Zum Spätwerk der Romantikerin Bettina von Arnim gehören die beiden Bände des Königsbuchs. Der erste Band, dessen Titel die Widmung enthält »Dies Buch gehört dem König«, erschien 1843. Es war adressiert an den Bettina bekannten Kronprinzen, der 1840 König wurde. Dieser König Friedrich Wilhelm IV., der in der 48er Revolution eine fraglos finster-reaktionäre Rolle spielte, galt bei seiner Thronbesteigung noch als liberaler König. Der zweite Band des Königsbuchs,»Gespräche mit Dämonen«, ist ein Zwiegespräch zwischen dem »schlafenden König« und seinem »Dämon«, als welchen Bettina sich verstand. Der Band erschien 1852, also nach der 48er Revolution, in der Phase der Restauration und ohne Zustimmung des Adressaten (des Königs, der sich gleichzeitig geschmeichelt und kritisiert fühlte) wäre das Buch wohl kaum durch die Zensur gekommen. Die »Gespräche« sind ein fiktiver Dialog, eigentlich ein Monolog. Bettina macht sich hier, ganz im demokratischen Sinne, zum Dämon des Königs, zu dessen innerer Instanz, sie appelliert an sein Wesen als politische Möglichkeit, von der ihn die königlichen Sozialisationsinstanzen - die Mandarine der Macht - entfremdet haben. Etwas von der Hoffnung Bettinas auf den neuen König, als er noch der ihr befreundete Kronprinz war (vor 1840), ist in den »Gesprächen« deutlich zu spüren. Zu deren Erscheinungsdatum (1852) hatte sie diese Hoffnung wohl nicht mehr. Im ersten Band, »Dies Buch gehört dem König«, läßt sie Goethes Mutter, die »Frau Rat« Wahrheiten aussprechen, die sehr viel weiter reichen als eine Kritik des feudalen Staates.
Die Ansichten über Verbrechen und Strafe, die Frau Rat äußert (und es ist nicht nachweisbar, wo Bettina ihre Ansichten der Frau Rat in den Mund legt), sind bis zur Gegenwart aktuell, sie widersprechen nicht nur jedem Sühnegedanken, wie er heute noch in vielen Köpfen geistert, sie gehen ein auf Fragen der Gewalt und Gegengewalt, auf Widerstandsrecht und Ursachen von Verbrechen in der Struktur des bestehenden Staates. Den Staat halte sie, läßt Bettina Frau Rat sagen, »für den größten, ja für den einzigen Verbrecher am Verbrechen«. (195) Wer dürfte das heute unzensiert sagen? Dem wird ein utopischer Staat entgegengehalten. Auf die Frage nach diesem Staatsbegriff der Frau Rat, die ihr Gesprächspartner, der Herr Pfarrer, stellt, antwortet sie: »Ich meine keinen Staat, wo nur die Zensur meine Ansichten streichen kann, ich mein einen ganz andern Staat hinter dem Himalaja gelegen, der ein Widerschein ist von dem Staat, den ich meinen könnte; sollte aber auch das die Zensur streichen wollen, nun, so mein ich den auch nicht. Ich meine nichts, was könnte gestrichen werden.« (Bettina III: 195) In dieser dialektisch-spielerischen Kritik am bestehenden Staat und seiner Zensur macht Bettina nochmals die Schärfe der Zensur klar, der selbst sie nur bedingt entgeht. Wir finden im zweiten Band (unter einer härteren Zensur erschienen) oft über halbe Seiten Gedankenstriche, deren erklärende Fußnote lapidar sagt: »Lücke eigener Zensur«. Angesichts eines § 130a (Anleitung zu Straftaten) gewinnt diese Ironie als Waffe der Ohnmächtigen aufs neue Aktualität. Bettina ist fraglos listig in ihrer Kritik der Zustände. Ihr Kampf gegen das Bestehende, und das hieß das bestehende Preußen, ist auf zwei Ebenen zu sehen: die erste ist der mit der Tagespolitik vermittelte Kampf, hier sind ihre Schriften handlungsanweisend und direkt beeinflussend, sie setzt sich ein für Menschen, die ins Gefängnis geworfen wurden, weil sie zu offen demokratisch waren, sie setzt sich ein für die Armen, vor allem für die Weber, für die das »Armenbuch« gedacht war. Überall, wo Menschen, Kräfte, Völker unterdrückt werden oder leiden, versucht sie, aktiv einzugreifen (sie pflegt die Cholerakranken in Berlin beim Ausbruch der Seuche), durch Vermittlungen, durch Bittgesuche an den König, durch Aufrufe.
