Obwohl ich auf meine englischen Freunde angewiesen war, glaubte ich nicht an sie. Die Zeit verging. Durch die Veröffentlichung von »The Human Hand« kamen viele neue Klienten zu mir. Doch mit Ausnahme eines schwedischen Arztes überwiesen mir keine etablierten Mediziner ihre Patienten. Die einzige enge Freundin, die ich hatte, war eine Südafrikanerin, und die größte Unterstützung bekam ich von einem Franzosen und einem Iren: Professor Wallon und Dr. Earle. Ich begann mich zu fragen, ob ich Vorurteile gegen die Engländer hatte, oder ob ich mit meinen Ansichten über sie richtig lag. Es kam jedoch die Zeit, wo mir der Beweis erbracht wurde, daß ich unrecht hatte.
Für meinen Vortrag an der Ecole des Hautes Etudes wurde ein Termin im Oktober 1948 vereinbart. Ich brauchte vorher dringend noch ein paar Tage Urlaub, und im Juli dieses Jahres fuhr ich nach Cornwall in ein hübsches kleines Dorf namens Mousehole. Dort war ich der einzige Gast in einer privaten Pension, die von zwei Schwestern betrieben wurde. Eine von ihnen, Irmgard, begleitete mich nicht nur zur einzigen Gastwirtschaft des Ortes, sondern auch auf meinen Spaziergängen zum Strand und in die Umgebung. Die Pension befand sich an einer ansteigenden Straße, die zum höchsten Punkt des Dorfes führte. Eines Morgens kletterten wir den Hügel hinauf, um uns ein bißchen Atlantikluft um die Nase wehen zu lassen. Da kam uns eine große Frauengestalt entgegen; als sie uns sah, blieb sie stehen. In ihren Augen blitzte ein amüsiertes Lächeln auf. Sie sah mich mit fragendem Ausdruck an. Nachdem meine Begleiterin mich vorgestellt hatte, wandte sie sich mir zu: »Möchten Sie uns in unserem Haus dort oben besuchen? Kommen Sie doch beide morgen zum Tee.« So begann es. Irmgard erzählte mir alles über die erstaunliche Quäkerfamilie, die »dort oben« lebte. In Mousehole gab es genug Stoff für Klatsch und Tratsch, denn Künstler und Exzentriker hatten sich im Dorf niedergelassen und sorgten durch ihre manchmal exotischen, manchmal traurigen
Lebengeschichten für die Unterhaltung der Dorfbewohner. Die Quäkerfamilie hatte erst vor einigen Monaten eine schreckliche Tragödie erlebt, die der ganzen Gemeinde einen Schock versetzt hatte. Die jüngste Tochter der Familie, Elizabeth, war eines Tages spurlos verschwunden. Fischer hatten sie auf dem Meer gesucht, Polizisten das Gelände um Mousehole durchgekämmt - vergebens. Elizabeth war ein schönes Mädchen gewesen, intelligent und künstlerisch begabt, erzählte Irmgard. Sie war mit ihrem Hund zum Schwimmen ans Meer gegangen und nie wiedergekehrt; nur der Hund kam zurück. Alle zerbrachen sich den Kopf darüber, was wohl geschehen sein mochte, und einige vermuteten, es sei Selbstmord gewesen.
Am nächsten Tag saßen Irmgard und ich mit Caroline, ihren Eltern und ihrer Freundin Isabel in einem etwas vernachlässigten Garten. Von dem Grundstück aus konnte man aufs Meer sehen, und die Meeresluft mischte sich mit dem Aroma von Rosen und Lilien. Der Duft stieg mir zu Kopf. Ich mußte immer wieder Carolines alles beherrschende Gestalt ansehen, wie sie aufrecht dasaß und ängstlich ihren Vater betrachtete; der 94jährige saß ein wenig zu dicht neben Irmgard, einer hübschen Frau in den 30ern. Bösartige Zungen behaupteten, daß er immer noch nicht aufgehört hatte, Mädchen schöne Augen zu machen. Die Mutter war 92 Jahre alt; sie hatte ein straffes Gesicht, in das sich nur wenige Linien eingegraben hatten. Sie wirkte ruhig und vergnügt, nahm keine Notiz von uns Besuchern, sah ihren Mann jedoch mißbilligend an. Caroline war Ende 50, doch in ihrem Gesicht waren Spuren von Leid eingegraben, die sie älter wirken ließ. Mit aufmerksamen Augen registrierte sie alles um sich herum. Einige Seitenblicke fielen auf mich, fragende Blicke. Unruhig und suchend sah sie um sich, und ich hatte den Eindruck, als sei sie auf der Suche nach etwas, das ihren Geist ablenken könnte. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und auch andere Anzeichen wiesen auf Krankheit oder Trauer hin: ihre gelbliche Gesichtsfarbe und schmale, zusammengepreßte Lippen. Ihre Freundin Isabel saß neben mir und sprach kein Wort. Sie wirkte abwesend, so, als ginge sie die ganze Szenerie um sie herum nichts an. Hatte sie Angst davor, den Mund aufzumachen? Ohne Carolines Gegenwart hätte sie die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Sie war nicht größer als 1.60 Meter, und mit ihren breiten Schultern und einem kurzen Hals wirkte sie gedrungen, ihre großen schwarzen Augen blickten starr. Offensichtlich legte sie großen Wert auf ihre äußere Erscheinung, besonders auf ihre wohlfrisierten grauen Locken.
Ich mußte immer wieder zu einem kleinen, vernachlässigt aussehenden Gartenhäuschen hinsehen, in dem sich, wie sich herausstellte, ein Atelier befand. Wie verloren es aussah, als ob niemand hineingehen oder es sauber machen wollte. Es hätte einen neuen Außenanstrich benötigt, und das Dach hätte repariert werden müssen. Caroline hatte wahrscheinlich meine Gedanken erraten. »Es ist das Atelier meiner Schwester Elizabeth«, sagte sie. »Sie hat dort gemalt und gewohnt, wenn sie allein sein wollte.« War das Eis gebrochen? Bevor wir aufbrachen, fragte sie mich, ob ich mir das Haus näher ansehen wollte. Wir gingen durch einen Wintergarten mir exotischen Blumen, deren Namen ich nicht kannte, in ein großes Eßzimmer mit einem Holztisch, der dem Speisesaal eines Schlosses zur Ehre gereicht hätte. »Ich werde Ihnen das Obergeschoß nicht zeigen, das Dach ist undicht, und wir müssen bei jedem Regen Eimer dort aufstellen. Das Haus müßte renoviert werden, aber in kann im Augenblick nichts daran machen lassen. Mein Bruder wird sich darum kümmern, wenn er uns nächsten Monat besucht.« Bevor ich hinausging, warf ich noch einen Blick auf das verlassene Atelier. »Besuchen Sie uns noch einmal, bevor sie nach London zurückkehren«, sagte Caroline. »Ich werde Ihnen dann das Atelier zeigen.« »Ich würde mich freuen«, antwortete ich, obwohl keine Antwort erwartet wurde.
