In Erinnerung an Gudrun
(13. 9. 1952 - 26. 4. 1977)
Einleitung
»O, welche schwere Verdammnis, die angeschaffnen Flügel nicht bewegen zu können; Häuser bauen sie wo kein Gastfreund Platz drin hat! - O Sklavenzeit, in der ich geboren bin! - Werden die Nachkommen nicht einst mitleidig mich belächeln, daß ich mir's mußte gefallen lassen, wenn wir vielleicht als Geister einstens sklavische Natur uns vorwerfen! - Wie! Ihr habt den Geist eingesperrt und einen Knebel ihm in den Mund gesteckt und den großen Eigenschaften der Seele habt Ihr die Hände auf den Rücken gebunden? - Ach Clemens, gehe Du doch nur immer aufs Meer, wo jede Welle in die andere fließt! wo nichts noch feste Gestalt hat, wie gewonnen, so zerronnen! Besser, daß alles zerfließe, als daß Gestalt gewinne, was nicht ganz Großmut und Freiheit wäre! - Das sind so nachwehende Töne aus meinen Unterhaltungen mit der Günderode, die auf drei Wochen nach Hanau ist.« Bettina an Clemens, Ende Mai 1803, (Bettina 1: 175 f.)
Karoline von Günderode (1780-1806) war fünf Jahre älter als Bettina. Sie lernte die Brentanos durch Vermittlung von Savigny kennen, den sie seit 1799 unglücklich liebte. Die Freundschaft zwischen Bettina und Günderode fällt in die Jahrhundertwende. Die ersten Briefe stammen aus dem Jahre 1802, der intensivste Briefkontakt - also die meisten der in dem »Günderode« betitelten Briefrornan zusammengestellten Briefe datieren vom Jahr 1805, dem Jahr vor dem Selbstmord der Günderode. Karoline von Günderode war sechs Jahre, als ihr Vater starb, ihre Mutter schickte sie 1792, da war sie zwölf, in das Cronstetten-Hynspergische adlige Damenstift in Frankfurt am Main. Etwas von einer scheuen, zurückgezogenen Stiftsdame hat sie immer behalten. Die Geschwister Brentano (Bettina und Clemens), die offensichtlich beide in sie verliebt waren, haben sie auch immer ein wenig erschreckt, besonders der ungestüme, sinnlich fordernde Clemens, den sie stark abwehrte, obwohl sie ihn schätzte. Bettina war in dieser Freundschaft der aktive, werbende Teil, und die Geduld ihres Werbens lockte die Günderode auch langsam aus ihrer Stiftsdamenkühle, wie man an der Entwicklung der Briefe verfolgen kann. Diese beiden sehr verschiedenen Naturen paßten komplementär zueinander; die Günderode mit ihrem philosophisch geschulten Geist (vgl. das Kapitel über Geschichtsphilosophie) vermittelte der kosmisch-ekstatisch dichtenden Bettina die Notwendigkeit in die Einsicht von Struktur und Geschichte und war damit ein Korrektiv für deren überschäumende Spontaneität. Und Bettina verstärkte bei der Günderode die Unmittelbarkeit eines sozusagen pantheistischen Naturgefühls, verbunden mit einer kritischen Analyse des Bestehenden, genauer, der sich etablierenden kapitalistischen Arbeitsteilung und Herrschaftsstruktur. Günderodes Kritik am Protestantismus nimmt Gedankengänge Max Webers vorweg allerdings finden wir die Ansätze zu solcher Kritik deutlich schon in der jenaer Frühromantik, vor allem bei Novalls. Diese Kritik an der protestantischen Wertethik ist verbunden mit der Tendenz der Demokratisierung dessen, was als Privileg galt; gegen die rechnerische Glücksvertellung eines Jeremy Bentham (vgl. Einleitung S. 26), wo allen ein »bescheidenes Glück« zuteil wird, sollen Voraussetzungen geschaffen werden, die die Menschen glücksfähig machen - denn wenn sie dies sind, so bleiben sie auch glücksfordernd und lassen sich nicht abspeisen mit einigen Reformen und Verbesserungen an einem eigentlich unerträglichen Zustand. Darin liegt die Radikalität der frühromantischen Forderung, daß alle Menschen königlich werden sollen, eine Forderung, die wir im Surrealismus wiederfinden; und nicht zufällig wurde die Parole des Novalis »Die Phantasie an die Macht« eine Parole des Pariser Mal von 1968. Die Privilegierten (zu denen sich Bettina zählt) haben die Aufgabe, das durchs Privileg positiv Gewonnene (die Entfaltungsmöglichkeiten des Intellekts, der Phantasie; die Entwicklung der menschlichen Sinne) zu demokratisieren, und nicht, es zu vergessen und zu verleugnen. So spricht Bettina als Dämon zum König:
- »Ich aber sage dir: ob ein König die Gleichheit aller Menschen in sich trage, so ist er unüberwindlich... alle müssen Platz haben des Gedeihens. - Das ist das große Rätsel: daß die Hausgötter nicht besondre Götter seien, sondern Gemeinschaft der Heiligen.« (Bettina 3: 336)
An solchen Worten der späten Bettina (aus dem zweiten Band des Königsbuches) spürt man den Einfluß der Günderode. Ganz konsequent entsteht daraus ein Engagement für die Unterdrückten: denn die Klassenunterschiede machen sich nicht nur an der Ökonomie, sondern auch am Bewußtsein fest, und das eine entspringt nicht geradlinig aus dem anderen. So kämpft Bettina - quasi mit den jungdeutschen - um die Etablierung eines Bürgertums gegen den Adel, aber der Klassenunterschied ist nicht: Feudalismus - Bürgertum Proletariat, sondern Herrscher und Beherrschte, und auf diese Weise kann sehr wohl das Bürgertum bereits als Herrschaftsklasse von Bettina kritisiert werden, wenn sie von Juden, Polen, den »Arrnen« spricht. Die Herrscher aber sind die Sklaven ihrer eigenen Abhängigkeit von Geld und Macht, und die Menschen, die sie zum menschlichen Adel zählt, sind die, die weder Herrscher noch Beherrschte sind, sondern sich von diesem Teufelskreis befreit haben; es sind die Menschen, die durchschauen, daß man Reichtum und Macht zu Fetischen gemacht hat:
- »Um den Menschen an die Sklavenkette zu legen des Erwerbs ... Wer viel hat, der kann vor lauter Arbeit nicht zur Hochzeit kommen.« (Bettina an Günderode, 3: 331)
Deshalb werden die protestantischen Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit und Disziplin kritisiert. Die antipatriarchalischen Utopien hängen auch mit der Enttäuschung über die Französische Revolution zusammen, die nicht das ersehnte Reich der Freiheit realisierte, sondern einer neuen Klasse, der Bourgeoisie, zur Macht verhalf, die diese Macht gegen eine in ihrem »Schoß« geborene neue Klasse wandte: das entstehende Proletariat. Der Zirkel von Herrschaft und Knechtschaft war also nicht gebrochen, sondern auf eine neue Stufe der Auseinandersetzung gelangt. Daraus folgert der polnische Literaturtheoretiker Klin, »daß die den Romantikern eigene Neigung zum Traum und zur Utopie eine notwendige geschichtliche Konsequenz des Zusammenbruchs der französischen Revolution war. daß die deutsche Frühromantik - im Gegensatz zu späteren Perioden dieser Strömung - besonders auf dem Gebiet der Theorie eindeutig fortschrittliche Merkmale besitzt«. (Klin: 14) Der marxistische Kulturhistoriker Cornu bezeichnet die Frühromantik sogar als »die erste anarchistische Form der Romantik« (Klin: 15). Zu dieser »Form« gehört das geschichtliche Anknüpfen an Gesellschaftsstrukturen, die unseren entgegengesetzt sind, nämlich matriarchalischen. Die Günderode nennt sie »Vorwelt«, im Gegensatz zu den »Tugenden«, welche den Menschen klein und abhängig machen, seine Phantasie kastrieren auf die pragmatische Phantasie des Broterwerbs und seine Glücksfähigkeit reduzieren auf den Stolz aufs Eigentum (»klein, aber mein«). Deshalb singt Friedrich Schlegel in der »Lucinde« ein Lob auf den Müßiggang, aus dem sich erst die wahren Fähigkeiten und Sinne des Menschen entfalten können, deshalb predigt Bettina die Verschwendung in der Liebe, die sie in der Natur wahrnimmt (erst Bataille hat in unserem Jahrhundert solche Gedankengänge weiterzuspinnen gewagt), deshalb kann sie mit den Erziehungsversuchen ihres Bruders, der sie beschränken will, nichts anfangen. Die Günderode spricht ihre Kritik in den Briefen »an Eusebio« aus (deren Adressat wohl auch ihr engster Freund Creuzer ist):
- »damit Keiner prasse und Keiner hungere, müssen wir uns alle in nüchterner Dürftigkeit behelfen. Ist es da auch noch ein Wunder, wenn die Ökonomie in jedem Sinn und in allen Dingen zu einer so beträchtlichen Tugend herangewachsen ist. Diese Erbärmlichkeit des Lebens, laß es uns gestehen, ist mit dem Protestantismus aufgekommen. Sie werden alle zum Kelch hinzugelassen, die Layen wie die Geweihten, darum kann Niemand genugsam trinken um des Gottes voll zu werden, der Tropfen aber ist Keinem genug; da wissen sie denn nicht was ihnen fehlt, und gerathen in ein Disputiren und Protestiren darüber. - Doch was sage ich dir das! angeschaut im Fremden hast du diese Zeltübel wohl schon oft, aber sie können dich nicht so berühren, da du sie nur als Gegensaz mit deiner eigensten Natur sehen kannst, und kein Gegensaz durch sie in dich selbst gekommen ist. Genug also von dem aufgeblasenen Jahrhundert, an dessen Thorheiten noch ferne Zeiten erkranken werden. Rückwärts in schönre Tage laß uns blicken, die gewesen. Vielleicht sind wir eben jetzt auf einer Bildungsstufe angelangt, wo unser höchstes und würdigstes Bestreben sich dahin richten sollte, die großen Kunstmeister der Vorwelt zu verstehen, und mit dem Reichthum und der Fülle ihrer poesiereichen Darstellungen unser dürftiges Leben zu befruchten.« (Günderode 2: 42f.)
Zu dieser Vorwelt sich zu wenden, fordert die Günderode auch Bettina auf, deshalb ihr langes Plädoyer für den Geschichtsunterricht, der Bettina so schrecklich langweilt. Die »Vorwelt« ist aber ohne Frage keine beliebige, sondern eine bestimmte ausgewählte »Vorwelt«, eine, die mehr den Gegensatz zur Gegenwart zeigt als die Kontinuität. Eine Vorwelt, die andere als die europäisch-abendländische Tradition hätte vorbereiten können, und wir finden diese Zuwendung bei fast allen Frühromantikern, vor allem in der Zuwendung zum Orient, nach Indien und in die vorklassische, griechische Kultur. Die Brüder Schlegel haben sogar Sanskrit gelernt, um ganz in diese Kulturen einzudringen; das Vorurteil Heinrich Heines (in seinem Buch »Die Romantische Schule«), der behauptet, die Schlegels hätten auch in Indien nur die christliche jenseitssehnsucht gesucht, hat sich bis zur Gegenwart erhalten. Sie haben aber ganz im Gegenteil (ähnlich wie Goethe in seinen Gedichten des »West-Östlichen Diwan«) die orientalische Sinnenfreudigkeit und Liebeskultur entdeckt. Auch die Orgien und Mysterien der orphischen Vorzeit, die Friedrich Schlegel in seiner >Geschichte der Poesie der Griechen und Römer< untersucht, gehören zu dieser »Vorwelt«. Für die Günderode war in dieser Beziehung die Begegnung mit dem klassischen Philologen und Historiker Georg Friedrich Creuzer (1771-1853) entscheidend; sie traf Creuzer das erste Mal im August 1804 in Heidelberg, und Creuzer hat sich offensichtlich sofort in sie verliebt. Er besuchte sie am 15. Oktober 1804 in Frankfurt und warb um sie. Ob Karoline sich nur abweisend verhielt, weil sie Konflikte mit seinem Status als Ehemann voraussah (er war mit der dreizehn Jahre älteren Sophie Leske offensichtlich schon vor der Begegnung mit der Günderode unglücklich verheiratet), ist nicht zu ermitteln. Jedenfalls erwiderte sie später seine Liebe und wollte ihm bis in den Tod treu bleiben, auch wenn es zu keiner Scheidung kommen sollte. Creuzer scheint aber diesen Zustand unerträglich gefunden zu haben. Nach der Gesundung aus einem (wohl durch diesen Zustand verursachten) »Nervenfieber« beschloß er, sich von Karoline zu trennen. Diese Trennung war der äußere Anlaß zum Selbstmord der Günderode (am 26. Juli 1806). Bettina hat in ihrem (hier in Auszügen abgedruckten) Bericht von dem teilweise tief depressiven Wesen der Günderode, die schon früh und konkret zu Selbstmordgedanken tendierte, gesprochen. Aber gleichzeitig verband sich damit die Lust an einer nahezu euphorischen Auflösung in die Elemente, die die Günderode in ihren kosmischen Dichtungen emphatisch beschwört. Solche Beschwörung, (die gleichzeitig eine an Nietzsche erinnernde große menschliche Einsamkeit wiedergibt), enthält noch die Inschrift, die die Günderode für ihren eigenen Grabstein dichtete:
- »Erde, du meine Mutter, und du mein Ernährer, der Lufthauch, Heiliges Feuer mir Freund, und du, o Bruder, der Bergstrom, Und mein Vater, der Äther, ich sage euch allen mit Ehrfurcht Freundlichen Dank; mit euch hab ich hienieden gelebt Und ich gehe zur andern Welt, euch gerne verlassend, Lebt wohl denn, Bruder und Freund, Vater und Mutter lebt wohl!« (Bettina 1: 551f.)
Wenn diese am Tag ihres Selbstmords aufgezeichnete Grabschrift auch, leicht verändert, Herders Übersetzung der Gedanken einiger Brahmanen (»Abschied des Einsiedlers«) enthält, so entsprechen diese Zeilen doch dem Grundgedanken Günderodes von der »Unsterblichkeit des Lebens im Ganzen« (Günderode 2:52) und der Verbundenheit mit den Elementen:
- »denn dieses Ganze«, schreibt sie im letzten >Brief an Eusebio< ist eben das Leben, und es wogt auf und nieder in seinen Gliedern den Elementen, und was es auch sey, das durch Auflösung (die wir zuweilen Tod nennen) zu denselben zurück gegangen ist, das vermischt sich mit ihnen nach Gesetzen der Verwandtschaft, d. h. das Ähnliche zu dem Ähnlichen ...« (Günderode 2:52)
Ähnliche Gedanken finden wir in der sozusagen antiklassischen Literatur immer wieder. Von Hölderlin (Empedokles) über Nietzsche bis in unser Jahrhundert bei dem französischen Dichter George Bataille, der in diesem Zusammenhang von der »Kontinuität« des Seins gegenüber der »Diskontinuität« des sich abschließenden Individuums spricht (in seinem Buch »Der heilige Eros«). In der Liebe wird diese Diskontinuität des abgeschlossenen Individuums, seine »Identität« aufgesprengt, so wie sie im Tod aufgelöst wird. Deshalb hat die Liebe oft so einen identitätsbedrohenden Charakter. Diesen Gedankengang finden wir bei Bettina und der Günderode positivromantisierend formullert. Die Liebe verbindet uns (die wir uns sonst gegeneinander abgrenzen, was durch die Konkurrenz verschärft wird) miteinander und mit den Elementen (der Natur), also mit der Kontinuität des Seins. Durch die Liebe haben wir den Anschluß an den großen Kreislauf der Natur zurückgewonnen (wenn auch nur für Augenblicke), von dem uns der Prozeß der Zivilisation immer stärker abgeschnitten hat. Aber diese Neugewinnung der Kontinuität ist unsere Tat, unser synthetisierendes Wesen, das sich in der Liebe öffnet. Es ist nicht ein einfaches »Zurück-zur-Natur«, sondern eine Versöhnung mit der Natur durch unseren Willen und unsere Freiheit, die uns über das Instinktleben der Tiere stellt. Wir finden unsere unterdrückte Natur in uns wieder, und die Natur über-schreitet durch uns das bloße Reich der Notwendigkeit (»Naturalisierung des Menschen« und »Humanisierung der Natur«, vgl. Einleitung S. 21). Daß von der Frühromantik und von den Brentanos und der Günderode in diesen Zusammenhängen gedacht wurde, läf3t sich ihren Werken entnehmen. Daß dabei auf matriarchalische Gesellschaftsstrukturen ini weitesten Sinne zurückgegriffen wurde als frühere geschichtliche Möglichkeit (die von der patriarchalischen Zivilisation abgeschnitten wurde), hängt auch damit zusammen, daß die Romantik selbst eine stark effeminierte Bewegung war, die nach geschichtlichen Modellen für ihre neuen Lebensformen (der Geselligkeit) suchte. Die Frauen wurden dabei als Wesen gesehen, die weniger als die Männer von der eigenen Natur abgeschnitten waren. Was später reaktionär als Geschichtslosigkeit der Frau zum Instrument der Repression wurde (die Frau, das Andere, die Natur, an »deren Busen«! man, d. h. der Mann, sich ausruhen konnte), und zwar schon in der Spätromantik, war einen geschichtlichen Augenblick lang Hoffnung der Befreiung: Friedrich Schlegels »Lucinde« artikuliert diese Hoffnung. Friedrich Schlegel war es auch, der antike Frauengestalten aus ihrer Vergessenheit hervorholte und mit ihrer Aktualisierung auf die geschichtlichen Möglichkeiten der Frauen aufmerksam machte. Diese geschichtliche Möglichkeit bewegt sich in der Assoziationswelt des Zweigeschlechtlichen, Androgynen. Wenn, wie er in der Lucinde sagt, sich starke Weiblichkeit und sanfte Männlichkeit zur höheren Menschheit verbinden sollen, so sieht er diese Synthese in der antiken Welt nicht durch zwei Wesen (Mann und Frau), sondern durch die Frauen allein schon hergestellt. Dabei betont Schlegel gegenüber klassischen Positionen (Winckelmann etc.) ähnlich wie später Nietzsche, das Dionysische der griechischen Kunst. Hans Blumenberg sieht Friedrich Schlegel zu Recht im Zusammenhang einer Wiederentdeckung der poetisch-kreativen Natur der Mythologien. Für Schlegel ist Mythologie »erkennbar als romantischer Kontrastbegriff einer nachaufklärerischen Sehnsucht nach dem von der Vernunft vermeintlich Vergessenen. Als die erste Blüte der jugendlichen Phantasie ist Mythologie die primäre Entbindung einer dem Menschen wesentlichen Freiheit.« (Blumenberg: 14f.) So ist die »Rede über die Mythologie« innerhalb des »Gespräch über die Poesie« (Schlegel:496ff.) zusammenzusehen mit der Entdeckung des Dionysischen in der griechischen Kultur.
- »Mythologie und Poesie, beide sind eins und unzertrennlich.« (Schlegel: 497)
Deshalb ist der Mythos aktualisierbar:
- »seit Görres und Schlegel wird Mythos wieder geglaubt, zwar nicht in der Weise mythischer Zeitalter, sondern in einer reflektierten Spätform«. (Neunte Diskussion, in: Fuhrmann: 713)
Nur eine völlige Fehleinschätzung der Schlegelschen Intentionen, die sich in seinem Bild des Historikers als »rückwärts gekehrtem Propheten« zeigen (vgl. das Kapitel über die Geschichtsphilosophie), konnte den marxistischen Kulturhistoriker Georg Lukâcs dazu verleiten, diese als »Barbarisierung der Antike« zu brandmarken. Ganz deutlich geht beispielsweise aus Schlegels Abhandlung »Über die Diotima« hervor, einen wie positiven Stellenwert das Dionysische in bezug auf die Liebe und den Frauenkult der Alten hat.
- »Bereits hier schwebt Schlegel in Anlehnung an Humboldtsche Vorstellungen eine Synthese von Weiblichkeit und Männlichkeit vor, wobei als Muster die attische Tragödie gilt, die es verstanden habe, durch Unterordnung des Geschlechtes der Gattung eine Reinigung von Männlichkeit und Weiblichkeit zur höheren Menschlichkeit zu erzielen. Durch den Vorwurf der übertriebenen Männlichkeit in der modernen Kunst bahnt Schlegel also mittelbar die im besonderen der Romantik eigene Poetisierung der Frauengestalten in der Literatur an. Im Gegensatz zu Rousseau wird den Frauen Befähigung zur hohen Kunst keineswegs abgesprochen, ja, die lyrische Gattung wird als die eigentlich weibliche angesehen und zwischen der Natur der lyrischen Begeisterung und dem Begriff der reinen Weiblichkeit wird gleichermaßen das Gleichheitszeichen gezogen.« (Klin: 32)
Den Zug zum Androgynen finden wir in der gesamten Frühromantik, und zwar auch als politisch-polemische Kritik am männlichen Prinzip der bestehenden Gesellschaft. Allerdings werden, im Unterschied zu manchen gegenwärtigen Tendenzen, männliche Züge nicht einfach verteufelt, sondern vor allem im Rollentausch spielerisch zugelassen (so in der »Lucinde«). Und so ist Bettina erbost über ihren Bruder Clemens, der sie »um Vermeidung aller männlichen Gesellschaft« bittet und, in einer deutlich inzestuös gefärbten Angst, schreibt:
- »Wir müssen uns auf einige Zeit aus dem Gesichte verlieren, da du ein Weib bist und ich ein Mann, und ein vortreffliches Weib etwas ganz anderes ist als ein braver Mann.« (Bettina 1:158)
Und sie antwortet:
- »Deine Warnung vor aller männlichen Gesellschaft! Die Günderode sagt zu mir, sie kenne keine männliche Gesellschaft, außer die meine ... mich faßt eine Ungeduld, Deine Belehrungen zu überspringen; - es ist ein wahrer Schiffbruch mit der Moral, sie ist wie ein Uhrwerk, an dem die Kette gesprengt ist, sie rasselt sich aus, und auf einmal steht die Uhr still, und so tot sind mir diese Werke der Belehrung!... St. Clair ist hier (Freund Hölderlins) - erste männliche Unterhaltung in der Ecke des Fensters, - ich könnte eine Jeanne d'Arc sein, in mir läge Stoff zur Heldennatur, die Auriflamme zu ergreifen für die Erhaltung der Freiheit und Menschenrechte. Diese Unterhaltung hat mir geschmeichelt ... Das sind Eigenschaften, die ich in meiner Seele ausbilden möchte, - aber der Sklavenmarkt der Gesellschaft ist dazu nicht ...« (Bettina 1: 159f.)
