»Place du Panthéon, s'il vous plâit«, sagte ich zu dem Taxifahrer. »Quelle adresse?« - »L'Hotel«, antwortete ich. Wußte ich eigentlich, daß es ein Hotel du Pantheon gab? Auf jeden Fall war es gut geraten. Das Taxi setzte mich an einem kleinen, nicht sehr sauberen Hotel ab, wo man mir das kleinste Zimmer zuwies. Das machte mir alles nichts aus, denn ich befand mich in dem Stadium zwischen verklingendem Entsetzen und neuer Hoffnung. Immer noch den Alptraum der Reise im Kopf, ging ich zu Bett; doch meine Zukunftshoffnungen müssen in mir Überhand gewonnen haben, denn ich schlief durch bis zum nächsten Morgen. Dann bestellte ich mein erstes französisches Frühstück - Café au lait et une tartine - in einem Cafe auf dem Boulevard St. Michel, aber ich hatte noch keine Lust, irgend jemanden zu sehen. Erst am späten Nachmittag rief ich Helen Hessel an, die ein Atelier in der Nähe des Place du Pantheon bewohnte. Ihre Stimme war wie eine zärtliche Berührung, und die Art, wie sie darauf bestand, mich gleich zu sehen, erfüllte mich mit neuer Hoffnung. Sie bat mich, sofort zu ihr zu kommen. Dieser Empfang überwältigte mich, und meine überforderten Nerven entspannten sich in dem Gefühl, so sehr erwünscht zu sein. Doch während der ersten Monate nach meiner Ankunft war ich häufig völlig durcheinander und Euphorie und Verzweiflung wechselten einander ab.
Helen und ich waren ein merkwürdiges Freundespaar. Immer schon hatte sie auf mich eine große Anziehungskraft ausgeübt, aber gleichzeitig hatte ich Angst, plötzlich von ihr zurückgewiesen zu werden. Ihre Freundschaft, ihr Bedürfnis, mich zu sehen, waren der Fels in der Brandung, an den ich mich klammerte. Ihr jetzt 14jähriger Sohn Paul umarmte mich mit der gleichen Spontaneität wie seine Mutter. Die beiden liebten sich eher wie Geschwister als wie Mutter und Sohn. Sie teilten ihr Leben mit einer an Besessenheit grenzenden Sorge füreinander. Pauls Identifikation mit seiner Mutter führte dazu, daß er sich auch mit mir anfreundete. Aber daß wir uns innerlich nahe kamen, hatte noch einen weiteren Grund: Wir liebten es beide, anderen Leuten zu gefallen. Seine Mutter war da anders, ihr Interesse galt eher der Möglichkeit, mit anderen etwas gemeinsam zu machen, als über sie nachzudenken oder sich um sie zu sorgen.
Die beiden begannen sofort, Zukunftspläne für mich zu schmieden, und ich genoß es, im Augenblick keine eigenen Entscheidungen fällen zu müssen. Vorläufig war ich in der Lage, finanziell auf eigenen Füßen zu stehen, aber in allen anderen Dingen war ich von meinen Freunden abhängig. Einige Tage nach meiner Ankunft brachte mich Helen in einer Pension in der Rue Froidevaux unweit ihrer eigenen Wohnung unter. Sie arbeitete als Modejournalistin für eine deutsche Zeitung und bewegte sich in einem internationalen Kreis von Freunden und Kollegen. Kurze Zeit später führte ein traumatisches Ereignis dazu, daß sie mit Paul fluchtartig ihre Atelierwohnung verließ und zu mir in die Pension zog. Das Ende einer langdauernden Beziehung zu einem Mann, den sie leidenschaftlich liebte, brachte sie aus dem Gleichgewicht. Dies veränderte unser Verhältnis zueinander. Wir kamen uns näher als je zuvor, denn jetzt war ich es, die ihr die Geborgenheit geben konnte, nach der sie sich sehnte. So entwickelte sich zwischen uns dreien eine neue Beziehung. Nachdem wir einige Zeit in der Pension zusammen gelebt hatten, entschied Helen, wir sollten uns gemeinsam eine eigene Wohnung mieten. Sofort begannen wir mit der Suche nach einem geeigneten Apartment. Damals war es leicht, moderne Wohnungen in Paris zu bekommen, und im August 1933 richteten wir uns im Dachgeschoß eines Apartmenthauses auf dem Boulevard Brune häuslich ein. Die Wohnung befand sich wenige Meter von der Porte d'Orleans entfernt, mitten zwischen einem eleganten Vorort von Paris und einem hübschen Stadtteil des vrai Paris, dem Paris der kleinen Leute. Wir wollten beide Welten genießen. Helen stellte erst einmal provisorisch ihre eigenen Möbel in die Wohnung, später wollten wir sie mit mehr Möbelstücken nach unserem jeweiligen Geschmack einrichten und dazu auf dem Marche aux Puces, dem Flohmarkt, einkaufen. Zunächst jedoch waren wir in ausgesprochener Urlaubslaune, besonders Helen, die den verständlichen Drang in sich spürte, von Paris wegzukommen.
Wir beschlossen, nach Sanary an die westliche Mittelmeerküste zu fahren. Sanary war zu einem neuen kulturellen Anziehungspunkt geworden, denn Schriftsteller und Künstler aus verschiedenen Ländern hatten sich dort niedergelassen.
Nach einer für mich aufregenden Reise durch die Zeugnisse einer lebendigen Geschichte der Provence kamen wir eines Nachmittags in Sanary an. Schon die Tatsache, daß es weniger vom Tourismus verdorben war als die Orte an der Riviera, sprach für dieses Städtchen. Dafür hatte das nahegelegene Toulon ein internationales Flair. Jahre später wunderte ich mich darüber, warum Helen ausgerechnet Sanary ausgesucht hatte - nur weil eine Freundin von ihr dort hingezogen war? Diese Freundin, von deren Existenz ich nichts wußte, sollte eine bedeutende Rolle in meinem Leben spielen. Bei diesem Ferienaufenthalt wartete mehr auf uns, als wir uns vorher hätten ausmalen können. Die »Macht des Schicksals« hatte uns nach Sanary geführt, was auch immer Helens ursprüngliches Motiv gewesen sein mochte.
Auf den ersten Blick wirkte Sanary enttäuschend. Wir fuhren an den zahlreichen Cafes und Hotels vorbei und hielten vor dem größten Cafe an. Dort eröffnete mir Helen, daß sie eine Freundin namens Lisa M. in dieser Stadt hatte, aber ihre Adresse nicht wußte. Im gleichen Augenblick wurde Helen von einem gut aussehenden, blonden Mädchen fixiert, und Helen fragte sie, ob sie zufällig wüßte, wo Madame Lisa M. wohnte. Das junge Mädchen lächelte und sagte: »Ich glaube, ich kenne Sie, sind Sie nicht Helen Hessel?« Plötzlich erkannte Helen die junge Frau: Es war Sybille von Schönebeck (Sybille Bedford), Madame M.s Tochter. Sie gab uns die Adresse ihrer Mutter und forderte uns auf, sie sofort aufzusuchen. Der Empfang war warm und herzlich, und - nicht genug - wir wurden eingeladen, an einer Party teilzunehmen, die am gleichen Abend bei ihr im Hause stattfinden sollte.
Bei dieser unvergeßlichen Zusammenkunft trafen wir Künstler und Schriftsteller aus Sanarys kultureller Kolonie. Thomas Mann war mit seiner Frau Katja und seinen Söhnen Golo und Klaus der Einladung ebenso gefolgt wie Aldous und Maria Huxley. Aldous hob sich schon allein aufgrund seiner Größe von den anderen ab,
aber auch wegen seines auffallenden Gesichtes. Maria schien an seiner Seite kleiner zu sein, als sie tatsächlich war, und betrachtete mich mit einem mir unverständlichen Interesse, das ich aber ermutigend fand. Später erklärte sie mir dazu, sie hätte von meinen Studien über die menschliche Hand gehört, ein Thema, das sie brennend interessierte. Sie wollte mich unbedingt wiedersehen, um mich kennenzulernen. Ich fühlte mich zunächst etwas unbehaglich durch ihre Art, mich mit Beschlag zu belegen; andererseits gefiel mir ihr lebhaftes, geradliniges Verhalten.
Ich schätzte Maria Huxley sofort als Frau ein, von der zu viele Menschen zu viel erwarteten, und fragte mich, ob sie nicht bereits zu sehr mit Pflichten und Problemen in ihrem Leben eingedeckt war, als daß sie neue Bekanntschaften pflegen konnte. Doch ich hatte unrecht. Sie legte tatsächlich großen Wert darauf, mich kennenzulernen, denn sie brauchte ein eigenes Ziel, das sie verfolgen konnte, brauchte ihre innere Rückzugsinsel. Immer schon, so sagte sie mir, war sie von den Händen der Menschen fasziniert, hatte aber niemanden gefunden, der ihr hätte beibringen können, wie man sie interpretiert. Sie hatte den Eindruck, die Hände eines Menschen seien der Schlüssel zu seinem Charakter und seiner Persönlichkeit, und sie könnten außerdem eine ganze Menge über die Gesundheit ihres Besitzers aussagen. Jülich betrachtete sie als die geeignete Person, ihr so etwas beizubringen. Ich mochte sie auf Anhieb und erlag ihrem Charme, außerdem verfehlten Glanz und Ruhm der Huxleys und das interessante Leben, das sie in ihrer Villa La Georgette offensichtlich führten, nicht ihre Wirkung auf mich.
In Sanary überschlugen sich die Ereignisse. Einen Tag nach der Party rief mich Maria in der Pension an und lud mich ein, den Tag bei ihr und ihrer Familie zu verbringen. Wir kamen gut miteinander aus, und so verbrachte ich während der gesamten Ferien einen Gutteil meiner Zeit mit Maria, ihrer Schwester Jeanne (bekannt als Madame Neveux) und Aldous. In der Regel schlössen sich Maria und ich einige Stunden im Wohnzimmer ein. Zunächst brachte ich ihr bei, wie man gute Handabdrücke herstellt. Glücklicherweise hatte ich die dazu notwendigen Materialien mit in Urlaub genommen. Nach dieser ersten Unterrichtsstunde, bei der unsere eigenen Hände als Anschauungsmaterial dienten, zeigte ich ihr nach und nach, wie man sie interpretieren konnte. Dabei dienten uns vor allem ihre Hände und die von Aldous, Jeanne und später von anderen als Beispiele. Die Art unserer Beschäftigung rief beträchtliche Aufregung bei unseren »Opfern« hervor, und die Huxleys erzählten ihren Freunden und Bekannten von Marias Unterricht. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin, sie stellte die richtigen Fragen und lernte eine ganze Menge über die Methode des Handlesens, wie ich sie bis dahin entwickelt hatte.
Zu jenem Zeitpunkt stand ich gerade am Anfang einer wissenschaftlich-methodischen Untersuchung der Handlesetechnik, und ich bestand darauf, dies Aldous und ihr klarzumachen. Ich war gewitzt genug einzusehen, daß die beiden mir helfen konnten, in Frankreich Fuß zu fassen. Doch ich eignete mich nicht zur Intrigantin, die geschickt ihre Vorteile nutzt; was ich wollte, war eine gewisse finanzielle Sicherheit. Maria riet mir, mich beruflich auf Handinterpretationen zu verlegen. Sie wußte, dies war meine einzige Chance, in Frankreich meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Flüchtlingen wurde nämlich keine Arbeitserlaubnis erteilt, aber eine so ungewöhnliche Tätigkeit wie die Chirologie würde sicher nicht mit der französischen Gesetzgebung in Konflikt geraten. Doch die Zeit, ihren Rat anzunehmen, war noch nicht gekommen. Selbst das Nazi-Deutschland hielt Verträge strikt ein, und mein Vertrag garantierte mir, daß mein Gehalt noch sechs Monate nach der Kündigung meines Vertrages, der im April abgelaufen war, weitergezahlt würde. Auf diese Weise war ich für das erste halbe Jahr meines Exils finanziell gut gerüstet.
Mein wichtigstes Ziel war zunächst, eine wissenschaftliche Untersuchung der Hand durchzuführen, mit der ich so schnell wie möglich beginnen wollte. Ich hatte mit den Quäkern Kontakt aufgenommen, die nichts unversucht ließen, um den jüdischen Flüchtlingen zu helfen. Häufig besuchte ich ihr bescheidenes Haus in einem ärmeren Stadtteil von Paris. Ihr Präsident, Henri van Etten, wurde mir bald ein persönlicher Freund, und einige seiner Mitarbeiter interessierten sich ebenso für mich privat. Durch die Vermittlung der Quäker traf ich Henri Wallon, Professor an der »Ecole des Hautes Etudes«. Er beurteilte mein Vorhaben der wissenschaftlichen Untersuchung von Handmerkmalen als vielversprechend und lud mich ein, die Hände von geistig retardierten Kindern an der Klinik, die er leitete, zu untersuchen. Außerdem verbreitete er die Kunde von meinem Projekt bei seinen Kollegen und anderen medizinischen Spezialisten; einige von ihnen waren von der Idee so angetan, daß sie mich zu Gesprächen einluden und mir daraufhin anboten, auch in ihren Krankenhäusern und Ambulatorien meine Studien weiterzuführen. Von Anfang an hatte ich beschlossen, meinen Untersuchungsgegenstand seines spekulativen Aspektes zu entkleiden. Ich wollte die Hände aller Arten von Menschen und verschiedener Altersgruppen untersuchen und hatte vor, auch die Extremitäten von (Menschen-)Affen in meine Studie einzuschließen, wenn ich zu entsprechenden Untersuchungen die Gelegenheit bekäme. Einige Jahre später war ich in der Lage, diesen Plan im Londoner Zoo in die Tat umzusetzen.