Als ich wiederkam, um mich zu verabschieden, führte mich Caroline in das Atelier. Es war ein kleiner Raum mit einem Zementfußboden und fluoreszierenden Lichtröhren an den Wänden. Ich sah die Skizze eines Eies auf der Staffelei und ein paar abstrakte Versuche auf einem staubigen Tisch. Nach einer Weile nahm Caroline meine Hand und sagte: »Ich möchte Sie gerne wiedersehen.« »Ja, ich auch.«
Briefe wurden ausgetauscht, und einer von ihr enthielt eine Einladung für ein langes Wochenende. Zwei Monate nach unserer ersten Begegnung nahm ich den Zug nach Penzance. Caroline und Isabel holten mich vom Bahnhof ab. Isabel lächelte wehmütig, und ihre großen Augen leuchteten, als sie mir die Hand gab. »Wie schön, daß Sie kommen konnten. Das wird Caroline gut tun.« Diese versuchte sie daran zu hindern, noch weitere Bemerkungen zu machen, als fürchtete sie sich vor etwas. Sie nahm meinen Arm. »Sie müssen müde sein, lassen Sie uns schnell nach Hause fahren, das Taxi wartet.«
Nach dem Essen gingen wir in Elizabeths Atelier und setzten uns auf zwei unbequeme Stühle. Isabel hatte sich taktvoll entfernt. »Ich dachte, sie wollten etwas von mir«, sagte Caroline, »so wie Sie mich angesehen haben.« Ich beugte mich über sie - und wir küßten uns. Dann erzählte sie mir, daß sie im Nachbardorf eine Freundin hatte, eine Ungarin namens Gertrud, die vor den Nazis hierher geflüchtet war. Sie kümmere sich um sie, so daß sie sich weiterhin ihrer Malerei widmen könne. »Ich besuche sie zweimal die Woche«, sagte Caroline. »Es ist nötig, sonst wäre sie zutiefst deprimiert, und ich will es auch - meinetwegen.« Am nächsten Tag betrat ein mir bis dahin unbekannter Mensch den Garten. Die weißhaarige, vollbusige Frau kam lächelnd auf mich zu und wollte mir vorgestellt werden. »Das ist Tante Emma, Vaters Schwester, die gekommen ist, um bei uns zu leben«, erzählte man mir. Die 92jährige war noch im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Doch ihrer Kleidung und ihrem ausgesucht höflichen Benehmen mir gegenüber nach zu schließen, lebte sie noch im Zeitalter Edwards VIII. Ihr Rock ging ihr bis zu den Knöcheln, und auf ihrer feinen Wollbluse prangte eine Diamantbrosche. Dieses efeubedeckte alte Haus mit seinem fehlerhaften Dach und der abbröckelnden Farbe wurde von Menschen bewohnt, die einem Märchen hätten entstammen können. Tante Emma pflückte und arrangierte die Blumen für das Haus. Der Vater führte Elizabeths Hund spazieren und malte Landschaften aus dem Gedächtnis, aber meist saß er im Wintergarten und sprach mit sich selbst. Ebenso sorgfältig wir seine Schwester pflegte er sein Äußeres, aber sein Gedächtnis ließ ihn mehr und mehr im Stich, wie er mir erzählte. Wenn er im Wintergarten saß und über sich nachdachte, war er wieder ganz in seiner Vergangenheit: in Menton, Nizza oder in den Tropen. Die Mutter kochte noch für die Familie und hatte den gesamten Haushalt unter Kontrolle. Ihrer Ansicht nach war die Welt ein tragikomischer Ort geworden. Nur Isabel paßte nicht in das Idyll. Sie schien immer bescheiden am Rande zu stehen. »Ich verlasse euch bald und gehe nach Kenia, um bei meinem Bruder zu leben«, kündigte sie eines Abends beim Essen an. Der Vater murmelte: »Das ist eine gute Idee.« »Sie droht immer damit, mich zu verlassen«, meinte Caroline, »sie mag Gertrud nicht.« Doch Isabel erzählte mir ihre eigene Version. »Sehen Sie, Caroline kann nicht umhin, sich immer um die Gestrauchelten zu kümmern.« »Oh Gott«, dachte ich, »und was ist mir mir?« Sie fuhr fort: »Diese Malerin beutet sie aus und versucht, sie von mir zu trennen. Ich bin so froh, daß Sie zu uns gekommen sind. Das lenkt Caroline von dieser Frau ab.« Isabel ging nie nach Kenia. Sie glaubte, ein Gegenmittel gegen den vergiftenden Einfluß von Carolines Freundin gefunden zu haben: mich. Und so betrachtete sie mich mit wachsender Zärtlichkeit. Als sie und Caroline mich wieder zum Bahnhof Penzance brachten, bat sie, bevor ich den Zug bestieg: »Darf ich Charles zu Ihnen sagen?« »Aber sicher«, sagte ich und mußte lachen. Sie gab mir einen Kuß.
Nach dem Wochenende erreichten mich täglich, manchmal sogar zweimal am Tag, Briefe aus Cornwall, und ich antwortete ebenso häufig.
Im Oktober desselben Jahres fuhr ich nach Paris, das von den Toten auferstanden schien. Ich nahm mir ein Hotelzimmer nahe dem Jardin du Luxembourg, von da aus waren es nur ein paar Schritte bis zur Rue du Canivet, wo Baladine lebte. Sie war gesund und munter aus ihrem privaten Exil in der Dordogne zurückgekehrt. Freunde von Pierre hatten sich während der Kriegszeit um sie gekümmert. Wieder saßen wir zusammen in ihrem Zimmer, das mit Gemälden und Erinnerungen vollgestopft war, und es kam mir vor, als stünde die Zeit still. Doch die anderen Räume der Wohnung gehörten ihr nicht mehr. Sie hatte sie Pierre, seiner Frau und deren Baby überlassen. Sie war ganz verrückt nach den kleinen Matthew, kümmerte sich jedoch nicht um ihre Schwiegertochter. »Warum hat er auch eine Jüdin aus einem Konzentrationslager geheiratet?«, meinte sie, eine Frage, die ich weder verstehen noch beantworten konnte. Später erkannte ich, daß Denise ihre eigenen schlimmsten Ängste wieder aufgerührt hatte - der gelbe Stern, das Konzentrationslager, der Tod. Baladine hatte sich von der Außenwelt zurückgezogen und lebte nicht mehr in der Gegenwart. Sie verharrte in Erinnerungen an Rilke, und ihre einzige Verbindung zur Zukunft war ihr kleiner Enkel Matthew. Immer wieder las sie mir unveröffentlichte Gedichte, die Rilke ihr geschickt hatte, und Auszüge aus seinen Briefen an sie vor. Während sie an ihrem kleinen Regency-Tisch saß und mir vorlas, wanderten meine Augen von ihrem über die Briefe gebeugten Kopf zu dem Portrait Rilkes über dem Schreibtisch. Sie hatte ihn gemalt. Immer wieder erzählte sie mir von ihren Begegnungen vor vielen Jahren, als sie Rilke dabei geholfen hatte, sich im schweizerischen Muzot niederzulassen. Ich sog jedes ihrer Worte in mich auf, obwohl ich alles schon einmal gehört hatte. Kein Wunder, dachte ich, daß Rilke von ihr fasziniert war. Von ihrer Gegenwart fühlte man sich eigenartig bezaubert, so daß man alles um sich herum vergaß.
Als ich von meinem ersten Besuch bei Baladine ins Hotel zurückkehrte, erwartete mich ein Telegramm von Caroline. Sie war im Geiste immer bei mir, und ich wußte es. Doch ich fühlte mich so weit von England und ihr entfernt, als wäre ich nach Australien emigriert. Frankreich und England waren für mich zwei unvereinbare Welten.