Ihr Aufruf »An die aufgelöste Preußische Nationalversammlung« (1848) versucht, den politisch Handelnden die Augen zu öffnen über Preußens Machtpolitik; es geht dabei um das unterdrückte polnische Volk: »Verlaßt diese Nationalversammlung, wo man die höchsten Interessen des menschlichen Adels unterdrückt! Geht hin nach Posen, legt die volksgeweihte Hand auf das Haupt der Unterdrückten.« (Bettina III: 509) Schon vermittelt mit der zweiten, indirekten Ebene einer romantischen Revolte gegen die Verkümmerung des Lebens durch unmenschliche Produktionsbedingungen sind die zwei Bände des Königsbuches. Sie versucht darin, den König direkt, anzusprechen und zu kritisieren. Im Ernst kann sie im zweiten Band nicht gedacht haben, den immer reaktionärer werdenden Friedrich Wilhelrn IV. zu überreden, ein Volkskönig zu werden. (1840, als er König wurde, setzte sie große Hoffnungen auf ihn, die er anfangs auch einlöste, indem er beispielsweise die verfolgten Brüder Grimm nach Berlin berief, was er der Bettina als Kronprinz versprochen hatte.) Dennoch ist der beschwörende Appell an ihn nicht nur ein Trick, die Zensur zu umgehen, die fraglos ohne die Widmung - schon im Titel - zugeschlagen hätte.
Sie wollte ihn doch ernsthaft zum Nachdenken zwingen und wollte ihn warnen vor der gerechten Rache der Unterdrückten für den Fall, daß er weiter so verfahre in der Unterdrückung aller freiheitlichen und sogar zaghaft demokratischen Tendenzen. Sie wollte aber vor allem eine Öffentlichkeit unter den Intellektuellen schaffen, ein Podium für tabuisierte und von der Zensur verfolgte Themen; diese Öffentlichkeit, die sich in den literarischen Salons der Zeit hergestellt hatte, zentrierte sich um bestimmte Personen und Gruppen in Berlin, wo Bettina seit 1811 wohnte. Eine Rezension im »Wandsbeker Intelligenzblatt« vom 10. Nov. 1843 weist auf diesen Zusammenhang deutlich hin und spricht von Bettina als politisch engagierter Frau sie wird hier nicht in ihrem politischen Anspruch relativiert wie in der konservativen Rezeption (die alle politischen Tendenzen ins Weiblich-Mütterliche zu neutralisieren versucht), sondern sie wird als eine Art weibliches Genie begriffen, dessen politische Beeinflussungstendenzen weiblich geprägt sind:
»...eine Erscheinung, die tiefe Blicke in die geheimnisvolle Besonderheit des Frauengemütes und des weiblichen Genies tun läßt«. In Bezug auf die Schrift Dies Buch gehört dem König ist indes noch auf die eigentümliche Stellung der Verfasserin in Berlin hinzuweisen.
- Frau von Arnim repräsentiert für die höheren Kreise in Berlin die Opposition, das Genie ist an die Stelle des Hofnarren getreten darf inmitten der Weisheit, der militärischen, juristischen und theologischen Mandarinen den ewig freien Geist vertreten und die Wahrheit so laut sagen, daß Allerhöchste sie hören. Wunderbare Stadt, deren Kulturspitzen hier Savigny, Schelling, Rachow, dort das Kind (= Bettina, Anspielung auf ihr Buch >Goethes Briefwechsel mit einem Kinde<) Bruno Bauer und Nante (es handelt sich um den räsonnierenden >Eckensteher Nante<, um den Dichter A. Glaßbrenner, eine in kritischen Kreisen in Berlin populär gewordene Figur). Die Schrift Dies Buch gehört dem König ist trotz ihres didaktischen, philosophischen Inhaltes ein Kunstwerk wie wenige ... Die poetische Wahrheit, die dramatische Kraft der Schilderung ist unübertrefflich, selbst der Frankfurter Dialekt der Frau Rat vermehrt den eigentümlichen Liebreiz des Ganzen. In dieser Form erscheinen Anspielungen so unabsichtlich, so ohne persönliche Schärfe, daß alles gesagt werden kann ... Wir begreifen, daß wer dies Buch liest, fast Hoffnungen schöpft, daß es nicht umsonst an seine Adresse gelange!« (Wandsbeker Intelligenzblatt, Nr.45, 10. 11. 1843)