Bettina ähnelt jenen starken Frauengestalten der Antike in ihrer Radikalität, in ihrem Zupacken, in ihrer Raserei gegen Ungerechtigkeit, in ihrem Kampf um die Liebe der Günderode. Der romantische Philosoph, Franz von Baader, der in der Geschichtsphilosophie Analogien zu der von Günderode und Bettina aufweist (siehe S. 134), hat das Androgyne als das Übergeschlechtliche auf den ursprünglichen Menschen projiziert, ohne es aus dem sinnlichen (potentiell bisexuell zu definierenden) Bereich herauszuheben oder zu neutralisieren:
- »Wie schon in der Aristophanesrede in Platos Gastmahl, wie für Philo, wie bei der frühen gnostischen Sekte der Ophiten..., wie vielfach in der jüdischen Kabbalah und wie in Ansätzen in der deutschen Romantik, bei Novalis, bei J. W. Ritter und bei dem Maler Philipp Otto Runge, bei G. H. Schubert und dem romantischen Philologen Arnold Kanne, so ist auch für Baader die ursprüngliche Seligkeit, der primitive Unschuldsstand des ersten Menschen durch seine Übergeschlechtlichkeit charakterisiert. Und zwar soll nun diese, >höhere himmlische Androgyneität< weder >Impotenz< sein (d. h. >Geschlechtslosigkeit<), noch >Hermaphroditismus< (d. h. >Coexistenz beider geschiedener Potenzen in einem Leibe<...), sondern sie soll >Union der Geschlechtspotenzen< in einem Körper bedeuten.« (Baumgardt: 295f.)
Ganz deutlich spielt dieses Motiv der Androgynität in der frühromantischen Auffassung einer weiblich betonten Kultur eine entscheidende Rolle. Das romantische Bild von der reflektierten Unschuld und überhaupt das Betonen kindlichen Potentials (der Phantasie, des Spiels, des Nichtfestgelegtseins der Geschlechterrollen) hängt damit zusammen.
- »Gerade das Mysterium der Androgyneität«, meint Baumgardt in seiner Interpretation Franz von Baaders, »das Geheimnis der tiefsten Übergeschlechtlichkeit, ist nach Baader ein Schlüssel zum innersten ursprünglichen Wesen wie zum höchsten künftigen Ziel des Menschen«. (Baumgardt: 296)
Hier berühren sich Baaders Gedankengänge mit denen über matriarchalische Gesellschaftsstrukturen des Historikers Creuzer, der vier Jahre nach dem Tod seiner Geliebten Günderode die von ihr beeinflußte »Mythologie und Symbolik der Alten« (1810) herausgab. »Die Mythologie und Symbolik der Alten« ist in ihren philosophischen Assoziationen durchzogen mit Gedanken aus den Dichtungen der Günderode, und Creuzer hat sich auch dahingehend geäußert, daß die Günderode sein Denken mitgeprägt habe. Wenn man weiter überlegt, daß dieses Buch sehr einflußreich war für J. J. Bachofens »Mutterrecht« (das nicht nur der konservative Neuromantiker Bäumler 1926 lobte, sondern lange vorher Engels im »Ursprung der Familie«) so wird einsichtig, wie sehr das »romantische Frauenbild« (nicht das spätromantische) matriarchalischen Tendenzen entspricht. Edgar Salin weist in seiner Interpretation von Bachofen darauf hin, daß auch Friedrich Creuzer »nicht genug gewürdigt« (Salin: 153) worden sei. Creuzer hat Bachofen in seinen Fragestellungen sichtbar angeregt, was aus seiner Betrachtungsweise des Mythos in dem erwähnten Buch deutlich hervorgeht:
- »Der Mythos ist wildgewachsen, die Natur aber trennt und unterscheidet nicht, wie der Begriff und die Reflexion aussondern und unterscheiden. Sie wirket und bildet in fließenden Übergängen. Daher durchdringen jene mythischen Elemente eines das andere, im Großen wie im Kleinen. Jene Äste und Zweige haben ihre Verastungen und Verzweigungen, und das Ganze steht vor uns als ein einziger großer Baum, aus Einer Wurzel erwachsen, aber nach allen Seiten hin verbreitet mit unzähligen Blättern, Blüten und Früchten.« (Creuzer, Symbolik, in: Blumenberg: 14)
Nach solchen Einsichten erscheint die aufklärerische Tendenz, Mythos als Irrationalität zu denunzieren, als oberflächlich, zumal Mythos selbst Teil der Aufklärung der als irrational empfundenen Mächte ist (auch ein Teil Naturbeherrschung), und umgekehrt Aufklärung in Mythos umschlagen kann (»Dialektik der Aufklärung«). Bachofens als »unwissenschaftlich« geltende Methode, gesellschaftliche Strukturen aus mythisch-künstlerisch vermittelten Darstellungen (der vorhomerischen Zeit) zu erschließen, ist romantisch zu nennen. Sie hat etwas mit der dialektischen Geschichtsphilosophie zu tun, wie sie Günderode, Schelling, Novalis, Franz von Baader, Friedrich Schlegel vertraten (vgl. das nächste Kapitel). Nicht zufällig hat sich neben Wilhelm Reich und Erich Fromm auch Walter Benjamin für Bachofen interessiert. Das Bild vom Historiker als dem »rückwärts gekehrten Propheten« trifft auf den von der Intention her konservativen Bachofen zu. Aber gerade das romantisierend-prophetische Moment war es, was ihn in der »Fachwelt« suspekt machte. Edgar Salin legt es ganz im Sinne der dialektischen Geschichtsphilosophie aus: »Was die Historiker als Sage, Legende, Zutat ausschieden, das war ihm der Kern der Geschichte.« (Salin: 150)
Hans Blumenberg formuliert dies als eine (zur Aufklärung) alternative Form der Mythenrezeption (von Herder, Heyne, Creuzer über Schelling und Schlegel bis zu Nietzsche und Bachofen):
- »Wenn man von einem Geschichtsbegriff ausgeht, der das Vergangene nicht als Inbegriff abgeschlossener und auf sich beruhender Fakten ansieht, die Geschichte nicht als Analogon einer stratigraphisch darstellbaren Struktur, wird auch das Entkräftete immer noch als eine Kraft, das Vergessene immer noch als potentielle Anamnesis zuzulassen sein.«
(Blumenberg: 16)
Nach Georg Simmel (vgl. Schluß des Kapitels über Geschichtsphilosophie) sind die Frauen dieser Form der Geschichtsbetrachtung besonders zugänglich, sie könnte Teil »weiblicher Kultur« sein. Bachofens Untersuchung über das dionysische Frauenleben und dessen Zusammenhang mit der orphischen Religion klingt wie eine materialistische Fundierung von Friedrich Schlegels Thesen in seinem Aufsatz über die Diotima. Ebenso wird Schlegels Gedanke, daß die lyrische Gattung eigentlich weiblich sei (und weiblich hat in diesem Zusammenhang einen androgynen Beiklang), von Bachofen quasi bestätigt, und zwar in seiner Untersuchung von Lesbos und der Lyrik der Sappho. (Bachofen: 375ff.) Bachofen versucht hier nachzuweisen,
- »daß Lesbos als einer der berühmten Sitze der dionysischen Orphik betrachtet wurde«: »Durch die Thrakerinnen wird Orpheus dem Tode geweiht, aber Lesbos bereitet seinem sangreichen Haupte in aeolischer Erde willig das Grab.« (Bachofen: 376)
Bachofen deutet die lesbische Hochblüte so, daß Sappho (etwa 612-577 v. Chr.) und ihr Kreis, im Unterschied zu den »der sinnlichen Stufe ihres Daseins« (Bachofen: 378) verhafteten thrakischen Frauen (die Orpheus befeinden), sich die orphische (apollinische) Lehre aneignen - also ein eigentlich androgynes Motiv - und so Aphrodite und Eros in den Mittelpunkt treten. Sappho, von der übrigens kaum bekannt ist, daß sie eine Negerin war, schafft mit ihrem Kreis die Synthese des männlichen und weiblichen Prinzips, und diese Synthese ist weiblich geprägt. »Aktuell« sind solche Rückblicke in die Geschichte nicht nur, um die Romantik verständlich zu machen, sondern auch, um uns unsere neuen Formen des Umgangs, auch des sexuellen Umgangs miteinander, verständlich zu machen. Darauf hat Ernest Bornemann in seinem Buch »Das Patriarchat« hingewiesen. Die »hedonistische Linke« sei sich in ihrer Tendenz zu einer androgynen Gesellschaft (Bornemann: 532) einig. Die griechischen Hetären sind Vorbild einer solchen neuen Gesellschaftsstruktur, allerdings nicht in ihrer späten Form (der Mätressen). Hetaira bedeutet bei Sappho »Gespielin«, »Gefährtin«, »Geliebte« (Bornemann: 253) - in diesem Sinne war sie auch für die Romantik vorbildhaft, die hierin der Frauenbewegung vorausging. Ernst Bloch erinnert an diesen Zusammenhang:
- »Grundsätzlich, ihrer erweisbaren Utopie nach, hielt die Frauenbewegung in der Tat Carmen, also erinnertes Hetärentum in Gang, jedoch dazu eben das Wesen Antigone, die zweite Primitive vor der Männerzeit: erinnertes Matriarchat ... Beide Erinnerungen lebten in der Frauenbewegung ... wieder auf, besetzten archaisch-utopisch unausgefüllte Phantasie.« (Bloch: 693)
Bornemann belegt mit vielen Beispielen das umfangreiche Schrifttum der Hetären (aus der Verbindung von Literatur und Hetärentum), das seit Alkibiades ein Jahrhundert besonderer Erotomanie (Bornemann 262) hervorgebracht hat. Jedenfalls ist bei allen, sowohl den berühmten Päderasten (angefangen bei Sokrates) wie bei den »lesbischen« Frauen Bisexualität belegt (ihre Dichtungen sprechen davon), bei der Sappho, wie Bomemann feststellt, »mit einer starken Neigung zum Triolismus«. (277) Bachofen hat diese Tendenzen ins Geistige sublimiert und freilich damit auch Eros nicht mehr im Sinne der Sappho sondern des christlichen Abendlands ausgelegt. Dennoch ist Bachofens Hinweis auf die Synthese des orphisch-männlichen und sapphisch-weiblichen Eros auf Lesbos für das Verständnis der späteren Entwicklung entscheidend. Bornemann hat die Entwicklung als von der Sappho beeinflußt dargestellt:
- »Wenn Platons Bericht verläßlich ist, dann bewunderte Sokrates nicht nur die Dichtkunst der Sappho, sondern bildete die Akademie nach dem Modell des sapphischen Thiasos. Das bedeutet aber auch, daß Platon seine pädagogischen Vorstellungen nicht, wie die bürgerliche Gräzistik vermeint, von der päderastischen Didaktik der Spartiaten, sondern von Sappho auf dem Umwege über Sokrates übernommen hat. Denn auf Lesbos und nicht in Sparta begann der Gedanke, daß Wissen nur durch affektive Beziehungen zwischen dem Lehrenden und dem Lernenden vermittelt werden könne. Es ist Sapphos historisches Verdienst, das Prinzip des Thiasos, des Kultvereins, in das einer schulischen Institution verwandelt zu haben. So wurde aus Kult Pädagogik und aus Ritus Didaktik. Diesen Gedanken übernahm Sokrates, übertrug ihn vom weiblichen auf das männliche Geschlecht und prägte ihn Platon ein: >Gründe eine Schule, in der der jeweilige Leiter der Geliebte seines Vorgängers ist.< ... Und so geht die ganze abendländische Tradition der Erziehung via Sappho, Sokrates und Platon auf die kultische Homosexualität der Griechen zurück.« (Bornemann: 278f.)
Bachofen bestätigt diesen Zusammenhang:
- »Als Offenbarung jenes wunderbaren Weibes stellt er (Sokrates) all seine Kenntnis von dem höhern Wesen des orphischen Gottes dar, und mit dieser Auffassung stimmt der mystische Flug der Rede, in welcher er das erkundete Geheimnis mitteilt, nicht weniger die echt vestalische Würde, in der Sappho auf Bildwerken erscheint, vollkommen überein. Wie er aber hier in erster Linie der weisen Sappho gedenkt, legt er im Gastmahl den höchsten, geheimnisreichsten Teil seiner Liebeslehre der Mantineerin Diotima in den Mund. Zu ihr wandelt er, um das ihm selbst Verschlossene zu erkunden.« (Bachofen: 382f.)
Friedrich Schlegel war einer der ersten, die den dionysischen Frauenkult und die »Nacht-, die Todesseite der Antike« (Salin:151), die Bachofen darstellend entfaltete, erahnte, was ihm den Vorwurf der »Barbarisierung der Antike« (Lukâcs) noch in unserem Jahrhundert eintrug. Auch wenn die moderne Soziologie Bachofen als symbolistischen Mythologen abtun will und ihn vieler Irrtümer überführen kann, bleibt der Blick auf die mutterrechtlichen Gesellschaftsstrukturen entscheidend für neue Fragestellungen, die die Normen unserer Kultur »in Frage stellen« und die eine Blick-Richtung zu den Frauen öffnen, die modellhaft in die Zukunft einer qualitativ anderen Gesellschaft weisen. Ist es verwunderlich, daß diese Frauengestalten den Romantikern so vorbildhaft erscheinen? Ohne die stark identifizierende Rezeption dieser Gestalten ist die romantische Intention hin zu einer antipatriarchalen, weiblichen Kultur (weiblich in diesem eben definierten Sinne) nicht vorstellbar. Die Romantiker waren sich, um mit Georg Simmel zu sprechen, über die sozialgeschichtliche Prägung dessen, was als »männlich« und »weiblich« gilt, klar:
- »diese Normen sind nicht neutral, dem Gegensatz der Geschlechter enthoben, sondern sie selbst sind männlichen Wesens ... Daß das männliche Geschlecht nicht einfach dem weiblichen relativ überlegen ist, sondern zum Allgemein-Menschlichen wird, das die Erscheinungen des einzelnen Männlichen und des einzelnen Weiblichen gleichmäßig normiert - dies wird, in mannigfachen Vermittlungen, von der Machtstellung der Männer getragen. Drückt man das geschichtliche Verhältnis der Geschlechter einmal kraß als das des Herrn und des Sklaven aus, so gehört es zu den Privilegien des Herrn, daß er nicht immer daran zu denken braucht, daß er Herr ist, während die Position des Sklaven dafür sorgt, daß er seine Position nie vergißt. Es ist gar nicht zu verkennen, daß die Frau außerordentlich viel seltener ihr Frau-Sein aus dem Bewußtsein verliert als der Mann sein Mann-Sein.« (Simmel: 58f.
In der Frühromantik nun wurde diese Situation aktiv verändert (und zwar gibt es Analogien zu heutigen Männergruppen): Die Männer begannen, ihr Mann-Sein zu reflektieren, weil sie darunter litten. Wenn nach Bachofen das mutterrechtliche Prinzip, welches das Prinzip des Lebens, der Einigkeit und des Friedens ist, wenn die antiödipale Vorstellung einer Gesellschaft von Brüdern und Schwestern (statt von Vätern, Müttern, Töchtern und Söhnen) auf der Grundlage universaler Freiheit und Gleichheit zum Matriarchat gehört, dann wird verständlich, weshalb die Frühromantiker sich diesen »vorgeschichtlichen« Gesellschaftsstrukturen zuwandten: es geschah - wie in der erneuten Rezeption durch die antiautoritäre Studentenbewegung - im eigenen Interesse. Die weiblich bestimmte Salon- und Bohémekultur vertrug sich nicht mit den männlichen Normen, wie diese überhaupt nicht mit dem Künstlertum in unserer Gesellschaft vereinbar sind. Die Männer, nicht nur die Frauen der Romantik, wollten eine weibliche Kultur, d. h. eine Kultur, die in dem von Simmel definierten Sinne eben nicht mehr an die Normen »männlichen Wesens« (Simmel: 58) gebunden sein sollte. Für eine neue weiblich-androgyne, zum Bisexuellen tendierende Lebensform blickten die Romantiker zurück ins archaische Griechenland, in das dionysische, noch vom versunkenen Matriarchat beeinflußte Griechenland, nicht in das patriarchalische, dessen Sieg Pallas Athene (aus dem Haupt! des Zeus entsprungen) verkörperte.