Doch zunächst brauchte ich nicht nur die Hilfe der ärztlichen Standesvertreter, um »abnorme«, sondern auch die der allgemeinen Öffentlichkeit, um »normale« Hände untersuchen zu können. Nur die Kombination von beiden würde eine diagnostische Landkarte der gesunden und kranken Persönlichkeit ermöglichen. Wieder halfen mir die Quäker. Sie überredeten 200 Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern, sich als Versuchspersonen für mein Vorhaben zur Verfügung zu stellen. Ich machte mich mit großer Begeisterung an die Studie, die mich schließlich völlig absorbierte, besonders als ich ganze Familien bei meinen Probanden entdeckte. In einigen Fällen konnte ich drei Generationen in einer Familie untersuchen. Dies war von besonderem Interesse in Bezug auf die mögliche genetische Bedeutung von Handmerkmalen.
Durch einen glücklichen Zufall und die Überredungskunst von Henri van Etten bekam ich die Gelegenheit, Handabdrücke von 24 neugeborenen Babies auf der Entbindungsstation eines Krankenhauses zu nehmen, ein ebenso schwieriges wie spannendes Unterfangen. Einer dieser Abdrücke wurde in »The Human Hand« reproduziert. Professor Wallon und Henri van Etten wurden die Stützen meiner Forschungstätigkeit. Ich weiß nicht mehr, wer von beiden es mir ermöglichte, die Hände von 25 Boxern und 30 Filmschauspielern unterschiedlichen Alters zu untersuchen. Die wichtigste Materialquelle jedoch war Professor Walions wöchentliche Sprechstunde für Patienten, die unter emotionalen und nervösen Beschwerden litten. Der erste sichtbare Fortschritt meiner Arbeit stammte aus diesen Konsultationen. Professor Wallon verglich meine diagnostischen Einschätzungen mit seinen eigenen und fand die Ergebnisse ermutigend. Andere Psychiater, an deren Kliniken ich arbeitete, folgten der gleichen Methode wie Wallon. Ich verdanke ihm, daß der Endokrinologe Gilbert Robin mir die unschätzbare Gelegenheit verschaffte, die Hände seiner Patienten zu studieren. Meine ersten Einblicke in die hormonellen Bedingungen, die sich in der menschlichen Hand widerspiegeln, machte ich dort. Sie waren von besonderer Bedeutung, denn die Hormondrüsen liefern einen Schlüssel zur Kenntnis emotionaler Reaktionen. Es bedurfte noch einer ganzen Menge an Grundlagenforschung, bevor die Ergebnisse meiner Pariser Untersuchungen in ein sinnvolles Muster gebracht werden konnten. Doch ich lernte die wichtigsten Grundlagen für eine holistische Sicht der Hand-Diagnose durch die Arbeit in Frankreich.
Wie zu erwarten, mußte ich früher oder später neben meiner Forschungstätigkeit Geld verdienen. Maria Huxleys Rat erwies sich als richtig, und nach weniger als einem Jahr Aufenthalt in Paris unternahm ich den unbequemen Schritt, private Handanalysen durchzuführen. Zuerst waren es die Huxleys, die Freunde und Bekannte zu mir schickten. Zu den ersteren gehörten der Vicomte Charles de Noailles und seine Frau. Sie fanden meine Arbeit spannend und empfahlen mich weiter. Durch Mund-zu-Mund-Propaganda entstand eine Art Schneeballeffekt, und ich erhielt eine beträchtliche Klientel. In relativ kurzer Zeit schien ich eine etablierte und anerkannte Chirologin zu werden. Meine Kunden waren hauptsächlich Schriftsteller, Künstler und Aristokraten. Ein Beruf am Rande des Sensationellen stellt einen Magnet dar für Menschen, die Hilfe benötigten und sich von allem Unorthodoxen und Mysteriösen angezogen fühlen.
Doch meine Rolle bei diesen Handanalysen stimmte nicht mit meinen professionellen Werten überein. Und das führte dazu, daß ich in einen Zustand depressiver Angst geriet. Ich war in eine Welt geworfen worden, die bestürzend verschieden war von meiner eigenen. Ich erwarb einen beachtlichen Ruf, zutreffende psychologische Gutachten erstellen und sensationelle Enthüllungen der Vergangenheit meiner Klienten leisten zu können. Der Einfluß, den meine Konsultationen auf meine »Kunden« ausübte, fesselte und erschreckte mich zugleich. Doch ich hatte keine Möglichkeit, die Situation zu verändern: Man hatte mich ins Wasser geworfen, nun blieb mir nichts anderes übrig als zu schwimmen. Auch mußte ich mich daran gewöhnen, in den Häusern französischer Aristokraten und Industriemagnaten ein und aus zu gehen. Gewöhnlich kam ich atemlos vor Aufregung dort an, doch zu meinem Erstaunen stellte ich jedesmal erleichtert fest, daß ich mich sofort besser fühlte, wenn ich die Schwelle überschritten hatte. Die nervöse Spannung kam jedoch regelmäßig in dem Moment zurück, wenn ich meine »wahrsagerischen« Fähigkeiten unter Beweis stellen sollte: entscheidende Ereignisse aus der Vergangenheit meines Klienten aus seinen Händen herauszulesen.
Für mich war es interessant festzustellen, daß die französischen Aristokraten sich nicht - wie ich befürchtet hatte - in ein Getto, einen Goldenen Käfig der temps perdus zurückgezogen hatten. Der Vorzug ihrer adeligen Geburt und ihres - in den meisten Fällen -beträchtlichen Reichtums hinderte sie nicht daran, sich frei in der Welt außerhalb ihres unmittelbaren Umfeldes zu bewegen. Einige meiner aristokratischen Klienten beeindruckten mich aus bestimmten Gründen besonders, und das möchte ich mit den folgenden kurzen Szenen erläutern.
Der Vicomte de Noailles war ein großer Kunst- und Literaturliebhaber, was wahrscheinlich seine Freundschaft mit den Huxleys förderte. Seine ruhige, ritterliche Art konnte seine ausgeprägte Neugier auf menschliche Wesen nur unzureichend kaschieren. Er war mittelgroß, hatte einen wachen Ausdruck in seinen schnellen schwarzen Augen und einen beweglichen Mund, der ihn als guten Zuhörer auswies. Wahrscheinlich machte er sich im Geist Notizen über alles, was er hörte und sah. Ich fragte mich, ob er wohl ein verhinderter Schriftsteller war. Seine Zurückhaltung verhinderte direkte Fragen. Möglicherweise bewunderte er Maria Huxley, weil sie ihn mit der erfrischenden Spontaneität und Phantasie versorgte, die ihm zu fehlen schien. Seine Frau Marie-Laure, ebenso liberal und progressiv wie er, hatte viel von Marias lebhafter Natürlichkeit. An ihr war nichts Rückständiges oder Verknöchertes. Als große Bewunderin moderner Musik schien sie über unbegrenzte Energien zu verfügen, um Arbeit und Gegenwart von Musikern und anderen Künstlern genießen zu können. Sie hatte die sinnliche Schönheit eines Fohlens, das durchgehen oder artig traben kann, und von dem niemand weiß, was es als nächstes tun wird. Sicherlich war sie kein Mensch, der andere in Ehrfurcht erstarren ließ, und weder sie noch ihr Mann erwiesen sich als Snobs. Zunächst nahm ich an, daß es sich bei den Noailles um - keineswegs für die französische Aristokratie typische - Ausnahmen handelte, doch das war nicht der Fall.
Das Prinzenhaus des Comte de D. mit seinen Kunstgegenständen, auf denen meist die Bourbonenlilie prangte, schien durch Welten von dem der Noailles getrennt zu sein. Niemals zuvor war ich auf einen standhaften Royalisten gestoßen, und unser Zusammentreffen erfüllte mich mit bösen Vorahnungen. Erstaunt betrachtete ich den Lüster des palastartigen Raumes, den ich durchquerte. Die zahlreichen elektrischen Birnen waren mit Lampenschirmen aus Kristall in Form der Bourbonenlilie umhüllt. Dieses Symbol schien das ganze Haus geprägt zu haben. Selbst im Muster der Tapete tauchte es auf. Diese Verehrung einer verlorenen Sache, wie sie hier zur Schau gestellt wurde, hätte man pathetisch nennen können. Ich fand sie jedoch atemberaubend. Sie versetzte mich ins 17. Jahrhundert, in dem solch glanzvolle Loyalitätsbezeugungen zur königlichen Familie durchaus verbreitet gewesen sein mochten.
Ein Mann mittleren Alters von kleiner Statur schenkte mir einen warmen Händedruck und ein kleines nervöses Lächeln. Sein Bauchansatz schien durch eine steif-aufrechte Haltung eingeschnürt zu werden, die er gut einstudiert hatte. Dieser Mensch war ebenso schüchtern wie diszipliniert; zwei Siegelringe an seinen Fingern ließen auf ein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, und seine demonstrative Liebenswürdigkeit auf einen Wunsch zu gefallen, schließen. Der Comte war ganz anders als ich ihn mir vorgestellt hatte. Die zur Schau gestellte Männlichkeit seiner Haltung paßte nicht zur Sanftheit seines Gesichtes und seiner Hände. Er bewegte sich langsam und sprach schnell. Er stammte aus einer der ältesten Familien Frankreichs und identifizierte sich offensichtlich mit seinem Erbe. Die Stütze einer großen Vergangenheit brauchte er, um sein schwaches Ego zu stärken. Nach einer wissenschaftlichen Ausbildung war er in die Industrie gegangen, doch seine eigentlichen Interessen waren Musik und Kunst. »Ich bin allem Neuen gegenüber aufgeschlossen - ob es sich um Kunst oder Wissenschaft handelt«, sagte er mir. Er hatte Schwierigkeiten, mit seiner bisexuellen Natur zurechtzukommen. Ihm war seine ausgeprägte weibliche Ader bewußt, und er fühlte sich emotional unausgefüUt und ruhelos. Es fiel ihm schwer, sich längere Zeit auf irgend etwas zu konzentrieren, und er brauchte Luxus und Komfort als Ausgleich für seine angegriffene Gesundheit. Außerdem - so gab er zu - liebte er den Luxus. Der Gedanke, einen Psychiater aufzusuchen, war ihm nie gekommen. »Ich brauche eine Mutter, keinen Arzt«, erklärte er mir. »Da haben Sie die richtige Diagnose gestellt«, bestätigte ich. Er bat mich, seine Frau kennenzulernen, die mich ebenfalls konsultieren wollte, und so traf ich La Comtesse de D.
Eine große, schlanke Frau begrüßte mich mit einem charmanten Lächeln. Zwei Tassen Kaffee wurden hereingebracht, und ich hatte das Gefühl, eher unterhalten als konsultiert zu werden. Die Comtesse war zu lebhaft, um auch nur einen Augenblick still zu sitzen. Sie hatte leicht hervortretende, hellblaue Augen, und ihr Gesichtsausdruck verriet eine begierige Erwartung, von der ich bald herausfand, daß sie für die Comtesse stets sowohl Segen wie Fluch bedeutet hatte. Nie gab sie die Hoffnung auf, und immer erwartete sie zuviel. Sie hatte genau die Eigenschaften, die ihrem Mann fehlten. Sie war eine virile Frau, die mit ihren emotionalen Reaktionen oft übers Ziel hinausschoß. Doch ihre Intelligenz hielt sie von unüberlegten Handlungen ab, wenn ihre leidenschaftliche Energie sie zu Abenteuern verführen wollte, die sie möglicherweise später bereuen würde. Sie war eine Idealistin auf der Suche nach der rechten Sache, sensibel und aggressiv, je nachdem, wie es die Situation erforderte; auf diese Weise konnte sie genausogut eine Beschützerin wie ein Satan sein.
Die Comtesse schien die Bourbonenlilie nicht für sonderlich bedeutend zu halten. Sie mischte sich gerne unter alle möglichen Arten von Menschen und bedauerte nur eines - nicht als Mann geboren zu sein. »Ich wäre Bergsteiger oder Diplomat geworden, möglicherweise Botschafter«, sagte sie lachend. »Ich bin eine Perfektionistin«, verriet sie mir ein andermal. Sie war ausgesprochen gesellig und versuchte ständig, interessante Menschen kennenzulernen, gleichgültig welcher sozialen Schicht sie angehörten. Als sie mich über meine Arbeit befragte, begriff sie sofort deren mögliche Anwendbarkeit als diagnostisches Werkzeug. Dieser royalistische Palast wurde von Menschen bewohnt, die gleichzeitig privilegiert und depriviert waren - und ganz entschieden menschlich.