Bettina setzt sich in diesem Buch nicht nur konkret mit dem Feudalismus und dem preußischen König auseinander, sondern - als Bürgerin der freien und reichen Stadt Frankfurt, die die Entfaltung eines gesellig-liberalen Milieus zuließ - insbesondere mit dem Geist Preußens, der in spezifischer Weise den Geist des sich etablierenden Kapitalismus repräsentiert. Ihre - für die Romantik typische - Philisterkritik (die schon in ihren frühen Briefen an Clemens und die Günderode zu spüren ist) orientiert sich immer stärker an dem Bild des preußischen Staatsbürgers, der, in einer vertrackten Mischung aus den schlechten Eigenschaften des bourgeols und des citoyen weder politisch mündig noch kulturell produktiv wird, sondern aus einer bestimmten geschichtlichen Konstellation den Keim dessen verkörpert, was man später den »autoritären Charakter« nennt, wie er in seiner preußischen Spätentwicklung glänzend in Heinrich Manns »Untertan« dargestellt wird. Natürlich gibt es den autoritären Charakter überall dort, wo sich mit dem Kapitalismus dessen Triebstrukturen - Sparsamkeit, Fleiß, Disziplin - mit Hilfe protestantischer Wertethik (Max Weber) entfalten. Aber seine mehr calvinistisch ausgeformte preußische Form läßt einen »Nationalcharakter« entstehen, den Bettina vor allem im zweiten Band des Königsbuchs (Gespräche mit Dämonen) in Gestalt der preußischen Hofbeamten persifliert und bekämpft.
Die deutsche Entwicklung, gezeichnet durch eine extreme Ungleichzeitigkeit (die das hierauf reflektierende dialektische Denken mit vorantreibt innerhalb eines intellektuellen Gettos) und die Erfahrung der Emanzipation als Fremdherrschaft (von Napoleon bis zur Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg), diese »deutsche Sonderentwicklung«, die mit dem Zerfall der regionalen Autonomie nach dem Dreißigjährigen Krieg einsetzt, macht die Identitätsbildung des deutschen Volkes schier unmöglich. Bettinas Beschwörung der Rechte des Volkes und der Chance eines Volkskönigs geschieht zu einem Zeitpunkt, wo das Scheitern dieser Identitätsbildung noch nicht besiegelt war. Dennoch war sie absehbar. Preußen hatte ungeheuer geschickt die möglichen subversiven Kräfte absorbiert, indem es diese als Staatsdiener an sich band; es hatte sicli die alten Strukturen assimiliert (so daß der Feudalismus in Gestalt des deutschen junkertums bis zum Ersten Weltkrieg einflußreich blieb) und damit den möglichen Widerstand vor allem auf dem Lande gebrochen, gleichzeitig Stadt und Land regional durchorganisiert. So blieben scheinbar die Instanzen lokaler Autonomie erhalten, und statt zentralistischer Entmachtung wie in Frankreich und England wurde eine kontrollierte Selbstverwaltung zugelassen, deren Organe sich jedoch als Organe des Staates verstanden. Revolution von oben und Emanzipation durch Fremdherrschaft (Napoleon hob die Leibeigenschaft in Deutschland auf und gab den Juden das Bürgerrecht) erstickten in Deutschland die Subjektwerdung der Bürger: sie blieben Objekte von Reform und Repression, von Befreiung und Unterdrückung. In dieser Situation versucht Bettina, einen Direktkontakt zwischen König und Volk zu propagieren, ein Volkskönigtum, in welchem sich, statt »Staatstreue«, so etwas wie bürgerliche Identität herstellt und der König nur derjenige sein sollte, in dem der Volkswille kulminiert. Gegen die behutsam-evolutionären Thesen des Buchkönigs, die einen besseren Zustand in die ferne Zukunft verweisen, ruft (im zweiten Band) der Dämon dem »schlafenden König« zu:
- »Es ist nicht dein Beruf, dies Erdenleben gegen ein künftiges geringer zu achten. Du mußt Trieb haben, diese Welt zum Himmel umschaffen zu können. Das Volk, nur fordernd, was dem Gewähren selbst zugute kommt: den Gebrauch seiner fünf Sinne.« (Bettina III: 335)
Der »Verbrüderung mit dem Volk« stehen nur die Mandarine der Macht entgegen - die nobilitierte, ihre bürgerliche Herkunft verleugnende Beamtenaristokratie:
- »Was deine volkstümlichen Automaten in ihren Kammern beschnarchen mit prahlerischem Getön von Schutz und Ordnung und feuriger Deutschheit: wie kannst Du nur darauf dir Hoffnungen machen ... Die Freiheit würgen, weil die Frechheit dir zu nahe tritt, das kann dich nicht unsterblich machen.« (Bettina III: 341 f.)
