieles die Phantasie. Sie ist voller Geheimnisse, Exotik und Gegensätze. Achmatowa hat sie in ihre «Legende» einzubauen gewußt und den Schleier über ihr nie ganz gelüftet. Modigliani verewigte sie in einem Zyklus von mehr als zwanzig Zeichnungen, auf denen die junge Achmatowa stehend, sitzend, liegend, sogar am Trapez hängend dargestellt ist. Seine äußersten Verknappungen auf die Kontur sind genial. Er schenkte ihr beim Abschied sechzehn seiner Zeichnungen. Aus irgendeinem Grund nahm man bis vor kurzem an, daß das alle Zeichnungen waren, die Modigliani von ihr gemacht hatte. Es galt bis 1992 als sicher, daß Achmatowa davon nur eine einzige hat retten können, die sie bis ans Lebensende wie eine Ikone hütete. Sie hing in allen ihren kargen Zimmern, überlebte alle Umzüge; die anderen waren nach Achmatowas Aussagen in den Wirren der Revolution verlorengegangen.
1992 jedoch wurden zehn Zeichnungen in der Sammlung des Modigliani-Freundes Paul Alexandre entdeckt, die man einem «Achmatowa-Zyklus» zuordnete. In der Modigliani-Ausstellung im Palaz-zo Grassi in Venedig waren sie im selben Jahr zu sehen. Sie legen nahe, daß Modigliani in der schönen und klugen Russin ein ideales Modell seiner künstlerischen Vorstellungen von weiblicher Vollkommenheit gefunden zu haben glaubte.[29]
Unklar bleibt allerdings, ob Achmatowas zweite Paris- und Italienreise 1911 noch einmal einen solchen Bezug zu Modiglianis Kunst hatte. In den eineinhalb Monaten ihrer Reise besuchte Anna Go-renko neben Paris vor allem die norditalienischen Kunstzentren (Venedig, Bologna, Padua, Florenz, Pisa und Rimini), dabei stand das Erlebnis italienischer Malerei und Architektur für sie im Mittelpunkt.
Ihre künstlerische Entwicklung bekam kurz nach diesen beiden Reisen einen entscheidenden neuen Impuls. Die junge Lyrikerin fand Zugang zum literarischen Leben von Petersburg: eine Verbindung mit den avantgardistischen Neuerern, jedenfalls einer ihrer wichtigen Richtungen, wurde hergestellt. Im Jahre 1911 hatten die jungen Dichter Nikolaj Gumiljow, Wjatscheslaw Iwanow, Sergej Gorodezkij, Ossip Mandelstam, Wladimir Narbut und die Achmatowa (damals noch Anna Gorenko) die sogenannte «Dichterzunft» (Zech poetow)[30] gegründet. Sie wurde durch literarische Manifeste und die von ihren Mitgliedern veröffentlichten Gedichte - vor allem die der Achmatowa und des kurz vorher verstorbenen Innokentij Annenskij -zu einer wichtigen Keimzelle moderner Dichtung in Rußland. Man entschied sich bei der Benennung für einen neuen -ismus: für den geheimnisvollen Namen «Akmeismus».
Nachdem Gumiljow im März 1911 aus Abessinien zurückgekehrt war, intensivierte sich die Arbeit der neuen Dichterzunft. In den Versammlungen, die in der Regel dreimal monatlich stattfanden, wurden die Gedichte der Mitglieder gründlich diskutiert. Achmatowa war mit ihren Arbeiten besonders gut angekommen. Als Gumiljow das während seiner Abwesenheit Neuentstandene gelesen hatte, forderte er sie auf, ein Buch zu machen. Dieses Buch sollte nicht mehr lange auf sich warten lassen.