Mein zweiter Besuch in Frankreich fiel mir wesentlich leichter als mein erster, obwohl er einen aufregenden Anlaß hatte: meinen Vortrag an der Ecole des Hautes Etudes. Diesmal hatte mich weniger die Reise selbst in Erregung und Furcht versetzt als die Vorbereitung meines Textes und - mehr noch - die Vorstellung, vor einem großen Auditorium sprechen zu müssen. Ich fürchtete, Lampenfieber zu bekommen, besonders weil ich im Laufe der Jahre ziemlich viel von meinem französischen Wortschatz durch mangelnde Praxis eingebüßt hatte. Die Untersuchungen am St. Lawrence-Hospital und der Monyhull Colony hatten unstrittige Beweise geliefert, daß sich in der menschlichen Hand Anomalien des Gehirns widerspiegeln. Ich beabsichtigte, darauf in meinem Vortrag den Schwerpunkt zu legen.
Das Auditorium Maximum der Ecole des Hautes Etudes war am Abend meines Vortrages mit Studenten und Mitgliedern des Lehrkörpers gefüllt. Professor Wallon hatte den Vorsitz und sprach die einleitenden Worte. Dann ging ich zum Rednerpult. Nach den ersten Minuten war mein Lampenfieber vorbei. Nachdem Abdrücke der Hände von geistig behinderten Kindern und den Extremitäten eines Schimpansen und eines Gorillas auf die große Leinwand projiziert worden waren, hatte ich das Publikum für mich gewonnen. Es applaudierte und trampelte begeistert mit den Füßen. Professor Wallon dankte mir und drückte seine Wertschätzung für meine Arbeit aus. Er lud mich ein, den folgenden Abend mit ihm und seiner Frau zu verbringen.
So glücklich ich auch nach dem Vortrag zu Baladine entschwebte, dieser emotionale Höhenflug hielt nicht lange an. Ich lebte in ständigen Zweifeln, ob diese glücklichen Ereignisse nicht nur vorübergehend waren. Wallon schlug vor, man solle »The Human Hand« ins Französische übersetzen und hatte auch schon einen bestimmten Übersetzer im Sinn; er selbst wollte das Vorwort dazu schreiben. Ich zeigte mich dankbar und hocherfreut, doch mein dummes Mißtrauen war nach wie vor stärker als eine realistische Einschätzung der Ereignisse. Sogar Wallons Einladung, einen weiteren Beitrag für die Zeitschrift »Enfance« zu schreiben, durchbrach die Mauer meines Widerstandes gegen den Glauben an eine glückliche Zukunft nicht. Die Büchse der Pandora hatte schon zu viele »Geschenke« für mich bereitgehalten, und ich fürchtete, daß davon noch mehr auf mich zukommen würden. Caroline schickte mir Telegramme und schrieb mir täglich. Ihre Liebe gab mir ein Gefühl emotionaler Sicherheit und half mir dabei, Paris zu genießen, besonders die Begegnungen mit Baladine. Vor dem Mittagessen setzten wir uns häufig auf die Terasse des Cafes Les Deux Magots vor der Kirche St. Germain. Schon immer war dieses Cafe einer meiner Lieblingsorte gewesen, wo ich stundenlang einfach nur dasitzen und das Treiben auf der Straße betrachten konnte.
Wie vor dem Krieg war die Terrasse voll mit Touristen und Franzosen. Alte Bekannte gingen vorüber, als wären sie aus einem Grab wiederauferstanden. Einige setzten sich an unseren Tisch und unterhielten sich mit uns wie in alten Zeiten. Beispielsweise Consuelo de Saint-Exupery, eine traurige kleine Gestalt, die ausgesprochen einsam aussah. Sie hatte sich auf einem Boot häuslich eingerichtet, das am Seine-Ufer vor Anker lag. »Ich will keinen festen Wohnsitz mehr«, sagte sie. Sie sah aus wie eine in Stein gehauene Miniatur. Ich nahm jedoch ihre Einladung, sie auf dem Boot zu besuchen, nicht an. In der Vergangenheit hatte ich einmal ein sehr gutes Verhältnis zu ihr gehabt, jetzt aber schien sie so weit entfernt, daß ich meinte, sie nicht erreichen zu können.
Einige Abende verbrachte ich bei Baladine zu Hause. Hier ging alles etwas gedämpft zu, man schlich auf Zehenspitzen durch die Räume und sprach ganz leise miteinander, um das schlafende Baby nicht zu stören. An anderen Abenden gingen wir zum Essen auf den Boulevard St. Germain, und einmal nahm sie mich mit zu einem sehr bekannten Restaurant an der Rive gauche, in dem berühmte Künstler zu dinieren pflegten. Wir setzten uns an einen Tisch im oberen Stockwerk, nahe der Balustrade. Von dort aus konnten wir wie von einem Balkon im Theater auf die Menge sehen. Das Spektakel unter uns interessierte uns allerdings weniger als das gute Essen und der ausgezeichnete Wein. Plötzlich geschah das Unerwartete: Baladines Sohn Balthus kam mit einigen Begleitern herein und setzte sich an den Tisch rechts neben uns. Er sah Baladine und mich an ohne ein Zeichen des Erkennens - als wären wir gar nicht da. Baladine zuckte nicht mit der Wimper und ließ auch kein Zeichen des Unbehagens spüren. Zunächst blieb mir vor Verblüffung der Mund offen stehen, doch dann tat ich so als würde ich das absurde Verhalten akzeptieren, als wäre es natürlich. Wir beeilten uns nicht mit dem Essen und hatten auch nicht das Bedürfnis fortzugehen. Wir aßen und tranken weiter, unterhielten uns so lebhaft wie immer, warfen einen gleichgültigen Blick auf die vorbeilaufenden Kellner und die gutgekleideten Gäste. Obwohl uns dieser Schlag aus heiterem Himmel sehr getroffen hatte, ließen wir es uns wenigstens nicht anmerken. Doch schließlich, als wir das Restaurant verließen, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten, so sehr ging der Zorn mit mir durch.
»Was hat Balthus dazu gebracht, sich so zu verhalten?«, fragte ich. »Oh, er kann mir nicht verzeihen, daß ich Jüdin bin, und er durch meine >Schuld< zu einem Halbjuden wurde. In der Öffentlichkeit kennt er mich nicht. Das hat er schon öfter gemacht, aber er besucht mich von Zeit zu Zeit und ist dann so liebevoll wie immer.
Wahrscheinlich wissen Sie nicht, daß er den Namen der Familie seines Vaters angenommen hat und sich jetzt Balthus, Count de Rolla, nennt?« »Weiß er, was Sie dabei fühlen?« »Ja, da bin ich mir sicher, aber für ihn macht das keinen Unterschied. Ich kann ihn nicht hinauswerfen, wenn er mich besuchen kommt. Ich belasse die Dinge, wie sie sind. Er war schon immer sehr schwierig und einsam.« »Ich werde kein Wort mehr mit Balthus reden.« »Dazu werden Sie auch wahrscheinlich keine Gelegenheit bekommen«, antwortete sie. Ich war wie vor den Kopf geschlagen und fragte mich, ob ich solch kapriziöses Verhalten bei ihm vorhergesehen hatte, als ich vor Jahren seine Hände untersuchte. Ich hätte es wissen sollen. Vielleicht wußte ich es? Ich erinnerte mich daran, daß ich bei ihm in beiden Handflächen »Affenfurchen« gesehen hatte, ein Merkmal, das auf ein gestörtes emotionales Gleichgewicht hinweist. Sein geteiltes Ich hatte ihn in eine Sackgasse getrieben. Nein, sein Antisemitismus hatte nichts zu tun mit dem unglücklichen Schicksal Frankreichs, mit den Nazis oder anderen äußeren Umständen, wie Baladine meinte. Ich sagte zu ihr: »Ich hätte nicht überrascht sein sollen, denn ich habe mir vor vielen Jahren seine Hände angesehen und bei ihm die Linie emotional gestörter Menschen gefunden, die man Affenfurche nennt. Man findet sie bei Genies und bei Schwachsinnigen, und ich weiß, daß ich mit ihm darüber sprach.« Sie lächelte, denn keine von uns bezweifelte, daß Balthus ein genialer Maler war. »Er hat sein Talent von Ihnen geerbt«, fuhr ich fort. »Ist Ihnen das bewußt?« »Möglich, doch darauf kommt es nicht an. Seine Ablehnung meines Jüdischseins ist stärker als alle anderen Gefühle, die er vielleicht immer noch für mich hat.«
Nichts war ihm je gut genug gewesen, er war in allem ein Perfektionist. Unbedingt wollt er zur Elite gehören, nicht nur der Maler, sondern auch der Gesellschaft. Sein Snobismus hatte einen blinden Fleck entstehen lassen, so daß er die Wurzeln seines Talents verachtete.