Der erste Band der Königsbücher erschien ein Jahr vor dem Kommunistischen Manifest. Bettina wurde erst aufgrund des zweiten Bandes als Kommunistin beschimpft, obwohl sie im engeren Sinne mit kommunistischen Ideen nicht vertraut war: es gibt eine kurze Korrespondenz mit George Sand, auf die sich die Bürokratie berief; die Behörden waren verärgert, daß sie das Königbuch nicht verhindert hatten und der König selbst die Herausgabe empfahl, nicht ganz wissend, was er tat. Der jungdeutsche Dichter Gutzkow nennt Bettina eine »Jeanne d'Arc« und setzt hinzu: »Traurig genug, daß nur ein Weib das sagen durfte, was jeden Mann würde hinter Schloß und Riegel gebracht haben.« (Telegraph für Deutschland, Nr. 165 Oktober 1843, S. 657f. Den zweiten Band empfindet Gutzkow eingreifender und »unmittelbarer wirkend«:
- »Man hat diese Partie des Buches kommunistisch genannt, man höre was er enthält, und erstaune über dies sonderbare Neuwort Kommunismus! Ist die heißeste, glühendste Menschenliebe Kommunismus, dann steht zu erwarten, daß der Kommunismus viele Anhänger finden wird.« (661)
Bettinas Kritik geht über die kritische Analyse des preußischen Nationalcharakters auf die Zersplitterung der Persönlichkeit durch die entwürdigenden frühkapitalistischen Produktionsverhältnisse ein, die in der untersten Klasse (des Landproletariats, der Weber, der Manufakturarbeiter etc.) nicht einmal das nackte physische Überleben garantieren. In der höheren Klasse der gettoisierten Intelligenz in der Kleinöffentlichkeit des Salons wird diese Zersplitterung der Person, für die das Wort Entfremdung zum Schlagwort wurde, unter philosophischem und politästhetischem Aspekt diskutiert und ihr in der Frühromantik die Synthese von Kunst und Leben utopisch entgegengestellt. Das Verwunderliche ist, wie auf der Basis deutscher Rückständigkeit am Ende des 18. Jahrhunderts mit einer in Europa einmaligen Radikalität gedacht wurde. Bettina zehrt ganz deutlich von der Radikalität dieses deutschidealistischen und frühromantischen Denkens. Vielleicht wurde es gerade durch die deutsche Rückständigkeit ermöglicht? Sie zwang nicht nur politische Abstinenz auf (Einsicht in die Unmöglichkeit einer deutschen Revolution), sondern ließ durch die Dialektik von Nähe und Distanz zu den englischen und französischen Verhältnissen (Nähe durch engagiertes Teilnehmen an den Ereignissen und die Rezeption fast aller wichtigen ausländischen Theorien) eine antizipierende Kapitalismuskritik zu, auf Verhältnisse bezogen, die in Deutschland noch nicht realisiert waren (was die Gefahr restaurativer Utopie in sich birgt, wie die Spätromantik zeigt: die Antizipation schlägt um in verfrühte Kritik und geschichtliche Regression).
