Ein neuer Anfang in London

Maria Huxley hatte mir ein kleines Zimmer mit Bad im Dalmeny Court, Piccadilly, gesichert. Es kostete vier Guineen die Woche, die ich kaum aufbringen konnte; doch ich hatte Freunde und eine ganze Menge Selbstvertrauen. Das Gefühl, mit dem Glück zu spielen, übte ohnehin einen besonderen Reiz auf mich aus. Da der größte Teil meiner Ersparnisse aufgebraucht war, mußte ich sofort damit beginnen, meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Lady Ottoline Morell war sogleich hilfreich zur Stelle und überredete ihre Freunde, mich zu konsultieren. Ich empfing die Klienten in meinem kleinen Wohn-Schlafzimmer, was ihnen anscheinend nichts ausmachte. Und meine eleganten Besucher, von denen einige im Rolls-Royce vorfuhren, erhöhten mein Prestige im Dalmeny Court. Mir war das Ganze sehr unangenehm, denn ich wurde schon wieder gezwungen, ein Doppelleben zu führen. Nur in meiner Forschung konnte ich ich selbst sein. Professor Julian Huxley machte seine Einladung wahr, und unmittelbar nach meiner Ankunft begann ich mit meinen Untersuchungen an Anthropoiden und allen anderen Affenarten der alten und neuen Welt im Londoner Zoo. Einige Wochen später arrangierten die Quäker für mich ein Treffen mit Dr. Emanuel Miller, der mich einlud, meine Studien an den Händen seiner Patienten in der Jewish Child Guidance Clinic im East End forzusetzen. Gleichzeitig mußte ich die Rolle einer »Handleserin« spielen, und das ging mir gegen den Strich.
Kein Emigrant kann weit in die Zukunft reichende Pläne schmieden, bevor ihm nicht ein dauerhaftes Wohnrecht in seiner neuen Heimat gewährt wird. Für Neuankömmlinge in England lag damals dieser glückliche Tag in weiter Ferne. Man mußte sein Leben auf provisorischem Grund aufbauen, denn die Aufenthaltserlaubnis galt höchstens ein Jahr. Doch trotz offensichtlicher Nachteile kann eine derart unsichere Situation auch ihr Gutes haben. Sie stellt eine Herausforderung dar: sich zu bewähren, jede Gelegenheit beim Schopf zu fassen, koste es was es wolle. Doch die nervöse Anspannung, die eine Existenz, bei der man von der Hand in den Mund lebt, mit sich bringt, kann schwere Angstzustände hervorrufen. Ich machte die durchaus nicht ungewöhnliche Erfahrung, daß man mir mit der einen Hand etwas gab, um es mit der anderen wieder zu nehmen. Mit der Zeit jedoch gewöhnte ich mich an mein »zufälliges« Leben, denn ich hatte die Unterstützung von Lady Ottoline Morell und den Huxleys. Es dauerte nicht lange, da erkannte ich, daß mir meine neue berufliche Situation auch durchaus Spaß machen konnte: meine wirkliche Profession unter dem Deckmantel einer ungewöhnlichen Beschäftigung zu verstecken. Mir gelang es sogar, mit den Behörden Katz und Maus zu spielen. Zwar hatte man mir die Erlaubnis erteilt, Handinterpretationen durchzuführen, aber es war mir strikt verboten, einer ärztlichen Beschäftigung nachzugehen. Doch ich brachte meine professionelle Ausbildung bei den psychologischen Beratungsgesprächen zur Anwendung, mit denen ich regelmäßig meine Handdeutungen beschloß.
Die Huxleys zeigten sich von ihrer hilfreichsten Seite. Aldous war milder geworden, und ich fand ihn weniger ehrfurchtgebietend. Die beiden lebten im Mount Royal Hotel mit ihrem Sohn Matthew, und trotz ihres unsteten Lebens und ernster Sorge um ihre Zukunft stand mir ihre Tür immer offen. Ich sah sie während der sechs Monate, die sie noch in England blieben, sehr häufig. Der Pazifismus war zu Aldous' wichtigstem Anliegen geworden. Sybille Bedford hat in ihrer Biografie über Aldous Huxley berichtet, daß er die Unvermeidlichkeit eines Zweiten Weltkrieges erkannte, und daß dies seinen pazifistischen Aktivitäten eine akute Dringlichkeit verlieh. Er hielt Vorträge, schrieb Artikel und führte eine umfangreiche Korrespondenz. Er wünschte sich nichts so sehr wie ein großes Publikum zu erreichen, war aber der Überzeugung, daß er unüberbrückbare Schwierigkeiten hatte, zu einer größeren Gruppe von Menschen Kontakt aufzunehmen. Ich fühlte mich ausgesprochen geehrt, als er mich wegen dieses Dilemmas um Rat fragte. An die Stunde des Beratungsgespräches kann ich mich noch genau erinnern. Ich sagte ihm, daß ein Bedürfnis solcher Intensität eine Liebe für die Menschheit impliziert, die ihr Publikum allein schon durch ihre Authentizität erreichen wird. Ich hoffe sehr, daß ich in der Lage war, ihn zu ermutigen.
Die Veröffentlichung von »Studies in Hand Reading« mit einem Vorwort von Aldous Huxley war kein kommerzieller Erfolg, doch sie vergrößerte meine Klientel. Von da an brauchte ich mich um den Zulauf an Ratsuchenden nicht mehr zu sorgen. Die Wogen des Erfolges trugen mich über die Zeiten finanzieller Unsicherheit und Einsamkeit hinweg - jedenfalls eine ganze Weile. Bedenklich fand ich mit der Zeit die zahlreichen privaten Einladungen aufgrund des sensationslüsternen Interesses an meiner Arbeit, die ich nicht absagen konnte, aus Furcht, dann meine Klienten zu verlieren. Ich ärgerte mich, daß man mich aus dem gleichen Grund, der meine Unzufriedenheit mit mir selbst verursachte, einlud. Mein soziales Leben wurde damit ein angstdurchsetztes Vergnügen, das mich müde und immer häufiger depressiv zurückließ. Mein Umzug nach England hatte mir wahrscheinlich das Leben gerettet, ließ jedoch meine Seele in der Wildnis zurück. Doch ich wurde mit dem Leben fertig; Glück und Unsicherheit, Erwartung und Angst meisterte ich mit gespielter Tapferkeit. Ich hielt mich selbst für einen Menschen, der leicht gewinnen und leicht verlieren konnte - sowohl Menschen als auch Geld. Kein Wunder, daß ich in beide Richtungen verschwenderisch wurde. Doch ich gab mich der Hoffnung hin, daß meine Probleme eines Tages einfach »weggehen« würden.
Bis Kriegsausbruch hielt ich England für einen stabilen Hafen. Ich war der Überzeugung, daß die Engländer ein faires Spiel spielten, und vor allem, daß Hitler diese Küste nie erreichen würde. Großbritannien war eine uneinnehmbare Festung für jeden ausländischen Angreifer. Mit solchen Überlegungen kompensierte ich die Ambivalenz meiner Situation.
Sozial gesehen befand ich mich auf dem Gipfel des Erfolges, doch der Schwachpunkt meiner ersten Jahre in England war die Art meiner Arbeit, bei der ich mir wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde vorkam. Ich wußte, daß ich diese widersprüchliche Situation zu meistern hatte wie eine Schauspielerin, die eine Rolle spielen muß, die ihr nicht liegt. Ich fühlte mich mehr und mehr einsam in London. Ich vermißte Paris, ich vermißte Baladine Klossowska und die unterstützende Freundschaft von Professor Wallon. Vergleichbare menschliche Beziehungen waren mir in England nicht begegnet. Solange Maria Huxley und Lady Ottoline Morell noch da waren, hatte ich im Notfall eine Zuflucht, obwohl ich sie nur widerstrebend genutzt hätte. Doch die Huxleys reisten im April 1937 ab; und Lady Ottoline wurde am Ende desselben Jahres schwer krank und starb im April 1938. Mit ihnen verlor ich die Hauptstützen meiner zweiten Immigration. Dieser Verlust bedeutete eine Zäsur in meinem Leben, doch das war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewußt. Heute weiß ich, daß mit ihnen mein Lieblingstraum für immer dahinging: ein Teil der kulturellen Elite zu sein, der sie angehörten.