Ich kehrte von Paris nach London zurück wie von einem Zuhause ins Exil. Doch wenn jeden Tag das Telefon klingelte und mich ein Anruf von einem Kiosk in Cornwall erreichte, sah die Welt ganz anders aus. Ich hatte immer schon intime Freundschaften und Liebesbeziehungen mit Sicherheit und Wohlbefinden gleichgesetzt, trotz aller Erfahrungen des Gegenteils. Wirst du jemals aus Schaden klug, fragte ich mich immer am Ende einer Liebesaffäre, um meine Lektion bei nächster Gelegenheit zu vergessen. Ich dachte, diesmal hätte ich die Ausnahme von der Regel getroffen. Ich hörte nicht auf die leise, aber klare Stimme in meinem Inneren - daß die unbehagliche Situation in fremder Umgebung nur durch eigene Anstrengung und nicht durch beschützende Liebe überwunden werden kann. Doch ich wollte die Warnsignale der Erfahrung nicht zur Kenntnis nehmen und fiel noch einmal auf eine Illusion herein.
Carolines Eintritt in mein Leben erfüllte mich mit dem Glücksgefühl eines Nichtschwimmers, der vor dem Ertrinken gerettet wird. Doch so stark meine emotionale Beziehung zu ihr auch war, noch ein weiteres Motiv hatte mich zu ihr getrieben: die Hoffnung, ein neues Zuhause zu finden, wo ich mich ausruhen und von den Anstrengungen und Kämpfen des täglichen Lebens zurückziehen könnte. Was mich antrieb, war die nostalgische Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies meiner Kindheit, das mir nur die liebende Fürsorge einer mütterlichen Gestalt wieder zurückbringen konnte. Ich konnte in vieler Hinsicht in meinem Alltag auf eigenen Füßen stehen, doch emotional war ich von einer anderen Frau abhängig.
Caroline und Isabel besuchten London am 14. Februar 1949. Es war ein warmer Frühlingstag, und ich fuhr mit einem Mietwagen zur Paddington Station, um sie abzuholen. Ich hatte mich in Schale geworfen, in ein marineblaues Kostüm, das ich mir hatte schneidern lassen. Die beiden drückten ihr Erstaunen über meine Extravaganz aus und hielten mich für wohlhabender als ich war. Sie hatten sich Zimmer in einem Hotel in der Cromwell Road gemietet, wo ich sie mit dem Versprechen verließ, sie zum Abendessen zu treffen. In letzter Minute jedoch änderten sie ihre Pläne, und Caroline rief mich an, um mir mitzuteilen, daß sie mich in der Tregunter Road besuchen würde, während Isabel eine alte Freundin in Hampstead aufsuchen wollte. Dies brachte mich etwas in Verlegenheit, weil ich jetzt ein Abendessen >für Zwei< arrangieren mußte. Die Aussicht, sie ganz für mich allein zu haben, fand ich eher bedrückend. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wie ich die Vorbereitung für das gemeinsame Abendessen überstand, nur daran, daß ich in der Lage war, noch schnell eine Flasche Nuits St. George aufzutreiben. Caroline sah strahlend aus, als sie kam. Ich begrüßte sie mit: »Heute ist Valentinstag.« »Oh, der ist so gut wie jeder andere Tag«, antwortete sie.
Das war der Beginn eines zauberhaften Abends. Als Quäkerin war sie es nicht gewohnt, Alkohol zu trinken, und konnte nicht mehr als ein halbes Glas Wein vertragen. Nach dem Abendessen sah sie noch strahlender aus als zuvor. Ich habe diese Atmosphäre nicht ausgelebter erotischer Begierde immer geliebt. Ihre Faszination bleibt lang bestehen, wenn die Spannungen der Erotik sich nicht in Sex entladen. Das Wort Romantik trifft nicht ganz die Bedeutung dieser unausgelebten Sehnsucht, die Gefühle und Imagination mit Spannung erfüllt. Letztere sind die Wurzeln der Liebe, die Essenz des Lebens. Wir umarmten uns, ließen voneinander ab, umarmten uns wieder - stundenlang.
»Laß uns nicht weiter gehen«, sagte sie. »Ich möchte, daß dies hier andauert. Alle Dinge enden, wenn ihre Anfänge nicht in Takt gehalten werden. Laß uns nicht Blumen züchten, sondern Knospen.« Die Weisheit der Unschuld, so alt wie die Welt, so simpel wie das ABC, berührte mich, als wäre sie eine Entdeckung.
Dieser Abend war der Beginn einer Beziehung, die mehr als drei Jahre hielt und einer Freundschaft, die weitere 25 Jahre dauerte. »Isabel ist dabei, ein kleines Anwesen in Malvern zu kaufen«, sagte Caroline mir eines Tages. »Vor dem Krieg lebten wir dort in einem großen Haus mit ihrer Mutter. Ich freue mich, daß wir auf diese Weise die Entfernung zwischen uns verkürzen können: Du kannst an Wochenenden und in den Ferien zu uns kommen, und ich könnte Dich besuchen - das heißt, wenn es Dir recht ist.«
Im April desselben Jahres erwarb Isabel ein Haus am Fuß der Hügeln von Malvern. Mir war unverständlich, was Caroline mit einem >kleinen Anwesen< gemeint hatte. Das Haus stand inmitten eines großen, terrassierten Gartens, der in einem kleinen Wald endete. Haus und Grundstück fand ich außergewöhnlich attraktiv. Als ich ihnen das sagte, lächelte Isabel: »Ich freue mich, daß Du dieses häßliche Haus magst.« Die beiden hatten nicht nur ein neues Kapitel ihres eigenen, sondern auch meines Lebens begonnen.
Doch wußte ich damals noch wenig darüber, wie sehr ich daran beteiligt sein würde.
Das Haus namens »Hazelwood« war vor dem Lärm der Straße durch eine dicht gepflanzte Eibenhecke geschützt. Nur ein kleines Eingangstor erlaubte den Blick auf das Grundstück. Doch niemand konnte weit genug sehen, um die Terrassenanlage, die Rhododendronbüsche und ein kleines Sommerhaus zu entdecken. Der kleine Wald im unteren Bereich endete bei einem Teich. Ein Steingarten, in dem Alpenblumen neben Blumen englischer Herkunft wuchsen, begrüßte den Besucher beim Eintritt durch das Holztor. Zur Linken erstreckte sich ein sanft abfallender Rasen, eine Blutbuche gab auf einer Seite Schatten, und im Zentrum stand eine kleine Säule mit einer Sonnenuhr. Häufige Wochenendbesuche und lange Sommerferien machten mir Hazelwood tatsächlich zu einer Art Zuhause, doch ich versuchte, dies nicht als selbstverständlich hinzunehmen, obwohl beide Freundinnen zum Ausdruck brachten, daß sie meine Besuche mehr als gern sahen. Ich wußte, daß Caroline mich für sich wollte. Isabel waren meine Besuche willkommen, weil ich Caroline von ihrer »Malerfreundin« ablenkte, die Isabels Seelenruhe störte. Sie war ihr ein Stachel im Herzen, denn Caroline hatte sich geweigert, sich von ihr zu trennen und hatte es auch ihr ermöglicht, nach Malvern zu ziehen.