Als ich gebeten wurde, die Marquise de B. aufzusuchen, erwartete ich, ein ähnliches Milieu vorzufinden wie das gerade beschriebene. Die Marquise gehörte zur Familie der französischen Thronanwärter. Doch in ihrem vergleichsweise bescheidenen, aber schönen Haus gab es keine Bourbonenlilien. Der Butler führte mich in einen kleinen Raum, an den ich mich gut erinnern kann. Zwei Spiegel an gegenüberliegenden Wänden ließen das Zimmer größer erscheinen, in dem sich außerdem mehrere große Bücherschränke mit Glasschiebetüren befanden. Die Marquise sah aus, wie man es von einer eleganten französischen Frau erwarten würde. Sie betrat den Raum mit den schnellen graziösen Bewegungen der romanischen Rasse. Ihre schwarzen Augen blickten mich jedoch müde an. Von ihrem Benehmen und ihrer Persönlichkeit her erinnerte sie mich an die Comtesse de D. Sie hatte breit gestreute Interessen, sammelte Kunstgegenstände und spätimpressionistische Bilder. »Ich lebe in meiner Phantasie«, sagte sie. »Ich erfülle, was von mir verlangt wird, doch das befriedigt mich nicht. Ich bin niemals zufrieden, und ich habe nicht genug Durchhaltevermögen, um zu beenden, was ich enthusiastisch beginne. Das führt dazu, daß ich mich minderwertig fühle.« Sie hatte Kriminalgeschichten geschrieben - unveröffentlicht, wie sie mit einem Lächeln hinzufügte. Sie wünschte sich nichts so sehr wie eine professionelle Schriftstellerin zu sein und bewunderte nichts mehr als den kreativen Geist. Die Marquise besaß beträchtliche Begabungen, doch ihre gesellschaftliche Stellung verböte es ihr, auf eine Art, die sie sich gewünscht hatte, von ihnen Gebrauch zu machen. Sie hätte kein Recht, sie selbst zu sein, sagte sie mir. »Doch ich erlaube es mir nicht, zu leiden«.
Das Apartment auf dem Boulevard de Brune war glücklicherweise groß genug, um meine zahlreichen Besucher zu beherbergen, unter denen sich bald auch Italiener und Engländer befanden. Mein neuer Beruf hätte leicht zu einer Barriere zwischen Helen und mir werden können, doch dazu kam es glücklicherweise nicht. Sie und ihr Sohn freuten sich an meinem Erfolg. Es gehörte nicht zu ihrem Naturell, etwas gegen das Eindringen fremder Menschen in ihre häusliche Umgebung zu haben. Helen selbst hatte durch ihre Verbindungen die Zahl meiner Klienten vergrößert. Es lief alles bestens, denn Freundschaft und Toleranz überwogen die mögliche Irritation, die das ununterbrochene Läuten des Telefons hätte auslösen können.
Doch weder meine wachsende Reputation noch die herzliche Wärme meiner Freunde konnten mir einen Ausgleich dafür bieten, daß ich mich ständig ängstlich und entwurzelt fühlte. Obwohl ich mich manchmal von der Aufregung des Erfolgs davontragen ließ, war ich unfähig, mein großes Glück zu genießen, denn es war mir in einer falschen Rolle zuteil geworden. Das überschattete mein Gefühl für meine Einbindung in die neue Gesellschaft. Doch die Anerkennung meiner Forschungsarbeit durch Professor Wallon und andere Vertreter des ärztlichen Berufsstandes war ein Gegengift für meine Selbstzweifel, und ich klammerte mich an ihre Versicherung meines »Wertes« wie an eine Bestätigung meiner Daseinsberechtigung
Meine Freunde gingen ihre eigenen Wege. Paul machte seine jugendlichen Abenteuer, Helen kultivierte ihren Kreis von Freunden und Kollegen. Sie war nicht die Spur eifersüchtig, als sich ihre beste Freundin, die deutsche Jüdin Baladine Klossowska, mehr und mehr mir anschloß. Baladine, diese schöne, mit einem ebenso scharfen wie witzigen Verstand gesegnete Frau behandelte mich, als gehörte ich zur Familie, und bei meinen häufigen Besuchen in ihrer Wohnung bekam ich auch mit ihrem Sohn Pierre einen geistesverwandten Kontakt. Dessen Bruder, der Maler Balthus Klossowski, schloß sich uns dreien bald an und machte mich zu seiner Vertrauten. Die beiden Brüder waren so unterschiedlich wie Feuer und Wasser, doch beide gaben meinem Leben einen neuen Schwung, und Baladine selbst wurde mehr als nur eine enge Freundin. Sie inspirierte mich; sie nährte mich mit Rilkes Poesie auf der einen und jüdisch-häuslicher Geborgenheit auf der anderen Seite, und zudem war sie wie das Echo einer vergangenen, schönen Zeit. Balthus hatte das malerische Talent seiner Mutter geerbt und wurde bekanntlich später einer der Größten seines Genres.
Selbstverständlich untersuchte ich die Hände der gesamten Familie. Balthus gefiel mir sehr. Dieser junge Mann wurde gequält von Zwangsvorstellungen und heftigen Vorlieben und Abneigungen. Er wählte mich aus, weil er offenbar in meinem Verständnis für seine Probleme und in meiner Bewunderung seiner Arbeit Trost fand. Ich fühlte mich zu der Welt, in der er lebte und die er großzügigerweise überwiegend mit mir teilte, hingezogen. Häufig besuchten wir gemeinsam das Cafe de Flore, wo wir uns gemeinsam mit Picasso, Dora Maar, Man Ray, Antonin Artaud und anderen Surrealisten an einen Tisch setzten.
Wie kam die einzigartige Atmosphäre an diesem Tisch zustande? Der stämmige Picasso saß neben Dora Maar und starrte vor sich hin, trank Kaffee und sagte kaum ein Wort. Antonin Artaud schnitt Grimassen, und man fühlte sich in seiner Gegenwart unwohl. Nur Balthus und Man Ray sprachen hin und wieder miteinander. Eines Abends setzte sich Artaud neben mich. Er hatte sich entschlossen, mich um professionelle Hilfe zu bitten. Ich willigte ein. Er war mir auf Anhieb unsympathisch gewesen, doch als er ein Klient von mir wurde, begann ich ihn zu mögen. Ich wünschte mir, die Gesellschaft an jenem Tisch wäre von Balthus gemalt worden als eine Momentaufnahme einiger der bedeutendsten Künstler vor dem Zweiten Weltkrieg. Doch so bleibt Picassos Tisch im Cafe de Flore mein »persönlicher Besitz«, im Gedächtnis festgehalten wie ein Schnappschuß.
Es war jedoch nicht Balthus, sondern Pierre Klossowski, der die Surrealisten für meine Arbeit interessierte. Er erzählte Andre Breton von mir, und er half mir dabei, einen neuen Abschnitt meines Lebens im Exil zu beginnen. Durch ihn bekam ich einen engen Kontakt zu den Surrealisten und ihrer Kunst.
Andre Breton war bald einer meiner leidenschaftlichsten Förderer. Ich hatte auch ihm »aus der Hand gelesen«, was seinen Glauben an die Bedeutung meiner Arbeit stärkte. Er verbreitete diese Kunde in seinem Bekanntenkreis, und bald suchten mich auch andere Surrealisten auf. Nach kurzer Zeit akzeptierten sie mich als eine der ihren, und einige von ihnen wurden meine persönlichen Freunde. Sie betrachteten mich als jemanden, der aus dem international noch im Dunkeln liegenden Wissensbereich einiges an Erkenntnissen ans Licht geholt hatte, womit ich mich - ihrer Ansicht nach - in eine Reihe mit den Surrealisten gestellt hatte. Doch bald erkannte ich, wie weit ich von ihren Idealen entfernt war.
Ich hatte keine Ahnung, daß ich eine revolutionäre Welt »absoluter« Freiheit betreten sollte, nachdem ich die Bekanntschaft von Andre Breton und der »Bewegung« gemacht hatte. Die Surrealisten hatten die Barrieren zwischen dem Bewußten und Unbewußten, zwischen logischem und unwillkürlichen Denken eingerissen. Sie betrachteten die Welt als eine tabula rasa, der man stets aufs Neue Sinn verleihen mußte. Ihre Bilderstürmerei machte vor Kunst und Literatur nicht Halt. Sie zerfetzten die ganze Vorstellungswelt einer Zivilisation, die seit dem Ersten Weltkrieg im Todeskampf lag. Ihrer Ansicht nach wies die Psychoanalyse in die richtige Richtung. Das Unbewußte war ihr Entdeckungsfeld, das sie erkunden wollten, doch sie gingen wesentlich weiter als ihr Vorbild. Ihre verbale Vorstellungskraft und deren Assoziationen wurden weder zensiert noch interpretiert, sondern verwendet, so wie sie ihnen in den Sinn kamen - automatisch, wie Reflexe. Sie warfen die Zwangsjacke des »bewußten« Geistes ab. Walter Benjamin nannte den Surrealismus »Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«. Nach Bakunin war - so Benjamin - die absolute Freiheit verlorengegangen, bis die Surrealisten ihr zu neuem Leben verhalfen. Er nannte ihre Bewegung die integrierteste, absoluteste und definitivste.
Benjamin stand damals dem Kommunismus nahe, den er für den Weg zur Freiheit hielt. Doch die Surrealisten hingen dieser Überzeugung nicht an, aufgrund der Fesseln, die sie dem Individuum auferlegte. Der einzige Surrealist, der sich der kommunistischen Partei anschloß, war Aragon, doch er blieb nur kurze Zeit. Walter Benjamin kritisierte die Haltung der Surrealisten als undiszipliniert, sie aber glaubten an nichts anderes als an Selbstdisziplin. Sie waren Elite-Anarchisten. Sie betrachteten die gesamte Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft auf ihre eigene Weise, vorbehaltlos und ohne Vorurteile. Verborgene Kräfte waren die Würze ihres Lebens. Sie sahen überall Mystisches und waren der Überzeugung - wie ich-, daß wissenschaftliche Entdeckungen mehr mit surrealistischem Denken als mit Logik zu tun haben. Andre Breton betrachtete die Poesie als die höchste Form sowohl des Mystizismus als auch der Kunst überhaupt. Wer hätte sich darüber mit ihm streiten mögen?
E. Teriade, der Chefredakteur der surrealistischen Zeitschrift »Minotaure«, lud mich ein, einen Beitrag über meine Handanalysen von Künstlern und Schriftstellern zu schreiben, der im Spätherbst des Jahres 1935 unter dem Titel »Les Revelations Psychologiques de la Main« erschien. Ein Jahr zuvor hatte ich meine zukünftigen Versuchspersonen in dem bescheidenen Büro des »Minotaure« getroffen. Kurz nach meinem Eintreffen füllte sich das Zimmer mit einer bunten Vielfalt französischer Künstler der Avantgarde. Der alternde Maurice Ravel traf ein, in den Schatten gestellt durch seine Freundin Valentine Hugo, eine mit zwei Metern Körpergröße ausgesprochen beeindruckende Dame, mit der Ravel Händchen hielt. Pierre Klossowski stand mir als Beschützer und Interpret zur Seite, wenn mein Französisch mich im Stich ließ. Ich sprach mit Antoine de Saint-Exupery, Man Ray, Max Ernst, Salvador Dali und anderen. Sie kamen ohne Vorrede auf das Wesentliche zu sprechen und beeindruckten mich durch ihr natürliches Verhalten. Die sensibilisierte, aber nicht esoterische Atmosphäre, die sie umgab, machte den Abend für mich zu einem unvergeßlichen Erlebnis.
Saint-Exupery hatte seine Cousine, Madame de Vogue, mitgebracht, um uns miteinander bekannt zu machen. Sie war eine für die Autorenauswahl und die Produktion des »Minotaure« wesentliche Mitarbeiterin. Eine schöne, fragile Romanschriftstellerin, Louise de Vilmorin, stellte sich mir als Autorin der Zeitschrift vor. Beide Frauen standen in der Nähe der hochaufgeschossenen Gestalt Saint-Exuperys. Die zierliche Consuelo, seine Frau, blieb etwas abseits, ganz so, als ob sie ihrem Mann nicht so nahe sei, wie es sein sollte. Sie war eine Prinzessin aus Südamerika, schwach und ängstlich; man merkte ihr an, daß sie sich auf fremdem Territorium nicht heimisch fühlte. Sie paßte nicht in diese Gruppe, und ihre mißliche Rolle führte dazu, daß ich auf sie aufmerksam wurde und sie genauer betrachtete. Später lernte ich sie recht gut kennen. Wir trafen uns zusammen mit ihrem Mann oder ohne ihn in dem Hotel, das ihr Zuhause geworden war, und ich sah sie noch Jahre nach Saint-Exuperys Tod.
Andre Breton hatte mir dabei geholfen, meine Arbeit unter den Surrealisten und der progressiven Intelligenz Frankreichs bekannt zu machen. Doch auch andere Surrealisten hatten mir ihre volle Unterstützung gegeben. Die folgenden kurzen Bilder spiegeln meine persönlichen Eindrücke über einige von ihnen wider, die ich aus verschiedenen Gründen besonders mochte.