Lady Ottolines Tod bedeutete einen persönlichen Schlag für mich, der noch durch Maria Huxleys Abreise aus London verstärkt wurde. Ich hatte mich ihr gefühlsmäßig verbunden gefühlt und wußte, daß niemals wieder jemand eine ähnliche Rolle in meinem Leben spielen würde. Ihr Enthusiasmus für meine Arbeit ging einher mit einer allgemeinen Begeisterung für neue Ideen, wo immer sie ihr begegneten; sei es die Philosophie ihres Freundes und Liebhabers Bertrand Russell, die Poesie James Stephens oder die Entdeckungen auf dem Gebiet der Endokrinologie durch Richard Wiesner. Es wäre für mich sinnlos, etwas anderes als rein Persönliches von ihr zu berichten, denn viele andere haben über sie geschrieben oder gesprochen. Lady Ottoline hatte bei den Leuten, die sie um sich versammelte, immer einen Günstling, und eine Zeitlang war ich es. Als Maria mich ihr vorstellte, erschreckte mich diese hagere, hochaufgeschossene Gestalt. Ihre Hände hätten einem Mann gehören können; sie hatte vorgewölbte Lippen, als versuchte sie, Trompete zu spielen, ein unpassendes Merkmal für diese statuenhafte Repräsentantin der Aristrokatie. Doch von dem Augenblick an, wo sie einem in die Augen sah und ihre Hand mit einer Geste des Willkommens dem Neuling entgegenstreckte, war man von ihr fasziniert. Hier war ein Mensch, der in kein bekanntes Schema paßte, dessen Großzügigkeit und »Appetit« einem anderen Zeitalter zu entstammen schienen. Sie mußte sich ständig zurückhalten, sich klein machen, um sich so gut, wie sie konnte, unseren Zeiten anzupassen, die einem Menschen ihres Formats so gar nicht zu entsprechen schienen. Glücklicherweise gelang ihr das nicht. In diesem Land war sie eine der wenigen, die mir Wärme und Zärtlichkeit entgegenbrachten, ohne die Reserve oder Verlegenheit, die für Engländer so typisch sind. Ihre Gesten hatten eine überstarke Emphase und schienen häufig über das Ziel hinauszuschießen; dies aus dem einfachen Grund, weil sie auf diese unkonventionelle Weise die Intensität ihres Gefühles zum Ausdruck bringen wollte. Als ich in ihrem kleinen Empfangszimmer in der Gower Street ankam, setzte ich mich in einen Sessel ihr gegenüber. Sie saß bereits auf einem Sofa und bedeutete mir augenblicklich, ich solle mich neben sie setzen. Jede Einzelheit meines Alltagslebens wollte sie erfahren, vor allem alles über meine Arbeit. Sie erkundigte sich, ob meine Studien Fortschritte machten und ob sich neue Erkenntnisse für mich abzeichneten. Lady Ottoline war eine ideale Zuhöre-rin, denn sie war eine religiöse Frau, die an das göttliche Prinzip glaubte und sich von daher ihren Mitmenschen gegenüber aufmerksam und hilfreich verhielt. Doch es war offensichtlich, daß sie mit ihrem Kreis von Freunden und Schützlingen eine innere Leere ausfüllen wollte. Als ich sie traf, befand sie sich schon im fortgeschrittenen Alter, aber die Jahre hatten ihre Begeisterungsfähigkeit nicht gedämpft.
In meinem unsicheren Leben änderten sich damals die Dinge so schnell wie das Wetter. Daher mußte ich meine Aufmerksamkeit weg von der Vergangenheit und statt dessen auf Gegenwart und Zukunft lenken. Ein Beruf mit dem Beiklang des Sensationellen brachte notwendigerweise ein unsicheres Maß an Anerkennung mit sich, war jedoch nicht der solide Grund, auf dem ich meine Zukunft aufbauen konnte. Diese mißliche Lage machte mich überempfindlich für die leiseste Andeutung von Applaus oder Kritik. Das Bedürfnis nach einer sicheren Grundlage meiner Arbeit gewann allmählich die Oberhand. Glücklicherweise machten meine Forschungen gute Fortschritte und ließen mich hoffen, daß ich mir in dieser Richtung ein besseres Leben aufbauen könnte.
Ob es uns nun paßt oder nicht, bestimmte Muster in unserem Leben kehren immer wieder: Ich stellte fest, daß meine Situation in England oder in Frankreich ziemlich ähnlich war. Ich hatte mit den gleichen Konflikten der beiden unterschiedlichen Aspekte meiner Arbeit zu kämpfen, und ich fand Trost und Hilfe bei mächtigen Freunden. Eine davon war Bertha Bracey, eine Quäkerin, die ich durch Henri van Ettens Vermittlung kennengelernt hatte. Sie versuchte, mit der Unterstützung von Julian Huxley, für mich ein universitäres Forschungsstipendium zu bekommen, doch es gelang ihr nicht. Dieser Mißerfolg hielt mich davon ab, jemals wieder zu versuchen, mir äußere Finanzierungsquellen zu erschließen, und ich beschloß, mich ausschließlich auf meine eigenen Einkünfte zu verlassen, um meine Studien der menschlichen Hand zu finanzieren.
Im November 1937 erhielt ich die unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis für England und die Genehmigung, als Psychotherapeutin zu praktizieren. Es war mir jedoch immer noch verboten, irgendeine ärztliche Tätigkeit auszuüben.
Das Jahr 1937 brachte mir noch in weiterer Hinsicht Glück: Ich bekam einen engeren Kontakt zu Sybille Bedford. Sie war nach der Abreise der Huxleys in deren Wohnung gezogen, und wir trafen uns dort regelmäßig einmal in der Woche. Seit wir uns in Südfrankreich das erste Mal gesehen hatten, hatte ich ihr einige Male aus der Hand gelesen. Es amüsiert mich heute noch köstlich, daß ich einmal auf Marias Frage, ob ich in Sybilles Händen literarisches Talent entdeckt hätte, antwortete: »Ja, besonders das einer interpretierenden Schriftstellerin.« Häufig mußte ich Sybille erzählen, was mir ihre Hände verrieten. Offensichtlich war sie von meiner »Intuition« überzeugt. Wie die meisten Künstler glaubte sie an das Irrationale und war sehr abergläubisch.
Aberglaube? Das Wort ist unangemessen. Es ist falsch, die Ratio auf Kosten des Irrationalen - in dem der Aberglaube eine bedeutende Rolle spielt - hervorzuheben. Wie sollen wir dann Phänomene des Synchronismus, Koinzidenz oder andere Ereignisse interpretieren, die uns überraschen, weil sie weder vorhersehbar noch geplant waren? Ich glaube nicht an den freien Willen, denn Stimmungen, Gesundheit und das Wirken unserer Hormone beeinflussen unsere Entscheidungen und Handlungen. Wir werden beglückt oder bedroht durch das Unvorhergesehene, das von außen auf uns einwirkt oder sich in unserem Innern ereignet. Es gibt im Leben fette und magere Jahre, fruchtbare und öde Zeiten. Unser Leben und unsere Arbeit hängen ab von der Gunst oder Mißgunst unbekannter Kräfte. Einige Menschen verstehen sich darauf, das Ohr am Boden zu halten und festzustellen, ob sich etwas Gutes oder Schlechtes nähert. Wir nennen sie intuitiv oder vorausschauend. Aberglaube ist eine Form außersinnlicher Wahrnehmung, und es ist ein Fehler, ihn als Überbleibsel primitiver Religionen zu verspotten. Künstler und Schriftsteller sind prädestinierte Beobachter des Ungewöhnlichen und Unheimlichen, es lohnt sich, ihre »Visionen« und ihren Aberglauben ernstzunehmen. Tatsächlich können sie sich als die besseren Kenner der Geschichte herausstellen, als professionelle Historiker. In jedem von uns ist die Tendenz zu Aberglauben angelegt, jeder sehnt sich nach den Vorboten des Glücks. Die Art, wie wir darüber reden, »Glück« oder »Pech« gehabt zu haben, verweist auf eine tiefsitzende Furcht vor dem Unbekannten und das intuitive Wissen darum, daß wir von Kräften gelenkt werden, die wir nicht kontrollieren können.
Der Beifall für meine Handdeutungen wurzelte zum Teil im Aberglauben meiner Klienten. Es verursachte ihnen ein angenehmes Gefühl, der Langeweile des täglichen Lebens durch einen kurzen Einblick ins Mysteriöse zu entkommen. Die Fähigkeit, vergangene Ereignisse aus den Händen zu lesen und die Zukunft aus ihnen zu skizzieren, erschien vielen als eine mysteriöse Gabe. Die Zukunft beruht auf der Vergangenheit. Das machte ich meinen Klienten klar, um nicht als Wahrsagerin klassifiziert zu werden, und ich bestand darauf, daß im Mittelpunkt meiner Arbeit die Diagnose konstitutioneller Tendenzen und Persönlichkeitsmerkmale stand. Es kam mir nicht in den Sinn, meine intuitive Gabe in Frage zu stellen - ich nahm sie als selbstverständlich hin. Das Merkwürdige war, daß ich bei Dr. Seouls berühmten Experimenten zur außersinnlichen Wahrnehmung, die er in der psychologischen Fakultät des University College in London durchführte, total versagte. Diese Experimente bestanden aus einer Art Kartenspiel. Dr. Seoul bat seine Versuchspersonen, bei bestimmten Karten, die er zum Teil offen, zum Teil verdeckt auf dem Tisch ausbreitete, Farbe und Bedeutung der verdeckten Karten zu erraten. Ich landete nicht einen einzigen Treffer und begann Zweifel an meinen intuitiven Fähigkeiten zu bekommen. Erriet ich etwa nur die Informationen, die ich meinen Klienten mitteilte? Hatte ich einen Teil meines Lebens auf einer großen Lüge aufgebaut? Keineswegs, gab ich mir schnell zur Antwort. Doch eine Weile hatte ich nagende Zweifel an meinen Fähigkeiten zur Handdeutung. Ich versuchte mich selbst mit dem Gedanken zu beruhigen, daß ich meinen Klienten wahrscheinlich in einem Zustand der Selbsthypnose begegnete. Es war verblüffend, daß ich ihnen Ereignisse aus der Vergangenheit auf den Kopf zusagen konnte, die sie vergessen hatten, an die sie sich aber erinnerten, wenn ich sie erwähnte. Ich war immer in einem Zustand der Trance, wenn sich die Tür meines Unbewußten öffnete und ich zum Unbewußten des anderen Menschen vordrang. Das war die einzige Erklärung, die ich für diese seltsamen Geschehnisse finden konnte. Doch im Unterbewußten eines anderen Menschen zu lesen, erforderte nicht nur zusätzlich ein Quentchen Glück, sondern erschöpft auch die eigene nervöse Energie. Nach jeder Handlesesitzung fühlte ich mich wie ausgelaugt. Die meisten meiner Klienten gingen anschließend wie auf Wolken nach Hause, einige aber waren noch tagelang deprimiert.