Caroline hatte im oberen Teil des Hauses eine eigene kleine Wohnung, schlief jedoch gelegentlich auf einer Couch in ihrem Atelier. Das Gästezimmer, in dem ich wohnte, befand sich nebenan. Nach kurzer Zeit besuchte sie mich immer frühmorgens. Ohne ein Wort kroch sie in mein Bett, legte ihr Gesicht an meines und einen Arm um meine Schultern. Ihre Zärtlichkeit raubte mir den Atem. Sie handelte, als würde sie träumen, als wäre sie nicht ganz sie selbst. Zwischen ihren Umarmungen sprachen wir gelegentlich miteinander, und manchmal waren es ängstliche Gespräche. Sie wollte nicht in Emotionen hineingezogen werden, die sie nicht wirklich verstand (sagte sie). Obwohl mich diese seltsame Situation sicher, zufrieden und glücklich machte, sah ich voraus, daß dies nicht andauern konnte, daß die Tage dieser Zärtlichkeit gezählt waren. Es war unwahrscheinlich, daß sie auf längere Sicht ihrem emotionalen Bedürfnis derart Ausdruck verleihen würde.
Ihre Erziehung, ihre Religiosität, ihre Liebe zu Isabel machten diese Toleranz zu einem Tabu. Eines Tages würde sie unsicher werden, ob sie sich nicht »gegen die Natur« verhielte. Und vielleicht würde ihre ungarische Freundin von ihren Gefühlen für mich erfahren und ihr Schuldgefühle bereiten. Doch es dauerte noch ein paar Jahre, bis dies eintraf.
Im August 1950 schloß ich das Manuskript zu meinem Buch »The Hand in Psychological Diagnosis« ab. Das Buch war die Krönung von 19 Jahren Forschung, Versuchen und Irrtümern, Entdeckungen und harter Arbeit. Seine Veröffentlichung hatte ein unerwartetes Ergebnis: Es führte endgültig zu meiner Registrierung als Ärztin in Großbritannien. Doch dieses glückliche Ereignis war begleitet von allen Symptomen einer schwierigen Geburt. Eine englische Zeitung hatte sensationelle Schlußfolgerungen aus meinen Ergebnissen gezogen und, nicht genug damit, Illustrationsmaterial aus meinem Buch mit falschen und irreführenden Kommentaren veröffentlicht. Meine Anwältin erreichte eine einstweilige Verfügung gegen den weiteren Mißbrauch meines Textes und der von der Zeitung verwendeten Illustrationen. Diese unglückliche Sache löste in mir beträchtliche Sorge und Furcht aus. Ich hatte Angst, daß ich möglicherweise die Chance verlieren würde, als Wissenschaftlerin anerkannt zu werden und nie die Erlaubnis bekäme, in England als Ärztin zu praktizieren. Meine Anwältin teilte meine Sicht. Sie schrieb sofort an den General Medical Council und erklärte die Situation. Die überraschende Antwort kam sofort. Man teilte mir mit, daß man mir selbstverständlich den Status einer registrierten Ärztin bewilligen würde, wenn ich einen entsprechenden Antrag stellte. Ich hatte schon vor einigen Jahren eine solche Gelegenheit verpaßt, als eine Notiz in Fachzeitschriften veröffentlicht worden war, in der ausländische Mediziner, die während des Krieges als Vertretungsärzte gearbeitet hatten, aufgefordert wurden, eine dauerhaft gültige Registrierung zu beantragen. Ich hatte damals keine Zeit, die Fachzeitschriften durchzusehen, weil mich meine Forschung und mein Privatleben zu sehr in Atem hielten.
Im Frühjahr 1952 galt ich wieder offiziell als Ärztin, und das veränderte nicht nur meine berufliche, sondern auch meine soziale Stellung in diesem Land. Es stärkte mein Selbstwertgefühl und befreite mich von einer mehrdeutigen beruflichen Situation, die mir Sorgen und nagende Zweifel bereitet hatten, seit ich im Mai 1933 Deutschland verlassen hatte. Mit meinem neuen Status gewann ich meine Haltung wieder und verlor meine Unsicherheit im sozialen Umgang. Andererseits mußte ich meine medizinischen Kenntnisse auffrischen, um meiner neuen Aufgabe gewachsen zu sein. Die Angst zu versagen, stets präsent bei Menschen, die Verantwortung für die Gesundheit anderer haben, quälte mich. Doch ich hoffte, daß der große Fortschritt meiner Forschung eine mögliche Lücke im Bereich der Spezialkenntnisse kompensieren würde. Meine Selbstachtung wurde ein brauchbares Mittel gegen die Selbstzweifel, doch ein Rest Unsicherheit blieb.
Niemand kann sich auf seinen Lorbeeren ausruhen. Und ich begann mich zu fragen, was es eigentlich bedeutete, etwas »zu leisten.« Wenn ich an meine umfangreichen Bemühungen dachte, eine wissenschaftliche Methode der Handinterpretation zu finden, erkannte ich sehr deutlich, daß nur die kreativen Augenblicke mir im Gedächtnis geblieben waren. Ich sah ein, daß der Weg wichtiger ist als das Ziel, daß die Erwartung, ein Ziel zu erreichen, besser ist, als tatsächlich dort anzukommen. Für uns Reisende ist die Erwartung tatsächlich unsere lebenswichtige emotionale Ausrüstung. Jedes Bedürfnis, einen Ort zu finden, an dem man wirklich leben, wo man Stille und Ruhe genießen kann, ist trügerisch. Es muß in einem Verlust der Wunschvorstellung enden. Unsere Sehnsucht, uns endgültig niederzulassen, geht in Ruhelosigkeit über und endet wirklich an der Endstation der Reise - dem Tod.
Erhabene Momente der Erkenntnis, erfolgreiche Versuche, sie sind wie jede Art von Glücksgefühl nichts weiter als Seifenblasen: Sie dauern nur Sekunden. Ein Ziel, das nicht der Ausgangspunkt eines neuen Ziel? ist, führt dazu, daß Vitalität und Initiative erstickt werden. Die großen Augenblicke sind für ein Kind wie für einen Erwachsenen die Momente, bevor sich der Vorhang auf der Bühne hebt, wenn uns das Herz bis zum Hals klopft vor aufgeregter Erwartung des Kommenden. In diesen Augenblicken leben wir in der Zukunft. Nachdem das Spiel begonnen hat, haben wir bereits die Zukunft hinter uns gelassen, aber wir sind keineswegs in der Gegenwart. Wir können die Ereignisse vor unseren Augen erst dann begreifen, wenn sie Vergangenheit geworden sind. Das Nachdenken über Eindrücke geschieht praktisch gleichzeitig mit den Eindrücken selbst, was bedeutet, daß die Vergangenheit eine Gegenwart erreicht hat, die niemals stattfand. Alles Gerede über das Leben in der Gegenwart ist ein falscher Trost für Menschen, die glauben, daß sie besitzen müssen, was sie ersehnen und die bis zum »bitteren Ende« daran festhalten. Dieses Mißverständnis hat zu falschen Ideen und Idealen geführt, die ungesund und gefährlich sind. Sie tragen zu zerstörerischen persönlichen und sozialen Werten bei. Die permanente Revolution der Gedanken und Gefühle ist die Essenz des Lebens. Bereits der etwa 540 vor Christus geborende Heraklit lehrte, daß Leben kontinuierliche Bewegung bedeutet. Die Ideale unserer Zeit sind darauf ausgerichtet, etwas zu bekommen, anstatt danach zu streben; dadurch wurden die Individuen wie die Gesellschaft als Ganzes lethargisch, emotional dumpf und oft inhuman. Bevor die Menschen nicht den Unterschied erkennen zwischen flüchtiger Existenz und der permanenten Revolution des Lebens, haben sie keinen Zugang zu Liebe und Zufriedenheit.