Andre Breton und Paul Eluard: Ich nannte die beiden, die immer zusammen auftraten, geistige Zwillinge. So verschieden voneinander sie auch in ihrer Erscheinung waren, ihre Vorstellungen waren fast identisch. Breton, der gesellige Extrovertierte, hypnotisierte die Menschen durch seine Eloquenz und seinen Charme. Er war ganz er selbst, verzichtete auf sämtliche Versteckspiele und hatte nicht das geringste diplomatische Geschick. Er sah die Leute an -und durch sie hindurch - mit dem kompromißlosen Blick eines Menschen, der sich seiner selbst und seiner Weltanschauung sicher ist. Ich beobachtete nie auch nur die geringste Laschheit in seinen Ansprüchen sich selbst oder anderen gegenüber. Er wandte seine surrealistische Sichtweise auf sein ganzes Leben an. Das gleiche konnte man über Paul Eluard sagen, doch er, der Poet, hatte eine eher verhaltene Persönlichkeit. Er sah aus wie Bretons Schatten, mehr der Jünger des Meisters als der Meister selbst. Doch seine Art, in Bretons Gegenwart in den Hintergrund zu treten, war nur eine Fassade für seine übersensible Natur. Eluards Anspielungen waren genauso beeindruckend wie Bretons direkte Rede. Er verfügte über weniger Vitalität und brauchte die Einsamkeit aus gesundheitlichen Gründen und, um arbeiten zu können.
Andre Bretons Körperbau stimmte so vollkommen mit seiner geistigen Haltung überein, daß man in seiner Erscheinung und Gestik lesen konnte wie in einem Buch. Auf seinem mächtigen, athletischen Körper saß ein »herrischer« Kopf. Sein ausgeprägtes Kinn ließ auf eine Bestimmtheit in seinem Wesen bis hin zum Eigensinn schließen. Er kämpfte, falls notwendig, mit seinen Fäusten, um seine Überzeugung zu verteidigen. Ihm war nichts gut genug, außer der Integrität und der Freiheit, für die er eintrat. Ich bewunderte seine kompromißlose Offenherzigkeit, die einen keine Sekunde im Zweifel über seine Ansichten ließ. In meinen Augen war er der überzeugendste Repräsentant des Surrealismus.
Paul Eluard war kein Quentchen weniger puristisch und willensstark in seinem Bekenntnis zum Surrealismus als Breton. Doch seine Bescheidenheit und seine angegriffene Gesundheit machten aus ihm nicht gerade eine Kämpfernatur. Man mußte sich erst die Mühe machen, ihn kennenzulernen, bevor man etwas über die Kraft seiner Überzeugungen erfuhr. Beide waren Männer, die sich über alles entrüsteten, was nach Lethargie oder der Vorspiegelung falscher Tatsachen aussah. Ich lernte Eluard recht gut kennen, weil ich ihn und seine entzückende Frau Nusch einige Male in ihrem Haus besuchte. Sie lebte ausschließlich für ihn und ich glaube, daß ihre Fürsorge sein Leben verlängerte. Eluard beeindruckte mich als ein Romantiker, der aus Überzeugung und Intelligenz zum Revolutionär wurde und nicht, weil es ihm etwa im Blut gelegen hätte. Er kannte sich selbst gut genug, um seine Gespaltenheit in Kopf und Herz einzusehen. Er lebte für die Liebe. Die Erotizismen seiner Gedichte legen Zeugnis ab von seiner wahren Natur.
Er schrieb einen Gedichtband mit dem Titel »Les Mains Libres«. Hände übten eine besondere Faszination auf ihn aus, und das weckte sein Interesse an meiner Arbeit, die er sehr schätzte. Er schenkte mir sein Buch »La rose publique« mit einer persönlichen Widmung. Ich fand seine Unterschrift bemerkenswert; die säbelartigen Striche, mit denen er seinen Namenszug unterstrichen hatte, verwiesen auf messerscharfe Intelligenz und extreme Aggressivität, die mit seiner revolutionären Begeisterung einhergingen.
Als ich Antoine de Saint-Exupery im Büro des »Minotaure« sah, hatte ich keinen Zweifel, daß er mit ganzem Herzen der surrealistischen Bewegung anhing. Doch nachdem ich ihn näher kennengelernt hatte, wunderte ich mich, warum er sich ihnen überhaupt angeschlossen hatte. Er war so ausgesprochen eigenwillig, daß er in keine Gruppe hineinpaßte.
Wer war er, dieser große, majestätische Mann mit dem asymmetrischen Gesicht? Es brachte einen aus der Fassung, ihn anzusehen. Seine Augen waren so unterschiedlich geformt, daß sie nicht demselben Menschen zu gehören schienen. Wenn man ihm gegenübersaß, hatte man das Gefühl, von zwei Menschen prüfend betrachtet zu werden. Schon allein sein merkwürdiges Äußeres verwies darauf, daß es verwirrend sein mußte, mit ihm zu leben. Auch seine Hände gaben Rätsel auf. Sie waren nicht so muskulös, wie es sein Körperbau vermuten ließ, und hatten Wurstfinger mit langen und sensitiven Endgliedern. Diese Finger verrieten einen hormonellen Defekt, der ihm wohl bewußt war und über den er mit mir sprach. Saint-Exupery, der so furchtlos Leben und Tod ins Auge sah, fürchtete sich vor sich selbst. Ich konnte seinen Verdacht einer umfangreichen Schilddrüsendysfunktion nur bestätigen. Er hatte mit periodischer Hyperaktivität auf der einen und Lethargie auf der anderen Seite zu kämpfen. Er erzählte mir von seinen ständigen Stimmungsschwankungen und seinen häufigen Depressionen, die ihn jeden menschlichen Kontakt meiden ließen. »Ich bin wie ein Tier - ich gehe in meine Ecke, wenn ich unglücklich oder krank bin«, sagte er. Sein Benehmen konnte einen bezaubern und faszinieren, und doch fühlte man im Zusammensein mit ihm eine gewisse Leere aufgrund seiner prinzipiellen Schwierigkeit, Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen. Er wußte das und war traurig darüber. Widersprüchlich genug, hatte er eine ungewöhnliche Gabe, Menschen und Dinge seiner Umgebung genau zu beobachten. Mit seiner außergewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeit erfaßte er jede Veränderung von Farbe, Licht oder Schatten. War es diese ausgeprägte Dichotomie der Gefühle, die ihm seinen hypnotischen Einfluß auf Menschen und Tiere verlieh? Man hätte ihn sich als Löwenbändiger vorstellen können! Doch es war klar, daß diese Welt ihm nicht den Anwendungsbereich liefern konnte, den er brauchte und von dem er träumte. Er war ein draufgängerischer Pilot und ein Schriftsteller von beachtlichem Format, dessen Phantasie eher mit einer Traumwelt verschmolz, als mit dem, was wir Wirklichkeit nennen. Ich erkannte - entweder in seinen Händen oder durch Intuition - daß er unfallgefährdet war und vermutete Selbstmordtendenzen. Möglicherweise wählte er die zierliche südamerikanische Prinzessin zu seiner Frau, weil sie wie eine Traumgestalt aussah, und mit Traumgestalten konnte er Kontakt aufnehmen.
Saint-Exupery glaubte an das Glück und konnte mit freiem Willen nichts anfangen. »Ich weiß nicht, wie ich gehe, oder wohin ich gehe«, waren seine Worte, die ich mir notierte, als ich mir seine Hände zum zweiten Mal am 20. März 1936 ansah. Er war zärtlich wie eine Frau und hatte einen unwiderstehlichen Drang, leidenden Menschen und Tieren zu helfen. Wer ihn auch immer um Hilfe anging, er konnte nicht »Nein« sagen, und vemutlich hat er einigen Schriftstellerinnen beim Schreiben ihrer Bücher unter die Arme gegriffen.
Ein Mann von einer solchen natürlichen Vornehmheit konnte auf soziale Maskerade verzichten, und seine Fragen wie seine Antworten hatten den gleichen Klang vollständiger Freiheit, wie ich sie bei Breton, Eluard, Walter Benjamin und Aldous Huxley gefunden hatte.
Consuelo de Saint-Exupery traf ich im Jahre 1948 wieder. Sie bat mich, etwas über ihren Mann zu schreiben, das sie der Biographie beifügen könnte, die sie über ihn plante. Ich weiß nicht, ob sie diese Biographie je geschrieben hat, doch ich weiß genau, daß ich ablehnte. Sie mag der einzige Mensch gewesen sein, der ihn kannte, diesen so ganz und gar rätselhaften Menschen.
Antonin Artaud wurde mir als Schauspieler vorgestellt. Es überraschte mich, daß ein Mensch mit diesen gar nicht anziehenden Gesichtszügen, der zu allem Überfluß auch noch unwillkürlich grimassierte, solch einen Beruf ergriffen hatte. Ich weiß nicht, ob er schon 1935, als ich ihn traf, eine seiner Schriften über das Theater veröffentlicht hatte. Auf jeden Fall konnte ich damals noch nicht vorhersehen, daß er das Geschehen auf der Bühne revolutionieren würde. Ich fand ihn eher rührend in seiner offensichtlichen Hilflosigkeit und mit seinen Minderwertigkeitsgefühlen, die ihn so verschlossen machten. Als ich mir seine Hände ansah, erkannte ich: Er war ein Fanatiker, ein leidenschaftlicher Revolutionär, der alle Absicht hatte, seine Phantasien in die Tat umzusehen.
Ich sagte ihm damals, daß seine Hände ihn nicht als Schauspieler, sondern eher als Schriftsteller auswiesen. Und doch hatte ich keine Ahnung von seiner Berufung, ein Theoretiker des Dramas zu werden. Er sah aus wie ein Jugendlicher und verhielt sich wie ein Kind. Er war hochgradig beeinflußbar, und der gehetzte Ausdruck in seinem Gesicht reflektierte einen Zustand panischer Angst. In seinem Entsetzen über sich und seine Umwelt nahm er Zuflucht zu Haschisch. Er war ein Mensch, der sich an andere klammerte und unfähig war, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich dachte, er hätte keinerlei Ambitionen und war daher sehr erstaunt, als ich später von seinen Leistungen erfuhr. Zwar erkannte ich, daß er sich an der Grenze zur Geisteskrankheit befand, wußte aber nicht, daß er diese Grenze überschreiten würde bis zu einem Punkt, von dem es kein Zurück mehr geben sollte.
Frauen befanden sich unter den surrealistischen Künstlern in der Minderzahl. Auch in diesem Kreis wurde die männliche Vorherrschaft aufrechterhalten, trotz der gewonnenen Einsichten in das menschliche Wesen und trotz der Proklamation absoluter Freiheit. Die Surrealisten halfen den Frauen nicht dabei, sich eine Plattform zu schaffen, auf der sie sich selbst als den Männern ebenbürtig beweisen konnten. Tatsächlich konnte man sie an den Fingern einer Hand abzählen. Die surrealistischen Künstlerinnen, die ich kennenlernte, waren die Malerin Valentine Hugo, die Schriftstellerinnen Louise de Vilmorin und Madame de Vogue und die Akrobatin Jaqueline Breton, die auch eine Dichterin war.
Der Feminismus ist so alt wie die Welt, und auch über die bisexuelle Natur des Menschen kann es keinen Zweifel geben, schließlich existiert sie seit prähistorischen Zeiten. Mir kam eine unbeantwortete Frage in den Sinn: Wie war es möglich, daß Frauen das »andere«, das untergeordnete Geschlecht werden konnten, statt die Evolution der Menschheit anzuführen? Bedeutende Frauen wurden immer angestarrt, als seien sie das achte Weltwunder, von Sappho bis hin zu Virginia Woolf und Simone de Beauvoir.
Frauen sind bekannt für ihre geistige Flexibilität, ein gutes Rüstzeug, um sich neuen und unerwarteten Umständen geschickt anzupassen. Sie können mit großer Schnelligkeit geistig und emotional reagieren. Männer dagegen neigen zu steifen emotionalen und körperlichen Reaktionen. Steifheit disponiert zu Eigensinn,
genauso wie zu gefühlsmäßigen und geistigen Scheuklappen. Frauen fehlt sicherlich die rohe Körperkraft der Männer, doch andere Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind das Ergebnis von Erziehung und stereotypen Vorstellungen und nicht der »Natur«. Die Bisexualität der Menschen scheint bei Frauen stärker ausgeprägt zu sein als bei Männern, weil Frauen der Natur näher sind. Und Künstlerinnen verkörpern dies noch stärker als andere Frauen.
Jaqueline Breton war eine der beeindruckendsten Persönlichkeiten unter den Surrealisten und ein perfektes Beispiel einer bisexuellen Frau. Sie hatte den Körper eines Athleten und war sowohl Zirkusakrobatin wie Schwimmeisterin gewesen. Ich nannte sie eine Künstlerin des Körpers. Mentalität und Temperament dieser bisexuellen Frau paßten hervorragend zu ihrem Körperbau. Sie hatte die Ruhelosigkeit eines Menschen, dessen Neugier nie befriedigt werden kann. Ihre scharfe Intelligenz und ihre witzige Schlagfertigkeit machten sie zu einer anregenden Gefährtin und einer prominenten Vertreterin des Surrealismus. Trotz ihrer Begeisterungsfähigkeit für alles Ungewöhnliche und Absurde konnte ihr Scharfsinn Authentisches von Fälschungen sofort unterscheiden. Sie teilte die Ansichten ihres Mannes, und beide ähnelten einander in ihrer Vorliebe für Reisen und Abenteuer; jeden Augenblick waren sie bereit, an der nächsten Ecke Unerwartetem zu begegnen.