Bettina und die Günderode haben beide ein starkes weibliches Selbstbewußtsein entwickelt, das auf der Basis des frühromantischen Frauenbildes entstehen konnte. Entscheidend war dabei gegenüber der von der Aufklärung beeinflußten Frauenbewegung, die eine Gleichstellung mit dem Mann zum obersten Ziel hatte, daß diese äußere Gleichstellung nur als Voraussetzung betrachtet wurde, um eine qualitativ neue, andere Kultur zu schaffen. Diese konnte nur geschaffen werden, wenn, wie Simmel sagt, die Frauen »etwas leisten, das die Männer nicht können« (Simmel: 268). In der Freundschaft von Bettina und der Günderode ist etwas von diesem Rückblick als utopisches Moment für die Zukunft enthalten, Bettina nennt es »Schwebereligion« (Bettina 1: 329), es ist eine durchaus mystische Beziehung, in welcher die »lehrbare Verschärfung der Sehnsuchtsenergien« (Bloch: 794) verbunden wird mit romantischer Selbstreflexion. Diese beiden Elemente, eine sozusagen mystische Technik, durch geschulte Bewußtseinsveränderungen zur Erleuchtung über sich, den anderen und die Welt zu gelangen und die analytische Kraft einer unendlichen, in der romantischen Ironie gipfelnden Reflexionsschärfe, steigerten sich bei den beiden zu ekstatischen Zuständen, in denen kosmische und »vorweltliche« Vorstellungen und kritische Selbstanalyse ineinander verschmolzen. Hauptprinzip der »Schwebereligion«, so schreibt Bettina der Günderode, soll sein, »daß wir keine Bildung gestatten - »das heißt kein angebildetes Wesen, jeder soll neugierig sein auf sich selber und soll sich zutage fördern wie aus der Tiefe ein Stück Erz oder ein Quell, die ganze Bildung soll darauf ausgehen, daß wir den Geist ans Licht hervorlassen«. (Bettina 1: 340) Die Günderode, deren fast vergessene Dichtungen 1970 in Bern neu verlegt worden sind, war für Bettina vorbildliche Dichterin und mystisch überhöhte Geliebte. Sie vergleicht die Günderode (und das klingt wie eine thematische Antizipation des Mallarme'schen Gedichts.»Le vierge«, in welchem der Schwan und das Zeichen - cygne und signe - als Metaphern der sich selbst reflektierenden Lyrik miteinander identifiziert werden) mit dem Schwan, den sie beobachtet, »wie er den Hals beugt mit reiner Flut sich überspülend und Kreise zieht, heilige Zeichen seiner Absonderung von dem Unreinen, Unangemessnen, Ungeistigen! - Und diese stillen Hieroglyphen sind Deine Gedichte ...« (Bettina 1: 450) Thematisch finden wir in den Dichtungen Günderodes (die dramatischen, lyrischen, fiktiv brief- und gesprächshaften) u. a. die Auseinandersetzung mit jener vorpatriarchalischen Kultur, die in Creuzers Interpretation der Mythologie der Alten in wissenschaftlicher Form wiederkehren. Die romantische Sehnsucht ist Synthese eines phylogenetischen und ontogenetischen geschichtlichen Regressionsbedürfnisses und eines utopisch-vorausschauenden, das Bestehende transzendierenden Traums von einer freieren glücklicheren Gesellschaft. Die Günderode stellt diese Sehnsucht in immer neuen Bildern dar. Sie verweist den Vorweltsehnsüchtigen »Wanderer« (die romantische Figur par excellence) auf die Kraft der Selbstrefexion und die Fülle des eigenen Inneren, des »Erzes«, von dem Bettina spricht; der Reichweite des Unbewußten, das Schiller ahnte, als er in den »Räubern« seinen Karl Moor sagen läßt, er sei sein eigener Himmel und seine eigene Hölle. Dem Wanderer, der die Erdgeister beschwört »Laßt wieder mich zum Mutterschoße suchen, Vergessenheit und neues Dasein trinken«, antworten diese:
- »Dem Werden können wir und nicht dem Sein gebieten, und du bist schon vom Mutterschoß geschieden. Durch dein Bewußtsein schon vom Traum getrennt. Doch schau hinab, in deiner Seele Gründen, was du hier suchest, wirst du dorten finden. Des Welt alls seh'nder Spiegel bist du nur ...« (Bettina 1: 363)
Diese Dichtung verbindet das Wissen, Ahnen und Sehnen um die (latent matriarchalische) Vorwelt mit der Analyse des Projektionsmechanismus, der das eigene Innere (Unbewußte) nach außen stülpt, so daß es ihm als äußeres Wunsch- oder Angstbild erscheint. Bettina und die Günderode sind auch darin zutiefst romantisch, daß sie sich mit nichts Gegebenem, Bestehendem, den Dingen, wie sie nun mal sind (von »gesundem Menschenverstand« aus) zufrieden geben. Die romantische, über das Bestehende ständig drängende Sehnsucht wird politisch, wo sie, mit den bestehenden Normen der Gesellschaft konfrontiert, über diese hinausdrängt, sowohl vor- wie rückwärtsblickend. Die restaurative Utopie der Spätromantiker hatte keinen Blick nach vorn mehr; und, indem sie nur nach rückwärts blickte, wollte sie einen ehemals bestehenden Zustand verhärten zum gegenwärtigen und wurde damit dem romantischen Prinzip untreu. Pauperisierte Handwerker sahen in dieser Restauration des »alten Glücks« eine Möglichkeit, dem gegenwärtigen Elend zu entrinnen. So wurde die »politische Romantik« reaktionär. Bettina, die den Selbstmord der Günderode lange Zeit nicht verwinden konnte, wurde nicht resignativ. Ihre Liebesfähigkeit, vor deren Ausmaß die Günderode erschrocken war, verbreitete sich zu einem Engagement für alle Leidenden, die sie um sich sah. Es schloß niemanden aus nicht den »Vierten Stand« aber auch nicht die »privilegiert« Leidenden. Im Sinne von Fichtes »Bestimmung des Menschen« zu einem freieren Zustand (in welchem die Gegenwart Durchgangspunkt zu einem höheren und vollkommeneren Zustand ist) kämpfte Bettina gegen alle Beschränkungen der Freiheit. Im Prozeß, den sie gegen den Magistrat der Stadt Berlin führte, kämpfte sie zunächst für ihre eigene Freiheit (der Prozeß endete in einer Gefängnisstrafe), aber indem sie dies tat, benützte sie die Gelegenheit, sehr frei über ihr Engagement für den Vierten Stand, das Proletariat, zu sprechen. Das war deutlich ein politisches, nicht mehr bloß ein soziales Engagement. Diese weiblichen Ansätze politischen Verhaltens wurden beschränkt, sobald Frauen sich zu einer materiellen Gewalt verbündeten, wie beispielsweise in der Pariser Kommune. Als sie besiegt wurde, hat man auch die Frauen im besonderen verfolgt als »pétroleuses«, als Brandstifterinnen. Bettina konnte sich noch als Ausnahme verstehen und entsprechend agieren. Im Unterschied zur Günderode hat sie politisch geschrieben und gehandelt, was ungestraft nur bis zu einem gewissen Grade von offizieller Seite geduldet wurde. Auch der Freiraum von Bettina war nicht unbegrenzt - das zeigt am deutlichsten 1846/47 der schon erwähnte »Magistratsprozeß« gegen sie, in dem sie sich wegen Beleidigung des Berliner Magistrats zu verantworten hatte. Die Akten zu diesem Prozeß sind erst bei der Verstaatlichung des Besitzes der Freiherr-von-Arnimschen Familie in der Mark (nach 1945) gefunden, von Gertrud Meyer-Hepner gesammelt und 1960 als Buch veröffentlicht worden, was Bettina ursprünglich selbst vorhatte, als »eine nothwendige Fortsetzung« (Meyer-Hepner: 1) des Königsbuches. Der Berliner Magistrat wartete schon lange auf einen Anlaß, Bettina das Maul zu stopfen, denn seine korrupte Armenverwaltung war schon im ersten Band des Königsbuches angegriffen worden. Es wäre lohnend, Bettinas explizit politische Schriften gesondert herauszugeben, vor allem ihr »Armenbuch«, das in einem Teil so etwas wie empirische Sozialforschung ist: sie hat die Zustände der schlesischen Weber im Detail beschrieben und sie dazu in ihren Elendshütten besucht. Beim Magistratsprozeß ging es darum, daß Bettina, die ihre Bücher seit ungefähr 1846 im Selbstverlag herausgab (»v. Arnims Verlag«), aufgefordert wurde, binnen acht Tagen das Bürgerrecht zu erwerben (am 18. August 1846), weil sie ein Gewerbe betreibe. Sie antwortete, sie sei bereit, das Bürgerrecht als Ehrengeschenk anzunehmen, aber nicht, es zu kaufen, dann wolle sie das Unternehmen an einen anderen Ort verlegen. Meyer-Hepner schildert dann die weiteren Ereignisse, die auch zeigen, daß die Presse zu dieser Zeit doch eine Macht der Opposition darstellen konnte und so etwas wie bürgerliche Öffentlichkeit vertrat:
- »Auf dies Schreiben antwortete der Magistrat erst nach fünf Monaten, am 21. Januar 1847. Er wiederholt die Aufforderung zur Gewinnung des Bürgerrechts und erklärt, daß keine Veranlassung zur Bezeigung der Hochachtung durch Verleihung des Ehrenbürgerrechts an Bettina gegeben sei. Diese Bemerkung ist von Bettina als sehr verletzend empfunden worden. Im Verlauf der Verhandlungen kommt sie oft darauf zurück. Auch die Presse hat sich wiederholt mit dem Thema beschäftigt, ob Bettina die Ehrenbürgerschaft verdiene. In den »Berliner Pfennigblättern« finden sich zwei Artikel dazu. Der eine, vom 15. April 1847, sagt: >Ja, wenn sie Hosen trüge, ein Bändlein, ein Sternchen, ein Kreuz - sie wär ja sonst die erste Ehrenbürgerin.< Der zweite Artikel, vom 18. September 1847 (nach der Verurteilung), ist ernsthafter: >Wir sind aber überzeugt, daß diese edle Frau die gerechtesten Ansprüche darauf (auf das Ehrenbürgerrecht) hat, denn sie hat nicht nur in ihren Schriften viel Vortreffliches über die Ursache der Armut und des Verbrechens geschrieben und darin mit warmen Herzen für das Volk gesprochen, sondern auch Taten der reinsten Menschenliebe an tausenden von Berlins Armen geübt; freilich hat sie davon kein Geräusch gemacht. Nicht nur hat sie 400 Familien in den Familienhäusern besucht und unterstützt, sondern in dem verflossenen Winter 1100 Schuhmachern Arbeit gegeben, welche sie dann an die armen Bewohner des Volgtlandes verschenkte. Sie hat ferner zweimal an den Geldfürsten Rothschild geschrieben und Unterstützungen für die armen Juden Berlins von ihm erbeten, so daß diesen 700 Taler zuteil wurden. - Und dennoch hat sie das Ehrenbürgerrecht noch nicht verdient? Was würde der Magistrat nun dazu sagen, wenn diese edle Dame unsere Stadt verließe, und so ihren Beistand den hiesigen Armen entzöge? Nicht weil Frau v. Arnim eine hochgestellte und berühmte Dame ist, wünschen wir, daß sie von den Verbindlichkeiten befreit würde, sondern weil sie eine Frau ist, die sich stets mit Wort und Tat der Armut angenommen.
Bettinas Antwort auf den Magistratsbrief vom Januar war jenes Schreiben vom 19. Februar, das der Magistrat dem Staatsanwalt zur Untersuchung übergab, damit Bettina wegen der darin enthaltenen groben Beleidigungen angeklagt und bestraft würde.« (Meyer-Hepner: 17)
Bettina wurde schließlich zu drei, nach Berufung zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt; erst durch lange Vermittlungsversuche (auch des konservativ-katholischen Schwagers Savigny, des Vormunds ihrer Kinder) erreichte der bekannte Justizkommissar Otto Lewald, daß der Magistrat vom Vollzug des Urteils Abstand nahm. Die Gefängnisstrafe, die Bettina absitzen wollte, war die höchste, die »unter Personen von Adel« verhängt werden konnte. Der »Freiraum« wurde also in dem Augenblick beschränkt, wo sie politisch wirksam wurde, und sie ihre politische Einstellung nicht mehr in romantisierende »Codes« verkleidete, nicht mehr als »Dämon« zum König spricht, sondern als Verteidigerin des Proletariats zum Berliner Magistrat:
- »Was nun Ihre letzte Bemerkung anbelangt, daß keine Veranlassung vorliege, mir das Bürgerrecht als ein Ehrengeschenk zukommen zu lassen, so gebe ich dieses zu, da ich zumal das Bürgerrecht höher stelle, als den Adel. Damit werden Sie einverstanden sein. Ebenso stelle ich noch höher die Klasse des Proletariats, ohne dessen ihm angeborenen großartigen Charakterkräfte, des Ausharrens im Elend, im Entsagen und Beschränken aller Lebensbedürfnisse wenig Erspießliches zum Wohl des Ganzen würde befördert werden. - Der Schatz des Armen besteht im angeborenen Reichtum der Natur, das Verdienst des Bürgers im Anwenden und Ausbeuten dieses Naturreichtums, welches er vermittelst seiner tätigen Gewandtheit und zum eigenen Vorteil derjenigen Menschenklasse zuwendet, deren Hochmut, Verwöhnung und geistige Verbildung alles verschlingt, eben weil sie keine Produktionskraft hat. Die Gründe also, warum ich den Proletarier am höchsten stelle, ist, weil er der Gemeinheit enthoben ist, als Wucherer dem Weltverhältnis etwas abzugewinnen, da er alles gibt und nicht mehr dafür wieder verzehrt, als er eben bedarf, um neue Kräfte zum Gewinn anderer sammeln zu können. Offenbar ist daher das Verhältnis des letzteren zur Nation das edlere, durch seine Hilflosigkeit das ehrfurchterweckendste; ja trotz seiner Armut für die Armut am glücklichsten wirkende. - Und wenn ich dem Bürgertum vor dem Adel den Vorzug gebe, aus dem Grunde, weil sein praktischer Charakter dem eingebildeten des Adels gegenübersteht; ich daher die Bürgerkrone dem Ordenssterne vorziehe, so würde ich dem allen noch vorziehen, vom Volke anerkannt zu sein, dessen Verzichtungen heroisch und dessen Opfer die uneigennützigsten sind.« (Mayer-Hepner: 20)
Solche Worte sind es, die der Magistrat als Beleidigung empfindet. Bettina wollte die Prozeßakten als Fortsetzung des Königsbuches veröffentlichen - Savignys Eingreifen hat dies verhindert (auch, daß sie ins Gefängnis kam). Savigny, seit 1842 Minister für Gesetzgebungsrevision, konservatives Haupt der historischen Rechtsschule, fühlte sich wohl aus Verwandtschaftsbanden verpflichtet, seine Schwägerin nicht ins Gefängnis kommen zu lassen. Wäre Bettina weniger privilegiert gewesen, so hätte sie sehr wohl zu denen gehört, die im Vormärz im Gefängnis oder in der Emigration geendet wären.
Bettina und Karoline von Günderode sind als Frauen und Schriftstellerinnen immer noch Ausnahmen. Weder haben sie Männer nachgeahmt, noch ihnen als Musen gedient (wie Dorothea und Caroline Schlegel) und die eigene Schreibpraxis selbst in den Schatten ihrer »genialen« Männer gestellt. Günderode und Bettina gehören zu jenen Künstlerinnen, die wie Simmel sagt: »nicht den sklavenhaften Ehrgeiz haben, zu schreiben, wie ein Mann.« (Simmel: 277) Deshalb sind sie für die Orientierung einer neuen weiblich-bestimmten Kultur so wichtig. Bettina vor allem, weil sie sich schon jenseits der Sphäre des Kampfes gegen männliche Unterdrückung befindet (die diesbezüglichen Versuche ihres Bruders hat sie souverän abgewehrt) und deshalb in ihren Briefromanen einen Zustand entworfen hat, in welchen sich die Männer - unter ihren Zwängen leidend an weiblich-androgynen Werten zu orientieren beginnen.
Bettina von Arnim
Bericht über den Selbstmord der Günderode [1]
Über die Günderrode ist mir am Rhein unmöglich zu schreiben, ich bin nicht so empfindlich, aber ich bin hier am Platz nicht weit genug vom Gegenstand ab, um ihn ganz zu übersehen; - gestern war ich da unten, wo sie lag; die Weiden sind so gewachsen, daß sie den Ort ganz zudecken; und wie ich mir so dachte, wie sie voll Verzweiflung hier herlief, und so rasch das gewaltige Messer sich in die Brust stiess, und wie das da tagelang in ihr gekocht hatte, und ich, die so nah mit ihr stand, jetzt an demselben Ort gehe hin und her an demselben Ufer, in süssem Überlegen meines Glückes, und alles und das Geringste, was mir begegnet, scheint mir mit zu dem Reichtum meiner Seligkeit zu gehören; da bin ich wohl nicht geeignet, jetzt alles zu ordnen und den einfachen Faden unseres Freundelebens, von dem ich doch nur alles anspinnen könnte, zu verfolgen. Nein es kränkt mich und ich mache ihr Vorwürfe, wie ich ihr damals in Träumen machte, daß sie die schöne Erde , verlassen hat; sie hätt noch lernen müssen, daß die Natur Geist und Seele hat und mit dem Menschen verkehrt und sich seiner und seines Geschickes annimmt und daß Lebensverheissungen in den Lüften uns umwehen; ja, sie hat's bös mit mir gemacht, sie ist mir geflüchtet, grade wie ich mit ihr teilen wollte alle Genüsse. Sie war so zaghaft; eine junge Stiftsdame, die sich fürchtete, das Tischgebet laut herzusagen; sie sagte mir oft, daß sie sich fürchtete, weil die Reihe an ihr war; sie wollte vor den Stiftsdamen das Benedicite nicht laut hersagen. Unser Zusammenleben war schön; es war die erste Epoche, in der ich mich gewahr ward; - sie hatte mich zuerst aufgesucht in Offenbach, sie nahm mich bei der Hand und forderte, ich solle sie in der Stadt besuchen; nachher waren wir alle Tage beisammen; bei ihr lernte ich die ersten Bücher mit Verstand lesen; sie ( wollte mich Geschichte lehren, sie merkte aber bald, daß ich zu sehr mit der Gegenwart beschäftigt war, als daß mich die Vergangenheit hätte lange fesseln können. - Wie gern ging ich zu ihr! ich konnte sie keinen Tag mehr missen, ich lief alle Nachmittag zu ihr; wenn ich an die Tür des Stifts kam, da sah ich durch das Schlüsselloch bis nach ihrer Tür, bis mir aufgetan ward; - ihre kleine Wohnung war ebner Erde nach dem Garten; vor dem Fenster stand eine Silberpappel, auf die kletterte ich während dem Vorlesen; bei jedem Kapitel erstieg ich einen höheren Ast und las von oben herunter; - sie stand am Fenster und hörte zu und sprach zu mir hinauf, und dann und wann sagte sie: Bettine fall nicht; jetzt weiss ich erst, wie glücklich ich in der damaligen Zeit war, weil alles, auch das Geringste, sich als Erinnerung von Genuß in mich geprägt hat. - Sie war so sanft und weich in allen Zügen, wie eine Blondine; sie hatte braunes Haar, aber blaue Augen, die waren gedeckt mit langen Augenwimpern; wenn sie lachte, so war es nicht laut, es war vielmehr ein sanftes, gedämpftes Girren, in dem sich Lust und Heiterkeit sehr vernehmlich aussprach; sie ging nicht, sie wandelte, wenn man verstehen will, was ich damit auszusprechen meine; ihr Kleid war ein Gewand, was sie in schmeichelnden Falten umgab, das kam von ihren weichen Bewegungen her; - ihr Wuchs war hoch, ihre Gestalt war zu fliessend, als daß man es mit dem Worte schlank ausdrücken könnte; sie war schüchternfreundlich und viel zu willenlos, als daß sie in der Gesellschaft sich bemerkbar gemacht hätte. Einmal ass sie mit dem Fürst Primas mit allen Stiftsdamen zu Mittag; sie war im schwarzen Ordenskleid mit langer Schleppe und weißem Kragen mit dem Ordenskreuz; da machte jemand die Bemerkung, sie sähe aus wie eine Scheingestalt unter den andern Damen, als ob sie ein Geist sei, der eben in der Luft zerfließen werde. - Sie las mir ihre Gedichte vor und freute sich meines Beifalls, als wenn ich ein großes Publikum wär; ich war aber auch voll lebendiger Begierde es anzuhören; nicht als ob ich mit dem Verstand das Gehörte gefaßt habe, - es war vielmehr ein mir unbekanntes Element, und die weichen Verse wirkten auf mich wie der Wohllaut einer fremden Sprache, die einem schmeichelt, ohne daß man sie übersetzen kann. - Wir lasen zusammen den Werther und sprachen viel über den Selbstmord; sie sagte: >Recht viel lernen, recht viel fassen mit dem Geist und dann früh sterben; ich mag's nicht erleben, daß mich die Jugend verläßt<. Wir lasen vom Jupiter Olymp des Phidias, daß die Griechen von dem sagten, der Sterbliche sei um das Herrlichste betrogen, der die Erde verlasse, ohne ihn gesehen zu haben. Die Günderrode sagte, wir müssen ihn sehen, wir wollen nicht zu den Unseligen gehören, die so die Erde verlassen. Wir machten ein Reiseprojekt, wir erdachten unsre Wege und Abenteuer, wir schrieben alles auf, wir malten alles aus, unsere Einbildung war so geschäftig, daß wir's in der Wirklichkeit nicht besser hätten erleben können; oft lasen wir in dem erfundenen Reisejournal, und freuten uns der allerliebsten Abenteuer, die wir drin erlebt hatten und die Erfindung wurde gleichsam zur Erinnerung, deren Beziehungen sich noch in der Gegenwart fortsetzten.
Von dem, was sich in der Wirklichkeit ereignete, machten wir uns keine Mitteilungen; das Reich, in dem wir zusammentrafen, senkte sich herab wie eine Wolke, die sich öffnete, um uns in ein verborgenes Paradies aufzunehmen; da war alles neu, überraschend, aber passend für Geist und Herz; und so vergingen die Tage. Sie wollte mir Philosophie lehren; was sie mir mitteilte, verlangte sie von mir aufgefasst, und dann auf meine Art schriftlich wiedergegeben; die Aufsätze, die ich ihr hierüber brachte, las sie mit Staunen; es war nie auch eine entfernte Ahndung von dem, was sie mir mitgeteilt hatte; ich behauptete im Gegenteil, so hätt ich es verstanden; - sie nannte diese Aufsätze Offenbarungen, gehöht durch die süssesten Farben einer entzückten Imagination; sie sammelte sie sorgfältig, sie schrieb mir einmal: jetzt verstehst Du nicht, wie tief diese Eingänge in das Bergwerk des Geistes führen, aber einst wird es Dir sehr wichtig sein, denn der Mensch geht oft öde Straßen; je mehr er Anlage hat durchzudringen, je schauerlicher ist die Einsamkeit seiner Wege, je endloser die Wüste. Wenn Du aber gewahr wirst, wie tief Du Dich hier in den Brunnen des Denkens niedergelassen hast und wie Du da unten ein neues Morgenrot fliidest und mit Lust wieder heraufkömmst und von Deiner tieferen Welt sprichst, dann wird Dichs trösten, denn die Welt wird nie mit Dir zusammenhängen, Du wirst keinen andern Ausweg haben als zurück durch diesen Brunnen in den Zaubergarten Deiner Phantasie; es ist aber keine Phantasie, es ist eine Wahrheit, die sich in ihr spiegelt. Der Genius benützt die Phantasie, um unter ihren Formen das Göttliche, was der Menschengeist in seiner idealen Erscheinung nicht fassen könnte, mitzuteilen oder einzuflößen; ja Du wirst keinen andern Weg des Genusses in Deinem Leben haben, als den sich die Kinder versprechen von Zauberhöhleii, von tiefen Brunnen; wenn man durch sie gekommen, so findet man blühende Gärten, Wunderfrüchte, kristallne Paläste, wo eine noch unbegriffne Musik erschallt und die Sonne mit ihren Strahlen Brücken baut, auf denen man festen Fusses in ihr Zentrum spazieren kann; - das alles wird sich Dir in diesen Blättern zu einem Schlüssel bilden, mit dem Du vielleicht tief versunkene Reiche wieder aufschließen kannst, drum verliere mir nichts und wehre auch nicht solchen Reiz, der Dich zum Schreiben treibt, sondern lerne mit Schmerzen denken, ohne welche nie der Genius in den Geist geboren wird; - wenn er erst in Dich eingefleischt ist, dann wirst Du Dich der Begeistrung freuen, wie der Tänzer sich der Musik freut... Sie erzählte mir wenig von ihren sonstigen Angelegenheiten, ich wußte nicht, in welchen Verbindungen sie noch ausser mir war; sie hatte mir zwar von Daub in Heidelberg gesprochen und auch von Creuzer, aber ich wusste von keinem, ob er ihr lieber sei als der andre; einmal hatte ich von andern davon gehört, ich glaubte es nicht; einmal kam sie mir freudig entgegen und sagte: Gestern habe ich einen chlrurg gesprochen, der hat mir gesagt, daß es sehr leicht ist, sich umzubringen; - sie öffnete hastig ihr Kleid und zeigte mir unter der schönen Brust den Fleck; ihre Augen funkelten freudig; ich starrte sie an, es ward mir zum ersten Mal unheimlich, ich fragte: Nun! - und was soll ich denn tun, wenn Du tot bist? O, sagte sie, dann ist Dir nichts mehr an mir gelegen, bis dahin sind wir nicht mehr so eng verbunden, ich werd mich erst mit Dir entzweien; - ich wendete mich nach dem Fenster, um meine Tränen, mein vor Zorn klopfendes Herz zu verbergen, sie hatte sich nach dem andern Fenster gewendet und schwieg; - ich sah sie von der Seite an, ihr Auge war gen Himmel gewendet, aber der Strahl war gebrochen, als ob sich sein ganzes Feuer nach innen gewendet habe; - nachdem ich sie eine Weile beobachtet hatte, konnte ich mich nicht mehr fassen, - ich brach in lautes Schreien aus, ich fiel ihr um den Hals und riss sie nieder auf den Sitz, und setzte mich auf ihre Knie und weinte viel Tränen und küßte sie zum erstenmal an ihren Mund und riss ihr das Kleid auf und küßte sie an die Stelle, wo sie gelernt hatte das Herz treffen; und ich bat mit schmerzlichen Tränen, daß sie sich meiner erbarme, und fiel ihr wieder um den Hals und küßte ihre Hände, die waren kalt und zitterten und ihre Lippen zuckten, und sie war ganz kalt und starr und totenblaß und konnte die Stimme nicht erheben; sie sagte leise: Bettine, brich mir das Herz nicht; - ach, da wollte ich mich aufreissen und wollte ihr nicht weh tun; ich lächelte und weinte und schluchzte laut, ihr schien immer banger zu werden, sie legte sich aufs Sofa; da wollt ich scherzen und wollte ihr beweisen, daß ich alles für Scherz nehme; da sprachen wir von ihrem Testament; sie vermachte einem jeden etwas; mir vermachte sie einen kleinen Apoll unter einer Glasglocke, dem sie einen Lorbeerkranz umgehängt hatte; ich schrieb alles auf; im Nachhausegehen machte ich mir Vorwürfe, daß ich so aufgeregt gewesen war; ich fühlte, daß es doch nur Scherz gewesen war, oder auch Phantasie, die in ein Reich gehört, welches nicht in der Wirklichkeit seine Wahrheit behauptet, ich fühlte, daß ich unrecht gehabt hatte und nicht sie, die ja oft auf diese Weise mit mir gesprochen hatte.