Diese Kritik, angefangen von Schillers 6. Brief der »Briefe zur ästhetischen Erziehung« über Hölderlins und Jean Pauls Werk bis zum Programm frühromantischer Ästhetik (das Programm einer miteinander zusammenlebenden Gruppe, deren kollektives Forum das »Athenäum« war) reflektiert auch die gegensätzlichen Produktionsweisen von Erfahrung: nämlich der des philiströsen und trivialen Alltags und der des utopischen Reichs einer schöneren menschlicheren Welt. Die Frühromantiker, und mit ihnen Bettina, denunzieren dieses Reich der Freiheit nicht als Welt des Scheins wie Schiller; und sie zerbrechen nicht an der Isolation, in welche diese radikale romantische Kritik des verkümmerten Lebens notwendig führt (wie der verstummende Hölderlin), sie rotten sich als Gruppe zusammen, sagen dem Bestehenden den Kampf an: wenn sie dieses nicht aktuell politisch verändern können, so konstruieren sie eine neue Realität, die Realität ihrer Subjektivität, die sie als Gruppe entfalten, ohne dabei einen Kommunikationsabbruch zu erleiden. Die romantische Ironie ist das Mittel der Gebrochenheit dieser synthetisch hergestellten Realität, in der die Romantiker den Kunst- und Lebensprozeß miteinander verschmelzen wollen; romantische Ironie ist Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit solcher Synthese und ihrer Grenzen am Bestehenden, das sich nur bedingt überspringen läßt. Bettina hat das Programm der Frühromantik in gewisser Weise radikaler realisiert als die Programmatiker selbst: Denn sie hat im Insistieren auf ihrer Subjektivität, und zwar einer weiblichen, ihre Synthese von Lebens- und Schreibprozeß in der Form von Briefromanen zur Kunst erklärt; dazu kommt, daß ihr Schreiben konkret handlungsorientiert ist, eingreifend in den Lebensprozeß. Das Denken bleibt damit nicht auf eine »Versöhnung des Wahren und der Realität« (Hegel) allein im Denken bezogen, sondern zielt auf Lebensveränderung, ohne seinen spekulativen Charakter zugunsten eines tagespolitischen Pragmatismus aufzugeben. Nicht als ready-made, sondern als sehr bewußte Konstruktion eines Lebens- und Schreibprozesses, auf dessen Bedingungen sie ständig reflektiert. Daß die Briefform als künstlerischer Ausdruck der Geselligkeit Moment einer weiblichen Kultur ist (deren Träger nicht notwendig Frauen sein müssen), findet in ihrem Werk die konkrete Bestätigung. Sarah Kirsch hat sich in ihrem Gedichtband »Rückenwind« in einem Gedichtzyklus »Wilpersdorf« auf Bettina bezogen. In Anspielung auf die Mandarine der Macht bemerkt sie:
- »Dieser Abend, Bettina, es ist/Alles beim Alten. Immer/Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben/Denen des Herzens und jenen/Des Staats. Und noch/Erschrickt unser Herz/Wenn auf der anderen Seite des Hauses/Ein Wagen zu hören ist/.«
(Sarah Kirsch: 31)
Friedrich Schiller:
Der Verbrecher aus verlorener Ehre (Auszug)[1]
In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen. Bei jedem großen Verbrechen war eine verhältnismäßig große Kraft in Bewegung. Wenn sich das geheime Spiel der Begehrungskraft bei dem matteren Licht gewöhnlicher Affekte versteckt, so wird es im Zustand gewaltsamer Leidenschaft desto hervorspringender, kolossalischer, lauter; der feinere Menschenforscher, welcher weiß, wie viel man auf die Mechanik der gewöhnlichen Willensfreiheit eigentlich rechnen darf und wie weit es erlaubt ist, analogisch zu schließen, wird manche Erfahrung aus diesem Gebiete in seine Seelenlehre herübertragen und für das sittliche Leben verarbeiten. Es ist etwas so Einförmiges und doch wieder so Zusammengesetztes, das menschliche Herz. Eine und eben dieselbe Fertigkeit oder Begierde kann in tausenderlei Formen und Richtungen spielen, kann tausend widersprechende Phänomene bewirken, kann in tausend Charakteren anders gemischt erscheinen, und tausend ungleiche Charaktere und Handlungen können wieder aus einerlei Neigung gesponnen sein, wenn auch der Mensch, von welchem die Rede ist, nichts weniger denn eine solche Verwandtschaft ahndet. Stünde einmal, wie für die übrigen Reiche der Natur, auch für das Menschengeschlecht ein Linnäus [2] auf, welcher nach Trieben und Neigungen klassifizierte, wie sehr würde man erstaunen, wenn man so manchen, dessen Laster in einer engen bürgerlichen Sphäre und in der schmalen Umzäunung der Gesetze jetzt ersticken muß, mit dem Ungeheuer Borgia [3] in einer Ordnung beisammen fände. Von dieser Seite betrachtet läßt sich manches gegen