Es gab noch eine andere Seite an Jaqueline Breton, die sie als ihr anderes Selbst betrachtete. Gelegentlich litt sie an einem geistigen Dämmerzustand; dann gewann ihre Phantasie die Oberhand und legte ihre körperliche Energie lahm. Während ihr Körper aus dem Rhythmus zu geraten schien, lauschte sie einem eigenen, inneren Rhythmus, den sie in Poesie übersetzte. In solchen Zeiten fühlte sie sich von der Außenwelt isoliert und zog sich von ihren Freunden zurück, doch sie kehrte mit der gleichen guten Laune wieder, wenn sie aus einer solchen Phase heraus war. Jaqueline Breton war eine viel zu starke Persönlichkeit, um sich von irgendeiner äußeren oder inneren Kraft besiegen oder »auffressen« zu lassen.
Der phantasievolle Introvertierte hat eine bessere Chance, sich an neue Bedingungen anzupassen, als der nach außen orientierte Extro vertierte. Wer genug Vorstellungskraft besitzt, dem gehen andere Menschen unter die Haut - die Grundlage für die Kunst eines Schauspielers, sich mit den Menschen, die er darstellt, zu identifizieren. Introvertierte haben dem Schicksal viel zu danken, auch wenn das Leben ihnen übel mitspielt.
Die Ereignisse im Nazideutschland ließen die Vergangenheit in der Weimarer Republik wie ein Narren-Paradies erscheinen. Die Zukunftsaussichten waren unbestimmt, wenn nicht sogar trübe, als ich mich aus Deutschland absetzte. Doch das Schicksal war mir wohlgesonnen. Ich zog das große Los, indem ich den »richtigen« Menschen begegnete. Das Lebensmuster, das sich daraus ergab, war kompliziert und widersprüchlich. Mein neuer Beruf brachte mich mit Leuten in Kontakt, die völlig verschieden waren von denen, die ich früher kennengelernt hatte. Glücklicherweise blieb ich mit beiden Beinen auf der Erde, und das verdankte ich den Freunden, bei denen ich lebte, dem Wohlwollen der Walions und der Huxleys - und der geistesverwandten Sympathie der Surrealisten. Ich wurde gleichzeitig in unterschiedliche Welten geworfen, die kaum oder gar nichts miteinander zu tun hatten. Wie kann man in einem chaotischen, in grellen Farben gemalten Bild die zugrundeliegende Struktur erkennen? Das erschien mir eine beängstigende Aufgabe. Doch es war ein aufregendes Abenteuer, am Rande der Dinge zu leben, auch wenn ich oft nicht wußte, wie ich auftreten sollte. Es verstärkte meine Energien und weckte meine Neugier. Das Rad des Schicksals hatte sich in die richtige Richtung gedreht, um meine Forschung und meine menschlichen Erfahrungen vorwärts zu bringen. Ich hatte wenig Zeit und Neigung, über die Ereignisse nachzudenken, die mich nach Frankreich getrieben hatten. Doch die Ereignisse vor meiner Flucht hatte ich nur verdrängt, leicht konnten sie aus ihrem unruhigen Schlaf wieder erstehen.
Obwohl ich es nicht leiden konnte, in Restaurants zu gehen, die häufig von Deutschen aufgesucht wurden, ihre Sprache zu hören und ihre Gesichter zu sehen, hatte ich die Einladung von Helens deutschen Freunden immer mit Freuden angenommen. Lebte denn nicht auch Baladine mit einem jungen deutschen Journalisten
zusammen, der sie anbetete und keine Anzeichen erkennen ließ, sie zu verlassen? Nur zu oft führte ihn seine Arbeit zurück nach Frankfurt am Main, aber er änderte nie sein Verhalten ihr gegenüber - jedenfalls noch nicht. Vielleicht bewahrte mich ein gesunder Instinkt davor, den schwankenden Boden meiner Beziehungen zu »guten« Deutschen nicht zu erkennen. Ich hatte keinen Zweifel über Helens antifaschistische Haltung. Sie war mit einem Juden verheiratet und ihr Sohn war Halbjude. Doch ich hatte ein feines Gespür für antisemitische Äußerungen und Gesten bekommen, in welcher Form auch immer sie sich zeigten. Die wirkliche Situation zwischen Juden und allen Deutschen wurde mir jedoch erst später klar, als mein Leben wieder einmal eine neue Wende nahm.
Helen war eine bekannte Figur, nicht nur in der französischen »Couture«, sondern auch unter den Surrealisten und den unkonventionellen Mitgliedern der französischen Gesellschaft. Obwohl mich meine Handinterpretationen finanziell unabhängig gemacht hatten, blieb ich nach wie vor emotional abhängig von meinen Freunden, und noch fühlte ich mich bei ihnen sicher. Mir entging, daß eine Deutsche, auch wenn sie enge Kontakte zu Juden und Antifaschisten hatte, zwiespältige Gefühle über sie hegen konnte. Vielleicht war etwas davon in meiner Freundin Helen. Sie wurde mir gegenüber immer reservierter. Die Tatsache, daß ich mich in die Prinzessin Armande de Polignac verliebt hatte, und Helen diese Frau, die tägliche Telefongespräche mit mir führte, nicht mochte, mag ihren Teil zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Vielleicht war sie doch eifersüchtig oder gar neidisch auf diese Freundschaft. Paul wollte die wachsende Kluft zwischen seiner Mutter und mir nicht wahrhaben und benahm sich, als wäre nichts geschehen. Doch eines Tages beleidigte Helen mich mit einer unmißverständlichen antisemitischen Äußerung. Ich sah sie lange an, sagte aber kein Wort. Dann ging ich auf mein Zimmer, packte meinen Koffer und ging. Paul, der mir beim Packen behilflich gewesen war, sah dem Taxi nach, in dem ich wegfuhr, dann kehrte er zurück zu seiner Mutter. Ich sollte Helen die nächsten 30 Jahre nicht mehr sehen, Paul aber traf ich in London Jahre später, als er Offizier bei de Gaulle war.
Glücklicherweise kam ich erst einmal im Hotel du Quai Voltaire unter. Nachdem ich zwei Jahre das fröhliche Leben von Helen und Paul geteilt hatte, war ich wieder allein. Die Jahre, in denen ich mich bei ihnen zuhause gefühlt hatte, waren für mich mit einer Menge neuer Erfahrungen verbunden. Sie hatten meine Forschung vorangetrieben und mir neue Freunde und finanzielle Unabhängigkeit eingebracht. Ich stellte jedoch fest, daß die veränderte Situation eher einen Fortschritt als einen Velust für mich bedeutete, denn sie stärkte meine Willenskraft und mein Selbstbewußtsein. Und sie führte dazu, daß ich alles Deutsche ablehnte.
Nicht lange nach der Trennung von Helen sagten mir auch ihre deutschen Freunde, die mich vorher immer zu sich nach Hause eingeladen hatten, Lebewohl, denn der Kontakt zu mir bedeutete für sie Gefahr. Baladines deutscher Partner war nach Frankfurt zurückgerufen worden, und sie hörte nie wieder etwas von ihm. Ich hatte endgültig eine Zwischenstation verlassen. Die Loslösung ging fast schmerzlos vor sich und bedeutete eher eine Befreiung für mich als eine Deprivation. Ich begann mich zu fragen, ob ich blind gewesen war, den Kontakt zu deutschen Menschen so lange aufrecht zu erhalten.
Nach meinem Debakel mit Helen kamen mir einige längst überfällige Fragen zu Deutschland und den Juden in den Sinn. Ich begann, meine frühere Identifikation mit Deutschland bei allen Gelegenheiten in Frage zu stellen. Der Bruch mit meinen deutschen Freunden bedeutete für mich nicht nur einen persönlichen Schock. Mir war bewußt geworden, was es bedeutete, Jude zu sein - daß keine Nationalität, welche man mir auch immer gewähren würde, etwas daran ändern konnte. Ich war eine internationale Jüdin, ob als staatenlose Person oder als Bürgerin des einen oder anderen Landes. Ich war bereit, diesen Status zu akzeptieren - und ihn auch zu wollen. Wenn man mich heute über meine Nationalität befragt, sage ich immer: »Ich bin eine internationale Jüdin mit einem britischen Paß«.
Ich konnte die Deutschen, die mir aus Gründen des Selbstschutzes die Tür wiesen, nicht hassen, sie nicht einmal ablehnen. Hatten sie mir doch, indirekt, geholfen, meine jüdische Identität zu erkennen. Warum war ich vor dem deutschen Desaster nur so blind gewesen, mir selbst gegenüber das Privileg zu leugnen, anders als diese Deutschen zu sein, und hatte mich statt dessen als eine von ihnen gefühlt? Endlich sah ich ein, was an meiner Vorstellung von deutschen Juden falsch gewesen war. Die Deutschen hatten immer eine Gefahr für die Juden bedeutet und nicht umgekehrt, wie sie stets behauptet hatten. Ich erinnere mich daran, wie ich mich von Kind an weit mehr zu meinesgleichen hingezogen gefühlt hatte als zu Deutschen. Doch man konnte nicht leugnen, daß Deutsche und Juden sich immer in einer Art Haß-Liebe begegnet waren. Ihre Fremdheit hatte der Beziehung zwischen ihnen eher eine besondere Würze verliehen.
Die Feindschaft der Deutschen gegenüber den Juden und anderen Minoritäten erreichte, obwohl sie alter Herkunft war, in der Nazizeit ihren Höhepunkt. Die Deutschen hatten den zivilisierenden Einfluß, den die Juden auf sie ausübten, nie realisiert. Ich dachte daran, wie angewidert ich gewesen war, als ich vor meiner Abreise deutsche Zeitungen durchgeblättert hatte. Man wurde mit der Vergewaltigung einer Sprache konfrontiert, mit der Brutalisierung von Wörtern durch Neologismen, die in dieser flexiblen Sprache so leicht möglich sind. Die Nazis machten die Arbeiten von Goethe, Wieland, Hölderlin, Novalis, Brentano - der ganzen Galerie ihrer Dichter, Schriftsteller und Denker - zum Gespött. Die finsteren Anzeichen einer schrecklichen Veränderung der Werte und der Moral waren schon vor der Zeit Hitlers erkennbar. Etwa zwei Jahre bevor ich das Land verließ, hatte ich zum ersten Mal eine erschreckende Brutalität in deutschen Gesichtern bemerkt. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Max Ernst mag ähnliche Erfahrungen gemacht haben, denn er drückte die emotionale Verderbtheit der Menschen damals aus, indem er Tierköpfe auf ihre Rümpfe setzte. Ich kann mich daran erinnern, daß ich Kathe-rine von meinen Erlebnissen erzählte und hinzufügte, ich würde es vorziehen, in Frankreich zu leben. Doch selbst dann noch weigerte ich mich, etwas anderes in mir zu sehen als eine deutsche Jüdin. Nur: Zu diesem Zeitpunkt muß der Boden unter meinen Füßen bereits geschwankt haben.
Ich weiß noch, wie ich mich fühlte, als eine jüdische Krankenschwester nach ihrer Heirat mit einem jüdischen Regierungsbeamten von ihrem Mann als »Frau Oberregierungsrat« vorgestellt wurde. Warum drängten sich die Juden nur danach, die höhere Beamtenlaufbahn einzuschlagen? Warum imitierten sie lächerliche, soziale Gepflogenheiten, die so unverhohlen auf den deutschen Minderwertigkeitskomplex verwiesen? Warum spielten sie dasselbe dumme Spiel wie die Deutschen? Man mußte tief Luft holen und an sich halten, um über die jüdischen Imitationen teutonischer Gebräuche - zu denen auch Duelle und das Austeilen von Schmissen auf studentische Gesichter gehörten - nicht in Lachen oder Weinen auszubrechen. Die Juden lebten in einer Phantasiewelt und bemerkten die Signale der Gefahr nicht. Viele Juden verloren ihre Menschlichkeit und Wärme auf dem Weg der Anpassung an alles Deutsche. Als nach der kommunistischen Revolution von 1917 Juden aus Osteuropa in das Land »eindrangen«, verschlossen die deutschen Juden entweder die Augen vor den Bedürfnissen der anderen oder gaben unverhohlen zu erkennen, daß sie sie am liebsten nicht im Land sehen wollten. Ihren eigenen Brüdern und Schwestern gegenüber zeigten sie sich besorgt, durch die osteuropäischen Juden vielleicht ihren Ruf als »gute Deutsche« zu verlieren. Sicherlich gab es negative Beispiele, vor allem unter den Großgrundbesitzern, den Bankiers oder den Hausbesitzern. Solche Vorgänge wurden zurecht gleichermaßen von Juden wie von Nicht-Juden verurteilt, doch sie steigerten den deutschen Antisemitismus zu seinem Höhepunkt.
Nur die Zionisten wachten auf und stellten sich der Wirklichkeit - lange bevor Hitler an die Macht kam. Andererseits hatten die deutschen Juden mit anderen Deutschen eine gemeinsame Muttersprache und waren in deren Kultur aufgewachsen. Ihr Vokabular und ihre Phantasie wurden aus derselben Quelle gespeist. Solche Juden, die in ihrer Arbeit von Worten abhängig waren, wie Schriftsteller und Dichter, hatten sogar noch ein engeres Band zur deutschen Sprache. Die Crux an der mißlichen Lage der Juden war der Verlust ihrer Muttersprache, die durch keine andere ersetzt werden konnte. Abgesehen von dieser offensichtlichen Schwierigkeit, wollten sie im Exil nicht schon wieder enge jüdische Gemeinschaften aufbauen, weil sie fürchteten, nur in eine andere Art des jüdischen Gettos zu geraten.