Einmal kam ich zu ihr, da zeigte sie mir einen Dolch mit silbernem Griff, den sie auf der Messe gekauft hatte, sie freute sich über den schönen Stahl und über seine Schärfe; ich nahm das Messer in die Hand und probte es am Finger; da floss gleich Blut; sie erschrak; ich sagte: O Günderrode! Du bist so zaghaft und kannst kein Blut sehen, und gehest immer mit einer Idee um, die den höchsten Mut voraussetzt; ich habe doch noch das Bewußtsein, daß ich eher vermögend wär, etwas zu wagen, obschon ich mich nie umbringen würde; aber mich und Dich in einer Gefahr zu verteidigen, dazu hab. ich Mut; und wenn ich jetzt mit dem Messer auf Dich eindringe, - siehst Du, wie Du Dich fürchtest? - sie zog sich ängstlich zurück; der alte Zorn regte sich wieder in mir unter der Decke des glühendsten Mutwills; ich ging immer ernstlicher auf sie ein, sie lief in ihr Schlafzimmer hinter den ledernen Sessel, um sich zu sichern; ich stach in den Sessel, ich riss ihn mit vielen Stichen in Stücke, das Roßhaar flog hier- und dahin in der Stube, sie stand flehend hinter dem Sessel und bat ihr nichts zu tun. - Ich sagte: Eh ich dulde, daß Du Dich umbringst, tu ich's lieber selbst. - Mein armer Stuhl! rief sie. - Ja was, Dein Stuhl, der soll den Dolch stumpf machen; - ich gab ihm ohne Barmherzigkeit Stich auf Stich, das ganze Zimmer wurde eine Staubwolke; so warf ich den Dolch weit in die Stube, daß er prasselnd unter das Sofa fuhr; ich nahm sie bei der Hand und führte sie in den Garten, in die Weinlaube, ich riss die jungen Weinreben ab und warf sie ihr vor die Füsse; ich trat drauf und sagte: So mißhandelst Du unsre Freundschaft. - Ich zeigte ihr die Vögel auf den Zweigen und daß wir, wie jene, spielend aber treu gegeneinander bisher zusammenglebt hätten; ich sagte: Du kannst sicher auf mich bauen, es ist keine Stunde in der Nacht, die, wenn Du mir Deinen Willen kund tust, mich nur einen Augenblick besinnen machte; - komm vor mein Fenster und pfeif um Mitternacht, und ich geh ohne Vorbereitung mit Dir um die Welt; und was ich für mich nicht wagte, das wag ich für Dich; - aber Du! was berechtigt Dich mich aufzugeben? - wie kannst Du solche Treue verraten; und versprich mir, daß Du nicht mehr Deine zaghafte Natur hinter so grausenhafte, prahlerische Ideen verschanzen willst. - Ich sah sie an, sie war beschämt und senkte den Kopf und sah auf die Seite und war blaß, wir waren beide still, lange Zeit. Günderrode, sagte ich, wenn es ernst ist, dann gib mir ein Zeichen; - sie nickte. Sie reiste ins Rheingau; von dort aus schrieb sie mir ein paarmal, wenig Zeilen; - ich hab sie verloren, sonst würde ich sie hier einschalten.
Einmal schrieb sie: Ist man allein am Rhein, so wird man ganz traurig, aber mit mehreren zusammen, da sind grade die schauerlichsten Plätze am lustaufreizendsten, mir aber ist doch lieb, den weiten, gedehnten Purpurhimmel am Abend allein zu begrüßen; da dichte ich im Wandlen an einem Märchen, das will ich Dir vorlesen; ich bin jeden Abend begierig, wie es weitergeht, es wird manchmal recht schaurig und dann taucht es wieder auf. Da sie wieder zurückkain und ich das Märchen lesen wollte, sagte sie: es ist so traurig geworden, daß ich's nicht lesen kann; ich darf nichts mehr davon hören, ich kann es nicht mehr weiter schreiben: ich werde krank davon; und sie legte sich zu Bett und blieb liegen mehrere Tage, der Dolch lag an ihrem Bett; ich achtete nicht darauf, die Nachtlampe stand dabei, ich kam herein; Bettine, mir ist vor drei Wochen eine Schwester gestorben; sie war jünger als ich, Du hast sie nie gesehen; sie starb an der schnellen Auszehrung. - Warum sagst Du mir dies heute erst? fragte ich. - Nun, was könnte Dich dies interessieren? Du hast sie nicht gekannt, ich muss so was allein tragen, sagte sie mit trockenen Augen. Mir war dies doch etwas sonderbar, mir jungen Natur waren alle Geschwister so lieb, daß ich glaubte, ich würde verzweifeln müssen, wenn einer stürbe, und daß ich mein Leben für jeden gelassen hätte; sie fuhr fort: Nun denk! vor drei Nächten ist mir diese Schwester erschienen; ich lag im Bett und die Nachtlampe brannte auf jenem Tisch; sie kam hereiii in weissem Gewand, langsam, und blieb an dem Tisch stehen; sie wendete den Kopf nach mir und senkte ihn und sah mich an; erst war ich erschrocken, aber bald war ich ganz ruhig, ich setzte mich im Bett auf, um mich zu überzeugen, daß ich nicht schlafe. Ich sah sie auch an und es war, als ob sie etwas bejahend nickte; und sie nahm dort den Dolch und hob ihn gen Himmel mit der rechten Hand, als ob sie mir ihn zeigen wolle und legte ihn wieder sanft und klanglos nieder; und dann nahm sie die Nachtlanipe und hob sie auch in die Höhe und zeigte sie mir, und als ob sie mir bezeichnen wolle, daß ich sie verstehe, nickte sie sanft, führte die Lampe zu ihren Lippen und hauchte sie aus; denk nur sagte sie voll Schauder, ausgeblasen; - und im Dunkel hatte mein Auge noch das Gefühl von ihrer Gestalt; und da hat mich plötzlich eine Angst befallen, die ärger sein muss, als wenn man mit dem Tod ringt; ja, denn ich wäre lieber gestorben, als noch länger diese Angst zu tragen... Es vergingen vierzehn Tage, da kam Fritz Schlosser; er bat mich um ein paar Zeilen an die Günderrode, weil er ins Rheingau reisen werde, und wolle gern ihre Bekanntschaft machen. Ich sagte, daß ich mit ihr broulliert sei, ich bäte ihn aber, von mir zu sprechen und acht zu geben, was es für einen Eindruck auf sie mache. - Wann gehen Sie hin, sagte ich, morgen? Nein, in acht Tagen. - 0 gehen Sie morgen, sonst treffen Sie sie nicht mehr; - am Rhein ist's so melancholisch, sagte ich scherzend, da könnte sie sich ein Leids antun; - Schlosser sah mich ängstlich an. - ja, ja, sagt ich mutwillig, sie stürzt sich ins Wasser oder sie ersticht sich aus blosser Laune.
Freveln Sie nicht, sagte Schlosser, und nun frevelte ich erst recht: Geben Sie acht, Schlosser, Sie finden sie nicht mehr, wenn Sie nach alter Gewohnheit zögern, und ich sage Ihnen, gehen Sie heute lieber wie morgen und retten Sie sie vor unzeitiger melancholischer Laune. - Und lin Scherz beschrieb ich sie, wie sie sich umbringen werde im roten Kleid, mit aufgelöstem Schnürband, dicht unter der Brust die Wunde; das nannte man tollen Übermut von mir, es war aber bewußtloser Überreiz, indem ich die Wahrheit vollkommen genau beschrieb. - Am andern Tag kam Franz und sagte: Mädchen, wir wollen ins Rheingau gehen, da kannst Du die Günderrode besuchen. Wann? fragte ich. - Morgen, sagte er; ach, ich packte mit Übereile ein, ich konnte kaum erwarten, daß wir gingen; alles, was ich begegnete, schob ich hastig aus dem Weg, aber es vergingen mehrere Tage und es ward die Reise immer verschoben; endlich, da war meine Lust zur Reise in tiefe Trauer verwandelt, und ich wär lieber zurückgeblieben. - Da wir in Geisenheim ankamen, wo wir übernachteten, lag ich im Fenster und sah ins mondbespiegelte Wasser; meine Schwägerin Toni sass am Fenster; die Magd, die den Tisch deckte, sagte: Gestern hat sich auch eine junge schöne Dame, die schon sechs Wochen hier sich aufhielt, bei Winkel umgebracht; sie ging am Rhein spazieren ganz lang, dann lief sie nach Hause, holte ein Handtuch; am Abend suchte man sie vergebens; am andern Morgen fand man sie am Ufer unter Weidenbüschen, sie hatte das Handtuch voll Steine gesammelt und sich um den Hals gebunden, wahrscheinlich weil sie sich in den Rhein versenken wollte, aber da sie sich ins Herz stach, fiel sie rückwärts, und so fand sie ein Bauer am Rhein liegen unter den Weiden an einem Ort, wo es am tiefsten ist. Er riss ihr den Dolch aus dem Herzen, und schleuderte ihn voll Abscheu weit in den Rhein, die Schiffer sahen ihn fliegen, - da kamen sie herbei und trugen sie in die Stadt. - Ich hatte im Anfang nicht zugehört, aber zuletzt hört ichs mit an und rief: das ist die Günderrode! Man redete mirs aus und sagte, es sei wohl eine andere, da soviel Frankfurter im Rheingau waren.
Ich liess mirs gefallen und dachte: grade was man prophezeihe, sei gewöhnlich nicht war. - In der Nacht träumte mir, sie käme mir auf einem mit Kränzen geschmückten Nachen entgegen, um sich mit mir zu versöhnen; ich sprang aus dem Bett in des Bruders Zimmer und rief: Es ist alles nicht wahr, eben hat mirs lebhaft geträumt! Ach, sagte der Bruder, baue nicht auf Träume! Ich träumte noch einmal, ich sei eilig in einem Kahn über den Rhein gefahren, um sie zu suchen; da war das Wasser trüb und schilflig, und die Luft war dunkel und es war sehr kalt; - ich landete an einem sumpfigen Ufer, da war ein Haus mit feuchten Mauern, aus dem schwebte sie hervor und sah mich ängstlich an und deutete rnir, daß sie nicht sprechen könne; - ich lief wieder zum Schlafzimmer der Geschwister und rief: Nein, es ist gewiss wahr, denn mir hat geträumt, daß ich sie gesehen habe, und ich hab gefragt: Günderrode, warum hast Du mir dies getan? Und da hat sie geschwiegen und hat den Kopf gesenkt, und hat sich traurig nicht verantworten können. Nun überlegte ich im Bett alles und besann mich, daß sie mir früher gesagt hatte, sie wolle sich erst mit mir entzweien, eh sie diesen Entschluß ausführen werde; nun war mir unsre Trennung erklärt, auch daß sie mir ein Zeichen geben werde, wenn ihr Entschluß reif sei; das war also die Geschichte von ihrer toten Schwester, die sie mir ein halb Jahr früher mitteilte; da war der Entschluß schon gefaßt. 0 ihr großen Seelen, dieses Lamm in seiner Unschuld, dieses junge zaghafte Herz, welche ungeheure Gewalt hat es bewogen, so zu handeln?
Am andern Morgen fuhren wir bei früher Zeit auf dem Rhein weiter. - Franz hatte befohlen, daß das Schiff jenseits sich halten solle, um zu vermeiden, daß wir dem Platz zu nahe kämen, aber dort stand der Fritz Schlosser am Ufer, und der Bauer, der sie gefunden, zeigte ihm, wo der Kopf gelegen hatte und die Füsse und daß das Gras noch nieder liege, - und der Schiffer lenkte unwillkürlich dorthin, und Franz bewusstlos sprach im Schiff alles dem Bauer nach, was er in der Ferne verstehen konnte, und da mußt ich denn mit anhören die schauderhaften Bruchstücke der Erzählung vom roten Kleid, das aufgeschnürt war, und der Dolch, den ich so gut kannte, und das Tuch mit Steinen um ihren Hals, und die breite Wunde; - aber ich weinte nicht, ich schwieg. - Da kam der Bruder zu mir und sagte: sei stark, Mädchen. - Wir landeten in Rüdesheim; überall erzählte man sich die Geschichte; ich lief in Windesschnelle an allen vorüber, den Ostein hinauf eine halbe Stunde bergan, ohne auszuruhen; - oben war mir der Atem vergangen, mein Kopf brannte, ich war den andern weit voraus geeilt. - Da lag der herrliche Rhein mit seinem smaragdnen Schmuck der Inseln; da sah ich die Ströme von allen Seiten dem Rhein zufließen und die reichen friedlichen Städte an beiden Ufern und die gesegneten Gelände an beiden Seiten; da fragte ich mich, ob mich die Zeit über diesen Verlust beschwichtigen werde, und da war auch der Entschluß gefaßt, kühn mich über den Jammer herauszuschwingen, denn es schien mir unwürdig, Jammer zu äußern, den ich einstens beherrschen könne.
Bettina von Arnim
Aus dem Briefroman »Die Günderode« (Bettina 1: 215ff.)
- Bettina an die Günderode im Oktober 1805 (es handelt sich um die Daten, die durch Vergleich mit dem Original ermittelt wurden; der Briefroman selbst ist ohne Daten, die Briefe nachträglich überarbeitet und geändert)
. . . Die Menschen sind gut, ich bin es ihnen von Herzen, aber wie das kommt, daß ich mit niemand sprechen kann? - Das hat nun Gott gewollt, daß ich nur mit Dir zu Haus bin. - Die Manen (Prosastück Günderodes) les' ich immer wieder, sie wecken mich recht zum Nachdenken. Du meinst, daß Dir die Sprache nicht drin gefällt? - Ich glaub, daß große Gedanken, die man zum erstenmal denkt, die sind so überraschend, da scheinen einem die Worte zu nichtig, mit denen man sie aufnimmt, die suchen sich ihren Ausdruck, da ist man als zu zaghaft, einen zu gebrauchen, der noch nicht gebräuchlich ist, aber was liegt doch dran? Ich wollt immer so reden, wie es nicht statthaft ist, wenn es mir näher dadurch kommt in der Seel, ich glaub gewiß, Musik rauß in der Seele walten, Stimmung ohne Melodie ist nicht fließend zu denken; es muß etwas der Seele so recht Angebornes geben, worin der Gedarikenstrom fließt. - Dein Brief ist ganz melodisch zu mir, viel mehr wie Dein Gespräch. » Wenn Du noch nicht bald weder zu uns kommst, so schreibe mir wieder, denn ich habe Dich lieb.« Diese Worte haben einen melodischen Gang, und dann: »Ich habe die Zeit über recht oft an Dich gedacht, liebe Bettine! Vor einigen Nächten träumte mir, Du seiest gestorben, ich weinte sehr darüber, und hatte den ganzen Tag einen traurigen Nachklang davon in meiner Seele. « Ich auch, liebstes Günderödchen, würde sehr weinen, wenn ich Dich sollt hier lassen müssen und in eine andre Welt gehen, ich kann mir nicht denken, daß ich irgendwo ohne Dich zu mir selber kommen möcht. Der musikalische Klang jener Worte äußert sich wie der Pulsschlag Deiner Empfindung, das ist lebendige Liebe, die fühlst Du für mich. Ich bin recht glücklich; ich glaub auch, daß nichts ohne Musik im Geist bestehen kann, und daß nur der Geist sich frei empfindet, dem die Stimmung treu bleibt. - Ich kann's auch noch nicht so deutlich sagen, ich meine, man kann kein Buch lesen, keins verstehen oder seinen Geist aufnehmen, wenn die angeborne Melodie es nicht trägt, ich glaub, das alles müßt gleich begreiflich oder fühlbar sein, wenn es in seiner Melodie dahinfließt. Ja, weil ich das so denke, so fällt mir ein, ob nicht alles, solang es nicht melodisch ist, wohl auch noch nicht wahr sein mag. Dein Schelling und Dein Fichte und Dein Kant sind mir ganz unmögliche Kerle. Was hab ich mir für Mühe geben, und ich bin eigentlich nur davongelaufen hierher, weil ich eine Pause machen wollt. Repulsion, Attraktion, höchste Potenz. - Weißt Du, wie mir's wird? - Dreherig - Schwindel krieg ich in den Kopf, und dann, weißt Du noch? - Ich schäm mich, - Ja ich schäm mich, so mit Hacken und Brecheisen in die Sprach hineinzufahren, um etwas da herauszubohren, und daß ein Mensch, der gesund geboren ist, sich ordentliche Beulen an den Kopf denken muß und allerlei physische Krankheiten dem Geist anbilden. - Glaubst Du, ein Philosoph sei nicht fürchterlich hoffärtig? - Oder wenn er auch einen Gedanken hat, davon wär er klug? - 0 nein, so ein Gedanke fällt ihm wie ein Hobelspan von der Drechselbank, davon ist so ein weiser Meister nicht klug. Die Weisheit muß natürlich sein, was braucht sie doch solcher widerlicher Werkzeuge, um in Gang zu kommen, sie istja lebendig? - Sie wird sich das nicht gefallen lassen. - Der Mann des Geistes muß die Natur lieben über alles, mit wahrer Lieb, dann blüht er, - dann pflanzt die Natur Geist in ihn. Aber ein Philosoph scheint mir so einer nicht, der ihr am Busen liegt und ihr vertraut und mit allen Kräften ihr geweiht ist. - Mir deucht vielmehr, er geht auf Raub, was er ihr abluchsen kann, das vermanscht er in seine geheime Fabrik, und da hat er seine Not, daß sie nicht stockt, hier ein Rad, dort ein Gewicht, eine Maschine greift in die andere, und da zeigt er den Schülern, wie sein Perpetuum Mobile geht, und schwitzt sehr dabei, und die Schüler staunen das an und werden sehr dumm davon. Verzeih mir's, daß ich so fabelig Zeug red, Du weißt, ich hab's mit meinem Abscheu nie weiter gebracht, als daß ich erhitzt und schwindelig geworden bin davon, und wenn die großen Gedanken Deines Gesprächs vor mir auftreten, die doch philosophisch sind, so weiß ich wohl, daß nichts Geist ist als nur Philosophie, aber wend's herum und sag: Es ist nichts Philsophie, als nur ewig lebendiger Geist, der sich nicht fangen, nicht beschauen noch überschauen läßt, nur empfinden, der in jedem neu und ideal wirkt, und kurz: der ist wie der Äther über uns. Du kannst ihn auch nicht fassen mit dem Aug, Du kannst Dich nur von ihm überleuchtet, umfangen fühlen, Du kannst von ihm leben, iiicht ihn für Dich erzeugen. Ist denn der Schöpfernatur ihr Geist nicht gewaltiger als der Philosoph mit seinem Dreieck, wo er die Schöpfungskraft drin hin und her stößt, was will er doch? - Meint er, diese Gedankenaufführung sei eine unwiderstehliche Art, dem Naturgeist nahzukommen? Ich glaub einmal nicht, daß die Natur einen solchen, der sich zum Philosophen eingezwickt hat, gut leiden kann. » Wie ist Nattir so hold und gut, die mich am Busen hält. « - So was lautet wie Spott auf einen Philosophen. Du aber bist ein Dichter, und alles, was Du sagst, ist die Wahrheit und heilig. »Man kann Geister nicht durch Beschuörung rufen, aber sie können sich dem Geist offenbaren, das Empfängliche kann sie empfangen, dem irinern Sitin können sie erscheinen.« Nun ja! Wenn es auch die ganze heutige Welt nicht faßt, was Du da aussprichst, wie ich gewiß glaub, daß es umsonst der Welt gesagt ist, so bin ich aber der Schüler, dessen ganze Seele strebt, sich das Gehörte zum Eigentum zu machen. - Und aus dieser Lehre wird mein künftig Glück erblühn, nicht weil ich's gelernt hab, aber weil ich's empfind; es ist ein Keim in mir geworden und wurzelt tief, ja ich muß sagen, es spricht meine Natur aus, oder vielmehr, es ist das heilige Wort »Es werde«, was Du über mich aussprichst. - Ich hab's jetzt jede Nacht gelesen im Bett und empfind mich nicht mehr allein und für nichts in der Welt; ich denk, da die Geister sich dem Geist offenbaren können, so möchten sie zu meinem doch sprechen; und was die Welt »überspannte Einbildung« nennt, dem will ich still opfern und gewiß meinen Sinn vor jedem bewahren, was mich unfähig dazu machen könnte, denn ich empfinde in mir ein Gewissen, was mich heimlich warnt, dies und jenes zu meiden. - Und wie ich mit Dir red heute, da fühl ich, daß es eine bewußtlose Bewußtheit gebe, das ist Gefühl, und daß der Geist bewußtlos erregt wird. - So wird's wohl sein mit den Geistern. Aber still davon, durch Deinen Geist haucht mich die Natur an, daß ich erwach, wie wenn die Keime zu Blättern werden. - Ach, eben ist ein großer Vogel wider mein Fenster geflogen und hat mich so erschreckt, es ist schon nach Mitternacht, gute Nacht. Bettine
Aus dem Kurort Schlangenbad (Anfang August 1803)
beschreibt Bettina die sie dort umgebende kleine Gesellschaft
... ich kann vor niemand sprechen wie vor Dir, ich fühl auch die Lust und das Feuer nicht dazu als nur bei Dir, und was ich Dir auch sag oder wie es herauskommt, so spür ich, daß etwas sich in mir regt, als ob meine Seele wachse, und wenn ich's auch selbst nicht einmal versteh, so bin ich doch gestärkt durch Deine ruhigen klugen Augen, die mich ansehen, erwartend, als verständen sie mich, und als wüßten sie, was noch kommen wird, Du zauberst dadurch Gedanken aus mir, deren ich vorher nicht bewußt war, die mich selbst verwundern, andre Leute haben mit mir keine Geduld, auch der Voigt nicht, der sagt: »Ich weiß schon, was Sie wollen,« und sagt etwas, was ich gar nicht gewollt hab. Dann mach ich's aber wie Du und hör ihm zu, und da hör ich allemal was Kluges, Gutes. Heut sagte er: die Vernunft sei von den Philosophen als ihr Cott umtanzt und angebetet, wie jeder seinen Gott anbete, nämlich als ein Götze, der zu allem gelogen werde, was man nur in der Einbildung für wahr halte, Dinge, die man auf dem Weg des Menschensinnes und der Empfindung allein finden könne und solle; die würden zu Sätzen, die auf keiner empfundenen Wirklichkeit beruhen, nur als willkürliche Einbildungen gelten und wirken. - Philosophie müsse nur durch die Empfindung begriffen werden, sonst sei es leeres Stroh, was man dresche, man sage zwar, Philosophie solle erst noch zur Poesie werden, da könne man aber lange warten, man könne aus dürrem, geteertem Holz keinen grünen Hain erwarten, und da möge man Stecken bei Stecken pflanzen und den besten Frühlingsregen erbitten, er werde dürr bleiben, während die wahre Philosophie nur als die jüngste und schönste Tochter der geistigen Kirche aus der Poesie selbst hervorgehe, dies sagte er dem Mstr. Haise, der studierter Philosoph ist, der war darüber so aufgebracht, daß Voigt die Poesie die Religion der Seele neniie, -daß er mit beiden Füßen zugleich in die Höhe sprang - und nachher mir allein sagte: ich möge dem Voigt nicht so sehr trauen; denn seine Weisheit sei ungesund und könne leicht ein junges Herz verführen, sonst war alles ganz gut, wir tranken nachmittag auf dem Musenfels Kaffee und machten ein lustig Feuer im Wald an und tanzten zuletzt einen Ringelreihen drum, bis die letzten Flammen aus waren, und alle waren wie die Kinder so vergnügt, und mir kam es vor, als wenn gar kein Falsch oder versteckte Gesiiinung mehr unter allen wär. Ein freies Gemüt ist doch wohl das Höchste im Menschen. Nie eine Periode des Menschenlebens verlassen, so wie sie rein erschaffen ist, um in eine andre überzugehen, dabei nie eine derselben vermissen, ewig Kind sein, als Kind schon Mann und Sklave des Guten sein, Gott aiibeten in Ehrfurcht und mit ihm scherzen und spielen in seinen Werken, die selbst ein Spiel der Weisheit, seiner Liebe sind, sagte Voigt auf dem Heimweg zum Mstr. Haise, und der war zufrieden und reichte ihm die Hand. - Gute Nacht