In den Zunftversammlungen wurde in diesen Monaten auch ihre literarische Programmatik weiter ausgearbeitet und diskutiert. Man muß sich die literarische Gruppe der Akmeisten - im Unterschied zu den Symbolisten - als sehr kleinen Kreis hochbegabter junger Dichter vorstellen. Keiner war älter als dreißig, keiner verfügte über nennenswerte materielle Mittel, dafür alle über eine umfassende literarische Bildung Gorodezkij, Michail Kusmin und Gumiljow erwiesen sich als die theoretischen Köpfe und leisteten als sogenannte Syndikusse der Zunft auch viel organisatorische Arbeit. Ihre Beiträge zwischen 1910 und 1912/13, alle in der zunfteigenen Zeitschrift «Apollon»[31] veröffentlicht, bildeten zusammen das Programm der Akmeisten.
Als Beispiel mögen hier einige der zentralen Aussagen von Gumiljows Artikel «Das Erbe des Symbolismus und der Akmeismus» stehen. «Eine neue Richtung ist angetreten, den Symbolismus abzulösen, und wie wir sie auch nennen mögen - ob Akmeismus (vom Wort akme, höchste Stufe von etwas, Blüte, Blütezeit) oder Adamismus (mutig-fester und klarer Blick auf das Leben) - auf alle Fälle verlangt Akmeismus ein größeres Gleichgewicht der Kräfte und genauere Kenntnisse über die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt als der Symbolismus.»
Er müsse aber das Erbe des Symbolismus [32] ganz und gar verarbeiten und auf anstehende Fragen antworten. Der Ruhm der Vorgänger verpflichte, und der Symbolismus sei ein würdiger Vater. «Jede Richtung erfährt eine gewisse Verliebtheit in diese oder jene Künstler und Epochen. [...] in den dem Akmeismus nahestehenden Kreisen sind vor allem die Namen Shakespeare, Rabelais, Villon und Theophile Gautier zu hören. Jeder von ihnen ist ein Eckstein im Gebäude des Akmeismus. [...] Shakespeare zeigte die innere Welt des Menschen; Rabelais den Körper und seine Freuden, seine kluge Physiologie; Villon lehrte uns das Leben, nicht ohne an ihm zu zweifeln, obwohl er alles kannte - Gott, die Vergänglichkeit, den Tod, die Unsterblichkeit; Theophile Gautier fand für dieses Leben in der Kunst die würdigen Gewänder tadelloser Formen. Alle diese vier Momente miteinander zu vereinen, das ist der Traum, der uns, die so kühn sind, sich Akmeisten zu nennen, miteinander verbindet.»[33]
Aus den theoretischen Beiträgen der jungen «Zunft-Syndikusse» ergab sich für den Akmeismus folgende Programmatik: erstens die Wiederentdeckung der die ästhetischen Sinne stimulierenden Gegenständlichkeit der Welt, der sogenannten einfachen Dinge, zweitens ein Höchstmaß an Klarheit und Konkretheit der Sprache, vor a -lern der sprachlichen Bilder; drittens die Konzentration auf die wir -liehe Gefühls- und Erlebniswelt des Menschen, ohne Mystik un Transzendenz. Die Akmeisten vollzogen schließlich viertens eine Wende in ihrer Vorliebe für andere Künste gegenüber den Symbolisten, für die die Musik die erste aller Künste war. Sie favorisierten in ihrem Bemühen um klare, faßbare Wirklichkeitserscheinungen Architektur und Malerei.
Die Akmeisten hatten bei der Formulierung ihrer Programmatik bereits einige literarische Leistungen vorzuweisen. Zu innen ten sie den 1910 postum veröffentlichten Gedichtband des ehemaligen Gymnasialdirektors von Zarskoje Selo, Innokentij Annenski], «Die Zypressenholzschatulle»,[34] in dem sie deutliche Übergänge vom Symbolismus zu der von ihnen verlangten literarischen Erneue erkannten: detailgenaue Stimmungsbilder, ausgelöst durch     egen stände der realen Welt, Rückgewinn an Wirklichkeit und Verständlichkeit in der Dichtung.
Die andere dem akmeistischen Programm entsprechende Leistung boten die ersten veröffentlichten Gedichte der jungen Achmatowa, die 1912 in ihrem Debütband Abend (Vecer) in Petersburg erschienen.[35]