Die jüdische Frage bleibt ein Problem, für das es keine Lösung gibt. Mich hat beeindruckt, daß Isaac Bashevis Singer, der Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1978, seine Bücher in Jiddisch schreibt. Er kennt die Fallstricke einer geborgten Sprache. In einem Interview mit dem »Observer« (17.12.78) verkündete Singer, daß er an die jiddische Sprache glaubt. In seinen Augen ist Jiddisch keine sterbende, nur eine kranke Sprache. Singer - einer der Überlebenden des Naziterrors - nahm diese jüdische Identität mit sich ins Exil. Er blieb ein »ungeteilter« Mensch. »Ein jüdischer Schriftsteller kann«, so sagte er, »wenn er kein anderes Thema hat, sich immer hinsetzen und über das jüdische Problem schreiben, denn er mag eine Million Artikel schreiben, und immer noch werden die Juden ein Problem haben«.
Meine Reflexionen über Deutsche und Juden waren gleichzeitig deprimierend und heilsam. Das Versenken in die Vergangenheit hinderte mich nicht daran, die Freiheit zu genießen, die ich durch meinen Umzug vom Boulevard Brune zum Hotel Voltaire empfand. Ich wohnte dort sehr gern. Der schöne Quai mit den Bücherständen der Straßenhändler erfreute mich, und auch der Louvre auf der anderen Seite der Seine machte mir jede Stunde bewußt, daß ich jetzt in Paris lebte, der Stadt der Kultur. Einige Wochen nach meinem Umzug mietete sich auch Sybille Bedford ein Zimmer im Hotel; wir trafen und unterhielten uns oft, bis wir uns allmählich miteinander anfreundeten.
Meinen Lebensunterhalt unter außergewöhnlichen Umständen zu verdienen, meinen Forschungsarbeiten nachzugehen, Journalisten und Photographen aus dem Ausland zu treffen - all das war nicht nur zeitaufwendig, sondern nahm auch den größten Teil meiner Energie in Anspruch. Es lohnte sich, aber es erschöpfte mich auch. Symptome der Überbeanspruchung mißachtete ich, denn ich konnte nicht auf halbem Weg innehalten. Ich mußte viele Termine wahrnehmen, zunehmend unter der Gefahr, dabei zusammenzubrechen. Es waren nicht nur meine Forschung und die Verabredungen mit den ärztlichen Standesvertretern, die mir so zu schaffen machten. Im Gegenteil, gerade sie hatten einen therapeutischen Effekt. Doch die Abendessen in großen Restaurants mit den »hohen Tieren« aus verschiedenen Ländern waren einschüchternd und konnten nur durch Selbstsuggestion und eine gewisse Menge Wein überstanden werden. Oft saß ich mit den Reichen und Mächtigen zu Tisch, die - geruhsam und wohlgenährt - Konversation betrieben, und rieb mir die Schläfen, um mein Gehirn wieder mit Blut zu versorgen. Und bei zahlreichen Gelegenheiten fürchtete ich, demnächst unter den Tisch zu rutschen. Die Anstrengung, Unterhaltungen zu folgen, die überwiegend in Englisch geführt wurden, das ich kaum verstand, war eine Folter für mich. Aber man kann sich, auch wenn man jung ist, nicht dauerhaft überanstrengen. Mit der Zeit bekam ich eine Art Klaustrophobie in den Restaurants, die deutlich zunahm, nachdem ich Helen verlassen hatte. Dieses beklemmende Gefühl des Eingesperrtseins schien das einzige Trauma zu sein, das die Trennung bei mir ausgelöst hatte.
Maria Huxley hatte mir vorgeschlagen, ein Buch über Handinterpretation zu schreiben. Ihr Interesse an meiner Arbeit verführte sie dazu, mehr zu versprechen als sie einhalten konnte, nämlich mir bei der Übersetzung zu helfen. Aldous Huxley hatte zugesagt, ein Vorwort zu dem Buch zu schreiben, an dem der Verlag Chatto & Windus interessiert war. Nachdem Maria einige Monate versucht hatte, meinen deutschen Text zu übersetzen, ergriff sie Panik. Sie konnte tatsächlich nicht gut genug Deutsch und hatte Angst, sich mit einer Sache zu überlasten, die sie nicht in Einklang mit ihrem ausgefüllten Leben bringen konnte. Sie muß es als sehr unangenehm empfunden haben, sich aus dem Projekt zurückzuziehen. Aber genau das wollte sie. Als ich mit beträchtlicher Beunruhigung und Traurigkeit darauf reagierte, versprach sie, mich nicht im Stich zu lassen. In diesem Augenblick bot Sybille Bedford, die sich mit der Sprache auskannte, ihre Hilfe an. Dennoch sorgte sich Maria, daß das Buch nicht gut genug werden könnte, wenn die Übersetzung nicht professionell ausfallen würde. Am Ende übernahm Olive Cook diese Aufgabe.
Maria Huxley fühlte sich schuldig, weil sie mir zu einem Zeitpunkt Angst gemacht hatte, zu dem ich auf sie angewiesen war. Bei einem ihrer Besuche in Paris lud sie mich ein, sie in London zu besuchen. Die Huxleys besaßen eine Wohnung im Albany, Piccadilly, wo sie Herbst und Winter zu verbringen pflegten. Ich erkannte in diesem Angebot ihren Wunsch, mir zu helfen, hielt ihre großzügige Geste aber eher für ein Zeichen von Schuldgefühlen als für einen Freundschaftsbeweis. Sie wollte meinen Aufenthalt gut vorbereiten, mir in ihrer Nähe eine Wohnung mieten, und die meiste Zeit könnte ich bei Aldous und ihr verbringen. Ich sollte ihre Freunde kennenlernen, die möglicherweise geeignete Versuchspersonen für mein neues Buch wären, und könnte Klienten in meinen Räumen empfangen. Mich rührte ihre Großzügigkeit, und ich dankte ihr überschwenglich. Doch nachdem sie gegangen war, wurde ich mir unsicher, ob ich tatsächlich in ein paar Monaten nach London reisen sollte.
Ich konnte mir meinen Platz im Milieu der Huxleys nicht vorstellen. Außerdem fand ich es unangemessen, ihre Freunde zu treffen, um gleich von ihnen Gebrauch zu machen. Meine ambivalente Beziehung zu Maria lastete schwer auf mir, und ich machte mir viele Gedanken über meine widersprüchlichen Gefühle für sie. Meiner Bewunderung für ihre Persönlichkeit taten meine Zweifel an ihrer Standfestigkeit keinen Abbruch. Sie beeindruckte mich durch ihre Art, die Welt mit den Augen einer Malerin wahrzunehmen. Es war nicht nur eine angeborene Neugier, weshalb sie sich die Menschen so sorgfältig ansah und ihnen gut zuhörte, sie tat es auch für Aldous. Sie war seine Brücke zur Außenwelt geworden -seine Augen. Er war fast blind und benötigte ihre Hilfe, um sich in der Stadt zurechtzufinden.
Aber sie half ihm nicht nur durch das Alltagsleben; ihr geistiges Auge versorgte seine Phantasie auch mit neuen Eindrücken. Sie war es, die ihm die faszinierenden Berichte und den Klatsch über Leute lieferte, die Aldous' Geist anregten. Ihre praktische Art fand ihr Gegengewicht in einer lebhaften Vorstellungskraft, die ihm fehlte. Man konnte nicht anders, als von Maria fasziniert sein, so sehr man sie auch kritisieren mochte. Sie trug die Bewunderung anderer so leicht wie eine Feder und schien gar nicht zu bemerken, daß sie mit ihrem Magnetismus alle Männer in sich verliebt machte. Auch Frauen waren für ihren Charme nicht unempfänglich. Doch sie blickte immer besorgt und sorgenvoll drein, wie ein Clown, der das Publikum »in der Tasche« hat, doch unter seiner lachenden Maske ein melancholisches Naturell verbirgt. Maria war schlank und schön, doch sie hielt sich nicht dafür und versuchte zum Entsetzen ihrer Freunde ständig abzunehmen, obgleich ihr eigentlich das Gegenteil gutgetan hätte. Sie stürzte sich wie ein Komet in das Leben vieler Menschen, doch die meisten hätten es vorgezogen, wenn sie ein Stern gewesen und nicht so schnell, wie sie kam, aus ihrem Leben wieder verschwunden wäre.
Die Wallons lebten in einem kleinen Haus am Place de Trocadero, und bei ihnen gewann ich meine Lebensfreude wieder, die durch Maria Huxley zeitweilig gedämpft worden war. Henri Wallon stammte aus der Bretagne und sah auf den ersten Blick wie ein Vertreter des bretonischen Typs aus, abgesehen davon, daß er karottenrote Haare hatte. Seine Augen waren von einem durchdringenden Blau, er hatte ein hageres Gesicht und einen lebhaften Mund. Seine Gesten waren flink und stakkatoartig, wie sie für einen impulsiven und ungeduldigen Menschen charakteristisch sind. Er sprach leise und schnell. Das machte es oft schwierig, ihn zu verstehen. Seine Frau Germaine stammte aus einer Bauernfamilie und war eine stämmige Frau mit einer kleinen, fast affenartigen Stirn. Ihre dunklen Augen wirkten noch schwärzer durch buschige Augenbrauen, die über ihrem Nasenrücken nahtlos ineinander übergingen wie der breite Strich eines Malers. Sie konnte beinahe abstoßend aussehen, strahlte aber Wärme, Ausgeglichenheit und Wohlwollen aus.
Ich wußte, daß beide mich als persönliche Freundin betrachteten. Wir waren schnell über oberflächliche Kontakte hinausgekommen, denn sie luden mich häufig zu sich nach Hause zum Essen ein. In der französischen Gesellschaft ist dies eine große Ehre, die man nur guten Freunden, nicht einmal alten Bekannten zuteil werden läßt. Bei Professor Wallon fühlte ich mich ausgesprochen wohl, denn ich war mir seiner Zuneigung sicher. Er unterstützte mich, wo er nur konnte, und fragte sogar beim Direktorium des Rothschild Hospitals an, ob man mich nicht als Psychiaterin einstellen könnte. Er schlug sogar vor, einen besonderen Antrag zu stellen, um die französischen Ausländergesetze zu umgehen. Glücklicherweise hatte er keinen Erfolg. Es hätte mich davon abhalten können, ein Jahr später Frankreich zu verlassen. Im Rückblick finde ich es erstaunlich, daß er diesen Versuch unternahm, denn Frankreich hatte die striktesten Gesetze gegen die Berufsausübung von Ausländern.
Zwischen Professor Wallon und Maria Huxley lagen Welten, doch jeder von ihnen hatte mir die Starthilfe in ein neues Leben und ein neues Bewußtsein gegeben: Durch Maria lernte ich die Welt ihrer aristokratischen und literarischen Freunde kennen, durch Professor Wallon die französische Wissenschaft. Die Surrealisten hatten mich in ihre »Bruderschaft« aufgenommen und mir eine erste Plattform zur Verbreitung meiner Arbeit sogar über die Grenzen Frankreichs hinaus bereitgestellt: durch den Artikel, den ich in ihrer Zeitschrift »Minotaure« veröffentlichen durfte.
Obwohl ich wußte, daß der »Minotaure« einen Meilenstein in der Geschichte des Surrealismus darstellte und von vielen Menschen in ganz Europa und USA geschätzt wurde, erkannte ich seine zeitlose Bedeutung erst vor drei Jahren. Zufällig besuchte ich damals die Ausstellung »Hommage à Tériade« in der Londoner Royal Academy, wenige Tage bevor sie zu Ende ging. Nachdem ich die Gemälde biblischer Szenen aus dem alten Testament von Marc Chagall bewundert hatte, betrat ich einen Raum, in dem Zeichnungen von Picasso ausgestellt waren. Dort fiel mein Auge auf einen glasbedeckten Tisch. Er enthielt Auszüge aus dem »Minotaure«. Darunter befanden sich zwei Seiten aus »Les Revelations Psychologiques de la Main par le docteur Lotte Wolff«. Ich »schwebte« nahezu aus dem Raum.
Dieses Ereignis ließ mich an den Herbst des Jahres 1935 zurückzudenken, als der Artikel publiziert wurde. An einem nebligen Oktobertag dieses Jahres hatte ich das erste Mal englischen Boden betreten, um Maria Huxley zu besuchen. In diesem seltsamen, gelassen wirkenden Land schien der Nebel die Menschen vor der krassen Erkenntnis der Wirklichkeit zu bewahren. Während der ersten Tage meines Aufenthaltes gewann ich ein durch und durch idealistisches Bild von England: Ich schien in einer Märchenwelt gelandet zu sein, spazierte über den Piccadilly und traf einige der privilegierten Bürger dieses Landes. Meine ersten Eindrücke beruhten größtenteils auf einer Illusion, waren aber nicht untypisch für die Wirkung, die England auf den ausländischen Besucher ausübt.
Nach meinem Leben in Deutschland und Frankreich beeindruckte mich die Andersartigkeit der Einstellung und der Atmosphäre, die den Eindruck erweckten, daß England dem Kontinent weitaus überlegen war.