Am Montag
Gestern hätt ich nun rechte Zeit gehabt, Dir zu schreiben, alles ist fort, aber ich war müde. Tonie liegt auf dem Bett und schläft, man war bis spät in der Nacht aufgewesen, ich ging noch auf die Terrasse, um Abschied zu nehmen, weil am Morgen alles vor Tag abreiste; nur der Voigt blieb da bis Mittag, weil er nur bis Mainz ging. Er ging mit mir in die kleine Kapelle zur Messe, da war eben die Predigt wieder am Ende, es war unser Franziskaner. »Warum hat jesus, da er ans Kreuz geschlagen ist und die bittersten Schmerzen leidet, zugleich eine himmlische Glorie um sein Haupt, die allen Anwesenden das Mitleid verbietet, die zugleich das sellgste ruhmvollste Entzücken andeutet mit dem menschlichen- ' -Kampfe im Elend? Warum liegt in jedem seiner Taten, seiner Worte, das Irdische mit dem Ewigen so eng verbunden? - Er hat seine Leiden nicht mit Freuden vertauscht, da er es wohl vermochte. - Also, Mensch hab dein Schicksal lieb, wenn es dir auch Schmerz bringt, deni-i nicht dein Schicksal ist traurig, wenn es dir auch noch so viel Mensclienunglück zufülirt, aber daß du es verschmähest, das ist eigentlich das große Unglück, und so schließ ich, wovon ich ausging, daß allemal das Schicksal des Menschen das höchste Kleinod sei, das nicht wegwerfend zu behandeln ist, sondern es soll mit Ehrfurcht gepflegt und sich ihm unterworfen werden.« ... Ich bin so froh, daß ich unbedeutend bin, da brauch ich keine gescheiten Gedanken mehr aufzugabeln, wenn ich Dir schreib, ich brauch nur zu erzählen, sonst meint ich, ich dürfte nicht schreiben ohne ein bißchen Moral oder sonst was Kluges, womit man, den Briefinhalt ein bißchen beschwert, jetzt denk ich nicht mehr dran, einen Gedanken zurecht zu meißeln oder zusammen zu leimen, das müssen jetzt andre tun, wenn ich's schreiben soll, ich selbst denk nicht mehr. Ach, von dem Einfältigsten, Ungelehrtesten verstanden und gefühlt zu werden ist auch was wert; und dann dem Einzigen, der mich versteht, der für mich klug ist, keine Langeweile zu machen, das kommt auf Dich an. Wir waren am Rhein und sind wieder den andern Tag zurück spät abends, so ist heut schon Donnerstag, es war schön in Rüdesheim, die Tonie hatte dort über jemand zu sprechen, der als Geistlicher in unser Haus soll, ich guckte indes auf der Bremserin aus dem großen schwarzen Gewölb auf die Wiese im Abendschein, es flogen all die Schmetterlinge über mich hinaus, denn da oben auf der Burg wächst so viel Thymian und Ginster und wilde Rosen, und alles hat der Wind hinaufgetragen; man meint als, der fliegende Blumensamen müßt eine Seel haben und hätt sich nicht weiter wollen treiben lassen vom Wind und wär am liebsten dageblieben, alles blülit und grünt, so viel Glockenblumen und Steinnelken und Balsam, ich dacht, wie ist's doch möglich, daß das alte Gemäuer so überblüht ist. - Blum an Blum! Unten in der Ruine wohnt ein Bettelmann mit der Frau und zwei Kindern, sie haben eine Ziege, die bringen sie hinauf, die grast den duftenden Teppich mir nichts, dir nichts ab. - Ich war eine ganze Stunde allein da und hab hinaus auf dem Rhein die Schiffe fahren sehen, da ist mir's doch recht sehnsüchtig geworden, daß ich wieder zu Dir will, und wenn's noch so schön ist, es ist doch traurig ohne Widerhall in der lebendigen Brust, der Mensch ist doch nichts als Begehren sich zu fühlen im andern. Du lieber Gott! Eh ich Dich gesehen hatt, da wußt ich nichts, da hatt ich schon oft gelesen und gehört, Freund und Freundin, und nicht gedacht, daß das ein ganz neu Leben wär, was dacht ich doch vorher von Menschen? - Gar nichts! - Der Hund im Hof, den holt ich mir immer, um in Gesellschaft zu sein; aber nachher, wie ich eine Weile mit Dir gewesen war und hatte so manches von Dir gehört, da sah ich jed Gesicht an wie ein Rätsel und hätt auch manches gern erraten, oder ich hab's erraten; denn ich bin gar scharfsinnig. Der Mensch drückt wirklich sein Sein aus, wenn man's nur recht zusammennimmt und nicht zerstreut ist und nichts von der eignen Einbildung dazutut, aber man ist immer blind, wenn man dem andern gefallen will und will was vor ihm scheinen, das hab ich an mir gemerkt. Wenn man jemand lieb hat, da sollt man sich lieber recht fassen, um ihn zu verstehen und ganz sich selbst vergessen und ihn nur ansehen, ich glaub, man kann den ganz verborgnen Menschen aus seinem äußern Wesen heraus erkennen. Das hab ich so plötzlich erkannt, wie ich Menschen sah, die ich nicht verstand, was sie mir sollten, und nun sind mir die meisten, daß ich sie nicht lang überlegen mag, weil ich nichts merk, was mir gefällt oder mit mir stimmt, aber mit Dir hab ich wie eine Musik empfunden, so daheim war ich gleich; ich war wie ein Kind, das noch ungeboren aus seinem Heimatland entfremdet, in einem fremden Land geboren war und nun auf einmal von weit her übers Meer wieder herübergetragen von einem fremden Vogel, wo alles neu ist, aber viel näher verwandt und heimlicher, und so ist mir's immer seitdem gewesen, wenn ich in Dein Stübchen eintrat: und so war's auch auf den alten Burgtrünimern gestern; so lachend wie die Wiesen waren und die lustigen Mädchen, die sangen, und der Abeiidschein und die Schiffe und die Schmetterlinge, alles war mir nichts, ich sehnt mich nach Dir, nur nach Deinem Stübchen, ich sehnt mich nach dem Winter, daß doch drauß Schnee sein möcht und recht früh dunkel und drin brennt Feuer; der Sonnenschein und's Blühen und jauchzen zerreißt mir's Herz. - Ich war recht froh, wie- die Tonie mit dem Wagen vorfuhr, wie ich unten hinkam, waren dem Bettelmann seine zwei hübschen Kinder bloß lin Hemdchen und kugelten mit Lachen übereinander und hatten sich so umfaßt; ich sagt, wie heißt ihr denn? - Röschen und Bienchen. - Das Röschen ist blond mit roten Wängelchen, und das Bienchen ist braun mit schwarzen stechenden Augen. Das Bienchen und Röschen hatten sich so recht ineinander gewühlt. - Um Mitternacht heimgekehrt - höchst angenehmer Schlaf beim Rauschen von Springbrunnen.
Am Montag
Ich hab Deinen letzten Brief noch oft gelesen, er kommt mir ganz besonders vor, wenn ich ihn mit andern vergleiche, die ich auch hier in derselben Zeit erhalten hab, so muß ich denken, daß es Schicksale gibt im Geist, die so entfernt sind. voneinander und so verschieden, wie im gewöhnlichen Tagesleben, der eine wird sich's nicht einbilden vom andern, was der denkt und träumt, und was er fühlt beim Träumen und Denken. - Dein ganz Sein mit andern ist träumerisch, ich weiß auch, warum; wach könntest Du nicht unter ihnen sein und dabei so nachgebend, nein, sie hätten 1Dich gewiß verschüchtert, wenn Du ganz wach wärst, dann würden Dich die gräf31ichen Gesichter, die sie schneiden, in die Flucht jagen. - Ich hab einmal im Traum das selbst gesehen, ich war erst zwei Jahr alt, aber der Traum fällt mir noch oft plötzlich ein, daß ich denke, die Menschen sind lauter schreckliche Larven, von denen ich umgeben bin, und die wollen mir die Sinne nehmen, und wie ich auch damals im Traum. die Augen zumachte, um's nicht zu sehen und vor Angst zu vergehen, so machst Du auch im Leben aus Großmut die Augen zu, magst nicht sehen, wie's bestellt ist um die Menschen, Du willst keinen Abscheu in Dir aufkommen lassen gegen sie, die nicht Deine Brüder sind; denn Absurdes ist i-ilcht Schwester und nicl-it Bruder; aber Du willst doch ihr Geschwister sein, und so stehst Du unter ihnen mit träumendem Haupt und lächelst im Schlaf, denn Du träumst Dir alles bloß als dahinschweifenden grotesken Maskentanz. - Das lese ich heute wieder in Deinem Brief, denn es ist jetzt so still hier, und da kann man denken - Du bist zu gut, für mich auch, weil Du unter allen Menschen gegen mich bist, als wärst Du mehr wach; als machtest Du die Augen auf und trautest wirklich mich anzusehen, o, ich hab auch schon oft dran gedacht, wie ich Deinen Blick nie verscheuchen wollte, daß Du nicht auch am Ende nachsichtig die Augen zumachst und mich nur anblinzelst, damit Du alles Böse und Schlechte in mir nicht gewahr werdest. Du sagst: »Wir wollen unbedeutend zusammen sein!« Weist Du, wie ich mir das ausleg? - Wie das, was Du dem Clemens letzt in einem Brief schriebst: »Immer neu und lebendig ist die Sehnsucht in mir, mein Leben in einer bleibenden Form auszusprechen, in einer Gestalt, die würdig sei, zu den Vortrefflichsten hinzuzutreten, sie zu grüßen und Gemeinschaft mit ihnen zu haben. Ja, nach dieser Gemeinschaft hat mir stets gelüstet, dies ist die Kirche, nach der mein Geist stets wallfahrtet auf Erden. « - Du sagst aber jetzt, wir wollen unbedeutend zusammen sein, - weil Du lieber unberührt sein willst, weil Du keine Gemeinschaft findest; - und Du glaubst wohl jetzt noch, daß irgendwo eine Höhe wär, wo die Luft so rein weht und ein ersehnt Gewitter auf die Seele niederregnet, wovon man freier und stärker wird? - Aber gewiß ist's nicht in der Philosophie; es ist nicht der Voigt, dem ich's nachspreche, aber er gibt mir Zeugnis für meine eigne Empfindung. Menschen, die gesund atmen, die können nicht sich so beengen, stell Dir einen Philosophen vor, der ganz allein auf einer Insel wohnte, wo's so schön wär, wie der Frühling nur sein kann, daß alles frei und lebendig blühte und die Vögel sängen dann, und alles, was die Natur geboren hätt, wär vollkommen schön, aber es wären keine Geschöpfe da, denen der Philosoph was weismachen könnt, glaubst Du, daß er da auf solche Sprünge käm, wie die sind, die ich bei Dir nicht erzwingen konnt? Hör, ich glaub, er biss' lieber in einen schönen Apfel, aber so eine hölzerne Kuriosität von Gedanken-Sparrwerk würde er wohl nicht zu eigner Erbauung aus den hohen Zedern des Libanon zurecht zimmern; so verbindet und versetzt und verändert und überlegt und vereinigt der Philosoph also nur sein Denkwerk, nicht um sich selbst zu verstehen, da würde er nicht solchen Aufwand machen, sondern um den andern von oben herab den ersten Gedanken beizubringen, wie hoch er geklettert sei, und er will auch nicht die Weisheit seinen untenstehenden Gefährten mitteilen, er will nur das Hoktispokus seiner Maschine Superlativa vortragen, das Dreieck, das alle Parallelkreise verbindet, die gleichschenkligen und verschobenen Winkel, wie die ineinander greifen und seinen Geist nun auf jener Höhe schwebend tragen, das will er, es ist aber nur der inüßige Mensch, der noch sich selber unempfundne, der davon gefangen wird; ein andrer lügt, wenn er die Natur verleugnet und diesem Sparrwerk anhängt und auch hinaufklettert, es ist Eitelkeit, und oben wird's Hoffart, und der haucht Schwefeldampf auf den Geist herab, da kriegen die Menschen in dem blauen Dunst eine Eingebildetheit, als nähmen sie den holien Beweggrund des Seins wahr; ich bin aber um dies Wissen gar nicht bang, daß es mir entgehen könnt, denn in der Natur ist nichts, aus dem der Funke der Unsterblichkeit nicht in Dich hineinfährt, sobald Du's berührst; erfüll Deine Seele mit dem, was Deine Augen schöpfen auf jener segensreicheii Insel, so wird alle Weisheit Dich elektrisch durchströmen, ja ich glaub, wenn man nur unter dem blühenden Baum der Großmut seine Stätte nimmt, der alle Tugenden in seinem Wipfel trägt, so ist die Weisheit Gottes näher als auf der höchsten Turmspitze, die man sich selbst aufgerichtet hat. Alle Früchte fallen zur Erde, daß wir sie genießen, sie haben seine Flügel, daß sie davonfliegen, und die Blüten schwenken ihren Duft herab zu uns. Der Mensch kann nicht über den Apfel hinaus, der für ihn am Baum wächst, steigt er hinauf in den Wipfel, so nimmt er ihn sich, steht er unterm Baum und wartet, so fällt der Apfel ihm zu und gibt sich ihm, aber außer am Baum wird er sich keine Früchte erziehen. - Du sprichst von Titanen, die die Berge mit großem Gepolter aufeinander türmeii und dann die stillen Gipfel der Unsterblichkeit hinabstürzen, da meinst Du doch wohl die Philosophen, wenn Du von ihnen sagst, daß ihr diebischer Eigennutz sich der Zeit vordrängt und sie mit schimmernden Phantomen blendet. Ach, aller Eigennutz ist schändliche Dieberei, wer mit dem Geist geizt, mit ihm prahlt, wer ihn aufschichtet oder ihm einen Stempel einbrennt, der ist der eigennutzigste Schelm, und was tun denn die Philosophen, als daß sie sich um ihre Einbildungen zanken, wer zuerst dies gedacht hat; - hast Du's gedacht oder gesagt, so war es doch ohne Dich wahr, oder besser: so ist's eine Schimäre, die Deine Eitelkeit geboren hat. Was geizest Du mit Münze, die nur dem elenden Erdenleben angehört, nicht den himmlichen Sphären? Ich möcht doch wissen, ob Christus besorgt war drum, daß seine Weisheit ihm Nachruhm bringe? Wenn das wär, so war er nicht göttlich. Aber doch haben die Menschen ihm nur einen Götzendienst eingerichtet, weil sie so drauf halten, ihn äußerlich zu bekennen, aber innerlich nicht; äußerlich dürfte er immer vergessen sein und nicht erkannt, wenn die Lieb im Herzen keimte. - Ich will Dir was sagen, mag der Geist auch noch so schöne erhabene Gewande zuschneiden und anlegen und damit auf dem Theater herumstolzieren, was will's anders als bloß eine Vorstellung, die wir wie ein Heldenstück deklamieren, aber nicht zu wirklichen Helden werden dadurch. Du schriebst an den Clemens: »Sagen Sie nicht, mein Wesen sei Reflexion oder gar, ich sei mißtrauisch, - das Mißtrauen ist eine Harpye, die sich gierig über das Göttermahl der Begeistrung wirft und es besudelt mit unreiner Erfahrung und gemeiner Klugheit, die ich stets jedem Würdigen gegenüber verschmäht hab.« Diese Worte hab ich oft hingestellt wie vor einen Spiegel Deiner Seele, und da hab ich immer ein Gebet empfunden, daß Gott einen so großen Instinkt in Dich gelegt hat, der einem aus den Angeln der Gemeinheit heraushebt, wo alles klappt und schließt; und wenn's sich nicht passen wollt, zurechtgerichtet wird fürs Leben, ach nein, Du bist ein Geist ohne Tür und Riegel, und wenn ich zu Dir mein Sehnen ausspreche nach etwas Großem und Wahrem, da siehst Du Dich nicht scheu um, Du sagst: »Nun, ich hoff es zu finden mit Dir.«
Die Günderode an Bettina:
Liebe Bettine! - Du drückst mir die Schreibefinger zusammen, daß ich kaum atme, noch weniger aber es wage zu denken, denn aus Furcht, ich könne willkürliche Gedanken haben, denke ich lieber gar nicht, magst Du am Ende meines Briefes fühlen, ob ich in den engen Grenzen meiner geistigen Richtungen Dich nicht verletzte, so daß Dein Vertrauen ohne Hindernis hinabströme zu mir, ja hinab, denn ich bin nichts. So lasse mich denn gesund mit Dir sprechen, da nichts mir frenid ist in Dir, denn in Deine Töne eingehen, das wäre Deinen Lauf stören. In Dein Lamento über Deine Geschichtsmisere stimme ich ein, sie macht mich mit kaputt, kauf in Gottes Namen ein paar Beinkleider als Sühnopfer und entlasse Deinen Arenswald in Gnaden. Clemens schreibt, daß ich ihm Antwort schuldig sei, ich wußte nicht, daß er in Marburg ist, wenn Du ihm schreibst, so gib ihm die Einlage, er ist mehr wie unendlich gut gegen Dich, und es ist ein eigen Schicksal, daß unser beider Bemühung, Dich zu einer innern Bildung zu leiten oder vielmehr sie Dir zu erleichtern, nicht gelingen will so schreibt er mir heute. Unter vielen Witzfaseleien, träumerischem Geseufze und Beteuerungen, daß er gar nicht mehr derselbe sei, ist es das einzige, was auf Dich Beziehung hat. Weil er Dich immer auffordert, Deine phantastischen Ahnungen zu sammeln, diese Fabelbruchstücke Deiner Vergleiche, Deiner Weltanschauung in irgendeiner Form niederzulegen, so meinte ich wie ein guter Bienenvater Deinen Gedankenschwärmen eine Blumenwiese umher zu bauen, wo Deine Gedanken nur hin und her summen dürfen, Honig zu sammeln. Ein glücklicher Schiffer muß guten Fahrwind haben; ich dachte, Deine Studien sollten wie frischer Morgenwind Dir in die Segel blasen. - Ich schrieb heute an Clemens, es werde sich nicht tun lassen, Deinen Geist wie Most zu keltern und ihn auf Krüge zu füllen, daß er klarer trinkbarer Wein werde. Wer nicht die Trauben vom Stock genießen will, wie Lyaeus der Berauscher, der Sohn zweler Mütter, der aus der Luna geborne, endlich sie reifen lasse, der Vorfechter der Götter, der Rasende; - und heilige Bäume pflanzte, heilige Wahrsaguiigen aussprach. Der Naturschmelz, der Deinen Briefen und Wesen eingehaucht ist, der, meint Clemens, solle in Gedichten oder Märchen aufgefaßt werden können von Dir - ich glaub's nicht. In Dich hinein bist Du nicht selbsttätig, sondern vielmehr ganz hingegeben bewußtlos, aus Dir heraus zerfließt alle Wirklichkeit wie Nebel, rnenschlich Tun, menschlich Fühlen, in das bist Du nicht hineingeboren, und doch bist Du immer bereit, unbekümmert alles zu beherrschen, Dich allem anzueignen. Da war der Ikarus ein vorsichtiger, überlegter, priifender Knabe gegen Dich, er versuchte doch das Durchschiffeii des Sonnenozeans mit Flügeln, aber Du brauchst nicht Deine Füße zum Schreiten, Deinen Begriff nicht zum Fassen, Dein Gedächtnis nicht zur Erfahrung und diese nicht zum Folgern. Deine gepanzerte Phantasie, die im Sturm alle Wirklichkeit zerstiebt, bleibt bei einer Schwarzwurzel in Verzückung stocken. Der Strahlenbündel im Blumenkelch, der Dir am Sonntag im Feldweg in die Quere kam, wie Du den rückwärts gehenden Philosophen Ebel Deine Philosophie eintrichtern wolltest, ist eine blühende Scorza nera, so sagt Lehr, der weise Meister. - Ich werd eingeschüchtert von Deinen Behauptungen, ins Feuer gehalten von Deiner Überschwenglichkeit. Hier am Schreibtisch verlier ich die Geduld über das Farblose meiner poetischen Versuche, wenn ich Deines Hölderlin gedenke. Du kannst nicht dichten, weil Du das bist, was die Dichter poetisch nennen, der Stoff bildet sich nicht selber, er wird gebildet, Du deuchst mir der Lehm zu sein, den ein Gott bildend mit Füßen tritt, und was ich in Dir gewahr werde, ist das gärende Feuer, was seine übersinnliche Berührung stark in Dich einknetet. Lassen wir Dich also jenem über, der Dich bereitet, wird Dich auch bilden. Ich muß mich selber bilden und machen so gut ich's kann. Das kleine Gedicht, was ich hier für Clemens sende, hab ich mit innerlichem Schauen gemacht, es gibt eine Wahrheit der Dichtung, an die hab ich bisher geglaubt. Diese irdische Welt, die uns verdrießlich ist, von uns zu stoßen wie den alten Sauerteig, in ein neues Leben aufzustreben in dem die Seele ihre höheren Eigei nicht mehr verleugnen darf, dazu hielt ich die Poesie geeignet; denn liebliche Begebenheiten, reinere Anschauungen vom Alltagsleben scheiden, das ist nicht ihr letztes Ziel; wir bedürfen der Form, unsere sinnliche Natur einem gewaltigen Organismus zuzubilden, eine Harmonie zu begründen, in der der Geist ungehindert einst ein höheres Tatenleben führt, wozu er jetzt nur gleichsam gelockt wird durch Poesie, denn schöne und große Taten sind auch Poesie, und Offenbarung ist auch Poesie, ich fühle und bekenne alles mit Dir, was Du dem Ebel auf der Spazierfahrt entgegnetest, und ich begreife es in Dir als Dein notwendigstes Element, weil ich Deine Strömungen kenne und oft von ihnen mitgerissen bin worden, und noch täglich empfinde ich Deinen gewaltigen Wellenschlag. Du bist die wilde Brandung, und ich bin kein guter Steuermann, glücklich durchzuschiffen, ich will Dich gern schirmen gegen die Forderungen und ewigen Versuche des Clemens, aber wenn auch in der Mitte meines Herzens das feste Vertrauen zu Dir und Deinen guten Sternen innewohnt, so zittert und erbebt doch alles rings umher furchtsam in mir vor Menschensatzung und Ordnung bestehender Dinge, und noch mehr erbebe ich vor Deiner eignen Natur. Ja, schelte mich nur, aber Dir mein Bekenntnis unverhohlen zu machen: mein einziger Gedanke ist, wo wird das hinführen? - Du lachst mich aus, und kannst es auch, weil eine elektrische Kraft Dich so durchdringt, daß Du im Feuer ohne Rauch keine Ahnung vom Ersticken hast. Aber ich habe nichts, was mich von jenem lebenerdrückenden Vorläufer des Feuers rette, ich fühle mich ohnmächtig in meinem Willen, so wie Du ihn anregst, obschon ich empfinde, daß Deine Natur so und nicht anders sein dürfte, denn sonst wär sie gar nicht, denn Du bist nur bloß das, was außer den Grenzen, dem Gewöhnlichen unsichtbar, unerreichbar ist; sonst bist Du unwahr, nicht Du selber, und kannst nur mit Ironie durchs Leben gehen. Manchmal deucht mir zu träumen, wenn ich Dich unter den andern sehe, alle halten Dich für ein Kind, das seiner selbst nicht mächtig, keiner glaubt, keiner ahnt, was in Dir, und Du tust nichts als auf Tisch und Stühle springen, Dich verstecken, in kleine Eckchen zusammenkauern, auf Euren langen Hausgängen im Mondschein herumspazieren, über die alten Böden im Dunkeln klettern, dann kommst Du wieder herein, träumerisch in Dich versunken, und doch hörst Du gleich alles, will einer was, so bist Du die Treppe schon hinab, es zu holen, ruft man Deinen Namen, so