Diskrepanzen und Widersprüche sind Teile des menschlichen Wesens. Sie können auch Symptome einer neurotischen Krankheit sein, aber wer kann entscheiden, ob es sich um das eine oder andere handelt? Es erfordert das geschulte Auge eines Psychologen um festzustellen, ob die Psyche angemessen funktioniert oder unangemessen die innere und äußere Wirklichkeit widerspiegelt. Jeder Mensch vereinigt viele Persönlichkeiten in sich, und widersprüchliche Regungen können Würze, aber auch Verwirrung in unser Leben bringen. Ich hatte von beidem reichlich in der ersten Zeit meines Lebens in London. Dieses Leben war wie ein Film, ständig tauchten neue Szenen und Gesichter auf. Ich wollte den Luxus, mit dem sich viele meiner Bekannten umgaben, nicht missen, doch der Kontrast zwischen glanzvoller Geselligkeit und wissenschaftlichen Anstrengungen stürzte mich in Verwirrung. Ich konnte diese widersprüchlichen Gefühle nicht klären, sie aber auch nicht aus meinem Gedächtnis verdrängen. Was ich brauchte, waren Aufmerksamkeit und Fürsorge, Unterstützung und Liebe eines anderen Menschen. Die Sehnsucht des Kindes nach der Mutter? Eine Mutter in vielen Gestalten, mit vielen Gesichtern? Ja. Menschen, die sich in ihrer Umwelt unwohl fühlen, brauchen Krücken, um sich darin bewegen zu können. Ihre sensible Verletzlichkeit macht sie unweigerlich mutter-orientiert. Doch jedes menschliche Wesen ist auf die eine oder andere Weise von mütterlicher Unterstützung abhängig. Die Psychoanalyse geht davon aus, daß jeder Mensch bestimmte Entwicklungsstadien durchläuft, schließlich einen Zustand der »Reife« erreicht - und dann geht alles gut. Diese Theorie ist so unsicher wie ein Kartenhaus. Reife ist kein Wertmaßstab. Wir alle bleiben emotional verletzbar, denn wir tragen jedes Entwicklungsstadium in uns. Und wenn wir glücklich oder verzweifelt sind, sehnen wir uns nach der liebenden Fürsorge einer Mutter. Die Rollen von Frau und Mann haben begonnen, austauschbar zu werden, und das wird in Zukunft zu einer besseren, ausgeglicheneren Gesellschaft führen. Doch in der sozialen Situation unseres Zeitalters müssen wir unsere vielfältigen Persönlichkeiten (noch) wie Schauspieler einsetzen, die verschiedene Rollen spielen. Wir müssen unser authentisches Selbst unter einer Maske verstecken und eine Rolle spielen, um mit den stereotypen Vorstellungen der Gesellschaft zurechtzukommen.
Es überraschte mich nicht, daß Frauen mich unter ihre Fittiche nahmen und mich zu Festen, ins Theater oder Kino einluden. In Übereinstimmung mit den bestehenden Konventionen nahmen sie eine beschützende Haltung ein, während die Interessen der Männer gewöhnlich um sich selbst kreisten. Sie wollten von mir immer Ratschläge hören, wie sie geschäftlich oder in der Liebe noch erfolgreicher sein könnten. Einige von ihnen entwickelten allerdings auch ein echtes Interesse an meiner Forschungsarbeit und wollten sie fördern. Ich genoß die »Fürsorge« der Frauen und die »Kameradschaft« der Männer, während ich mich vorwärts tastete, um meinen Platz in einer neuen Welt zu finden.
Doch selbst damals, als man stereotype Rollen noch als quasi naturgegeben betrachtete, gab es Ausnahmen von dieser Regel. Eine dieser Ausnahmen war mein Freund Herrmann Schriyver. Er war ein hervorragender Innendekorateur, ein extravaganter Gastgeber und berühmt für seinen intelligenten Witz. Ich war ihm in Paris bei den Klossowskis begegnet, und mir gefiel seine fröhliche Art. Auch seine Hände hatte ich analysiert, mit erfreulichen Folgen für meine Person. Ich hatte ihn nie um Hilfe gebeten, aber von dem Augenblick an, als wir uns trafen, unterstützte er mich, wo er nur konnte. Er erzählte seinen Freunden und Kunden von meiner Arbeit, und als ich nach London übersiedelte, bestand er darauf, mein Vorhaben finanziell zu unterstützen. »Sie müssen etwas im Rücken haben«, sagte er und überreichte mir einen Scheck über eine größere Summe, der mit dem Namen Rothschild - seine Mutter entstammte dieser Familie - unterzeichnet war. Vor ihr mag er die jüdische Wärme und Menschenfreundlichkeit geerbt haben, die seine Gegenwart so angenehm machte. Herrmann war Holländer, änderte nie seine Nationalität und arbeitete während des Zweiten Weltkrieges zeitweise in einer für die Alliierten wichtigen Stellung bei der BBC. In die Spitze seines eigentlichen Berufsstandes stieg er auf, als er vom Prince of Wales den Auftrag bekam, die Innendekoration des Belvedere zu übernehmen. Herrmann besaß die beneidenswerte Fähigkeit, mit Prinzen wie mit einfachen Bürgern auf gleicher Stufe zu verkehren. Er machte kein Geheimnis aus seiner Homosexualität und wurde dennoch überall akzeptiert. Die Engländer bewundern Individualität und Spitzenleistungen: Exzentriker jeder Art sind in exklusiven Zirkeln der Gesellschaft willkommen, solange sie etwas Außergewöhnliches zu bieten haben.
Herrmann war klein und dick, er hatte kurze Beine und fleischige Hände. Seine Bewegungen und Gesten waren maniriert und von einer gewissen Arroganz. Er sah aus, wie man sich eine klassische »Tunte« vorstellt. Wenn sein Verhalten ihn der Lächerlichkeit preisgab, machte ihm das nichts aus. Er kam auf seine Gäste zu, mit gemessenen, zierlichen Schritten, stets ein Lächeln auf den Lippen. Das Leben amüsierte ihn offenbar köstlich, obwohl ich nie genau wußte, wie weit er nur eine Rolle spielte. Er wollte gefallen, und er tat es. Er war stark kurzsichtig, und hinter dicken Brillengläsern blitzte ihm der Schalk aus den Augen. Seine hohe Stirn war unter anderem darauf zurückzuführen, daß ihm die Haare ausgingen, dennoch hatte er immer noch einen schönen Lockenkopf. Seine Gäste waren Schriftsteller, Künstler, Mitglieder der Intelligenz, doch niemand war darunter, der ihm an Lebensart gleichkam. Hinter seiner heiteren Maske war er jedoch ein einsamer Mann, der nach Liebe hungerte und sich, weil er die Zuneigung, die er brauchte, nirgendwo fand, in erotische Abenteuer flüchtete. Ich traf ihn häufig allein. Kaum hatte ich mich hingesetzt, kam auch schon die immer gleiche Aufforderung: »So, und nun erzählen Sie mir alles über sich.« Und mit schöner Regelmäßigkeit pflegte ich darauf zu entworten: »Lassen Sie uns andersherum beginnen.« Auf dieses Stichwort hin begann er über seine Verführungskünste und Heldentaten zu berichten, über seine Freunde zu tratschen, manchmal ernst, manchmal zynisch, aber immer amüsant. Ich genoß seine Gesellschaft und seine Großzügigkeit, doch schließlich stellte ich fest, daß ich die Last der Dankbarkeit nicht lange ertragen konnte. Und eines Tages beendete ich die Freundschaft abrupt. Wollte ich nur dem Augenblick zuvorkommen, wo er sie mir aufkündigen würde? Wahrscheinlich traute ich ihm nicht zu, seine Beziehung zu mir auf längere Sicht aufrechtzuerhalten. Trotz aller Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit war mir Herrmann eher wie ein entfernter Verwandter denn wie ein wirklicher Freund vorgekommen. Mir fehlte die emotionale Beziehung. Doch hatte er mir einen unschätzbaren Dienst erwiesen, als er mich mit der damaligen Mrs. Wallis Simpson, der späteren Herzogin von Windsor, zusammenbrachte, der er von meinen Handdeutungen erzählt hatte. Und so traf ich einige Wochen nach meiner Ankunft in England, kurz vor der Abdankung Edward VIII., Wallis Simpson in ihrem Apartment im Bryanston Court. Als man mich in einen großen Raum führte, wo ich auf sie wartete, war ich noch nervöser als vor meiner Sitzung bei Virginia Woolf. Die Spannung dauerte an, bis ich das psychologische Resümee ihrer Handanalyse abgeschlossen hatte, dann war ich wieder ich selbst und konnte mich entspannen. Wie war sie? Ich kann nur den allgemeinen Eindruck schildern, den sie auf mich machte, alles Weitere fällt unter meine berufliche Schweigepflicht. Sie war einfach da, schnell in ihren Bewegungen, selbstbeherrscht, intelligent und natürlich. Sie war freundlich, aber lächelte nicht, sie war höflich, aber führte keine Konversation. Ihr Körper strahlte eine androgyne Attraktivität aus. Ihr Gesicht ist so oft fotografiert und beschrieben worden, daß ich nichts hinzufügen will, mit Ausnahme des Hinweises auf ihre Augen. Sie verrieten nicht nur eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe, sondern auch eine scharfe Urteilsfähigkeit. Ich war sicher, daß sie im Zusammensein mit anderen Menschen ganz sie selbst blieb. Nichts interessierte sie, außer der Wirklichkeit der Dinge. Sie bat mich, noch einmal in den Bryanston Court zu kommen, sie wolle mich einer ihrer Freundinnen vorstellen. Bei diesem zweiten Besuch fragte sie mich regelrecht aus, und ich hoffte, ich antwortete zu ihrer Zufriedenheit. Dann stellte sie mir ihre Freundin, Madame S., vor, die den Wunsch äußerte, mich zu konsultieren. Sie war Amerikanerin und eine außergewöhnliche Schönheit, die ihren großen anmutigen Körper in dem trägen Rhythmus von Menschen bewegte, die in subtropischem Klima geboren wurden. Nachdem ich eine Stunde mit ihr allein gesprochen hatte, kehrte Mrs. Simpson zurück, und wir unterhielten uns noch eine Weile zu dritt. Als ich sie schließlich verließ, schwebte ich wie auf Wolken. Herrmann wollte natürlich »alles« erfahren. Ich erzählte ihm nichts, außer daß ich gerade eines der schönsten Erlebnisse meines Lebens gehabt hätte. Nach der Abdankung Edwards VIII. schrieb ich Mrs. Simpson nach Cannes. Sie antwortete mit einem persönlichen, handgeschriebenen Brief. Im Rampenlicht zu stehen, half mir nicht, mich sicherer zu fühlen. Ich konnte nicht so recht daran glauben, daß immerzu Klienten an meine Tür klopfen würden, und auch meinen Wohltätern, die wie Wirbelwinde in mein Leben eindrangen, konnte ich nicht trauen. Gelegentlich endete deren »Zuneigung« in erotischen Annäherungsversuchen, die ich manchmal ertrug, obwohl ich sie nicht mochte, aus Angst, dann ihre Unterstützung zu verlieren. Glücklicherweise konnte ich über die Avancen, die mir einige meiner »Freunde« machten, lachen. Eine Form der Prostitution ist so gut wie die andere, sagte ich mir.