die gewöhnliche Behandlung der Geschichte einwenden, und hier, vermute ich, liegt auch die Schwierigkeit, warum das Studium derselben für das bürgerliche Leben noch immer so fruchtlos geblieben. Zwischen der heftigen Gemütsbewegung des handelnden Menschen und der ruhigen Stimmung des Lesers, welchem diese Handlung vorgelegt wird, herrscht ein so widriger Kontrast, liegt ein so breiter Zwischenraum, daß es dem letzteren schwer, ja unmöglich wird, einen Zusammenhang nur zu ahnden. Es bleibt eine Lücke zwischen dem historischen Subjekt und dem Leser, die alle Möglichkeit einer Vergleichung oder Anwendung abschneidet und statt jenes heilsamen Schreckens, der die stolze Gesundheit warnet, ein Kopfschütteln der Befremdung erweckt: Wir sehen den Unglücklichen, der doch in eben der Stunde, wo er die Tat beging, so wie in der, wo er dafür büßet, Mensch war wie wir, für ein Geschöpf fremder Gattung an, dessen Blut anders umläuft als das unsrige, dessen Wille andern Regeln gehorcht als der unsrige; seine Schicksale rührer) uns wenig, denn Rührung gründet sich ja nur auf ein dunkles Bewußtsein ähnlicher Gefahr, und wir sind weit entfernt, eine solche Ähnlichkeit auch nur zu träumen. Die Belehrung geht mit der Beziehung verloren, und die Geschichte, anstatt eine Schule der Bildung zu sein, muß sich mit einem armseligen Verdienste um unsre Neugier begnügen. Soll sie uns mehr sein und ihren großen Endzweck erreichen, so muß sie notwendig unter diesen beiden Methoden wählen - Entweder der Leser muß warm werden wie der Held, oder der Held wie der Leser erkalten. Ich weiß, daß von den besten Geschichtsschreibern neuerer Zeit und des Altertums manche sich an die erste Methode gehalten und das Herz ihres Lesers durch hinreißenden Vortrag bestochen haben. Aber diese Manier ist eine Usurpation des Schriftstellers und beleidigt die republikanische Freiheit des lesenden Publikums, dem es zukömmt, selbst zu Gericht zu sitzen; sie ist zugleich eine Verletzung der Grenzengerechtigkeit, denn diese Methode gehört ausschließlich und eigentümlich dem Redner und Dichter. Dem Geschichtsschreiber bleibt nur die letztere übrig. Der Held muß kalt werden wie der Leser, oder, was hier ebensoviel sagt, wir müssen mit ihm bekannt werden, eh' er handelt; wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen sondern auch wollen sehen. An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen jener Taten. Man hat das Erdreich des Vesuvs untersucht, sich die Entstehung seines Brandes zu erklären; warum schenkt man einer moralischen Erscheinung weniger Aufmerksamkeit als einer physischen? Warum achtet man nicht in eben dem Grade auf die Beschaffenheit und Stellung der Dinge, welche einen solchen Menschen umgaben, bis der gesammelte Zunder in seinem Inwendigen Feuer fing? Den Träumer, der das Wunderbare liebt, reizt eben das Seltsame und Abenteuerliche einer solchen Erscheinung; der Freund der Wahrheit sucht eine Mutter zu diesen verlorenen Kindern. Er sucht sie in der unveränderlichen Struktur der menschlichen Seele und in den veränderlichen Bedingungen, welche sie von außen bestimmten, und in diesen beiden findet er sie gewiß. Ihn überrascht es nun nicht mehr, in dem nämlichen Beete, wo sonst überall heilsame Kräuter blühen, auch den giftigen Schierling gedeihen zu sehen, Weisheit und Torheit, Laster und Tugend in einer Wiege beisammen zu finden. Wenn ich auch keinen der Vorteile hier in Anschlag bringe, welche die Seelenkunde aus einer solchen Behandlungsart der Geschichte zieht, so behält sie schon allein darum den Vorzug, weil sie den grausamen Hohn und die stolze Sicherheit ausrottet, womit gemeiniglich die ungeprüfte aufrechtstehende Tugend auf die gef allne herunterblickt; weil sie den sanften Geist der Duldung verbreitet, ohne welchen kein Flüchtling zurückkehrt, keine Aussöhnung des Gesetzes mit seinem Beleidiger stattfindet, kein angestecktes Glied der Gesellschaft von dem gänzlichen Brande gerettet wird. Ob der Verbrecher, von dem ich )etzt sprechen werde, auch noch ein Recht gehabt hätte, an jenen Geist der Duldung zu appellieren? ob er wirklich ohne Rettung für den Körper des Staats verloren war? - Ich will dem Ausspruch des Lesers nicht vorgreifen. Unsre Gelindigkeit fruchtet ihm nichts mehr, denn er starb durch des Henkers Hand aber die Leichenöffnung seines Lasters unterrichtet vielleicht die Menschheit und - es ist möglich, auch die Gerechtigkeit. ...