bist Du da und wärst Du in dem entferntesten Winkel; sie nennen Dich den Hauskobold, das alles erzählte mir Marie gestern, ich war zu ihr gegangen, um sie zu fragen, ob es tunlich sein möchte, daß ich mit Dir nach Homburg reise, sie ist gut, sie hätte es Dir gern gegönnt und ich wär Dir zu Gefallen gerne mit Dir hingereist; St. Clair hatte uns begleiten wollen, und ich sagte auch der Marie nichts als, ich möchte wohl nach Homburg reisen und Dich mitnehmen, dort den kranken Hölderlin zu sehen, das war aber leider grad' das Verkehrte, sie meinte im Gegenteil, dahin solle ich Dich nicht mitnehmen, sie glaube, man müsse Dich hüten vor jeder Überspannung - ich mußte doch lachen über diese wohlgemeinte Bemerkung, nun kam Tonie, der es Marie mitteilte, sie meinten, Du seist so blaß gewesen im Frühjahr und auch letzt habest Du noch krankhaft ausgesehen, nein, sagt Tonie, nicht krank, sondern geisterhaft, und wenn ich nicht wüßte, daß sie das natürlichste Mädchen wär, die immer noch ist wie ein unentwickeltes Kind, was noch gar nichts vom Leben weiß, so müßte man fürchten, sie habe eine geheime Leidenschaft, aber hier in der Stadt befindet sie sich nur wohl in der Kinderstube, sie schleicht immer weg aus der Gesellschaft und vom Tisch und geht an die Wiege, nimmt die kleine Max heraus, hält sie wohl eine Stunde auf dem Schoß und freut sich an jedem Gesicht, das sie schneidet. Das Kind hatte die Röten, niemand kam zu mir. Sie allein saß stundenlang beim Kinde, es hat ihr nicht geschadet; sie kann alles aushalten, noch nie hab ich sie klagen hören über Kopfweh oder sonst etwas, wie lange hat sie bei der Claudine gewacht, kein Mensch könnte das, ich glaub, sie ist vierzehn Tage nicht ins Bett gekommen, sie ist wie zu Haus in jeder Krankenstube und amüsiert sich köstlich, wo andre sich langweilen. Aber ihr ganzer Geist besteht in ihrem Sein, denn ein gescheites Wort hab ich noch nie von ihr gehört, ihr Liebstes ist, den Franz zu erschrecken, alle Augenblick sucht sie sich einen andern Ort, wo sie ihn überraschen kann, letzt hat sie sich sogar auf den einen Bettpfosten gehockt, ich dachte sie könne keine Minute da aushalten, nun dauerte es eine Viertelstunde, bis Franz kam, als der im Bett lag, schwang sie sich herunter, ich dachte sie bricht den Hals, wir konnten sie die ganze Nacht nicht aus dem Zimmer bringen. - Über dieser Erzählung war Lotte gekommen, die behauptete ernsthaft, Du hättest Anlage zum Veitstanz. Deine Blässe deute darauf, Du klettertest auch beim Spazierengehen immer an so gefährliche Orte, und letzt wärt Ihr im Mondschein noch um die Tore gegangen mit den Domherrn von Hohenfeld und da seist Du oben auf dem Glacis gelaufen bald hin, bald her Dich wendend, ohne nur ein einzigmal zu fallen, und der Hohenfeld auch, habe gesagt, das ging nicht mit natürlichen Dingen zu. Kaum hatte Lotte ihre Geschichte, wo immer der Refrain war, Mangel an historischem Sinn und keine Logik, geendet, so trat Ebel ein, er wurde auch konsultiert wegen der Fahrt nach Homburg (ach hätt ich doch nicht in dies Wespennest geschlagen), der fing erst recht an zu perorieren, der wußte alles: » um Gottes willen nicht«, Lotte saß im Sessel und sekundierte; nein um Gottes willen nicht, man muß logisch sein. Ebel sagte: Wahnsinn steckt an, )a sagt L.: besonders, wenn man so viel Anlage hat. Nun Lotte, Du machst's zu arg, sie kann wohl dumm sein, und das ist noch die Frage, denn sie ist eigentlich weder dumm noch gescheit, oder vielmehr ist sie beides, dumm und gescheit. - Ebel aber sagte: ich muß hier als Naturphilosoph sprechen, sie ist ein ganz apartes Wesen, das von der Natur zu viel elektrischen Stoff mitbekommen, sie ist wie ein Blitzableiter, wer ihr nahe ist beim Gewitter, der kann's empfinden, er war nämlich letzt auf der Spazierfahrt mitten im Gewitter unter Donner und Blitz im stärksten Platzregen trotz Schuh und Strümpfen bloß wegen Dir aus dem Wagen und im kurzärmellgen Rock querfeldein nach Hause gesprungen. Die Tonie sagte ihm dies, und er gestand es ein, es sei Furcht gewesen, das Gewitter könne durch Deine elektrische Natur angezogen werden, er glaubt steif und fest, der Schlag sei so dicht vor den Pferden niedergefahren, weil f)u in Deiner Begelstrung zu viel Elektrizität ausströmtest. - Der arme Freund, seine Rockärmel sind vom Regen noch mehr verkürzt. Lotte behauptete, es sei unlogisch von Ebel zu sagen, Begeisterung, denn dazu müsse ein logischer Grund sein und der sei in Deiner Seele nicht zu finden. - Dabei kam St. Clair auch zur Teestunde, ich hatte ihn hinbestellt, um zu hören wie der Versuch ausfallen werde, wär's gelungen, so hätten wir Dich heute überrascht und Dich gleich mit dem Wagen abgeholt, aber Franz kam herauf und George, denen wurde es vorgetragen. Lotte behauptete fort und fort, es würde das Unlogischste der Welt sein, Dich hingehen zu lassen, denn trotz Deiner Unweisheit, Faselei und gänzlichem Mangel usw. seist Du doch sehr exzentrisch, und es wurde einmütig beschlossen, Du sollest nicht mit», Tonie behauptete noch, Du seist ihr von Clemens noch mehr auf die Seele gebunden, und der würde ihr ein unangenehmes Konzert machen, wenn sie ihren Beifall dazu gäbe. - Ich weiß einen, der ihnen allen gern die Hälse umgedret hätte, das war St. Clair [2] er war so ernst, er tat den Mund nicht auf, aber ich sah seine Lippen beben, kein Mensch wußte, welchen Anteil er daran nahm, er nahm, ohne ein Wort zu sagen, seinen Hut und ging, und ich sah, daß ihm die Tränen in den Augen standen, Deinem Ritter.
Bettina an die Günderode aus Offenbach im September 1803:
. . . - Alle große Handlung ist Dichtung, ist Verwandlung der Persönlichkeit in Gottheit, und welche Handlung nicht Dichtung ist, die ist nicht groß, aber groß ist alles, was mit dem Licht der Vernunft gefaßt wird - das heißt: alles, was Du in seinem wahren Sinn fassest, das rnuß groß sein, und gewiß ist es, daß jeder solcher Gedanke eine Wurzel muß haben, die in den Boden der Weisheit gepflanzt ist, und eine Blume, die blüht im göttlichen Licht. Hervorgehen aus dem Seelengrund, nach Gottes Ebenbild, hinüber, hinauf in unsern Ursprung. Gelt, ich hab recht? - Und wenn es wahr ist, daß der Mensch so sein kann, warum soll er anders sein? - Ich begreif's nicht, alle Menschen sind anders als wie es so leicht wär zu sein; - sie hängen an dem, was sie nicht achten sollten, und verachten das, an dem sie hängen sollten. Ach, ich hab eine Sehnsucht, rein zu sein von diesen Fehlern. Ins Bad steigen und mich abwaschen von allen Verkehrtheiten. Die ganze Welt kommt mir vor wie verruckt, und ich schußbartele immer so mit, und doch ist in mir eine Stimme, die mich besser belehrt. Lasse uns doch eine Religion stiften, ich und Du, und lasse uns einstweilen Priester und Laie darin sein, ganz im stillen, und streng danach leben und ihre Gesetze entwickeln, wie sich ein junger Königssohn entwickelt, der einst der größte Herrscher sollt werden der ganzen Welt. So muß es sein, daß er ein Held sei und durch seinen Willen alle Gebrechen abweise und die ganze Welt umfasse, und daß sie müsse sich bessern. Ich glaub auch, daß Gott nur hat Königsstämme werden lassen, damit sie dem Auge den Menschen so erhaben hinstellen, um ihn nach allen Seiten zu erkennen. Der König hat Macht über alles, also erkennt der Mensch, der seinem öffentlichen Tun zusieht, wie schlecht er es anfängt, oder auch wenn er's gut macht, wie groß er selber sein könne. Dann steht grade der König so, daß ihm allein gelinge, was kein andrer verii-lag, ein genialer Herrscher reißt mit Gewalt sein Volk auf die Stufe, wohin es nie ohne ihn kommen würde. Also müssei-i wir unsere Religion ganz für den jungen Herrscher bilden. - 0 wart nur, das hat mich ganz orientiert, jetzt will ich schon fertig werden. Ach ich bitt Dich, nehm ein bißchen Herzensantell dran, das macht mich frisch, so aus reinem Nichts alles zu erdenkeii wie Gott, dann bin ich auch Dichter. Ich denke mir's so schön, alles mit Dir zu überlegen, wir gehen dani-i zusammen hier in der Großmama ihrem Garten auf und ab, in den herrlichen Sommertagen, oder im Boskett, wo's so dunkle Laubgänge gibt, wenn wir simulieren, so gehen wir dorthin und entfalten alles im Gespräch, dann schreib ich's abends alles auf und schick Dir's mit dem jud in die Stadt, und Du bringst es nachher in eine dichterische Form, damit, wenn , s die Menschen einst finden, sie um so mehr Ehrfurcht und Glauben dran haben, es ist ein schöner Scherz, aber nehm's nur nicht für Scherz, es ist mein Ernst, denn warum sollten wir nicht zusammen denken über das Wohl und Bedürfnis der Menschheit? Warum haben wir denn so manches zusammen schon bedacht, was andere nicht überlegen, als weil's der Menschheit fruchten soll, denn alles, was als Keim hervortreibt, aus der Erde wie aus dem Geist, von dem steht zu erwarten, daß es endlich Frucht bringe, ich wüßte also daher nicht, warum wir nicht mit ziemlicher Gewißheit auf eine gute Ernte rechnen könnten, die der Menschheit gedeihen soll. Die Menschheit, die arme Menschheit, sie ist wie ein Irrlicht in einem Netz gefangen, sie ist ganz matt und schlammig. - Ach Gott, ich schlaf gar nicht mehr, gute Nacht, alleweil fällt mir ein, unsre Religion muß die Schwebereligion heißen, das sag ich Dir morgen. Aber ein Gesetz in unserer Religion muß ich Dir hier gleich zur Beurteilung vorschlagen, und zwar ein erstes Grundgesetz. Nämlich: Der Mensch soll immer die größte Handlung tun und nie eine andre, und da will ich Dir gleich zuvorkommen und sagen, daß jede Handlung eine größte sein kann und soll. - Ach hör! - Ich seh's schon im Geist, wenn wir erst ins Ratschlagen kommen, was wird das für Staubwolken geben. - Wer nit bet, kan nit denken, das laß ich auf eine erdne Schüssel malen, und da essen unsre Jünger Suppe draus. - Oder wir könnten auch auf die andre Schüssel malen: Wer nit denkt, lernt nit beten. Der Jud kommt, ich muß ihm eilig unsere Weltumwälzung in den Sack schieben, auch wir werden einst sagen können, was doch Gott für wunderbare Werkzeuge zum Mittel seiner Zwecke macht, wie die alt Nonn in Fritzlar. Siehst Du den St. Clair? - Grüß ihn.
Bettina an die Günderode, Offenbach 1802:
... ich hab nie die Stimme in meiner Brust können vor Dir laut werden lassen; da dacht ich, wenn ich fern von Dir wär, da würd ich in Briefen wohl eher zu mir selber kommen, weil das vielfältige, ja das tausendfältige Getümmel in mir mich verstummen macht, daß ich nicht zu Wort komme vor mir selber. - Und ich erinnerte mich, daß, wie wir einmal von den Monologen des Schleiermacher sprachen, die mir nicht gefielen, so warst Du andrer Meinung und sagtest zu mir: »Und wenn er auch nur das einzige Wort gesagt hätte: der Mensch solle alles Innerliche ans Tageslicht fördern, was ihm im Geist innewohne, damit er sich selber kennenlerne, so wär Schleiermacher ewig göttlich und der erste größte Geist.« - Da dacht ich, wenn ich von Dir fern wär, da würd ich in Briefen wohl Dir die ganze Tiefe meiner Natur offenbaren können - Dir und mir; und ganz in ihrer ungestorten Wahrheit, wie ich sie vielleicht noch nicht kenne, und wenn ich will, daß Du mich liebst, wie soll ich das anders anfangen als mit meinem innersten Selbst, - sonst hab ich gar nichts anders, - und von Stund an ging ich mir nach wie einem Geist, den ich Dir ins Netz locken wollt. Am Abend hatte mir der Franz noch ein paar freundliche, aber doch mahnende Worte darüber gesagt, daß ich mit dem Moritz auf der Straße gestanden hatte und geplaudert; - die Lotte hatte es der Schwägerin gesagt; - ich antwortete ihm nicht darauf, denn verteidigen schien mir nicht passend, wie denn das meiner Seele ohnedem nicht einverleibt ist, daß ich solche Irrtümer aufklären möchte, und am Ende schien mir der Moritz doch wert, daß man freundlich mit ihm Hand in Hand stehe, obschon er mir bei jener Vermahnung sehr schwarz gemacht wurde, er begegnete mir am andern Morgen auf dem Vorplatz, und ich sah mich um, ob niemand mich erspähen könne, und zog ihn in die Ecke, wo die Wendeltreppe hinaufführt zu meinem Zimmer, da küßte ich ihn auf seinen Mund, zwei-dreimal, und daß er meine Tränen auf seinem Gesicht fühlte, denn er wischte sie mit der Hand ab, und sagte, »Was ist das? - was fehlt dir, Kind, was ist dir?« Ich riß mich los und sprang hinauf auf die Altan hinter die Bohnen - und war sehr schnell oben, daß er's nicht sah, er glaubte mich in meinem Zimmer und kam herauf und klopfte an, und weil er keine Antwort bekam, so machte er leise auf und weilte einen Augenblick im Zimmer, als er herauskam, sah er nach der Altan, mir war recht bang, er würde mein weiß Kleid erblicken, denn das schimmerte durch das dünne Bohnenlaub. Ich weiß nicht, ob er mich sah und mein Verbergen achtete, aber ich glaub's, und das gefiel mir so wohl von ihm; als ich ins Zimmer kam, fand ich auf meinem Tisch im Kabinett am Bett ein Fläschchen in zierlichem Brasilienholz mit Rosenöl; - am Abend auf dem Ball bei seiner Mutter sprach er nichts zu mir - wie-sonst - aber er kam in meine Nähe, und weil das Fläschchen so süß duftete hinter dem Strauß von Aschenkraut und Rosen, da lächelte er mich an, und ich lächelte mit, aber ich fühlte, daß gleich mir die Tränen kommen wollten, ich mußte mich abwenden, er merkte es und ging zurück und stellte sich unter die andern, er mußte auch tanzen mit den Prinzessinnen und hatte viel Geschäfte und mußte eine Weile mit dem König von Preußen sprechen, aber ich sah doch, daß er mich im Aug behielt den ganzen Abend, und selbst während er mit dem König sprach, sah er herüber, sehr ernsthaft immer, ich war heimlich vergnügt, aber doch hätt ich jeden Augenblick weinen mögen, als wir weggingen, flüsterte er mir ins Ohr: »Du gleichst der Sophie.« Was war das alles, was mir durch die Seele ging? - ich weiß es nicht. Am andern Tag, wo ich nicht wie gewöhnlich zu Dir kam, da hatte Moritz am Morgen seinen Gärtner geschickt mit einem Wagen voll schöner seltner Blumen, die stellte er ohne mein Wissen hinter der Bohnenwand auf - und als ich sie sah, war ich erst gar erschrocken und verstand nicht, wie die Blumen daher gekommen waren, aber bald verstand ich, er müßte mich doch wohl gesehen haben hinter der Bohnenwand am vorigen Tag. - Ach, ich war während dieser Stunden so wunderlich bewegt gewesen: von Dir, von Kränkungen, von Mitleid, daß er verleumdet war; von seinem feinen Wesen zu mir, und dann, daß er mir gesagt hatte so leise: »Du gleichst der Sophie«, die ihm doch gestorben war, - daß ich nicht mehr wußte, was ich wollte. Am Nachmittag kam Christian Schlosser, vom Neville geschickt, der der Frau beigestanden hatte bei der Geburt von einem kleinen Mädchen, denn das war gleich in der Stunde auf die Welt gekommen, der ließ mich fragen, ob ich nicht wolle zur armen Frau kornmen, die sei sehr krank und auch das Kindchen, und ich solle es aus der Tauf heben, der Christian Schlosser wolle mit Taufzeuge sein, ich ging mit, da war der Pfarrer, der taufte das Kind, und die Frau war sehr krank, wie der Pfarrer weg war, so nahm die Wartfrau das Kindchen auf den Arm und sagte: »Es wird gleich sterben,« da war mir so bang, ich hatte niemals jemand sterben sehen, und die kranke Frau im Bett weinte so sehr ums Kind, die Hebamme sagte, eben stirbt's; und schüttelte es, da war's plötzlich tot. - Ach, wie ich nach Hause kam, war ich so traurig - der Franz sagte: »Du siehst seit einiger Zeit so blaß aus, deine Gesundheit scheint mir gar nicht fest,« und als am Abend wieder das Gespräch auf den Moritz kam, wobei er gar nicht geschont wurde, da schrieb ich an die Großmama, sie solle mich vom Franz zu sich begehren nach Offenbach. Das war allen recht und mir auch, so war ich ihrer Meinung nach dem Moritz aus dem Weg geschafft, und ich meiner Meinung nach brauchte doch nichts Böses von ihm zu hören, denn ich will nichts Böses von ihm hören, nein, nimmermehr will ich was Böses von ihm hören. Aber hier in Offenbach war ich gleich wieder ruhig, und da ward mir mein Gelübde gleich wieder klar, das ich an jenem Abend vor Deiner Tür noch aussprach, als Du so kalt warst und so traurig, - daß ich eine Gabe Dir wollt geben von meiner Seele, daß ich mein Innerstes wollt Dir zu Lieb zu Tage fördern, weil Du das so hochschätzest wie jener Schleiermacher. Und da hab ich in meinem Innersten Wege geschritten und bin dahin geraten, wo Du jetzt stockst und willst nicht weiter und fürchtest Dich, mich anzuhören; denn ich hab's wohl gemerkt an Deinem Brief, Du fürchtest Dich vor meinen Abwegen. 0 fürcht Dich nicht, ich gab Dir treulich wie's Echo, was widerhallte aus mir. Ach! - Ich bin jetzt glücklich, sei Du's auch! - Schöne Träume hab ich, ui-id das ist ein Zeichen, daß die Götter mit mir zufrieden sind. - Im Herzen ist mir's, wenn ich erwache am Morgen, als ob ich von Dichterlippen geküßt sei, ja merk Dir's, von Dichterlippen. Nein, ich fürchte mich nicht mehr vor der Zukunft! - Ich weiß, durch was ich sie mir zum Freund mache, ja ich weiß es. Ich will auch wie die Großmama einen Ewigkeitspreis mit meinem Leben schließen, nicht wie Du gesagt hast, jung sterben. Viel wissen, viel lernen, sagtest Du, und dann jung sterben, warum sagst Du das? - Mit jedem Schritt im Leben begegnet Dir einer, der was zu fordern hat an Dich, wie willst Du sie alle befriedigen? - ja sage, willst Du einen ungespeist von Dir lassen, der von Deinen Brosamen fordert? - Nein, das willst Du nicht! Drum lebe mit mir, ich hab jeden Tag an Dich zu fordern. Ach! - wo sollt ich hin, wenn Du nicht mehr wärst? - ja dann, gewiß vom Glück wollt ich die Spur nimmer suchen. Hingehen wollt ich mich lassen, ohne zu fragen nach mir, denn nur um Deinetwillen frag ich nach mir, und ich will alles tun, was Du willst. - Nur um Deinetwillen leb ich - hörst Du's? - Mir ist so bang Du bist groß, ich weiß es - nicht Du bist's - nein so laut will ich Dich nicht anreden nein, Du bist's nicht, Du bist ein sanftes Kind, und well's den Schmerz nicht tragen kann, so verleugnet es ihn ganz und gar - das weiß ich, so hast Du Dir gar manchen Verlust verschleiert. Aber in Deiner Nähe, in Deiner Geistesatmosphäre deucht mir die Welt groß; Du nicht - fürchte Dich nicht, - aber weil alles Leben so rein ist in Dir, jede Spur so einfach von Dir aufgenommen, da muß der Geist wohl Platz gewinnen, sich auszudehnen und groß zu werden. - Verzeih Mir's heut, ein Spiegel ist vor meinen Augen, als hätte einer den Schleier vor ihm weggezogen, und so traurig ist mir's, lauter Gewölk seh ich im Spiegel, und klagende Winde - als müßt ich ewig weinen, weil ich an Dich denk - ich war draus heut abend am Main, da rauschte das Schilf so wunderlich - und weil ich in der Einsamkeit immer mit Dir allein bin, da fragte ich Dich in meinem Geist. »Was ist das? Redet das Schilf mit Dir?« hab ich gefragt. Denn ich will Dir's gestehen, denn ich möchte nicht so angeredet sein, so klagvoll, so jammervoll, ich wollt's von mir wegschieben! - Ach Giinderode, so traurig bin ich, war das nicht feige von mir, daß ich die Klagen der Natur abwenden wollt von mir, und schob's auf Dich - als hätte sie mit Dir geredet wie sie so wehmutsvoll aufschrie im Schilf. - Ich will ja doch gern alles mit Dir teilen, es ist mir Genuß, großer Genuß, Deine Schmerzen auf micli zu nehmen, ich bin stark, ich bin hart, ich spür's nicht so leicht, mir sind Tränen zu ertragen, und dann sprießt die Hoffnung so leicht in mir auf, als könnt wieder alles werden und besser noch, als was die Seele verlangt. - Verlaß Dich auf mich! Wenn's Dich ergreift - als woll es Dich in den Abgrund stoßen, ich werde Dich begleiten überall hin kein Weg ist mir zu düster - wenn Dein Aug das Licht scheut, wenn es so traurig ist. - Ich bin gern im Dunkel, liebe Giinderode ich bin da nicht allein, ich bin voll von Neuem, was in der Seele Tag schaffet - grade im Dunkel, da steigt mir der lichte hellglänzende Friede auf. - 0 verzweifle an mir nicht, denn ich war in meinen Briefen auf einsamen Wegen gegangen, ja, zu sehr als such ich nur mich selbst, das wollt ich doch nicht, ich wollte Dich suchen, ich wollt vertraut mit Dir werden, nur um mit Dir die Lebensquellen zu trinken, die da rieseln in unserem Weg. - Ich fühl's wohl an Deinem Brief, Du willst Dich mir entziehen - das kann ich nicht zugeben, die Feder kann ich nicht niederlegen - ich denk, Du müssest aus der Wand springen ganz geharnischt wie die Minerva und müßtest mir schwören, meiner Freundschaft schwören, die nichts ist als nur in Dir - Du wollest fortan im blauen Äther schwimmen, große Schritte tun, wie sie, behelmt im Sonnenlicht wie sie, und nicht mehr im Schatten traurig wellen. Adieu, ich geh zu Bett, ich geh von Dir, obschon ich könnt die ganze Nacht warten auf Dich, daß Du Dich mir zeigst, schön wie Du bist und im Frieden und Freiheit atmend, wie's Deinem Geist geziemt, der das Beste, das Schönste vermag. Eine Ruhestätte Dir auf Erden, das sei Dir meine Brust. - Gute Nacht! - Sei mir gut - ein weniges nur.