Im Jahre 1952 brachen die Ereignisse wie ein Wirbelsturm über mich herein und fegten vieles von dem hinweg, was ich für sicher gehalten hatte. Das Unerwartete geschah und brachte neue Probleme mit sich. Außerdem mußte ich meine Wohnung in der Tregunter Road aufgeben.
Doch es schien mir ein gutes Omen zu sein, daß ich zur selben Zeit, in der ich wieder als Ärztin praktizieren durfte, eine neue Wohnung in der Nähe fand. Allerdings stellte sich heraus, daß ich vom Regen in die Traufe gekommen war. Kinder und Ballettänzer vollführten ein Heidenspektakel über mir. Glücklicherweise störte der Lärm meine Patienten nicht, mich allerdings umso mehr. Ich erduldete es mit zusammengebissenen Zähnen, eine für mich ungewöhnliche Haltung. Nach Abschluß meiner Forschungen über die menschliche Hand wandte ich mich zunächst keinem anderen Forschungsgebiet zu. Ich war zu sehr mit meinen Konsultationen und meiner persönlichen Bindung an Hazelwood beschäftigt, um das Bedürfnis oder die Energie aufzubringen, ein neues Gebiet zu betreten.
Auch in Hazelwood hatte die Zeit nicht stillgestanden. Die Tragödie einer unheilbaren Krankheit, von der ihre Schwester heimgesucht wurde, veränderte Carolines Leben und ihre Beziehungen zu anderen Menschen. Ihre Schwester zog zu ihr und wohnte im oberen Stock bis zu ihrem Tod. Beide Schwestern waren seit ihrer Kindheit gläubige Menschen, jetzt aber wurde die Religion zu Carolines Lebenselixier. Obwohl sie sich gelegentlich noch einmal weltliche Gefühle erlaubte, verhinderte ein Schuldgefühl jeden Ansatz körperlicher Intimität. Nach wie vor verbrachte ich lange Ferien in Hazelwood, doch sie kam nicht mehr nach London.
Mit der Zeit wurden Carolines Briefe immer stereotyper - Briefe, die jeder geschrieben haben könnte. Ihre Entscheidung, sich aus einer intimen Beziehung zurückzuziehen, war endgültig. Obwohl ich das erkannt hatte, war ich doch bestürzt, als sie mich eines Tages dringend bat, ihr alle Briefe der ersten drei Jahre zurückzugeben. Ich rief sie an und sagte ihr, daß ich überrascht und nicht einverstanden wäre, daß sie mir einen Teil unserer gemeinsamen glücklichen Vergangenheit, den ihre Briefe dokumentierten, nehmen wollte.
»Du mußt sie mir wiedergeben. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß irgendjemand sie eines Tages lesen könnte.« Sie war unerbittlich, und ich hatte keine andere Wahl als nachzugeben. Offensichtlich hatte sie das Bedürfnis, die Dokumente eines »Fehlers«, den sie sich nicht vergeben konnte, zu vernichten. Als ich sie später fragte, welche Methode der Vernichtung sie gewählt hatte, gestand sie mir: »Ich habe sie zusammen mit allen Briefen, die Du mir geschrieben hast, verbrannt- im Garten.« Dieses Autodafe der Schuld und Verzweiflung hatte eine seltsam komische Seite. Ich konnte nicht anders, ich mußte lachen bei ihrem Geständnis und meinte: »Das erinnert mich an die Nazis, wie sie entartete Bücher von Juden und anderen Schädlingen verbrannten.« »Du bist verletzt, das tut mir leid, aber es mußte sein.« »Glaubst Du wirklich, daß Du damit die Vergangenheit vernichtet hast?«, fragte ich sie. »Natürlich nicht, aber ich habe gezeigt, daß ich sie bereue.« »Wem - Gott, Gertrud oder Dir selbst?« spottete ich. »Mir selbst in den Augen Gottes«, war ihre feste und definitive Antwort. Und sie fügte hinzu: »Meine wirklichen Gefühle für Dich haben sich niemals geändert und werden sich auch nie ändern. Wenn Du krank bist, werde ich mich um Dich kümmern; wenn Du anrufst, werde ich kommen.« In gewisser Hinsicht hielt sie ihr Wort bis zum Tod.
Während mein Privatleben einem Tiefpunkt entgegenging, wurde mein berufliches Leben bereichert durch eine neue Art der praktischen Arbeit. Man bat mich, psychiatrische Gutachten für die Bewährungshilfe eines Gerichtes zu erstellen. Eine der Bewährungshelferinnen war eine Quäkerin. Sie hatte arrangiert, daß einige weibliche »Delinquenten« von mir begutachtet werden sollten, weil das Gericht die Meinung eines Spezialisten über den Geisteszustand der Angeklagten einholen wollte. Einige von ihnen wurden mir zu einer psychotherapeutischen Behandlung überwiesen. Dieser neue Aspekt meiner Arbeit brachte mir viele Anregungen. Ich war gern mit meinen »delinquenten« Patientinnen zusammen und begrüßte die Gelegenheit, diesem Land einen sozialen Dienst erweisen zu können. Einige der Mädchen waren Lesbierinnen, die ihr Geld als Mannequins oder Prostituierte verdient hatten. Sie waren verhaftet worden, weil sie Kunden auf der Straße angesprochen oder die Polizei beschimpft hatten. Durch ihre Dankbarkeit und Zuneigung den Bewährungshelfern und mir gegenüber wurden mir die Augen für ihre psychosozialen Lebensbedingungn und für einige Aspekte der Homosexualität geöffnet. Die ältere Generation der Bewährungshelfer erfüllte ihre Arbeit noch mit missionarischem Eifer. Dies war ganz sicher auch der Fall bei der Quäkerin, die für mich die Verbindung zum Gericht hergestellt hatte. Wir freundeten uns an, und sie brachte mich in Verbindung mit ihren Kollegen in anderen Teilen Londons. Eines Sonntags nahm sie mich mit auf ein Treffen der Quäker im Westminster Meeting House. Ich nahm viele Male an diesen Treffen teil, doch aus den falschen Motiven. Ich fühlte mich nicht spontan zu ihnen hingezogen, sondern ging nur aus Dankbarkeit für meine Freundin, die ich nicht enttäuschen wollte, mit. Die Gebetsrituale bei diesen Treffen übten allerdings keine positive Wirkung auf mich aus. Das lange Schweigen, unterbrochen von merkwürdigen Äußerungen, gaben mir ein Gefühl der Unwirklichkeit und Klaustrophobie. Und die Vorstellung, daß der »Heilige Geist«, der sich in abruptem Redeschwall äußerte oder langes Schweigen befahl, im Zimmer sei, war mir wenig sympathisch. Im Gegenteil, das Ganze kam mir unwirklich, wenn nicht gar lächerlich vor. Ich hielt etwa ein Jahr durch und versuchte mein Unbehagen zu überwinden, mußte am Ende jedoch aufgeben.