Die Hilfe, die Flüchtlingen von den Engländern zuteil wurde, hatte immer den Beigeschmack von Barmherzigkeit; und ich hasse es, ein Objekt der Barmherzigkeit zu sein. Es waren vor allem Frauen mittleren Alters, die sich bewegt fühlten, die Fremden in ihrer Mitte zu beschützen und sogar zu verwöhnen. Doch sie waren launisch und wechselten die Objekte ihrer Gunst nur allzu schnell. Ein wirklicher Kontakt zu diesem schillernden Kreis schien unerreichbar. In dem Augenblick, wo man auf zuverlässige Freundschaft hoffte, fiel der Vorhang. Die Engländer genießen einen guten Ruf als diskrete und loyale Menschen. Diese schönen Qualitäten, Anzeichen wahrhaft zivilisierten Verhaltens, verdecken in Wirklichkeit einen übertriebenen Selbstschutz. Sie entstammen dem Bedürfnis nach Selbstzufriedenheit, die einem emotionalen Engagement entgegensteht und im Endeffekt zu einer herzlosen Kälte führt. Man offenbart sich anderen nicht, weil man nicht will, daß andere sich einem selbst gegenüber als hilfsbedürftig offenbaren. Das eigene Bedürfnis nach Unabhängigkeit erlaubt es einem nicht, sich mit einem anderen Menschen zu belasten. Die typischen englischen Tugenden sind nur die andere Seite des Narzismus. Ausschließlich um seinesgleichen kümmert man sich, weil man davon ausgehen kann, daß sie genauso denken. Ein Fremder bleibt in England immer ein Fremder. Ein Ausländer hat es in Frankreich leichter, abgesehen davon, daß er dort schwieriger eine Arbeitserlaubnis bekommt. Die Franzosen mischen sich gern unter Ausländer und haben ein Talent, Fremde zu integrieren.
Meine Freundschaft mit Herrmann Schriyver und Sybille Bedford war ein angenehmer Kontrast zu der Schauspielerei, die ich Bewunderern und Förderern gegenüber an den Tag legen mußte. Unglücklicherweise sah ich Sybille Bedford nicht mehr lange, denn Ende 1937 übersiedelte sie nach Frankreich. Im Februar des folgenden Jahres zog ich im Dalmeny Court aus und nahm mir ein Zimmer in Strathmore Gardens, Notting Hill Gate. Ich war jetzt nicht mehr so stark im »Geschäft«, bekam zwar noch Aufträge, hatte aber freiwillig meine Konsultationen reduziert, zugunsten meiner Forschung. Meine Untersuchungen an Affen aus Europa und Übersee erstreckten sich über einen Zeitraum von 18 Monaten, ihre Ergebnisse wurden in den »Proceedings of the Zoological Society« veröffentlicht. Noch vor Abschluß dieser Arbeit schrieb ich mich als Forschungsstudentin in der Psychologischen Fakultät des University College in London ein. Dr. William Stephenson, später Lehrstuhlinhaber an der Universität von Chicago, arrangierte und überwachte meine Forschungsarbeit, die ich bei den dortigen Studenten durchführte, um den wissenschaftlichen Wert meiner Methode zur Handinterpretation zu testen. Ich arbeitete diesmal unter »Labor-Bedingungen«. Die Versuchspersonen waren vor mir durch einen dicken Vorhang verborgen, und ich bekam nur ihre Hände zu Gesicht, die sie mir durch ein Loch im Vorhang entgegenstreckten. Die Ergebnisse dieser Forschung waren ermutigend und wurden im »British Journal of Medical Psychology« veröffentlicht. Dr. Stephenson nahm großen Anteil an meiner Arbeit, auch noch, als er Assistent des Direktors am Institut für Experimentelle Psychologie an der Universität Oxford wurde. Durch seine Vermittlung konnte ich die gleichen Untersuchungen noch einmal an Studenten in Oxford durchführen. Alle paar Wochen fuhr ich dorthin und übernachtete bei der Familie Stephenson. Ich hatte mich mit William Stephenson angefreundet. Dieser herbe, rothaarige, aus Yorkshire stammende Mann, war von ungezügeltem Temperament: impulsiv, großzügig und unnachsichtig gegenüber Dummköpfen. Er hatte sich vorgenommen, mir zu helfen, wo er nur konnte, denn ihm war - wie er mir eines Tages gestand - einmal von einem Menschen meiner Rasse sehr geholfen worden. Seine Meinung über meine Arbeit drückte er sehr deutlich aus in dem Vorwort zu meinem Buch »The Human Hand«.
Gleichzeitig mit meinen Forschungen an den Universitäten London und Oxford führte ich umfangreiche Untersuchungen an den Händen von Geisteskranken im St. Lawrence Hospital in Caterham durch. Insgesamt waren es 2000 Patienten, die ich innerhalb von vier Jahren bei meinen wöchentlichen Besuchen untersuchte. Meine vorhergehenden Forschungsarbeiten bei Professor Wallon waren eine ausgezeichnete Empfehlung für den damaligen Krankenhausdirektor Dr. Earle. Er und seine Assistenten unterstützten bald meine Forschungen nicht nur, sondern waren auch von deren Inhalt zunehmend fasziniert. Später beteiligte sich einer der Ärzte, Dr. Rollin, an der schriftlichen Zusammenfassung einiger meiner Ergebnisse. Ich lernte auf diese Weise eine ganze Menge über die Hände von Geisteskranken und psychotischen Patienten. Im Juni 1941 wurde ich gebeten, als Vertretung im Hospital einzuspringen,und obwohl ich mich vor einer Rückkehr zu medizinischer Verantwortung fürchtete, akzeptierte ich stolz. Aufgrund dieses Kriegsdienstes setzte man mich auf die provisorische Liste ärztlicher Praktiker.
Mein brauner deutscher Paß lief Ende Mai 1938 aus, und mir blieb nichts anderes übrig, als die deutsche Botschaft aufzusuchen, um ihn verlängern zu lassen. Einer meiner Freunde begleitete mich bei diesem unangenehmen Gang. Wir setzten uns zwischen die zahlreichen niedergeschlagenen Frauen und Männer, von denen die meisten es haßten, Deutsche zu sein. Mein Paß wurde tatsächlich um ein Jahr verlängert, aber ich fühlte mich von der Behandlung in der Botschaft derart gedemütigt und deprimiert, daß ich es vorzog, in Zukunft staatenlos zu sein, anstatt die falsche Nationalität zu haben. Ich legte die deutsche Staatsbürgerschaft ab und schaffte es, mir einen Nansen-Paß zu besorgen. Dieses Dokument und die dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in England befreiten mich von der Furcht, eines Tages davongejagt zu werden. Jetzt hatte ich eine sicherere Grundlage für die Zukunft, aber immer noch mußte ich an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen. Doch auf einen Glückstreffer folgen meistens noch weitere! - was den alten Aberglauben bestätigt, nach dem »aller guten Dinge drei« sind. Eine meiner Klientinnen, die mich in meiner kleinen Wohnung nahe Notting Hill Gate besuchten, war Esther, eine grauhaarige englische Lady deutscher Abstammung, die sich in Santa Fe niedergelassen hatte. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß sie der Mensch sein könne, der meinem Leben wieder einmal eine neue Wende verleihen würde. Nachdem sie mich ein paarmal beruflich konsultiert hatte, sandte sie mir eines Tages einen Scheck über 100 Pfund und bat mich, dies als herzlich gemeintes Geschenk anzunehmen. Sie stellte mich ihren Freunden vor, unter denen sich auch Anne und Margaret Tennant befanden. Esther war ein Tweed-tragendes älteres Fräulein und schon in den 60ern, als wir uns trafen. Ihre großen Augen mit dem ständig verzweifelten Ausdruck hatten schon zu viel Elend bei ihren nächsten Verwandten gesehen. Sie hatte versucht, dem allen zu entkommen, indem sie nach China ging und dort als Goldschmiedin arbeitete. Mit ihrer erfinderischen Begabung und ihrem sicheren Geschmack wurde sie bald zur Expertin in der Herstellung von Schmuckstücken aus Halbedelsteinen. Museen interessierten sich für ihre Arbeiten und kauften ihren Schmuck. Einige Mitglieder ihrer Familie lebten noch immer in Deutschland. Vielleicht war es ihre Abstammung, die eine Erklärung bot für ihre Großzügigkeit, die sie mir gegenüber an den Tag legte. Sie bestand darauf, daß ich von ihr ein Stipendium über 100 Pfund im Jahr, zuzüglich eines Betrages  für  meine Lebensunterhaltskosten,  annehmen  sollte. Außerdem überredete sie ihre Freundin Anne Tennant, meinetwegen eine Maisonette-Wohnung in der Tregunter Road zu kaufen. Und so richtete ich mich im Dezember 1938 in meinen eigenen zwei Zimmern häuslich ein. Zu diesem Zeitpunkt war Esther bereits nach Santa Fé zurückgekehrt. Ich mochte sie gern, fühlte mich aber nicht emotional zu ihr hingezogen. Sie habe nie geheiratet, weil niemand sie mochte, erklärte sie mir. Ich war mir sicher, daß sie nicht heiraten wollte, denn sie konnte mit niemandem zusammenleben, und daran war ihre seelische Verfassung schuld. Sie war zutiefst depressiv und konnte die Verantwortlichkeiten einer »gepaarten« Existenz nicht ertragen.