Montag
- Jetzt hab ich schon drei Tage an diesem Brief geschrieben, und heute will ich ihn abschicken, ach, ich mag ihn nicht überlesen, geschrieben ist er, wahrheitsvoll ist er auch, wenn Du die augenblickliche Stimmung der Wahrheit würdigest, wie ich sie deren würdige und nur sie allein, obschon die Philister sagen, sie sei die Wahrheit nicht, nur was nach reiflicheni Oberlegen und wohlgeprüft vom Menschengeist sie angenommen, das sei Wahrheit. Ach diese Stimmungen, sie bauen das Feld, und was uns zukommt, als sei die Seele mit im Abendrot zerschmolzen, oder als löse sie sich frei vom Gewölk und tue sich auf im weiten Äther - das bringt uns auch wie das fruchtbare Wetter Gedeihen. Ist mir's doch, da ich meinen Brief schließen will, als ob das schönste Leben uns bevorstehe, wenn Du nur willst und willst so viel mich würdigen, daß Du ruhig Deine Hand in der meinen liegen lässest, wenn ich sie fasse . . .
Bettina an die Günderode aus Marburg am 25. Dezember 1805:
- ... Ein Brief, den ich kürzlich von Goethe gelesen habe, den er anno Achtzehnhundert an Jacobi schrieb, wird Dich auch freuen: »Seit wir uns nicht unmittelbar berührt haben«, sagt er ihm, »habe ich manche Vorteile geistiger Bildung genossen, sonst machte mich mein entschiedner Haß gegen Schwärmerei, Heuchelei und Anmaßung, oft auch gegen das wahre ideale Gute im Menschen, das sich in der Erfahrung nicht wohl zeigen kann, oft ungerecht. Auch hierüber, wie über manches andere belehrt uns die Zeit, und man lernt: daß wahre Schätzung nicht ohne Schonung sein kann; seit der Zeit ist mir jedes ideale Streben, wo ich es antreffe, wert und lieb.« - So sehr ich sonst eine Sehnsucht hatte, allein und heimlich ihn aufzusuchen, jetzt ist's nicht mehr so; - ich möchte gar nicht zu ihm, wenn ich nicht Dich an der Hand führte - nur als zeigte ich Dir den Weg, - und nur, daf3 ich mir den Dank von ihm und Dir verdienen will, denn was er im Brief sagt, berechtigt Euch, gegenseitig aufeinander Anspruch zu machen, denn wie freudig würd er erstaunen über das Ideal in Deiner Brust, so wie Du Dich aussprichst in jenem Brief, wo Dir auf einmal so hell dies Ideal erschien, als sähest Du voraus in Deine Unsterblichkeit. - Und mit was könnt ich ihm entgegenkoinmen? - Ich hab keine Vorrechte, ich hab nichts, als den geheimen Wert, von Dir nicht verlassen zu sein, sondern angesehen mit Deinen Geistesaugen, die Gedanken in mich hineinzaubern, welche ich nie ge-ihnt haben würde, läse ich sie nicht in Deinem Geist. Gestern abend haben sich jung und alt beschert, mir sind die leeren Weihnachtsbäume zuteil geworden, ich hab sie mir ausgebeten, ich hab sie vor die Tür gepflanzt, man geht durch eine Allee von der Treppe über den breiten Vorplatz bis zu meiner Tür, diese grünen Tannen, so dicht an meiner Tür, beglücken mich - und die Welt ist noch so groß! Ach es steigt mir die Lust im Herzen auf, daß ich reisen möcht - mit Dir - wär das denn nicht möglich? Bin ich denn so ganz gefangen, kann ich mir hierin nicht willfahren? - Und willst Du auch nicht das Unglück meiden, jener die sterben, ohne den jupiter Olymp gesehen zu haben? - Ich fühl, daß mir alle Sehnsucht gestillt könnte werden, hoch auf dem höchsten Berg die Lande, die Weite zu überschauen, ich würde mich wahrlich erhaben und mächtig fühlen, denn wessen das Aug sich bemeistert, dessen fühlt der Großherzige sich Herr. Ach, Günderode, ich weiß nicht, ob Du's auch schon gefühlt hast, aber mir ist jetzt vor allem der Sinn des Aug's gereizt, sehen möcht ich, nur sehen. - Wie groß und herrlich die Kraft, mit deri-i Aug alles zu beherrschen, alles in sich zu haben, zu erzeugen, was herrlich ist, - wie würden da die Geister uns umflügeln auf einsamer Stelle? Und dann kennen wir uns, wir würden ineinander so einheimisch sein, es bedürfte keiner Mitteilung, die Gedanken flögen aus und ein, in' einen wie in' andern, was Du siehst, das ist in Dir, denn ich auch, ich hab mich nicht vor Dir verschlossen; - ja, Du bist tiefer in meiner Brust und weißt mehr von meinem Seelenschicksal, als ich selber, denn ich brauch nur in Deinem Geist zu lesen, so find ich mich selbst. Und wie glücklich hab ich mich doch hingehen lassen in Deinem Kreis? - Als schütze Dein Geist mich, so hab ich alles Unmögliche gewagt zu denken und zu behaupten, und nichts war mir zu tollkühn, überall fühlt ich den Faden in Deinem klugen Verstehen, der mich durchs Labyrinth führte. Ach, ich möchte alles haben, Macht und Reichtum an herrlichen Ideen und Wissenschaft und Kunst, um alles Dir wiederzugeben; und meinem Stolz, von Dir geliebt zu sein, meiner Liebe zu Dir genug zu tun. Denn diese Freundschaft, dies Sein mit Dir, konnte nur einmal gedeihen. Ich zum wenigsten fühle, daß keiner mit mir wettelfern könnte in der Liebe, und darum siegt auch meine Großmut, - ich mag niemand eine Schuld aufbürden, um die er ewig büßen müßte.
Zwei Briefe über den » Wahnsinn« Hölderlins:
Bettina an die Günderode aus Offenbach 1802 (oder 1804)
- Dieser Brief wird zusammen mit einem späteren am Schluß des Briefwechsels abgedruckt; beide Briefe beschäftigen sich mit der Poesie und dem kranken Hölderlin und nehmen Gedankengänge der Antipsychiatrie vorweg. Die 17- oder 19-jährige Bettina gehörte zu den Wenigen, die zu dieser Zeit die Größe Hölderlins erkannten.
Heut morgen hab ich Deinen Brief beim Frühstück der Großmama vorgelesen, sie ist schon so alt, sie nimmt's all mit ins Grab, sie hat Dich so lieb, sie sagt, Du wärst die edelste Kreatur, die sie je gesehen, und dann sprach sie von Deiner Anmut; sie spricht immer schwäbisch, wenn sie recht heiter ist. »Siehst, Mädele, wie anmutig und doch gar bequem deine Freundin ist.« - Sie ist wirklich liebreizend, und da las ich ihr auch meinen Brief vor, sie sagt, »Du bischt halter e verkehrt's Dingele,« und dann hat sie mir den Stein mit der Daphnis doch geschenkt für Dich, ich lasse ihn fassen, Du mußt ihn tragen und mußt nicht sagen, von wem er ist. - Was ist Dein Brief voll schöner Geschichten, nur der Clemens ist doch mein Adam nicht, das prophezeist Du schlecht, daß er mich erst nach hundert Jahren auf dem Berg der Erkenntnis treffen werde. Ich hab ihn so lieb, so lang kann ich nicht Versteckelches mit ihm spielen, und doch hast Du vielleicht recht, im nächsten Brief will ich's sagen, aber dem Clemens fall ich um den Hals und küss ihn, da hat er mich, wie ich bin. Aber! - es geht ein Weg - der führt in die Alleinigkeit. - Ist der Mensch in sein eignen Leib allein geboren, so muß er auch in seinen Geist allein geboren sein. - Der St. Clair ist gut, voll Herz, er wollt ja zum kranken Hölderlin reisen - er soll doch hin! nach Homburg - ich möcht wohl auch hin. - Er sagt, es würde dem Hölderlin gesund gewesen sein, ich möcht wohl, ich darf nicht. - Der Franz sagte: »Du bist nicht recht gescheut, was willst du bei einem Wahnsinnigen? willst du auch ein Narr werden?« - Aber wenn ich wüßt, wie ich's anfing, so ging ich hin, wenn Du mitgingst, Günderode, und wir sagten s niemand, wir sagten, wir gingen nach Hanau. Der Großmama dürften wir's sagen, die litt's, ich hab heute auch mit ihr von ihm gesprochen und ihr erzählt, daß er dort an einem Bach in einer Bauernhütte wohnt, bei offnen Türen schläft, und daß er stundenlang beim Gemurmel des Bachs griechische Oden hersagt, die Prinzeß von Homburg hat ihm einen Flügel geschenkt, da hat er die Saiten entzwei geschnitten, aber nicht alle, so daß mehrere Klaves klappen, da phantasiert er drauf, ach, ich möcht wohl hin, mir kommt dieser Wahnsinn so mild und so groß vor. Ich weiß nicht, wie die Welt ist, wär das so was Unerhörtes, zu ihm zu gehen und ihn zu pflegen? Der St. Clair sagte mir: »ja, wenn Sie das könnten, er würde gesund werden, denn es ist doch gewiß, daß er der größte elegische Dichter ist, und ist's nicht traurig, daß nicht ein solcher behandelt werde und geschützt als ein heiliges Pfand Gottes von der Nation, sagte er, aber es fehlt der Geist, der Begriff, keiner ahnt ihn und weiß, was für ein Heiligtum in dem Mann steckt, ich darf ihn hier in Frankfurt gar nicht nennen, da schreit man die fürchterlichsten Dinge über ihn aus, bloß weil er eine Frau geliebt hat, um den Hyperion zu schreiben, die Leute nennen hier lieben: heiraten wollen, aber ein so großer Dichter verklärt sich in seiner Anschauung, er hebt die Welt dahin, wo sie von Rechts wegen stehen sollte, in ewiger dichterischer Fermentation; sonst werden wir nie die Geheimnisse gewahr werden, die für den Geist bereitet sind. Und glauben Sie, daß Hölderlins ganzer Wahnsinn aus einer zu feinen Organisation entstanden, wie der indische Vogel in einer Blume ausgebrütet, so ist seine Seele, und nun ist es die härteste rauhe Kalkwand, die ihn umgibt, wo man ihn mit den Uhus zusammensperrt, wie soll er da wieder gesund werden. Dieses Klavier, wo er die Saiten zerrissen, das ist ein wahrer Seelenabdruck von ihm , ich hib auch den Arzt darauf aufmerksam machen wollen, aber einem Dummen kann man noch weniger begreiflich machen als einem Wahnsinnigen.« Er sagte mir noch so viel über ihn, was mir tief durch die Seele ging, über den Hölderlin, was ich nicht wieder sag, und ich hab mehrere Nächte nicht schlafen können vor Sehnsucht hinüber nach Homburg, ja wollt ich ein Gelübde tun ins Kloster zu gehen, das könnt doch niemand wehren, gleich wollt ich das Gelübde tun, diesen Wahnsinnigen zu umgeben, zu lenken, das wär noch keine Aufopferung, ich wollt schon Gespräche mit ihm führen, die mich tiefer orientieren in dem, was melne Seele begehrt, ja gewiß weiß ich, daß die zerbrochnen umbesaiteten Tasten seiner Seele dann wieder anklingen würden. - Aber ich weiß, daß es mir nicht erlaubt würde. So ist es, das natürliche Gefühl, was jedem aus der Seele tönt, wenn er nur drauf hören wollte (denn in jeder Brust, auch in der härtesten, ist die Stimme, die ruft: hilf deinem Bruder), diese Stimme wird nicht allein unterdrückt, sondern auch noch als der größte Unsinn gestraft, in denen sie sich vernehmlich macht. Ich mag gar von Religion und von Christentum nichts mehr hören, sie sind Christen geworden, um die Lehre Christi zu verfälschen. - Brocken hinwerfen und den nackten Leib decken, das nennt man Werke der Barmherzigkeit - aber Christus in die Wüste folgen und seine Weisheit lernen, das weiß keiner anzufangen. - Bildungsflicken hängt man einem auf, mit denen man nichts anzufangen weiß, aber die Tiefe und Gewalt eines einzigen Seelengrunds zu erforschen, da hat kein Mensch Zeit dazu, glaubst Du denn nicht, daß ich statt dem Geschichtsgerümpel wohl mit der größten Sammlung, mit der tiefsten Andacht hätte jenem folgen wollen, wenn er mir gelehrt hätte, wie er andern lehren mußte, um sein Leben zu gewinnen, und wahnsinnig drüber werden mußte. Wenn ich bedenk welcher Anklang in seiner Sprache! - Die Gedichte, die mir St. Clair von ihm vorlas, - zerstreut in einzelnen Kalendern - ach, was ist doch die Sprache für ein heilig Wesen! Er war mit ihr verbündet, sie hat ihm ihren heimlichsten innigsten Reiz geschenkt, nicht wie dem Goethe durch die unangetastete Innigkeit des Gefühls, sondern durch ihren persönlichen Umgang. So wahr! Er muß die Sprache geküßt haben. - ja so geht's, wer mit den Göttern zu nah verkehrt, dem wenden sie's zum Elend. St. Clair gab mir den Ödipus, den Hölderlin aus dem Griechischen übersetzt hat, er sagte, man könne ihn so wenig verstehen oder wolle ihn so übel verstehen, daß man die Sprache für Spuren von Verrücktheit erklärt, so wenig verstehen die Deutschen, was ihre Sprache Herrliches hat. Ich hab nun auf seine Veranlassung diesen Ödipus studiert; ich sag Dir, gewiß, auf Spuren hat er mich geleitet, nicht der Sprache, die schreitet so tönend, so alles Leiden, jeden Gewaltausdruck in ihr Organ aufnehmend, sie und sie allein bewegt die Seele, daß wir mit dem Ödipus klagen müssen, tief, tief. - Ja, es geht mir durch die Seele, sie muß mittönen, wie die Sprache tönt. Aber wie mir das Schmerzliche im Leben zu kränkend auf die Seele fällt, daß ich fühl, wie meine Natur schwach ist, so fühl ich in diesem Miterleiden eines Vergangnen, Verlebten, was erst im griechischen Dichter in seinen schärfsten Regungen durch den Geist zum Lichte trat, und jetzt durch diesen schmerzlichen Übersetzer zum zweitenmal in die Muttersprache getragen, mit Schmerzen hineingetragen - dies Heiligtum des Wehtums, - über den Dornenpfad trug er es schmerzlich durchdrungen. Geweihtes Blut tränkt die Spur der verletzten Seele, und stark als Held trug er es herüber. Und das nährt mich, stärkt mich, wenn ich abends schlafen gehe, dann schlag ich's auf und lese es, lese hier dem Päan gesungen, den Klaggesang, den sing ich abends auf dem Dach vom Taubenschlag aus dem Stegreif, und da weiß ich, daß auch ich von der Muse berührt bin, und daß sie mich tröstet, selbst tröstet. 0, was frag ich nach den Menschen, ob die den Mangel an historischem Sinn und der Logik an mir rügen, ich weiß den Teufel, was Logik ist. - Und daß mir St. Clair so viel zutraut, daß ich die Fahne glücklich schwingen werde und sicher, und die Besseren und Hohen unter ihr sammeln. - Sag ihm von mir, ich werde nicht fehlen, was mir einer zutraut, alle Kräfte dran zu setzen. Den kleinen Brief vom Papa hab ich ihm selbst geschenkt, er wollte ein Andenken von mir zum Gegengeschenk für den Ödipus, da hab ich ihn wählen lassen unter meinen Papieren, da hat er den hervorgezogen. Lese hier den Klaggesang, dem Päan geweiht, ob's Dir nicht durch die Seele weint.
Weh! Weh! Weh! Weh!
Ach! Wohin auf Erden?
Jo! Dämon! Wo reisest du hin?Jo! Nachtwolke mein! Du furchtbare,
Umwogend, unbezähmt, unüberwältigt!
O mir! Wie fährt in mich
Mit diesen Stacheln
Ein Treiben der Übel!Apollon war's, Apollon, o ihr Lieben,
Der das Wehe vollbracht,
Hier meine, meine Leiden.
Ich Leidender,
Was sollt ich sehn,
Dem zu schauen nichts süß war.Was hab ich noch zu sehen und zu lieben,
Was Freundliches zu hören? - Ihr Lieben!
Führt aus dem Orte geschwind mich,
Führt, o ihr Lieben! den ganz Elenden,
Den Verfluchtesten und auch
Den Göttern verhaßt am meisten unter den Menschen.
So hab ich mir die Zeilen zusammengerückt, sie zu singen, diese Leidensprache, und sie fesselt mich an seine Ferse, der sich Frevler nennt.