Ich kam in eine luxuriöse Umgebung, luxuriös nicht im Sinne materieller Reichtümer, sondern geistiger Qualitäten. Mein Bett war gemacht. Maria Huxley hatte dieses Unternehmen bis zur Perfektion organisiert: Von dem Anmieten einer Suite im Dalmeny Court, Piccadilly, bis zu arrangierten Treffen mit den Berühmten, den Reichen, und den »Löwen-Jägern«. Aldous, der ewige Fremde, und die lebhafte Maria standen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Schriftstellern, Künstlern und anderen ungewöhnlichen Menschen, denen ich während meines Besuches begegnete. Ich konnte nicht aufhören, Marias Intelligenz zu bewundern, ihre unermüdliche Begeisterung für dieses ganze Unternehmen und für jede einzelne Begegnung, die sie für mich im Albany oder im Dalmeny Court arrangierte. Sie mußte sich ganz schön verausgabt haben. Aldous' gute Laune und seine Toleranz gegenüber »Störenfrieden« ließen ihn Opfer auf Kosten seiner eigenen Bedürfnisse bringen. Bei diesem Besuch bemerkte ich in Aldous die gleiche Unabhängigkeit gegenüber jeglicher Art von Konventionen, die mich auch bei Walter Benjamin beeindruckt hatte. Die Mißachtung der Huxleys für alles, »was die Nachbarn sagen mögen«, war beispielhaft. Es klingelte ständig an der Tür ihrer Wohnung im Albany, und häufig gaben sich hier Menschen die Türklinke in die Hand, deren Gesichter den Nachbarn gut bekannt sein mußten. Als sei dies nicht genug, konnten die Passanten beobachten, wie ich mich mit einem Vergrößerungsglas über die Hände dieser Berühmtheiten beugte. Aldous verließ das Haus, bevor ich mit meiner Arbeit begann, und Maria verschwand, nachdem sie meine »Klienten« begrüßt hatte, nach unten in die Küche oder zog sich in andere Räume des Hauses zurück.
Maria legte besonderen Wert darauf, daß ich die Hände von Virginia Woolf untersuchte. »Sie ist ein Star - unsere größte Schriftstellerin«, erzählte sie mir, die nur spärliche Kenntnisse der englischen Sprache und praktisch überhaupt keine der englischen Literatur hatte. Doch sie war eine genaue Beobachterin menschlicher Schwächen, und bald hatte sie herausgefunden, daß ich sehr empfindlich auf schroffe Bemerkungen reagierte. Sie warnte mich vor Virginia Woolfs überheblicher Haltung und ihrer scharfen Zunge. Maria hatte sie zunächst zum Tee eingeladen, um erst einmal eine entspannte Atmosphäre zu schaffen, bevor ich ihre Hände untersuchte. Bis zur letzten Minute vor ihrer Ankunft fürchteten wir beide, daß sie das Treffen doch noch absagen würde. Doch Virginia Woolf kam pünktlich zur vereinbarten Zeit. Sie trug einen schwarzen Mantel und einen großen, braunen Hut. Ihre Haltung war reserviert und etwas mißtrauisch. Doch ihre Neugier, ein Mitglied des Arztestandes zu treffen, das anderen aus der Hand lesen konnte, war offensichtlich genügend geweckt worden, um sie wenigstens einen Blick auf mich und meine Arbeit werfen zu lassen. Auf den ersten Blick fand ich sie weder schön noch attraktiv, und das war mir nur recht, denn es bedeutete, daß sie mir keine Ehrfurcht einflößte. Doch nach zehn Minuten hatte sie das Gegenteil erreicht. Sie reizte mich mit der zynischen Frage: »Und Sie glauben also wirklich, daß etwas dran ist an der Handleserei?« »Ich glaube es nicht, ich weiß es«, war meine Antwort. Zum ersten Mal sah sie mir mit einem überraschten Lächeln ins Gesicht. Eine harte Frau, dachte ich. Mir waren ihre fest zusammengepreßten Lippen und die Linien um ihren Mund aufgefallen, und ich vermutete, daß sie sich daran gewöhnt hatte, unangenehme Gedanken und Gefühle zurückzudrängen. Doch in dem Augenblick, in dem sie mir gerade in die Augen sah und ich in ihre sehen konnte, fühlte ich mich besser. Maria stellte fest, daß dies der geeignete Augenblick war, um uns allein zu lassen und schlug vor, ich solle jetzt sofort Virginia Woolfs Hände untersuchen, so daß sie selbst beurteilen könne, ob etwas »dran ist« oder nicht. »Am besten setzt ihr euch ans Fenster, da habt ihr mehr Licht«, sagte sie beim Hinausgehen.
Und so setzten wir uns ans Fenster. Mein Vergrößerungsglas in der Hand, meine Lesebrille vor den Augen, zog ich Virginia Woolfs linke Hand zu mir heran und nach einer Weile ihre rechte. Jetzt hatte ich die Situation voll im Griff. Ich sprach mit ihr über sie selbst, nicht aber über ihre Arbeit, denn ich hatte keines ihrer Bücher gelesen. Was ich sah - durch Intuition oder durch meine Technik, wahrscheinlich war es eine Mischung von beidem - war ein zutiefst gestörter Mensch, der um sein emotionales Gleichgewicht und seine geistige Gesundheit rang. Sie wurde gelegentlich blaß, sog jedes Wort in sich auf (wir sprachen französisch miteinander), und nachdem sie mir eine lange Zeit zugehört hatte, stellte sie Fragen. Während wir noch redeten, wurde es dunkel; es waren vielleicht zwei Stunden vergangen, als Maria ein Zeichen gab, daß sie im Raum war. Sie war schon vor einiger Zeit zurückgekommen, aber als sie sah, wie sehr wir miteinander im Gespräch vertieft waren, hatte sie das Zimmer wieder verlassen. Das Gespräch endete offensichtlich zu Virginia Woolfs Zufriedenheit. Sie bat mich, am folgenden Sonntag in ihr Haus am Tavistock Square zum Tee zu kommen. Ich nahm hocherfreut an. Später erfuhr ich, daß Lady Ottoline Morell ihr den Rat gegeben hatte, mich zu konsultieren.
Bevor ich mich zum Tavistock Square auf den Weg machte, warnte mich Maria, ich solle auf der Hut sein. »Ganz bestimmt wird sie versuchen, alles über Dich herauszufinden, und sie wird diese persönlichen Informationen bei Bedarf in ihren Büchern verwenden.« Ich lachte, denn ich war einem solchen Ansinnen gegenüber taub. Mir war so gar nicht klar, warum ich diese Einladung zum Tee bekommen hatte; vielleicht, um meine Handanalyse fortzusetzen? Als ich in dem hohen, schmalen Haus ankam, wurde ich in ein Zimmer im obersten Stockwerk geleitet, wo Virginia Woolf an einem Tisch saß, umgeben mit allen Utensilien eines englischen Teenachmittages. Sie spielte die perfekte Gastgeberin, und darauf konnte ich mir zunächst keinen Reim machen. Sie versuchte mich nicht mit Smalltalk zu unterhalten, sondern begann mich ohne Umschweife über meine Erfahrungen im Nazideutschland auszufragen. Zwischendurch überlegte ich, ob ihr Bedürfnis, aus erster Hand einiges über den Naziterror zu erfahren, der wahre Grund für diese Einladung gewesen war. Ich erzählte ihr eine ganze Menge über meine Verhaftung als angebliche Spionin in Männerkleidung, die Hausdurchsuchung und meine Unruhe und Einsamkeit nach all diesen Ereignissen. »Mein Mann ist Jude«, sagte sie, nachdem ich geendet hatte. »Er ist der humanste Mensch, den ich kenne«, und viel später am Nachmittag gestand sie mir: »Leonhard ist meine Mutter«.
Doch sie drängte mich nicht, Details aus meinem Privatleben preiszugeben. Wir saßen eine lange Zeit an diesem Tisch. Nach einer Weile sagte sie zögernd: »Kommen Sie, wir setzen uns Rücken an Rücken, dann kann ich mich besser entspannen«. Und so setzte sich jede von uns in einen Sessel mit Blick auf eine Wand. Sie wollte wissen, wie ich Menschen helfen würde, die unter nervöser Anspannung und Angstzuständen litten. »Ein Psychologe sollte niemals Ratschläge erteilen. Für Angstzustände gibt es keine therapeutischen Schnellbehandlungen, und nervöse Anspannung hat viele Ursachen.« Als ich jedoch den Vorschlag machte, man könnte den gesunden Menschenverstand einsetzen, um eine Linderung dieser Symptome zu erreichen, stimmte sie mir zu. »Haben Sie schon einmal daran gedacht, etwas mit Ihren Händen zu arbeiten, etwa Häkeln oder Stricken?« fragte ich. Nein, sie sei zu ungeduldig, war die Antwort. »Und was halten Sie vom Schreibmaschine schreiben? Lassen Sie Ihre Energie mechanisch aus sich herausströmen, das ist eine mögliche Hilfe gegen eine verkrampfte Haltung und steife Gelenke.« »Ja das klingt vernünftig«, erwiderte sie. Pause. Das Schweigen dauerte eine Minute, vielleicht zwei. Dann fragte sie zögernd: »Was halten Sie von der Psychoanalyse?« »Sie meinen die Freudianische Analyse?« »Ja«. »Ich kann sie nicht beurteilen, denn ich selbst habe eine Jungsche Analyse gemacht. Ich kann nur sagen, daß sie teuer ist und ein paar Jahre dauert. Sie mag einigen Menschen helfen, anderen nicht. In bestimmten Fällen ist sie kontraindiziert.« Sie sprang darauf an. »Sie meinen, in meinem Fall?« »Ja, ich glaube schon.« »Erzählen Sie mir von der Jungschen Analyse.« »Ich kann nur von meinen eigenen Erfahrungen berichten und ihren allgemeinen Wert nicht beurteilen«, antwortete ich. »Sie tat mir gut, aber nicht aus den Gründen, die man von einer Psychotherapie erwartet. Es ist ein Glücksfall, wenn man einen Analytiker findet, den man mag. Der wirkliche Kontakt zwischen Arzt und Patient ist meiner Meinung nach die unerläßliche Voraussetzung jeder Art von Therapie. Ich mochte meine Analytikerin sehr. Ich ging zu ihr, weil ich einsam war und meine Freunde nicht mit meinem »verlorenen Land« belasten wollte. Die Nazis drohten mir, alles, was ich hatte, zu nehmen. Die Hilfe, die ich bekam, war wie eine Droge, einige Stunden in der Woche die Flucht aus einer erschreckenden Realität.« »Erzählen Sie mir mehr«, drängte sie.
»Sechs Monate, bevor ich nach Frankreich emigrierte, wurde ich so depressiv, daß ich eine Jung'sche Analytikerin konsultierte; sie empfahl mir später eine Kollegin in Paris, die ihre Arbeit mit mir fortsetzen würde. Ich folgte ihrer Empfehlung. Die beiden Analytikerinnen halfen mir sicherlich schon allein deswegen, weil ich sie mochte und ihnen vertraute. Ihre Persönlichkeiten hatten einen heilenden Einfluß auf mich«.
Eine Zeitlang kam keine Antwort. Dann: »Ich habe Zweifel an der Psychiatrie«. »Das haben viele Menschen«, sagte ich und vermied eine direkte Antwort.
Ich weiß nicht, ob ich bis dahin überhaupt bemerkt hatte, daß die Wände des Zimmers vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen zugestellt waren. Jedenfalls erhob sich meine Gastgeberin jetzt aus ihrem Sessel, ging geradewegs auf eines der Regale zu, nahm ein Buch heraus und schrieb etwas hinein. Es war »Die Fahrt zum Leuchtturm«, die deutsche Übersetzung von »To the Lighthouse«. »Ich möchte Ihnen dies schenken«, sagte sie und übergab mir das Buch. Wie schön sie aussah! Sie hatte eine große, schlanke Figur mit einem klassisch geschnittenen langen und schmalen Gesicht. Sie war geistig und körperlich eine Aristokratin. Trotz all' ihres Verständnisses für die falsche und entwürdigende Rolle der Frauen hätte sie niemals eine Suffragette sein können. Sie war eine elitäre Denkerin, deren Feminismus sich auf die intellektuelle Ebene beschränkte.
Ich legte ihr kostbares Geschenk in meine Aktentasche, bevor ich mich verabschiedete. Dann ging ich die Treppe hinunter und auf den Tavistock Square hinaus. Ich war kaum ein paar Meter gegangen, als ich bemerkte, daß ich meine Aktentasche vergessen hatte. In einer Art Trance rannte ich zurück zum Haus, aufgeregt und ängstlich-verlegen. Da stand sie in der Eingangstür, winkte und hielt die Tasche hoch. Als sie mir die Tasche übergab, lächelte sie; es war ein ausdrucksloses Lächeln. Dann wandte sie ihren Kopf ab, betrachtete die Menschen, die vorübergingen und sagte: »All diese Leute, all diese Leute - manchmal verliere ich mich, laufe und laufe durch die Straßen. Und ich weiß nicht, wo ich bin.« Sie drehte sich noch einmal zu mir um, winkte mir mit ihrer linken Hand zum Abschied und ging ins Haus. Ich bekam sie nie wieder zu sehen.