Anne Tennant, genannt Nan, hatte mit dem Alter keineswegs ihren Appetit auf Vergnügungen eingebüßt. Sie konnte sich wie ein Chamäleon verwandeln: von einer Grande Dame in einen knabenhaften Typ, in eine Hausfrau, je nach Belieben. Ihr schmaler kleiner Kopf erinnerte an einen Windhund, und das Gleiche galt für ihren Gang. Nur ihre Hände paßten nicht zu ihrer rassigen Erscheinung. Sie hatte die großen, fast klobigen Hände eines Mannes. Nans Augen waren vielleicht das Schönste an ihr. Es waren leicht hervortretende hellblaue Augen, die wie Glasmurmeln aussahen. Sie war vielgeliebt und liebte viele. Ihr beträchtlicher Sinn für Humor und ihre Intelligenz stellten sie immer in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ihre Eltern waren sehr religiös und lebten in liberaler Tradition. Entsprechend hatten sie Nan erzogen, die -wie es bei den wohlhabenden Familien der Viktorianischen Ära üblich war - weite Reisen unternahm und fließend Französisch und Deutsch sprach. Niemals wurde Nan ihr Pflichtgefühl und ihre unterschwelligen Schuldgefühle über Vergnügungen los. Sie schien fest in einem Verhaltenskodex verankert zu sein, nach dem »Adel verpflichtet«.
Ein Fremder ohne Nationalität zu sein, war während des Krieges eher von Vorteil. Ich konnte mich freier bewegen als viele andere Flüchtlinge, mußte jedoch jedesmal eine polizeiliche Erlaubnis einholen, wenn ich Groß-London verlassen wollte. Eines Tages saß ich mit Nan vor dem Radio und hörte die Rede Chamberlains, daß Großbritannien Deutschland den Krieg erklärt hatte. Nan weinte, nicht nur um ihr Land, sondern auch um ihre Freunde in Deutschland. Wenn ich in diesem Augenblick überhaupt etwas empfand, dann eher Hoffnung als Verzweiflung. Mein Glaube an die britische Unbesiegbarkeit war ungebrochen, und ich dachte, ein solcher Krieg könnte Hitler ein Ende setzen. Zwar war ich mir der Tatsache bewußt, eine Fremde in Großbritannien zu sein, doch hatte ich keine Angst vor einer deutschen Invasion und fühlte mich infolgedessen auch nicht in Lebensgefahr.
Meine Lebensumstände veränderten sich in der Folgezeit gleichzeitig zum Guten und zum Schlechten. Im Sommer 1940 zog sich Nan in ihr kleines Haus in Suffolk zurück, kam aber häufig auf Besuch nach London und fuhr fort, das schlechte Englisch des Manuskripts von »The Human Hand« in gutes Englisch zu übersetzen. Ich hatte gehofft, daß unsere Zusammenarbeit uns auch persönlich einander näherbringen würde. Ich liebte es, sie in meiner Gegenwart zu wissen und war davon überzeugt, daß sie meine Gefühle erwiderte. Ich muß blind gewesen sein wie eine Fledermaus. Tatsächlich zog sie sich immer mehr von mir zurück. Nach ihrer Abreise verwandelte sich das Haus, in dem ich wohnte, in eine Art Pension, deren Bewohner - strikte Engländer - den Flüchtling in ihrer Mitte als eine Last empfanden.
Nachdem ich meine Arbeit am St. Lawrence-Hospital in Caterham abgeschlossen hatte, begann ich mit umfangreichen Untersuchungen an psychotischen Patienten am St. Bernhard Hospital in Southhall und an der Endokrinologie-Klinik am Willesden General Hospital. Ich brauchte mich nie über die willige Kooperation, ja sogar das besondere Interesse der Ärzte und Schwestern zu beklagen. Ich wurde immer wie eine Kollegin behandelt, häufig sogar wie eine Freundin. Da ich mir bereits durch die Veröffentlichung mehrerer Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften einen gewissen Namen gemacht hatte, war ich jetzt auf dem besten Wege, als Forscherin, die in ihrem Arbeitsgebiet Pionierarbeit leistete, anerkannt zu werden. Aufgrund meiner Arbeit am University College in London und an verschiedenen Krankenhäusern verlieh man mir 1941 die Ehrenmitgliedschaft in der British Psychological Society. Bereits zwei Jahre vorher hatte ich damit begonnen, die Ergebnisse meiner Untersuchungen zu einem verständlichen Ganzen zu ordnen, woraus das Buch »The Human Hand« entstand.
Die Jahre meiner wissenschaftlichen Forschungsarbeit waren eine Zeit zahlreicher Entdeckungen. Sie waren Glanzlichter, die mich gelegentlich in einen Zustand der Ekstase versetzten, und ich war geradezu dankbar, ein kreatives Abenteuer erleben zu dürfen, durch das ich das menschliche Wissen bereichern konnte. Es waren die gleichen glänzenden und befriedigenden Augenblicke wie bei der Geburt eines Gedichtes. Es gab in England entschieden mehr Gelegenheiten, den Horizont meiner Forschungsarbeit zu erweitern als in Frankreich, und ich hatte das Gefühl, daß das Schicksal mich zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Ort geführt hatte.
Während mir in der einen Hälfte meines Lebens die »Sterne« freundlich zulächelten, schwebten über der anderen Wolken des Mißgeschicks. Nan hatte mir ihre Fürsorge entzogen und sie zwei jungen Männern, ebenfalls Flüchtlingen aus dem Nazideutschland, geschenkt. Und als wäre dies nicht genug, gab sie 1941 ihre Maisonnette in der Tregunter Road auf und vermietete die Etage über mir. Die neuen Mieter befanden sich kurz vor der Scheidung, und das ganze Haus hallte wieder von ihren ständigen Streitereien. Durch ihr Schreien und Türenschlagen war es mit meinem häuslichen Frieden vorbei, und dieser Verlust traf mich mehr als der Verlust des Friedens in Europa. Ich brauchte ein Rettungsboot und kein Floß, um mich vor der Sturmflut täglicher Störungen in Sicherheit zu bringen. Mein Stoßgebet nach einer Lösung dieses Dilemmas wurde auf eine unerwartete Weise erhört. Allan White, damals der Geschäftsführer des Verlages Methuen und Co., willigte ein, »The Human Hand« zu veröffentlichen. In ihm fand ich Unterstützung in meiner Arbeit und einen neuen Freund. Ich wurde von ihm, seiner Frau und seinen beiden kleinen Söhnen sozusagen als fünftes Familienmitglied aufgenommen. Bei ihnen fand ich die »Nische«, die mir dabei half, den Bruch mit Nan besser zu verwinden.
Nachdem »The Human Hand« 1942 auf dem Markt war, wurde unser Kontakt noch enger. Das Echo auf mein Buch war groß, und Allan White, der mich »entdeckt« hatte, fühlte sich durch diesen Erfolg bestätigt. Es schien paradox, daß ausgerechnet die Kriegsjahre für meinen beruflichen Fortschritt besonders günstig waren. Die Reaktion auf »The Human Hand« veranlaßte den Verlag, ein weiteres Buch bereits von vornherein zu akzeptieren, für das ich bereits das Material zusammengestellt hatte. Ich hatte die expressiven Bewegungen psychotischer Patienten während ihrer Mahlzeiten und bei der Beschäftigungstherapie beobachtet - als mein Hauptaugenmerk noch bei der Untersuchung der Hände lag -, und diese Beobachtungen bildeten den empirischen Teil meiner nächsten Arbeit, »A Psychology of Gesture«. Dieses Buch erschien 1945. Nun hatte ich zwei Trumpfkarten in der Hand. Ein Schicksalsmuster ganz ähnlich dem der frühen 20er Jahre wiederholte sich für mich. Als Deutschland unter der Hyperinflation zu leiden hatte, genoß ich die schönste Zeit meines Lebens, und jetzt, in Englands schwierigsten Jahren, segelte ich wieder auf den Wogen des Erfolges, als Forscherin und Autorin. Ich fühlte mich vom Schicksal begünstigt und war dem Land Großbritannien dankbar. Die Art, wie hier dem Individuum unter allen Umständen persönliche Freiheit eingeräumt wurde, sogar zu Zeiten eines Krieges, war für mich ein Zeichen seiner moralischen Überlegenheit. Während in meiner Nähe die Bomben fielen und ich von meinen Beschützern verlassen war, hatte ich gleichzeitig einen beruflichen Höhepunkt erreicht, obwohl mein Privatleben dahinter traurig zurückblieb - eine Diskrepanz, die zu allen Zeiten Künstlern und Wissenschaftlern nur allzu vertraut ist.