Wirf aus dem Lande mich, so schnell du kannst,
Wo ich mit Menschen ins Gespräch nicht komme.
In die Ferne sehend, nach dem Taunus, still getränkt im Abendschein, der die Nebel durchlichtet, die flüchtenden, die ihn umschweifen; da denk ich mir das Grabmal selber ihm erkoren von Vater und Mutter, sein Kithäron. Da sing ich meinen Gesang hinüber, und der Wind spielt mich an, und gewiß, er bringt mein Lied hinüber zum Grab; mir ist's eins, ob der Zeiten Last sich drüber gewälzt, doch dringt die Trän hinab, das Grab zu netzen, drang doch sein Weh herauf zu mir; und heute nur stieg's auf mir im Herzen, als ich die Laute dem Gott - die jammernden, der ganzen Welt geschrien - zaghaft in Musik verwandelte. - Und dort wohnt auch er, der die noch lebenswarme Brust voll Wehe, und gesäet voll der Keime des Dichtergottes, jetzt zermalmt im Busen die Saat, - in aufseufzenden Tönen herübertrug ins Mutterland und wärmte - das Jammergeschick des Zwillingsbruders - in der Liebe, die aus der Verzweiflung Abgrund ihn mit heißer Begierde heraufrief, das müde jammervolle Haupt sanft zu lehnen, zusammen mit dem Geschick, das ausgeblutet hat. Ja, wer mit Gräbern sich vermählt, der kann leicht wahnsinnig werden den Lebenden - denn er träumt nur hier am Tag, wie wir träumen in der Nacht, aber drunten im Schlaf wacht er und geht mit jenen mitleidsvoll Hand in Hand, die längst verschollen der geschäftigen Eile des Tags sind. Dort fällt der Tau auf die Seele ihm die hier nicht Feuchtung in der Kehle mehr hatte zum Seufzen. Dort grünen die Saaten und blühen, die hier der Dummheit Pflug - die Wurzel umstürzend wie Unkraut der Luft preis gab, und die tauvolle Blüte, rein vom Staube, stürzt in der Erde Grab. - Denn irgendwie muß die Saat der Götter lebendig werden, sie können Ewiges nicht verdorren lassen. Seine Seele wächst, die hier unten schläft und verwirrte Träume hat, hinauf als himmlisches Grün, die schwebende Ferse der GZ5tterjünglinge umspielend, wie der frische Rasen hier seine tanzenden Blumen an meinem flüchtigen Lauf hinbewegt.- Ach Poesie! heilig Grabmal, das still den Staub des Geistes sammelt und ihn birgt vor Verletzung. - 0 du läßt ihn auferstehen wieder, laß mich hinabsteigen zu ihm und die Hand ihm reichen im Traum, daß er mit heiligem Finger die goldnen Saatkörner mir auf die offne Lippe streue und mich anblase mit dem Odem, der nach dem Willen der Götter aus ihrem Busen trinkt. Denn ich begehr sehnsüchtig, mit zu tragen gemeinsam Weh des Tags, und gemeinsam Tröstung zu empfangen in den Träumen der Nacht. Was willst Du? Halte mir's zugut, Günderode, daß ich so spreche, verfolg den Faden meiner Gedanken, so wirst Du sehen, es geht nicht anders. Du trägst ja auch mit mir, daß sie Dich meiner Narrheit beschuldigen. Mangel an historischem Sinn - ist es doch, das Weh, was in der Fabelwelt begraben liegt, mit dem zu mischen des heutigen Tages. Sie haben Recht, mir keine Logik zuzusprechen, da müßt ich ja den dort verlassen., der aufgegeben ist, da müßt ich mich aufgeben, was doch nichts fruchtet. - Sei nicht bang um mich, ich bin nicht alle Tage so, aber ich komm eben vom Taubenschlag, wo die Sonne mir die blauen Berge anglänzte, wo Hölderlin schläft über dem Grabe des Ödipus, und hab ihnen den Gesang gesungen, mit Tönen unzurechnungsfähig der Kunst, auffassend, was sie vermochten an scharfem Wehe, und es besänftigend mit dem Schmelz der Liebe, den ich durch die Stimme hinzugoß aus dem Herzen, daß der durch die Wolken dringe - hinab am Horizont, hinauf - wo die gewaltigen Geschicke immer auch weilen - und sich mische mit ihren bitteren, salzigen Fluten. Was wären doch die Dichter, wären sie es nicht, die das Schauervolle ins Göttliche verwandeln. - Wo der Gesang doch allein aus meinen Sinnen hervordringt, nicht aus dem Bewußtsein, da spricht's nachher so aus mir', da13 Stimmen aus mir reden, die mit keinem andern im Einklang sind, der Ton, der Rhythmus, den ich übe, ist es auch nicht; keiner würde zuhören wollen, aber jene, denen ich singe, die müssen's doch wohl hören, nicht wahr? Es ahnt mir schon, Du wirst wieder bange werden um mich wie vorm Jahr! - aber Du weißt ja, es ist nichts, ich rase nicht, wie die andern mich beschuldigen und mir die Hand auf den Mund legen, wenn ich sprechen will. Sei nicht dumm, lasse Dir nicht von den Philistern bange machen um meine Gesundheit, wo sie mir schon den Verstand absprechen; wer seinen Bruder einen Narren schilt, ist des Todes schuldig, sie sind unschuldig, ich bin ihr Bruder nicht, Du bist mein Bruder. Noch einmal, ich bin nicht krank, störe mich nicht damit, daß Du mir das geringste sagst, denn ich will Dir noch mehr sagen, wenn's möglich ist, was hättest Du an mir, wenn ich nicht lernte Dir meine Seele geben, nackt und bloß. Freundschaft! Das ist Umgang der Geister, nackt und bloß.
17ten
St. Clair war heute hier, zwischen zehn und ein Uhr, ich lag noch zu Bett, ich hatte die Großmama um Erlaubnis fragen lassen auszuschlafen, weil mich am Abend der Duft der Orangerie ganz betäubt hatte, er wartete auf mich hinter der Pappelwand. - Es gibt Weh, darüber muß man verstummen; die Seele möchte sich mit begraben, um es nicht mehr empfinden zu müssen, daß solcher Jammer sich über einem Haupte sammeln könne, und wie kc)nnte es auch? 0 ich frage! und da ist die Antwort: weil keine heilende Liebe mehr da ist, die Erlösung könnte gewähren. Oh, werden wir's endlich inne werden, daf3 alle jammergeschicke unser eignes Geschick sind? - Daß alle von der Liebe geheilt müssen werden, um uns selber zu heilen. Aber wir sind uns der eignen Krankheit nicht mehr bezwußt, nicht der erstarrten Sinne; daß das Krankheit ist, das fühlen wir nicht - und daß wir so wahnsinnig sind und mehr noch als jener, dessen Geistesflamme seinem Vaterland aufleuchten sollte - daß die erlöschen muß im trüben Regenbach zusammengelaufner Alltäglichkeit, der langweilig dahinsickert. - Hat doch die Natur allem den Geist der Heilung eingeboren, aber wir sind so verstandlos, daß selbst der harte Stein für uns ihn in sich entbinden lässet, aber wir nicht - nein, wir können nicht heilen, wir lassen den Geist der Heilung nicht in uns entbinden, und das ist unser Wahnsinn. Gewiß ist mir doch bei diesem Hölderlin, als müsse eine göttliche Gewalt wie mit Fluten ihn überströmt haben, und zwar die Sprache, in übergewaltigem raschen Sturz seine Sinne überflutend und diese darin ertränkend; und als die Strömungen verlaufen sich hatten, da waren die Sinne geschwächt und die Gewalt des Geistes überwältigt und ertötet. - Und St. Clair sagt: ja, so ist's und er sagt noch: aber ihm zuhören, sei grade, als wenn man es dem Tosen des Windes vergleiche; denn er brause immer in Hymnen dahin, die abbrechen, wie wenn der Wind sich dreht - und dann ergreife ihn wie ein tieferes Wissen, wobei einem die Idee, daß er wahnsinnig sei, ganz verschwinde, und daß sich anhöre, was er über die Verse und über die Sprache sage, wie wenn er nah dran sei, das göttliche Geheimnis der Sprache zu erleuchten, und dann verschwinde ihm wieder alles im Dunkel, und dann ermatte er in der Verwirrung und meine, es werde ihm nicht gelingen, begreiflich sich zu machen; und die Sprache bilde alles Denken; denn sie sei größer wie der Menschengeist, der sei ein Sklave nur der Sprache, und so lange sei der Geist im Menschen noch nicht der vollkommne, als die Sprache ihn nicht alleinig hervorrufe. Die Gesetze des Geistes aber seien metrisch, das fühle sich in der Sprache, sie werfe das Netz über den Geist, in dem gefangen er das Göttliche aussprechen müsse, und solange der Dichter noch den Versakzent suche und nicht vom Rhythmus fortgerissen werde, so lange habe seine Poesie noch keine Wahrheit; denn Poesie sei nicht das alberne sinnlose Reimen, an dem kein tieferer Geist gefallen haben könne, sondern das sei Poesie: daß eben der Geist nur sich rhythmisch ausdrücken könne, daß nur im Rhythmus seine Sprache liege, während das Poesielose auch geistlos, mithin unrhythmisch sei - und ob es denn der Mühe lohne, mit so sprachgeistarmen Worten Gefühle in Reime zwingen zu wollen, wo nichts mehr übrigbleibe als das mühselig gesuchte Kunststück zu reimen, das dem Geist die Kehle zuschnüre. Nur der Geist sei Poesie, der das Geheimnis eines ihm eingebornen Rhythmus in sich trage, und nur mit diesem Rhythmus könne er lebendig und sichtbar werden; denn dieser sei seine Seele, aber die Gedichte seien lauter Schemen, keine Geister mit Seelen. - Es gebe höhere Gesetze für die Poesie, jede Gefühlsregung entwickle sich nach neuen Gesetzen, die sich nicht anwenden lassen auf andre; denn alles Wahre sei prophetisch und überströme seine Zeit mit Licht, und der Poesie allein sei anheimgegeben, dies Licht zu verbreiten, drum müsse der Geist und könne nur durch sie hervorgehen. Geist gehe nur durch Begeistrung hervor. - Nur allein dem füge sich der Rhythmus, in dem der Geist lebendig werde! - wieder: - Wer erzogen werde zur Poesie in göttlichem Sinn, der müsse den Geist des Höchsten für gesetzlos anerkennen über sich und müsse das Gesetz ihm preisgeben; nicht wie ich will sondern wie du willst! - und so müsse er sich kein Gesetz bauen; denn die Poesie werde sich nimmer einzwängen lassen, sondern der Versbau werde ewig ein leeres Haus bleiben, in dem nur Poltergeister sich aufhalten. Weil aber der Mei-isch der Begeisterung nie vertraue, könne er die Poesie als Gott nicht fassen. - Gesetz sei in der Poesie Ideengestalt, der Geist müsse sich in dieser bewegen und nicht ihr in den Weg treten, Gesetz, was der Mensch dem Göttlichen anbilden wolle, ertöte die Ideengestalt, und so könne das Göttliche sich nicht durch den Menschengeist in seinen Leib bilden. Der Leib sei die Poesie, die Ideengestalt, und dieser, sei er ergriffen vom Tragischen, werde tödlich faktisch; denn das Göttliche ströme den Mord aus Worten, die Ideengestalt, die der Leib sei der Poesie, die morde - so sei aber ein Tragisches, was Leben ausströme in der Ideengestalt - (Poesie); denn alles sei tragisch. Denn das Leben im Wort (im Leib) sei Auferstehung (lebendig faktisch), die bloß aus dem Gemordeten hervorgehe. - Der Tod sei der Ursprung des Lebendigen. Die Poesie gefangennehmen wollen im Gesetz, das sei nur, damit der Geist sich schaukle, an zwei Seilen sich haltend, und gebe die Anschauung, als ob er fliege. Aber ein Adler, der seinen Flug nicht abmesse - obschon clie eifersüchtige Sonne ihn niederdrücke - mit geheim arbeitender Seele im höchsten Bewußtsein dem Bewußtsein ausweiche und so die heilige, lebende Möglichkeit des Geistes erhalte, in dem brüte der Geist sich selber aus und fliege - vom heiligen Rhythmus hingerissen oft, dann getragen, dann geschwungen sich auf und ab in heiligem Wahnsinn, dem Göttlichen hingegeben; denn innerlich sei dies eine nur: die Bewegung zur Sonne, die halte am Rhythmus sich fest. - Dann sagte er am andern Tag wieder: es seien zwei Kunstgestalten oder zu berechnende Gesetze, die eine zeige sich auf der gottgleichen Höhe im Anfang eines Kunstwerks und neige sich gegen das Ende; die andre wie ein freier Sonnenstrahl, der vom göttlichen Licht ab sich einen Ruhepunkt auf dem menschlichen Geist gewähre, neige ihr Gleichgewicht vom Ende zum Anfang. Da steige der Geist hinauf aus der Verzweiflung in den heiligefi Wahnsinn, insofern der höchste menschliche Erscheinung sei, wo die Seele alle Sprachäußerung übertreffe, und führe der dichtende Gott sie ins Licht; die sei geblendet dann und ganz getränkt vom Licht, und es erdürre ihre ursprüngliche üppige Fruchtbarkeit vom starken Sonnenlicht; aber ein so durchgebrannter Boden sei ini Auferstehen begriffen, er sei eine Vorbereitung zum Obermenschlichen. Und nur die Poesie verwandle aus einem Leben ins andre, die freie nämlich. - Und es sei Schicksal der schuldlosen Geistesnatur, sich ins Organische zu bilden, im regsarii Heroischen, wie im leidenden Verhalten. - Und jedes Kunstwerk sei ein Rhythmus nur, wo die Zäsur einen Moment des Besinnens gebe, des Widerstemmens im Geist, und dann schnell vom Göttlichen dahingerissen, sich zum End schwinge. So offenbare sich der dichtende Gott. Die Zäsur sei eben jener lebendige Schwebepunkt des Menschengeistes, auf dem der göttliche Strahl ruhe. - Die Begeistrung, welche durch Berührung mit dem Strahl entstehe, bewege ihn, bringe ihn ins Schwanken; und das sei die Poesie, die aus dem Urlicht schöpfe und hinabströme den gan7-en Rhythmus in Obermacht über den Geist der Zeit und Natur, der ihm das Sinnliche - den Gegenstand - entgegentrage, wo dann die Begeistrung bei der Berührung des Himmlischen mächtig erwache im Schwebepunkt (Menschengeist), und diesen Augenblick müsse der Dichtergeist festhalten und müsse ganz offen, ohne Hinterhalt seines Charakters sich ihm hingeben - und so begleite diesen Hauptstrahl des göttlichen Dichtens immer noch die eigentümliche Menschennatur des Dichters, bald da~ tragisch Ermattende, bald das von göttlichem Heroismus angeregte Feuer schonungslos durchzugreifen, wie die ewig noch ungeschriebene Totenwelt, die durch das innere Gesetz des Geistes ihren Umschwung erhalte, bald auch eine träumerisch naive Hingebung an den göttlichen Dichtergeist oder die liebenswürdige Gefaßtheit im Unglück; - und dies objektiviere die Originalnatur des Dichters mit in das Superlative der heroischen Virtuosität des Göttlichen hinein. - So könnt ich Dir noch Bogen voll schreiben aus dem, was sich St. Clair in den acht Tagen aus den Reden des Hölderlin aufgeschrieben hat in abgebrochnen Sätzen; denn ich lese dies alles darin, mit dem zusammen, was St. Clair noch mündlich hinzufügte. Einmal sagte Hälderlin, alles sei Rhythmus, das ganze Schicksal des Menschen sei ein himmlischer Rhythmus, wie auch jedes Kunstwerk ein einziger Rhythmus sei, und alles schwinge sich von den Dichterlippen des Gottes, und wo der Menschengeist dem sich füge, das seien die verklärten Schicksale, in denen der Genius sich zeige, und das Dichten sei ein Streiten um die Wahrheit, und bald sei es in plastischem Geist, bald in athletischem, wo das Wort den Körper (Dichtungsform) ergreife, bald auch im hesperischen, das sei der Geist der Beobachtungen und erzeuge Dichterwonnen, wo unter freudiger Sohle der Dichterklang erschalle, während die Sinne versunken seien in die notwendigen Ideeagestaltungen der Geistesgewalt, die in der Zeit sei. - Diese letzte Dichtungsform sei eine hochzeitliche feierliche Vermählungsbegelstrung und bald tauche sie sich in die Nacht und werde im Dunkel hellsehend, bald auch ströme sie im Tageslicht über alles, was dieses beleuchte. - Der gegenüber, als der humanen Zeit, stehe die furchtbare Muse der tragischen Zeit; - und wer dies nicht verstehe, meinte er, der könne nimmer zum Verständnis der hohen griechischen Kunstwerke kommen, deren Bau ein göttlich organischer sei, der nicht könne aus des Menschen Verstand hervorgehen, sondern der habe sich Undenkbarem geweiht. - Und so habe den Dichter der Gott gebraucht als Pfeil, seinen Rhythmus vom Bogen zu schnellen, und wer dies nicht empfinde und sich dem schmiege, der werde nie weder Geschick noch Athletentugend haben zum Dichter und zu schwach sei ein solcher, als daß er sich fassen könne, weder im Stoff, noch in der Weltansicht der früheren, noch in der späteren Vorstellungsart unserer Tendenzen, und keine poetischen Formen werden sich ihm offenbaren. Dichter, die sich in gegebene Formen einstudieren, die können auch nur den einmal gegebenen Geist wiederholen, sie setzen sich wie Vögel auf einen Ast des Sprachbaumes und wiegen sich auf dem, nach dem Urrhythmus, der in seiner Wurzel liege, nicht aber fliege ein solcher auf als der Geistesadler, von dem lebendigen Geist der Sprache ausgebrütet. Ich verstehe alles, obschon mir vieles fremd drin ist, was die Dichtkunst belangt, wovon ich keine klare oder auch gar keine Vorstellung habe, aber ich hab besser durch diese Anschauungen des Hölderlin den Geist gefaßt, als durch das, wie mich St. Clair darüber belehrte. - Dir muß dies alles heilig und wichtig sein. - Ach, einem solchen wie Hölderlin, der im labyrinthischen Suchen leidenschaftlich hingerissen ist, dem müssen wir irgendwie begegnen, wenn auch wir das Göttliche verfolgen mit so reinem Heroismus wie er. - Mir sind seine Sprüche wie Orakelsprüche, die er als der Priester des Gottes im Wahnsinn ausruft, und gewiß ist alles Weltleben ihm gegenüber wahnsinnig; denn es begreift ihn nicht. Und wie ist doch das Geisteswesen jener beschaffen, die nicht wahnsinnig s ch deuchten? - Ist es nicht Wahnsinn auch, aber an dem kein Gott Anteil hat? Wahnsinn, merk ich, nennt man das, was keinen Widerhall hat im Geist der andern, aber in mir hat dies alles Widerhall, und ich fühle in noch tieferen Tiefen des Geistes Antwort darauf hallen als bloß im Begriff. Ist's doch in meiner Seele wie im Donnergebirg, ein Widerhall weckt den andern, und so wird dies Gesagte vom Wahnsinnigen ewig mir in der Seele widerhallen.
Günderode, weil Du schreibst, daß Dir mein Denken und Schreiben und Treiben die Seele ausfülle, so will ich nicht aufhören, wie es auch kommen mag, und einst wird sich Dir alles offenbaren, und ich selber werde dann, wie Hölderlin sagt, mich in den Leib des Dichtergottes verwandeln; denn wenn ich nur Fassungskraft habe! - Denn gewiß, Feuer hab ich, - aber in meiner Seele ist es so, daß ich ein Schicksal in mir fühle, das ganz nur Rhythmus des Gottes ist, was er vom Bogen schnellt, und ich auch will mich bei der Zäsur, wo er mir ins eigne widerstrebende Urteil mein göttlich Werden gibt, schnell losreißen und in seinem Rhythmus in die Himmel mich schwingen. Denn wie vermöcht ich sonst es? - Nimmer! Ich fiel zur Erde wie alles Schicksallose. - Und Du, Günderode, so adelig wie Du bist in Deinen poetischen Schwingungen! Klirrt da nicht die Sehne des Bogens des Dichtergottes? Und lässet die Schauer uns fühlen auch in diesen leisen träumentappenden Liedern.
Drum laß mich, wie mich der Moment geboren,
In ew'gen Kreisen drehen sich die Horen,
Die Sterne wandlen ohne festen Stand.
Sagst Du nicht dasselbe hier? - Klingt nicht so der Widerhall aus der Öde in Hölderlins Seele? - Ach, ich weiß nicht zu fassen, wie man dies Höchste nicht heilig scheuen sollte, dies Gewaltige, und wenn auch kein Echo in unseren Begriff es übertrage, doch wissen wir, daß der entfesselte Geist über Leiden, die so rnit Götterhand ihm auferlegt waren, im Triumph in die Hallen des Lichts sich schwinge, aber wir! - Wissen wir Ungeprüften, ob je uns Hellung werde? - jetzt weiß ich's, ich werd ihm noch viel müssen nachgehen, doch genug zwischen uns davon; eine Erscheinung ist er in meinen Sinnen, und in mein Denken strömt es Licht.
- Mit diesem Brief über den »Wahnsinn« Hölderlins endet der Briefroman »Die Günderode«. Es sei an dieser Stelle ein Fragment des Novalis zitiert, das zeigt, wie geistesverwandt auch hier Novalis und Bettina sind: »Wahnsinn und Bezauberung haben viel Ähnlichkeit. Ein Zauberer, ist ein Künstler des Wahnsinns.« (Novalis: 459) - »Gemeinschaftlicher Wahnsinn hört auf, Wahnsinn zu sein und wird Magie, Wahnsinn nach Regeln und mit vollem Bewußtsein. « (Novalls: 511). Dies berührt sich mit dem Gedanken des Malers Dali, eine »paranoisch-kritische« Methode kiinstlerischen Produzierens zu finden. Wir aber lassen, schreibt Bettina, »den Geist der Heilung nicht in uns entbinden, und das ist unser Wahnsinn«. (Bettina 3: 292)