Auch eine andere Freundin von Maria, Lady Ottoline Morell, besuchte ich zu Hause. Es klingt vielleicht komisch, aber es stimmt: Lady Ottoline und ich freundeten uns auf den ersten Blick an. Ich hatte sie aufgesucht, um ihre Hände zu analysieren, doch diesmal war alles anders. Ihr Hauptaugenmerk lag nicht darauf, was meine Analyse über sie verraten oder nicht verraten konnte. Sie schien weit mehr an meinem Leben als Flüchtling interessiert zu sein und daran, wie ich auf meine gegenwärtige Tätigkeit gekommen war, die - schließlich war ich Doktor der Medizin - für mich doch recht deprimierend sein mußte. Ich kann mich erinnern, daß ich zu ihr sagte: »Meine Arbeit kann nicht so leicht verstanden werden.« Sie bat mich wiederzukommen, jedoch nicht aus professionellen Gründen. Ich besuchte sie noch zwei oder dreimal in der Gower Street, bevor ich London wieder verließ. Anschließend führten wir eine lebhafte Korrespondenz. Sie schrieb mir viele Briefe während des einen Jahres, das ich noch in Paris verbrachte, und schickte mir die Bibel auf Deutsch als Zeichen besonderer Zuneigung. Ich las sie nur, weil es ein Geschenk von ihr war. Ich wußte, daß sie Trost im Neuen Testament fand und vermutlich annahm, es würde dieselbe Wirkung auch auf mich ausüben. Sie hatte einen wichtigen Punkt entdeckt, in dem wir uns ähnlich waren, als sie mir sagte: »Sie und ich, wir sind sehr einsame Menschen, und die Leute um uns herum haben keine Vorstellung davon«.
In einem ihrer Briefe berichtete Lady Ottoline von einem Besuch bei Virginia Woolf, der sie traurig gemacht habe. Sie mochte Virginia Woolf sehr, war aber betrübt über deren böse Zunge und ihre Herabsetzung der meisten Menschen, ob sie nun ihre Freunde waren oder nicht. In diesem Brief ging Lady Ottoline auch auf die Art ein, wie Virginia Woolf sich von mir verabschiedet hatte. »Ihre Geste, die Hand zu heben, nachdem sie Ihnen die Aktentasche wiedergab, war eine abwehrende Bewegung. Sie will wirkliche Menschen einfach nicht erkennen«, schrieb sie. Hatte ich aus einem Wunschdenken heraus Virginia Woolfs Geste als freundliches Abschiedswinken interpretiert? Sie war freundlich und zuvorkommend zu mir gewesen von dem Augenblick an, als wir uns in Albany zusammen ans Fenster gesetzt hatten. Möglicherweise waren Lady Ottolines und meine Version gleichermaßen richtig. Virginia Woolfs Krankheit konditionierte sie auf solch ambivalente Gefühle.
Aldous und Maria teilten meine Ansicht, daß die Untersuchung von Affen, besonders Menschenaffen, meiner Arbeit über die menschliche Hand eine neue Dimension hinzufügen würde. Julian Huxley war genau der richtige Mensch, um mir bei der Verwirklichung dieses Planes zu helfen. Das Beste war wohl, ihn aufzusuchen und mit ihm über mein Projekt zu sprechen, und bevor ich wieder nach Paris zurückfuhr, gingen Maria und ich bei Julian und seiner Frau in ihrer Wohnung im Zoologischen Garten vorbei. Er stimmte mir zu, daß es wichtig wäre, die Extremitäten unserer frühesten Vorfahren zu untersuchen, und lud mich ein, eine solche Studie im Londoner Zoo durchzuführen, wann immer ich dazu Gelegenheit hätte. Dieser Besuch buchstäblich in der letzten Minute vor meiner Abreise ließ in mir den Plan aufkeimen, Frankreich zu verlassen und nach England zu gehen.
Das Vergnügen, das ich empfand, die Straßen des West Ends zu durchqueren, war von anderer Qualität als die Spaziergänge auf den Pariser Boulevards. Trotz der Enge der Straßen und des starken Verkehrs besiegelte der Eindruck von Ruhe und Höflichkeit, die Fahrer und Fußgänger an den Tag legten, meine »Überzeugung«, daß London in der Tat die zivilisierteste Stadt Europas war. Europas? England schien weit vom Kontinent entfernt zu sein, wofür sein Inselstatus nur eine unzureichende Erklärung war. Die Herbststimmung mit dem jahreszeitlich bedingten Nebel konnte den Eindruck verstärken, daß England eher in der Luft hing als auf festem Grund stand. Der Schleier der Stille und der Schleier des Nebels verliehen London eine ganz eigene ästhetische Qualität, ließen es aber auch geisterhaft erscheinen. Und auch die Londoner schienen nicht auf festem Grund zu stehen. Zweimal mußte ich Einheimische fragen, wo eine bestimmte Straße lag, doch sie wußten es nicht, obwohl sich diese Straße ganz in ihrer Nähe befand. Kümmerten die Engländer sich so ausschließlich um ihre eigenen Belange, daß sie vor allem anderen die Augen verschlossen? Zurückhaltung und Absonderung kann man auch übertreiben, dachte ich. Man konnte diese freundlichen Menschen nicht erreichen; man konnte sie kaum erkennen in ihrer »nebelhaften« Präsenz. Niemals würde man ihnen nahe kommen können, war meine erste, oberflächliche Schlußfolgerung. In teuren Geschäften standen oder saßen die Verkäuferinnen gleichgültig herum, anscheinend ohne das geringste Bedürfnis, ihre Waren zu verkaufen. Man mußte auf sie zugehen, ihre innere »Schallmauer« durchbrechen, um ein Verkaufsgespräch zustandezubringen. Doch die Art der Engländer, überwiegend mit sich selbst beschäftigt zu sein, hatte auch eine angenehme Seite: Man wurde weder von ihnen angestarrt noch aggressiv behandelt. Sie ließen einen in Ruhe, ob man das nun wollte oder nicht. Das war ein großer Unterschied zum Kontinent, wo die Leute recht offen die rüdesten Bemerkungen über andere Menschen machten, wo sie brüllten, mit den Füßen aufstampften, wo das Leben roh, aggressiv und dreidimensional war. Engländer hielten ihre »dritte Dimension« gut verborgen, so daß sie einem eher wie Zeichnungen als wie Menschen aus Fleisch und Blut vorkamen.
London und die Menschen, zwischen denen ich mich bewegte, regten meine Phantasie an, doch ich stellte fest, daß meine Eindrücke viele Lücken aufwiesen, die eines Tages würden gefüllt werden müßten. Und so verließ ich England nach einer erfolgreichen Schatzsuche. Ich nahm einen Notgroschen mit - genug, um mir ein weiteres Jahr in Paris zu finanzieren. Doch die wichtigeren Schätze waren Hoffnungen für die Zukunft und einige potentielle Freundschaften.
Meine Rückkehr nach Paris war belastend. Ich stellte Vergleiche an zwischen der Lebensart in England und in Frankreich und stellte fest, daß die französische zu wünschen übrig ließ. Nach wie vor traf ich meine surrealistischen Freunde in dem gleichen Geist an wie früher und sah Baladine Klossowska alle paar Tage. Und die Zahl der Menschen ebbte nicht ab, die mich konsultierten. Doch Paris hatte für mich viel von seiner Anziehungskraft verloren, mehr und mehr beschäftigte mich der Gedanke an ein Leben im friedlichen London. Der unwillkommene, aber immer wieder auftauchende Gedanke, daß Deutschland in absehbarer Zukunft dem Westen den Krieg erklären würde, lauerte ständig in meinem Hinterkopf. Die Möglichkeit einer deutschen Invasion in Frankreich erfüllte mich mit Entsetzen. Immer näher sah ich das Konzentrationslager auf mich zukommen. Ich entschloß mich, die Angelegenheit mit Professor Walion zu besprechen, dessen politischer Scharfsinn mich stets beeindruckt hatte. Er war nicht erstaunt über meine Ängste, denn er selbst rechnete mit einem Kriegsausbruch in nicht allzu ferner Zeit. Er sagte: »Ich denke, daß Sie allen Grund haben, sich in Frankreich unsicher zu fühlen. Es wäre klug von Ihnen, nach London zu gehen, wenn Sie die Möglichkeit haben, sich dort niederzulassen.« Und er fügte etwas hinzu, das genau den Punkt traf, obwohl ich Schwierigkeiten hatte, es zu akzeptieren: »Das Problem bei den Juden ist, daß die meisten - Sie ausgenommen -ihre natürlichen Reflexe verloren haben, sonst hätten sie den Nazis gegenüber mehr Widerstand gezeigt.« »Ich weiß, viele Juden verhalten sich wie hypnotisierte Kaninchen, doch was können die Juden gegen eine brutale SS unternehmen, die sie voll in der Hand hat? Eine Notlage wie die, in der sich die deutschen Juden befinden, haben Sie nie erlebt.« Er sah mich nachdenklich an.
Im letzten Jahr meines Pariser Aufenthaltes traf ich die Wallons sehr oft, und schließlich war es die Trennung von ihnen und Baladine, die mich bei dem Gedanken an meine Abreise traurig machte. Professor Wallon hatte mich eingeladen, einen Beitrag über wissenschaftliche Chirologie für die »Encyclopedie Franchise« zu verfassen. Er selbst wollte das Vorwort dazu schreiben. Im Jahre 1938 erschien mein Beitrag »Les Principes de la Chirologie« im Band VIII: »La Vie Mentale«. Damit war die Anerkennung meiner Arbeit besiegelt, und es war gleichzeitig ein angemessenes Finale meines Lebens in Frankreich.
Im Sommer 1936 begann ich mit den Vorbereitungen für meine Abreise. Ich fand es sinnvoll, den Rest meiner Londoner Ersparnisse in Kleidung und eine neue Schreibmaschine zu investieren. Es schien klüger, gut ausgerüstet zu sein, als sich auf Ersparnisse zu verlassen. Während meines letzten Jahres auf französischem Boden war ich immer noch stark mit meinen Forschungsarbeiten und privaten Konsultationen beschäftigt. Außerdem beendete ich mein Buch »Studies in Hand Reading«. Das war keine leichte Aufgabe und erforderte eine umfangreiche Korrespondenz mit meinen französischen und englischen »Versuchspersonen«. Ich mußte die Erlaubnis von ihnen einholen, ihre Handanalysen veröffentlichen zu dürfen, bevor ich das Manuskript dem Verlag Chatto & Windus übergeben konnte. Glücklicherweise erhielt ich von allen die Genehmigung. Das Buch erschien im Herbst 1936 in London, und der amerikanische Verlag A. Knopf druckte kurz darauf eine Lizenzausgabe in den USA.
Im Besitz je eines Empfehlungsschreibens der Quäker und der Huxleys, überquerte ich an einem freundlichen Oktobertag den Kanal. Meine zweite Entwurzelung und Verpflanzung erforderte fast ebenso viele Vorbereitungen wie die erste, diesmal aber brach mir dabei nicht das Herz. Wenn man aus einem Land emigriert, läßt man immer Besitz zurück. Doch ich konnte mich nicht von meinen Büchern, meiner Schreibmaschine und meinen Kleidern trennen. Wie bei meiner ersten Auswanderung war ich auch diesmal mit demselben Metallkoffer deutschen Ursprungs und einem billigen, braunen Handkoffer beladen, als ich mich auf die Reise nach England begab. Mit meinem braunen, deutschen Paß, gültig bis zu Jahre 1938, kam ich mir vor wie eine Verbrecherin, die mit falschen Papieren reist. Bevor das Schiff Dover erreichte, mußten sich die Ausländer einer Prüfung durch einen Beamten der Einwanderungsbehörde unterziehen. Das war die letzte Hürde des Emigranten, hier wurde entschieden, ob man das Gelobte Land betreten durfte oder nicht. Mir zitterten die Knie, als ich an der Reihe war. Ein kahler Mann mittleren Alters saß mir am Tisch gegenüber. Wie zu erwarten war, trug er die undurchdringliche Maske eines Geheimpolizisten. Der Eindruck, den er hervorrufen wollte, war der eines freundlichen, menschlichen Polizeibeamten. Bald fühlte ich mich ruhiger und beantwortete eine Frage nach der anderen unbesorgt und ohne Schwierigkeiten. Die Befragung dauerte eine ganze Weile, und schließlich gab er sein persönliches Interesse an der Psychologie zu erkennen. Nicht nur das; er tat etwas Ungewöhnliches für einen Mann in seiner Stellung: Er sagte mir, daß er mich gerne wiedersehen würde, und fragte mich, ab ich ihn nicht einmal im Kardomah Cafe, Piccadilly, treffen wollte. Mir blieb nichts anderes übrig als zuzusagen. Er gab mir die Hand, und eine Woche später ging ich zum vereinbarten Zeitpunkt in das Cafe. Er hatte schon auf mich gewartet. Zunächst stellte er mir viele Fragen über
meine Forschungsarbeiten und mich persönlich, erzählte dann aber auch eine Menge von sich selbst, ob das nun alles stimmte, sei dahingestellt. Ich bin mir heute noch unsicher, wie ich diesen unkonventionellen Annäherungsversuch deuten soll. Schon während des Gesprächs schoß mir durch den Kopf, daß er vielleicht ein Geheimdienstbeamter war, der durch mich an Informationen über andere Flüchtlinge herankommen wollte. Wie es wirklich war, werde ich niemals wissen, doch mein Instinkt verwarf solch einen Verdacht. Und so nahm ich ihn und die Sympathie, die er mir gegenüber an den Tag legte, als gutes Omen für die Zukunft.