Ganz anders ging es mir mit einer Gruppe von Quäkern, der meine Freundin mich ebenfalls vorstellte. Die Gruppe traf sich einmal im Monat im Haus von Dr. Isabel Wilson, einer bekannten Psychiaterin. Das Niveau der Diskussion war hoch, und die berühmte Toleranz der Quäker machte es möglich, die unterschiedlichsten Ansichten von östlichen Religionen bis zum Humanismus zu vertreten. Doch am eindrucksvollsten war die kongeniale, vertrauliche Atmosphäre, die zwischen den Mitgliedern herrschte. Wieder einmal hatte ein beruflicher Anfang mir persönlichen Gewinn gebracht. Freundschaften begannen hier, die von Dauer sein sollten.
In dieser Zeit war London nicht länger eine Chimäre, die man am liebsten gar nicht ansah; es hatte viele seiner angenehmen Qualitäten wiedergewonnen. Die Stadt war mir eine Zeitlang zuwider gewesen wegen der unangenehmen häuslichen Bedingungen, die mir überallhin folgten, seitdem mich Anne Tenant verlassen hatte. Doch als ich meine alte Freundin Ruth wiedertraf, wurde das anders. Ruth hatte sich nach dem Tod ihres Mannes in London niedergelassen. Meine Gedanken wanderten jetzt nicht mehr nur nach Hazelwood und zu der Atmosphäre der grünen Felder und Granitfelsen um Malvern. Doch mit schöner Regelmäßigkeit verbrachte ich zweimal im Jahr meine Ferien dort, eine Gewohnheit, die ich bis zu Carolines Tod im Jahre 1976 pflegte. Manchmal schimmerten noch alte Gefühle zwischen uns auf. Ein Urlaub im schottischen Hochland ließ etwas von der früheren Intimität wieder erstehen. Doch dies waren Augenblicke, die man wie einen unverhofften Glücksfall schätzen mußte und nicht zu ernst nehmen durfte.
Ruth war ebenso praktisch wie unromantisch. Nachdem sie Caroline bei einem ihrer seltenen Besuche in London getroffen hatte, meinte sie mit mißbilligendem Blick: »Was kannst du bloß
mit so einer alten Frau anfangen? Willst du in einem Märchen leben? Du hast absolut nichts mir ihr gemein. Du solltest es besser wissen -schließlich bist Du Psychologin.« Mich amüsierte dieser Ausbruch, und natürlich nahm ich ihn nicht ernst. Ich wußte, was ich brauchte, und - Märchen oder nicht - Caroline und Isabel hatten mehr für mich getan als irgendjemand sonst in diesem Land; sie hatten mich von dem schmerzhaften Eindruck geheilt, daß englische Frauen sich mit Ausländern nicht anfreunden können, und daß ihr merkwürdiger sozialer Kodex sie unzuverlässig macht.
Ruth hatte sich von einer orientalischen Schönheit in eine hübsche Frau mittleren Alters gewandelt, ihre olivfarbene Haut war jetzt dunkelbraun und vom tropischen Klima leicht welk geworden. Sie war eine frustrierte Künstlerin, die gezwungen war, ihren Lebensunterhalt in einer Werbeagentur zu verdienen. Blinde Menschen entwickeln besonders ihren Tastsinn, taube eine besondere kinetische Fähigkeit, die es ihnen ermöglicht, von den Lippen zu lesen. Ersatzfunktionen entwickeln sich auch, wenn Äußerungsmöglichkeiten für ein Talent blockiert werden. Ruth, die in ihrer Jugend keineswegs durch besondere Intelligenz auffiel, war eine Frau von beträchtlichen geistigen Fähigkeiten geworden, besonders auf literarischem Gebiet. Sie war zufällig der einzige jüdische Mensch, den ich in meinem Umkreis kannte. Unsere gemeinsamen Wurzeln und Interessen führten eher zu einer Art familiärer als zu einer freundschaftlichen Bindung. Sie fand ein Zimmer in der Nähe meines Apartments, und ihre Gegenwart erinnerte mich ständig an die angenehmen und schmerzvollen Seiten unserer deutschen Vergangenheit. Doch die »neue« Ruth hatte etwas Ambivalentes an sich; sie dachte, sprach und handelte diplomatisch. Wenn man sie festhalten wollte, entschlüpfte sie wie ein Aal. Und doch bevorzugte ich ihr ausweichendes Verhalten gegenüber einem geistigen Zwillingsdasein, das zwei Menschen, die sich in vielem ähnlich sind, leicht eingehen.
Sybille Bedfords Rückkehr nach London im Jahre 1956 bedeutete mir mehr, als ich vorher geahnt hatte. Sie führte nicht nur zu einer engen Freundschaft, sondern brachte auch die Wärme und Inspiration in mein Leben zurück, nach denen ich so gehungert hatte. Ihre Freundin, die amerikanische Schriftstellerin Eda Lord, teilte ihr Leben in den verschiedenen Wohnungen in London und Essex, und schließlich wohnten die beiden ganz in meiner Nähe. Eda wurde automatisch in unsere Freundschaft eingeschlossen. Wir drei teilten dieselbe Vorliebe für conversazione, für unterhaltsame und ernste Gespräche, die seit dem Krieg so beschämend vernachlässigt worden waren. Der beachtliche Erfolg ihrer beiden Bücher »The Sudden View« und »A Legacy« machten Sybille noch bescheidener als je zuvor. Sie betrachtete ihre Umwelt mit der gleichen Amüsiertheit und Sorge wie früher. Eda hatte mexikanisches Blut in den Adern, und ihre Schönheit lag in ihren großen dunklen Augen und einem athletisch und biegsamen Körper, der wie geschaffen war für Tanz und Akrobatik. Es war nicht ihre Art, viele Worte zu machen, doch wenn sie sprach, dann mit einer Scharfsichtigkeit und Klugheit, die einen die Ohren spitzen ließ. Manchmal zogen sich unsere abendlichen Unterhaltungen bis in den frühen Morgen hin. Das gegenseitige Geben und Nehmen besiegelte unsere Freundschaft und inspirierte uns. Die beiden blieben sieben Jahre in diesem Land, bevor sie nach dem schrecklichen Winter von 1963 nach Südfrankreich zogen. Ich war traurig und ärgerlich über ihre Abreise. Weitere sieben Jahre gingen ins Land, bevor sie sich wieder in London niederließen. Während ihrer langen Abwesenheit besuchte ich sie von Zeit zu Zeit in Südfrankreich. Auf diese Weise pendelte ich in meinen Ferien zwischen den englischen »Midlands« und den Küsten des Mittelmeeres. Dort wohnte ich in dem malerischen Haus einer englischen Freundin in der Nähe von St. Paul de Vence. Der beinahe inzestartige Kontakt der Frauen der englischen Oberschicht, die an der Riviera lebten, kam mir zustatten. Meine Freundin kannte Sybille und Eda und Allanah Harper, in deren Haus die beiden das Erdgeschoß bewohnten. Wir setzten unsere erfrischenden Dreiergespräche in der erholsamen und lebhaften Umgebung der Riviera fort.