Niemand kann behaupten zu wissen, was Realität ist oder die Gründe für den Erfolg oder Mißerfolg menschlicher Beziehungen zu kennen. Große Geister wie Walter Benjamin erkannten dieses Dilemma bereits vor über 60 Jahren. Benjamin hatte ganz richtig gesehen, daß die Surrealisten der Lösung dieses Problems noch am nächsten gekommen waren. Sie füllten alten Wein in neue Schläuche, als sie neue Vorstellungen und Bilder aus der uralten Weisheit unbewußter Kräfte gewannen. Sie erkannten, daß die »Realität« das fehlende Bindeglied zwischenmenschlicher Beziehungen ist, und sie näherten sich der Lösung des Problems, indem sie ein Leben ohne Rollenspiel und vorgefaßte Meinungen propagierten - und lebten. Die Surrealisten bestanden darauf, daß man die Welt des Menschen genau so gut aufrecht wie auf den Kopf gestellt betrachten kann, und daß das Absurde einen besseren Zugang zur »Wirklichkeit« liefern kann als Logik und Rationalität, Freiheit war ihrer Vorstellung nach unverdorben von vergangenen oder gegenwärtigen sozialen Verhaltensregeln. Und diese absolute Freiheit verstanden sie als Realität. Sie erkannten, daß die Imagination ihre erste und einzige Grundlage ist.
Das Ansehen einer Nation ist in den Augen ihrer Mitglieder und anderer Nationen festgelegt. Und mit der Zeit wird es zum Stereotyp von weitreichender Bedeutung und geringem Wahrheitsgehalt. In den letzten 50 Jahren ist die Macht eines solchen Images durch die Macht der Medien - vor allem Fernsehen und Radio - verstärkt worden. »Ein Image haben« gehört zu den Schlagworten, die die Unwirklichkeit charakterisieren, in der unsere Gesellschaft verfangen ist. Wir sind weiter denn je davon entfernt, einen Blick auf die Realität zu erhaschen, was uns hätte gelingen können, wenn wir mehr über die Kluft zwischen der Künstlichkeit von Stereotypen und der Spontaneität von Wahrheit nachgedacht hätten.
Ich hatte mich von einem Image der Engländer einnehmen lassen, das ich teilweise selbst erfunden, teilweise aus traditionellen Vorstellungen bezogen hatte. Anlaß dafür war mein physisches Bedürfnis zu überleben und das emotionale Bedürfnis nach Liebe. Es dauerte lange, bis ich es korrigieren konnte. Ich hatte zuviel Wert auf dieses Image gelegt, das mir eine glanzvolle Umgebung vermittelte, und hatte mich hypnotisieren lassen von einer Illusion, die mein Selbstbild verschleierte. Das Verhalten eines Menschen hängt ab von seinem Selbstbild, und meines war falsch. Scharfsinn und Intelligenz waren alles, worauf ich mich verlassen und mein Leben aufbauen konnte. Ich identifizierte mich selbst zwar als Jüdin, doch hatte ich kein jüdisches Kollektiv, zu dem ich mich hinwenden konnte. Und so blieb ich eine Außenseiterin.
Das kollektive Selbstbild der britischen Bevölkerung hat seine Wurzeln in einem aristokratischen Konzept. Die Aristokratie regierte die Vergangenheit des Landes, und obwohl diese hart und ungerecht vielen Bewohnern gegenüber gewesen ist, hat sie das Land groß gemacht. Dies ist niemals in Vergessenheit geraten. Das aristokratische Selbstbild - so stereotyp es auch sein mag - ist immer noch lebendig, auch wenn einem gegenteilige Fakten ins Auge springen. In der Vergangenheit konnten Aristokraten ungehindert und furchtlos sie selbst sein. Immer noch wird Authentizität als die erstrebenswerteste menschliche Eigenschaft geschätzt, doch sie wurde inzwischen zu einer romantischen Attitüde reduziert, statt Teil eines Verhaltenskodex' zu sein. Diese Vorstellungen von Authentizität haben den Zynismus der Sozialisten und die Ausschreitungen der Faschisten überstanden. Das mächtige aristokratische Selbstbild hat die grundlegenden sozialen Veränderungen überlebt. Seine die Zeiten überdauernde Präsenz bietet möglicherweise für Großbritannien die einzige Chance, sich vor dem drohenden Totalitarismus mit seiner Unmenschlichkeit und Nichtachtung der Freiheit des einzelnen zu retten.
Die meisten meiner frühen Kontakte mit der britischen Bevölkerung entstanden mit Mitgliedern der Aristokratie und der gehobenen Bourgeoisie. Sie spiegelten das »englische Image« authentischer wider als die übrige Bevölkerung. Und doch hatte sich ihr Verhalten der Ungewißheit des Landesschicksals angepaßt und brachte den negativen Aspekt einer früheren Überlegenheit zum Vorschein, nämlich einen ausgesprochenen Narzißmus. Doch ihre christliche Religiosität ließ sie bestimmte soziale Verpflichtungen eingehen, von denen sie sich allerdings sehr schnell verabschiedeten, wenn ihr Narzißmus in Gefahr war. Während des Krieges fand ich eine ganz andere Gemeinschaft als zuvor. Es waren Menschen der »unteren Klassen«. Der Metzger, der Lebensmittelhändler, der Bäcker, sie alle schenkten mir zu dieser Zeit ihre Gunst. Wie oft bekam ich, ohne zu fragen, die besten Stücke Fleisch, immer etwas mehr Butter und eine doppelte Ration Brot! Mein Umzug von der obersten zur untersten Etage des Lebens - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne - war ein glücklicher. Ich war gezwungen, meine Nächte im Kellergeschoß des Hauses zu verbringen, gemeinsam mit den Angestellten der abwesenden Besitzer, die bei deren Flucht aufs Land zurückgeblieben waren.
Wir bildeten eine fröhliche Gemeinschaft. Daß ich ein Flüchtling aus Deutschland war, schien vergessen. Ihr Humor, ihre Sensibilität und Rücksichtnahme waren mir mehr als ein Ausgleich dafür, daß ich jetzt getrennt von den Menschen lebte, die ich für meine Freunde gehalten hatte. Die vielen Stunden, die ich wach im Schlafraum des Kellers verbrachte, inspirierten mich dazu, ein neues Unternehmen zu beginnen: Ich übersetzte Shelleys »Ode to a Nightingale« und andere seiner Gedichte ins Deutsche. In dieser Zeit wurden Kellerräume zum Bestandteil meines Lebens, und das nicht nur nachts, denn Sophie, eine jüdische Bekannte aus der Nachbarschaft, von Beruf Näherin, lud mich jede Woche in ihre Kellerwohnung ein. Dort gab es immer etwas zu essen und - zu lachen. In ihrer Gegenwart konnte ich mich wirklich entspannen.
Doch dann gab es Gesichter und Stimmen, die einen ganz anderen Charakter hatten. Menschen auf der Straße oder in Geschäften, die mich entweder als Deutsche oder als Jüdin beleidigten. Antideutsche Bemerkungen ließen mich kalt, doch antisemitische verletzten mich zutiefst. Als ich eines Tages von einem Antisemiten fast körperlich attackiert wurde, war ich anschließend so verzweifelt, daß ich mich während der nächsten Tage nicht aus dem Haus wagte. Am Ende befahl mir mein Unbewußtes, meinen Gefühlen nachzugeben, weil ich unfähig war, mit ihnen fertig zu werden. Und ich werde niemals vergessen, daß ich plötzlich anfing zu beten, und ich überantwortete mein Problem einer wie auch immer gearteten höheren Macht. Ich sagte in meinem Gebet: »Ich übergebe dies einem >höheren Gericht<.« Von diesem Tag an war ich frei. Die Erlösung kam sofort, und ihre Auswirkung spüre ich noch heute.
Mein Entritt in das Leben »unter der Treppe« war eine willkommene Veränderung, die auch meine Lebensweise verwandelte. Endlich war ich mit Menschen des englischen Volkes in Berührung gekommen. Meine Zuneigung zu meinen neuen Freunden ging so weit, daß ich sie auch in der Zeit besuchte, als ich im St. Lawrence Hospital als ärztliche Vertretung arbeitete, und die Fahrten von Caterham nach London und zurück waren nicht gerade einfach zu bewerkstelligen.
Im zweiten Kriegsjahr lief Esthers Stipendium aus, und ich mußte mir wieder selbst meinen Lebensunterhalt verdienen. Obwohl Nan keine Miete von mir nehmen wollte, war meine finanzielle Situation immer noch zu ungeklärt, als daß ich mich hätte sicher fühlen können. Und als staatenlose Person befand ich mich nach wie vor in einer gefährlichen Lage. Die letzten beiden Kriegsjahre verbrachte ich damit, Schutzräume aufzusuchen, mir zu gratulieren, daß ich nicht von Hitlers Raketen getroffen wurde, und mit meiner Arbeit. Das Gefühl zu überleben ging einher mit der Befriedigung, die mir die Kameradschaft und Solidarität mit meinen Nachbarn verschaffte. Die Tantiemen aus »The Human Hand« und die Honorare der Klienten hielten mich finanziell über Wasser.