Es wäre jedoch falsch, aus diesen glücklichen Umständen zu schließen, daß ich mich in Großbritannien heimisch fühlte. Das war nicht der Fall. Ich hatte Mitgefühl und Interesse für meine Patienten und genoß den Kontakt zu einigen wenigen Menschen, war aber nicht in der Lage, mich als etwas anderes zu betrachten als ein »adoptiertes Kind« dieses Landes, das sorgfältig Worte und Taten abwägen mußte. Ich war immer eine Außenseiterin, weder fähig noch in der Lage, etwas an dieser Position zu ändern. Ich betrachtete Ereignisse und Lebensumstände in Großbritannien mit der gleichen Empathie, die ich für meine Patienten empfand. Ich mußte feststellen, daß das kollektive Bewußtsein der Briten Veränderungen durchgemacht hat, die in meinen Augen symptomatisch sind für einen »schlechten Gesundheitszustand.«
Es liegt mir eigentlich nicht, meine persönlichen Vorstellungen über die englische Gesellschaft öffentlich zu äußern. Aber der gegenwärtige Mißbrauch des Wortes Demokratie und infolgedessen auch seine falsche Anwendung, betrifft mich so sehr wie jeden anderen innerhalb und außerhalb dieses Landes. Der Wohlfahrtsstaat hat die sozialen Mißstände nicht beseitigt, sondern die Menschen emotionale Bevormundung gelehrt. Viele Engländer haben es gelernt, viel zu nehmen und wenig oder nichts dafür zu geben, wie verwöhnte Kinder. Sie fordern als ihr Recht, was sie durch eigene Anstrengung oder Initiative erreichen sollten. Der Niedergang, wenn nicht Fall, einer großen Nation, stachelt mich an, eine Rednertribüne zu betreten und einen Vortrag über dieses Thema zu halten, aber ich fühle mich nicht berufen, warnende Hinweise zu geben. Der Mißbrauch eines Wortes verzerrt offensichtlich dessen Bedeutung. Und mein Plädoyer für Selbstdisziplin für ein Geben und Nehmen in allen Beziehungen mag im Namen der Demokratie als naiv oder gar faschistisch kritisiert werden. Es ist weder das eine noch das andere. Mein Standpunkt ist dem der Surrealisten ähnlich, die sich für absolute Freiheit in Vorstellungen und Beziehungen einsetzen. Man kann andere nicht lieben, bevor man sich selbst nicht liebt. Man kann andere nicht disziplinieren, bevor man sich selbst nicht diszipliniert. Man kann - oder sollte - nicht geben oder nehmen, ohne desgleichen zu tun. Denn sonst wird die Freiheit, man selbst zu sein oder eine »freie« Gesellschaft zu schaffen, gefährdet und schließlich zerstört.
Es gab ein anderes Thema, dem ich meine Zeit und Energie ohne Scheu widmen konnte: das Problem der Homosexualität. Es betrifft die gesamte Menschheit. Ich wollte die Freuden, Sorgen und Konflikte der Homosexuellen untersuchen, von Menschen also, die sich nicht nach dem gängigen emotionalen Verhalten richten. Von Anfang an wußte ich, daß viele Probleme, mit denen sie sich herumschlagen müssen, nicht von ihnen selbst gemacht, sondern durch ihre Mitmenschen verursacht werden, die sie mit Ignoranz oder herablassender Verachtung betrachten. Die Mehrheit der Heterosexuellen behandelt sie mit Geringschätzung, hinter der sich die Angst vor ihrer eigenen Homosexualität verbirgt. Mein Interesse an gelebter lesbischer Liebe geht bis in meine Studentenzeit zurück, wurde jedoch zu einem absorbierenden Thema, als ich diesen Bereich zu meinem neuen Forschungsgebiet in den 60er Jahren machte.
Der Beginn dieser Studie hängt mit dem ersten Entwurf meines Buches »On the Way to Myself« zusammen. Das Buch war schon 1960 vom Verlag Methuen&Co. in Auftrag gegeben worden, doch ich begann erst 1967, es nach und nach fertigzustellen. Die Gründe für diesen Aufschub lagen in Veränderungen meines persönlichen Lebens und einer großen Zahl beruflicher Verpflichtungen. Ich hatte eine Reihe erfolgloser Versuche hinter mir, doch es gelang mir nur, ein Kapitel fertigzustellen - einen Essay über weibliche Homosexualität. Ich erkannte, daß Gedanken allein nicht ausreichten; sie mußten bestätigt oder widerlegt werden durch empirische Forschung. Doch zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht bereit, eine solche Untersuchung durchzuführen.
Im April 1962 starb Isabel. Ich trauerte um sie in einem Ausmaß, das mich überraschte. Ich mag geahnt haben, daß eine vollständige Änderung in Carolines Leben in der Luft lag, eine Veränderung, die auch mein ganzes Leben betreffen würde. Carolines Einsamkeit nach Isabels Tod besiegelte ihre Hingabe zur Lehre Christi, und die Religion regierte ihr Leben noch stärker als je zuvor. Sie hatte das Haus gekauft, in dem sich Gertrud vor zwölf Jahren häuslich eingerichtet hatte, und jetzt verkaufte sie Hazelwood und zog in dieses rote Backsteinhaus in einer ruhigen Straße in Malvern. Von da an hatte Gertrud in ihrem Haushalt das Sagen. Doch nach wie vor bestand Caroline auf meinen Besuchen. Caroline und Isabel waren in Hazelwood ein Paar gewesen, keine der beiden hatte an ihrer Beziehung irgendetwas »Merkwürdiges«, Unnatürliches oder Bedauernswertes gesehen. Sie waren sich wahrscheinlich des Charakters ihrer Zuneigung nie bewußt, oder sie hatten nicht den Mut, ihn sich einzugestehen. Anders lag der Fall bei Gertrud und Caroline. Gertrud, eine »geborene Lesbierin«, wußte alles, was man über die Liebe zwischen Frauen nur wissen kann. Wie viele ihrer Kenntnisse sie Caroline mitteilte, blieb ein ungelüftetes Geheimnis. Der Unterschied zwischen Carolines Gefühlen und ihren eigenen muß für sie eine bittere Angelegenheit gewesen sein.
Ich hatte schon Jahre vor meiner wissenschaftlichen Untersuchung die Schönheiten und Qualen lesbischer Beziehungen gesehen. Isabel und Caroline waren »versteckte« Lesbierinnen. Solche Beziehungen lassen sich nicht statistisch ergründen. Ihre Zahl ist sicherlich beträchtlich, selbst in unserem toleranten Zeitalter. »Bewußte« Lesbierinnen bedauern sie, doch ich bin keineswegs sicher, daß sie darin nicht fehlgeleitet sind. Beziehungen dieser Art, die ich kannte, besaßen einen inneren Reichtum, der die Gefahr nervlicher und emotionaler Störungen ausglich.
Gertruds Tod im Jahre 1967 veränderte das grundlegende Muster von Carolines Beziehung zu mir nicht. Sie war »spirituell« mit Isabel und Gertrud verbunden. Ich blieb eine Außenseiterin, die sie von der festgelegten Routine eines friedvollen Lebens ablenkte. Sie widmete ihr Leben den Bemühungen, Gutes zu tun und »ihre Nachbarn zu lieben.« Ich besuchte sie jetzt lieber, befreit von Gertruds Eifersucht. Die verbleibenden Jahre meiner Freundschaft mit Caroline waren entspannt und befriedigend. Sie war eine amüsante und anregende Gesprächspartnerin, die mir nicht übelnahm, daß ich sie wegen ihres religiösen Eifers, ihrer Überempfindlichkeit und ihrer spartanischen Lebensart aufzog. Sie zeigte ein leicht zynisches Interesse an meiner Forschung über ein Thema, das sie mit solcher Mißbilligung betrachtete - weibliche Homosexualität.