Den Siegestag am siebten Mai 1945 verschlief ich. Der Anbruch des Friedens schien mich nicht sonderlich zu interessieren, doch das Gefühl, wieder in meinem eigenen Bett schlafen zu können, war wunderbar. Doch bald wachte ich auf und stellte fest, daß sich mit Kriegsende die Zeiten geändert hatten, und mir die Zukunft offen stand. Ich konnte ins Ausland reisen, Paris wiedersehen - vorausgesetzt ich verschaffte mir einen britischen Paß. Ich füllte einen entsprechenden Antrag aus, und im Mai 1947 erhielt ich das kostbare Dokument, das mich zur Bürgerin dieses Staates erklärte. Bald darauf stellte man mir einen Paß aus, und am ersten Juli unternahm ich eine nostalgische Reise nach Paris.
Ich ging als Überlebende dorthin, voller ängstlicher Erwartungen. Wie würde Paris aussehen, diese Stadt, die ich so geliebt hatte? Würde ich einige - vielleicht alle - meiner Freunde wiederfinden? Böse Vorahnungen vor meiner Abreise schienen meine Befürchtungen zu bestätigen, daß ich enttäuscht werden könnte. Drei Tage vor der Abreise wurde ich krank, doch ich wollte sie nicht verschieben aus Angst, ich würde dann vielleicht überhaupt nicht mehr fahren. Ich hatte mich immer davor gefürchtet, einen einmal verlassenen Ort wieder aufzusuchen oder Termine zu verschieben. Ich versuchte, meine Phobie vor der Reise zu rationalisieren und den Schock gedanklich vorwegzunehmen, den das Paris nach der Okkupation bei mir auslösen könnte. Ich stellte fest, daß die Wurzeln meiner Furcht in der Tatsache lagen, daß ich diesem Besuch von Paris zuviel Bedeutung beimaß. Ganz sicher würde ich Professor Wallon treffen, denn er hatte mir unmittelbar nach Kriegsende geschrieben und mir vorgeschlagen, ihn sobald wie möglich zu besuchen. Er hatte erwähnt, daß er eine neue psychologische Zeitschrift mit dem Titel »Enfance« herausgeben würde und mich gebeten, einen Beitrag dafür zu schreiben. Er versicherte mir, auch im Namen seiner Frau, daß ich bei ihnen stets herzlich willkommen war. Dieses Angebot beruflicher Zusammenarbeit gab mir einen neuen Ansporn für die Zukunft. Ich hatte nach der richtigen Ermutigung und Fürsorge gehungert. Nicht, daß es mir in England an beidem mangelte, doch Wallon und seine Frau brachten für mich die fürsorgliche Freundschaft und berufliche Wertschätzung auf, die mich im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Füße brachten und mir ein Gefühl des »Gleichgewichtes« verschafften.
Viele Freundschaften, die ich in England geschlossen hatte, waren von Anfang an verdorben dadurch, daß meine Arbeit immer den Unterton des Sensationellen hatte. Außer während der Kriegsjahre war es nur selten möglich, meine Maske abzulegen. All dies ging mir durch den Kopf, während der Nächte, die ich krank und fiebernd dalag, aber fest entschlossen war, die Reise anzutreten. Ich hatte mir einen Wagen bestellt, der mich zur Victoria Station bringen sollte. Doch er kam nicht zur vereinbarten Zeit. Angsterfüllt wartete ich einige Minuten, dann nahm ich meinen Koffer und rannte auf die Straße. Ich weiß nicht mehr, ob ich ein Taxi nahm, oder den Bus, auf jeden Fall erreichte ich in letzter Minute, nach Atem ringend, den Zug.
Und wieder einmal kam ich am Gare du Nord an. Niemand wartete auf mich - doch ich war wieder in Paris. Ich ging zum Hotel du Quai Voltaire, das immer noch stand, allerdings ein wenig mitgenommen aussah. Doch der Besitzer und das Personal hatten gewechselt. Die Seine, der Louvre, das Bistro an der Ecke der Rue Bonaparte begrüßten mich wieder einmal. Im Nu kannte ich mich wieder aus. Doch Paris war nur noch ein Schatten seiner selbst. Die Stadt hatte überlebt, doch keine Hand war damit beschäftigt, die traurig aussehenden, manchmal zerfallenden Häuser zu reparieren oder anzustreichen, denen der Staub der Nazivergangenheit immer noch in den Ritzen hing, Paris hatte noch nicht wieder zu sich selbst gefunden. Hatten meine jüdischen Freunde überlebt? Bis dahin hatte ich noch nicht zu fragen gewagt, aber nach einem oder zwei Tagen rief ich in Baladines Wohnung in der Rue du Canivet an. Pierre nahm den Höher ab. Baladine sei wohlauf und hätte mich schrecklich vermißt. Während des Krieges war sie zu Freunden in die Dordogne geflüchtet und gerade jetzt sei sie in Paris auf Urlaub. Er lud mich ein, seine Frau kennenzulernen, die ein deutsches Konzentrationslager überlebt hatte. Die beiden waren - abgesehen von Wallons - die einzigen Menschen, die ich während dieses Aufenthaltes in Paris traf. Pierre sah noch aus wie früher, doch er hatte seinen Lebensstil geändert. Aus dem Atheisten war ein glühender Christ geworden. Er gehörte zu den französischen Intellektuellen gemischt nationaler Herkunft, die unmittelbar nach dem Krieg mit deutschen Pastoren Kontakt aufnahmen, um einen Dialog zwischen den beiden Ländern herbeizuführen. Er war gut für die Aufgaben eines Verbindungsoffiziers, der die Aufgabe hatte, die Wunden auf beiden Seiten zu heilen, gerüstet. Seine Mutter Baladine war eine deutsche Jüdin, sein Vater ein polnischer Aristokrat, Pierre selbst von Geburt Franzose. Seine jüdische Frau war ausgebildete Sozialarbeiterin. Sie stimmte mit seinen Ideen einer Völkerverständigung überein, trotz ihrer eigenen Leiden im Konzentrationslager. Der Abend mit ihnen gab mir die Antwort auf mein Gefühl, im Paris des Jahres 1947 eine Fremde zu sein. Es gibt einen enormen Unterschied zwischen der tatsächlichen und der nur vorgestellten Erfahrung der Verfolgung. Das britische Volk wußte nichts über die tatsächliche Nazi-Brutalität, trotz der Verwüstungen durch Bomben, unter denen es zu leiden hatte. Es gab einen Unterschied zwischen den Gesichtern von Pierre und Denise - und anderen französischen Gesichtern. Im Cafe de Flore bediente ein Kellner, den ich schon in den 30er Jahren kannte, und der sich jetzt - stark gealtert - ein Lächeln abrang. Er wirkte auf mich wie ein Heimkehrer, und genau so ging es ihm wahrscheinlich mit mir - zwei Überlebende trafen sich wieder. Ich sah in seinen Augen, daß es ihn tröstete, jemanden zu treffen, der fortgegangen war, bevor das Entsetzliche geschah, und der nun zurückgekehrt war. Seine Gegenwart ließ das Cafe de Flore neu auf mich wirken. Die wenigen Gäste lasen Zeitung, eilten zum Telefon, rauchten Gauloises, tranken Kaffee, wie sie es immer getan hatten. All dies war tröstlich, denn es war mir vertraut. Und ich sah mich um ohne das Gefühl, mich in einem Niemandsland zu befinden. Dann besuchte ich meinen ehemaligen Lieblingsbuchladen, voller Hoffnung, auch dort mein altes Paris wiederzufinden. Er befand sich immer noch in
der Rue de l'Odeon, und wie früher stand seine Tür offen. War es Sylvia Beach, die mich bediente, oder war sie es nicht? Ich wußte es nicht. Wir hatten uns dort getroffen, doch es gab kein Anzeichen, daß sie mich erkannte und umgekehrt - am Ende war es jemand anderes? Das unheimliche Gefühl, auf unsicherem Grund zu stehen, ergriff wieder von mir Besitz. In diesem Augenblick faßte ich den Entschluß, Paris sofort zu verlassen, nachdem ich die Wallons besucht hatte. Ich war mir sogar im Unklaren, ob ich mich überhaupt mit ihnen treffen sollte, so unsicher fühlte ich mich, es dauerte drei Tage bevor ich sie anrief.
Meine Bestürzung war nicht der einzige Grund für mein Zögern. Ich hatte auch ein vage Erwartung, daß ich hier Dr. Earle aus Birmingham treffen würde. Er bewunderte Professor Wallon sehr, dessen Empfehlungsschreiben für meinen herzlichen Empfang im St. Lawrence-Hospital gesorgt hatte. Als Dr. Earle die Stelle wechselte, lud er mich ein, ich solle mich, wann immer ich wollte, frei fühlen, meine Forschung in der Monyhull Colony fortzusetzen, deren Direktor er wurde. Und kurz nach dem Krieg ging ich dorthin. Meine Zeit dort in einem Heim für geistig behinderte Kinder brachte mir mehr als nur beruflichen Nutzen, sie stärkte auch meine Freundschaft zu Dr. Earle. Dieser temperamentvolle Ire, der nie einen Hehl aus seiner Meinung machte, duldete weder Nachlässigkeit noch Ungerechtigkeit bei seinen Angestellten oder seitens der Behörden, und konnte Berge versetzen, um das zu bekommen, was er brauchte. Er entstammte einer katholischen Familie und war praktizierender, aber kein gläubiger Christ. Sein Geist schimmerte wie ein vielfarbiges Kaleidoskop. Man konnte immer gespannt darauf sein, welche Farbe einem als nächstes vor den Augen erscheinen und genau so schnell wieder verschwinden würde. Ebenso waren seine Stimmungen und seine Interessen. Er war einer der besten Psychater, die ich je getroffen habe, doch seine große Leidenschaft galt der Poesie. Wenn er ein Gedicht rezitierte, dann kam es einem vor, als hätte er es selbst geschrieben.
Das Wort Magnetismus hat durch seinen häufigen Gebrauch viel von seiner ursprünglichen Bedeutung verloren, doch es konnte auf diesen seltsamen Mann voll und ganz angewendet werden. Obwohl oder weil er so viel Konflikte mit sich selbst hatte, besaß er nicht nur ein großes Einfühlungsvermögen für seine Patienten und Freunde, sondern war auch ein begnadeter Hypnotiseur. Von ihm lernte ich die Technik der Hypnose, so weit man sie lernen kann. Seine Sensibilität und intuitives Verständnis - Eigenschaften, die man normalerweise mit dem weiblichen Geschlecht verbindet - machten ihn zu einem geborenen »Heiler«. Er hatte eine androgyne Mentalität und war homosexuell. Dr. Earle konnte ein brillanter Schauspieler sein, aber er brachte dies nie in seinen Beziehungen zur Anwendung. Er verhielt sich jedem gegenüber authentisch, seien es Patienten oder Freunde, Intellektuelle oder geistig behinderte Menschen.
Dr. Earle kam niemals jemandem zu nahe. Er drückte seine Gefühle durch Andeutungen und Taten aus, und das machte seine Gegenwart so angenehm. Ich wußte um seine Homosexualität und er um meine Neigung. Wir brauchten nicht darüber zu reden. Er unterstützte meine Arbeit sehr. In seiner eigenen Tätigkeit bezog er sich auf Wallons Arbeiten, die seiner Ansicht nach von gleicher Qualität waren wie die von Piaget. Und er hatte mir gegenüber den Wunsch geäußert, ihn eines Tages kennenzulernen. Meine Arbeit mit Dr. Earle hatte ich bereits in einem Brief an Professor Wallon erwähnt. Mir kam der Gedanke, daß ich dabei behilflich sein könnte, die beiden während meines Besuches in Paris zusammenzuführen. Als ich Dr. Earle gegenüber den Plan erwähnte, lächelte er mir begeistert zu und dankte mir, als hätte ich ihm ein kostbares Geschenk bereitet.
Zwei Tage, nachdem ich zum ersten Mal seit neun Jahren wieder französischen Boden betreten hatte, kam auch er in Paris an, und seine Gegenwart half mir dabei, die Stadt während meines Aufenthaltes mit freundlicheren Augen zu sehen. Außerdem erleichterte er mir die Wiederbegegnung mit den Wallons, vor der ich mich etwas gefürchtet hatte.
Die Wallons in dem von den Nazis besetzten Paris zu wissen, hatte mich mit Schrecken erfüllt. Er war ein Sympathisant der Kommunisten und hatte die spanischen Revolutionäre während des Bürgerkrieges besucht. Ich hatte um sein und Germaines Leben gefürchtet und gehofft, daß sie aus der Stadt geflohen waren. Meine einzige Frage an Wallon über die Kriegsjahre und die Besatzungszeit lautete: »Ist es Ihnen gut gegangen?« Worauf er seine Hände betrachtete und schroff antwortete: »Wir sind sehr beschäftigt gewesen.« Damit wußte ich, daß ich das Thema nicht mehr anschneiden sollte. Ich kann mich nicht mehr genau an die Ereignisse dieses Abends erinnern, nur an die Atmosphäre. Wir waren aufgeregt wie Menschen, die sich wiederbegegnen, obwohl sie es vorher nicht zu hoffen gewagt hatten. Ich fand etwas Kostbares wieder, das ich so leicht hätte verlieren können. Als wir uns verabschiedeten, sagte Professor Wallon zu mir: »Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie einen Vortrag über die Fortschritte Ihrer Forschung an der Ecole des Hautes Etudes halten würden, sobald Sie Paris wieder besuchen können.« Obwohl er mich schon vorher eingeladen hatte, einen Beitrag für die Zeitschrift »Enfance, Revue Bio-Psychologique« zu schreiben, war die Einladung zu einem Vortrag doch eine besondere Auszeichnung. Ich war stolz, ermutigt und fühlte mich darin bestätigt, daß die alte Verbindung, die mich zurück nach Paris geführt hatte, verstärkt werden würde.
Professor Wallon hatte mir nichts über seine Aktivitäten während der Besatzungszeit durch die Nazis erzählt, später erfuhr ich jedoch, daß er der Koordinator der Resistance an allen französischen Universitäten - und sogar für kurze Zeit unmittelbar nach der Befreiung von Paris Innenminister gewesen war.
Dr. Earle und ich kehrten zusammen nach England zurück. Jeder von uns hatte dem anderen auf unterschiedliche Weise Paris zum Leben erweckt, wir waren uns gegenseitig dankbar dafür und teilten unsere Freude, daß uns Frankreich wieder offen stand.
1947 war für mich, alles in allem, ein sehr gutes Jahr. Mein Artikel »The Hand of the Mental Defective« (Die Hand der Geisteskranken) war im »British Journal of Medical Psychology« erschienen, aber das Beste war Wallons Einladung, an der Ecole des Hautes Etudes zu sprechen. Mir lag besonders viel daran, daß meine Arbeit in Universitätskreisen anerkannt wurde. Keine britische Universität hatte mir bis dahin eine solche Ehre zuteil werden lassen. Es ist kein Geheimnis, daß die Professoren an englischen Universitäten immer sehr lange brauchen, um neue, ungewöhnliche Ideen zu akzeptieren. Doch ich verübelte ihnen ihre Reserviertheit meiner Arbeit gegenüber.
Dr. Earle und ich gingen nach unserer Ankunft an der Victoria Station getrennte Wege. Ich hatte keine Lust, gleich in meine Wohnung in der Tregunter Road zurückzukehren und ging direkt zu meiner Freundin, der Näherin Sophie. Sie war nicht überrascht, als ich mit meinem Gepäck vor ihrer Tür auftauchte, im Gegenteil: Sie freute sich, daß ich gekommen war. Sie machte mir etwas zu essen und lud mich ein, bei ihr zu übernachten, aber ich war entschlossen, zu mir nach Hause - wenn auch ungern - zurückzukehren. Ich zögerte jedoch bis spät in die Nacht, bevor ich diesen Schritt wagte. Sophie trug meine Koffer und brachte mich bis vor meine Tür. »Ich werde mich nie in England heimisch fühlen«, flüsterte ich ihr ins Ohr, bevor sie ging. Trotz all der glücklichen Ereignisse hatte das Schicksal mir mein grundlegendstes Bedürfnis - das nach einem friedlichen Zuhause - nicht erfüllt, bis heute nicht. Das gleiche Muster wiederholte sich, mit Varianten, wo immer ich in London lebte. Streitende Paare, Türenschlagen, Ballettänzer, die ausgerechnet auf dem Parkettboden über mir Sprünge übten, ein laut klimpernder Pianist, all das ist ständig in mein »Territorium« eingedrungen. Es raubte mir die Seelenruhe und schadete meiner Gesundheit.
Man wundert sich manchmal, warum einem stets Schatten durchs Leben folgen, die man nicht fangen und schon gar nicht eliminieren kann. Ich nahm dieses Mißgeschick als eine ständige Erinnerung daran, daß ich immer eine Fremde war und sein werde, nicht wirklich willkommen in diesem Land, britische Staatsbürgerin nur durch Adoption. Meine Selbstbeschreibung als internationale Jüdin mit einem britischen Paß trifft genau den Kern der Sache. Schon vor langer Zeit, in den späten 20er Jahren, hatte mir einmal ein alte russische Frau, die während der Judenprogrome von 1905 nach Deutschland geflohen war, gesagt: »Das schlimmste Schicksal überhaupt ist, im Exil zu leben.« Ich sehe dabei immer noch den verlorenen Ausdruck in ihrem Gesicht vor mir. Die Weisheit ihrer Worte beeindruckte mich tief genug, daß ich sie nie vergaß. Ich weiß nicht, ob ich mich genauso fühlte wie sie. Für mich war das Problem der Freiheit gleichzusetzen mit dem Problem, eine Jüdin zu sein, die sich nirgendwo absolut sicher fühlen kann - nicht einmal in Israel.

Meine Forschungsarbeiten machten nach dem Krieg gute Fortschritte und lenkten mich von meiner unangenehmen häuslichen Situation ab. Ich beendete den langen Ausflug in das Gebiet der menschlichen Hand durch Untersuchungen in Schulen, wo ich die Hände von Kindern verschiedener Altersstufen studierte. Auch ihre Lehrer boten sich mir als Versuchspersonen und sogar als Helfer an. Ein Lehrer für Naturwissenschaften an der Greycoat School bereitete die statistischen und graphischen Illustrationen für mein Buch »The Hand in Psychological Diagnoses« vor. In meiner Praxis als Psychotherapeutin war ich erfolgreich, versuchte jedoch, die Zahl der Klienten meiner Forschungsarbeit wegen und der wenig anziehenden Umgebung, in der ich sie empfangen mußte, klein zu halten.