Friedrich von Schiller
Leberecht Fromm:
Ruchlosigkeit der Schrift »Dies Buch gehört dem König«[4]
Der Staat, das ist das Grundübel, die Urlüge, gegen welche die Verfasserin ihre Pfeile richtet. Hier begegnen wir dem Hochverrath in seiner schreckhaftesten Gestalt. Ach, was wird unser treues Unterthanen-Herz empfinden, durch diese Gräuel hindurch sich arbeiten! Betrachten wir einzelne Stellen des Buches über König und Vaterland außer ihrem Zusammenhange mit dem ganzen Buche, losgelöst von dem Grunde, aus dem sie aufgeschossen, der vergötternden Naturanschauung, so könnten wir auch hier, wie dort im Bereich der Religion, zuwider uns versucht fühlen, zu glauben, im Gemüth der Verfasserin glimme wenigstens noch ein Fünkchen Loyalität. Aber, wehe uns! wenn wir vom Schein uns täuschen lassen! Wehe uns, wenn wir der Stimme von Betrügern trauen, die es sich angelegen sein lassen, uns das Buch im falschen Lichte darzustellen, um die ganze Teufelei in ihm unserm Blick zu entziehen. Zu diesen tückischen Betrügern gehört auch Herr A. St., der Verfasser des Schriftchens »Bettina und ihr Königsbuch« - Er ist boshaft genug, das Buch uns als ein Kästchen mit mancherlei schönem Gestein zu schildern, während es doch die leibhaftige Pandora-Büchse ist. Um nämlich unser Auge abzuhalten, bis tief auf den Grund der Hölle dieses Buches zu blicken, lügt er uns vor, die Verfasserin wolle nichts weiter »als ein freies constitutionelles Königthum«. Herr, Sie werden uns nicht berücken! Sie werden uns auch nicht glauben machen, daß Sie selbst nur dieses in dem Buche gefunden, d. h. daß Sie es mit horrendem Unverstande gelesen haben. Sollten Sie denn nicht gelesen haben S. 441, wo die Verfasserin auf die Frage: »Das läuft wohl gar auf eine Constitution hinaus?« - entrüstet antwortet: »Ei was! Macht das Blut Rechte geltend gegen das Herz?
Kann der Geist eine Grenze ziehen zwischen sich und der Seele? Bin ich König, so ist das Volk mein Blut. Das ächte Volksblut ist demagogisch« - u.s.w. O, Sie wissen recht gut, Sie müssen es wissen, denn Sie haben das Buch gelesen und wir haben kein Recht, Ihnen alle Fassungskraft abzusprechen, Sie müssen es wissen, daß diese Frau etwas ganz anderes verlangt als einen constitutionellen König. Sie will die höchsten und heiligsten Interessen der Menschheit nicht nur begelfert sehen - das Höchste, wozu die Frechheit es bringt auch bei der freisten Constitution, nein, vernichtet, total vernichtet will sie sie haben - wie sich uns bald ergeben wird. S. 60f. »Die ganze civilische Einrichtung ist eine Verschanzung gegen den Geist.«
Der Geist soll frei sein, das ist das Grundgesetz des Buches, frei von kirchlichen und politischen Gesetzen. Die Urlüge der Politik S. 364, das heißt alle und jede Staatsverfassung, die dem freien Geist sein Verhalten vorschreibt, ihm seine Pflichten und Bahnen vorzeichnet, soll vernichtet werden. Der Geist hat seine eigenen Gesetze, die Gesetze der menschlichen Natur, das sind die einzig, ewig wahren und jedes andere ist ein Werk der Lüge, ist Verbrechen gegen den Geist. Wie ist diese vollendete Anarchie zu erreichen? Die Verfasserin verabscheut in diesem Buche noch jeden blutigen Weg nach ihrem Ziele hin, es soll auf friedlichem, unblutigem Wege erreicht werden; darum und nur darum weiht sie den Inhalt ihres Buches einem König, also eitier Staatsmacht, darum spricht sie soviel von einem König, während sie doch alles Uebrige in den Abgrund ihrer Negationen versenkt. Sie will einen revolutionären König - nicht einen constitutionellen. Dieser Wille hat keinen anderen Grund, als wiederum ihre Naturvergötterung. S. 182. »Kein Schlachtermesser an die Natur gelegt, sei es Fleisch oder Geist! Ein Heros des Geistes muß der sein, der die alte Leier zerbricht und neue Saiten aufspannt, neue Saiten der Harmonie erschließt.« Dieser Erlöser muß kommen, »daß durch ihn das Ideal des Erdenlebens, das Paradies des freien Geistes sich entwickele.« So stimmt die Verfasserin in diesem Wunsch und Glauben, zusammen mit jenem wüthenden Empörer Georg Herwegh, wenn er ausruft:
»Gib uns den Mann, der das Panier
Der neuen Zeit erfasse:
Und durch Europa brechen wir
Der Freiheit eine Gasse!«
Und wie Herwegh, so wird auch die Verfasserin endlich den Gedanken aufgeben, ein gekröntes Haupt für ihre ruchlosen Pläne zu gewinnen und dann ausrufen wie er: »Noch lebt die Sphinx der Revolution!«
Daß die Verfasserin keinen anderen König verlange, keinen anderen ihr Buch gewidmet habe, als solch einem gekrönten Rebellen, das ergiebt sich - wie wir gesehen haben - nothwendig aus ihrer Natur-Religion. Wir wollen es nun aber auch nachweisen aus den Forderungen, die sie an ihren König stellt... Aus den wenigen hier angeführten Stellen ersehen wir, wie die Verfasserin frech genug ist, anstatt den Verbrecher, den Staat vor Gericht zu fordern. Wir unterlassen es, mehr Stellen anzuführen, denn schon die wenigen genugen, uns mit Empörung gegen ein Weib zu erfüllen, die dem Frommen Hohn spricht und den Räuber und Nlörder mit ihrer Liebe umfaßt. - ja so blind ist die Menschenliebe, die sie predigt, daß du, mein christlicher Bruder, nicht fragen sollst, ehe du deinen Nächsten brüderlich umarmst: »Bist du auch rein von allen groben Sünden und Lastern? Glaubst du auch mit mir an deine Erlösung durch Christo - durch Gottes freie Gnade? Oder bist du etwa ein Abtrünniger unserer heiligen Kirche und hast dich den groben Sünden dieser Welt ergeben? Bist du etwa gar ein Nachkomme des fluchbeladnen Volkes, welches den Bräutigam meiner Seele ans Kreuz geschlagen hat?« - O, mein christlicher Bruder, nach dem Allem sollst du nicht fragen nach der Lehre dieses Buches. Hier gilt keine Religion, als die tiefste Naturvergötterung, und nach ihr bist du nicht besser, als der schwärzeste Verbrecher, denn er ist unschuldig - und du vielleicht trägst selbst mit die Schuld, daß er ausgestoßen worden aus der menschlichen Gesellschaft und nun der Sünde anheimgefallen ist. Staat und Kirche erscheinen hier als die Pestbeulen der menschlichen Gesellschaft und über sie wird der Stab gebrochen. O, es ist nicht zu beschreiben, wie mein Herz sich empört, nicht zu ermessen, welch furchtbares Verderben dieses Buch erzeugen und verbreiten kann!...
Bettina von Arnim:
Sokratie der Frau Rat. Über »Verbrecher«[5]
Bürgermeister.
Ihre philosophischen Ausfälle auf den Staat, daß Sie den Verbrecher als seine selbstverschuldete Staatskrankheit schildern, das wird dem freilich eine verderbliche Frucht des Erkenntnisbaumes scheinen.
Fr. Rat.
Der Staat ist Mensch, die Menschheit zur Freiheit heraufbilden ist seine physische Geschichte. Er trägt die Krankheitsstoffe in sich und soll sich aus ihnen erlösen. Ist die Menschheit Kind, dann liegt Anlage und Gesundheit im Keim! Der Staat muß diesen Freiheitskeim in ihr entwicklen, sonst ist er Rabenmutter und sorgt auch für Rabenfutter. Ist die Menschheit ZUM Jüngling herangereift, dann ist dem Staat als Vater des Sohnes Freiheitsblüte die beglückende Hoffnung und sein heroisch Feuer der höchste Genuß! Muß dem Vater nicht obliegen, daß der Sohn nicht Sklave sei, daß die gewaltigen Kräfte der Selbstheit sich in ihm ausbilden, aber nicht unterdrückt werden. Sollte der Vater den Weg der Natur in ihm nicht anerkennen wollen? - Dann aber ist die Menschheit Mann geworden. Herz und Seele und den Gesamtgeist der Menschlielt hat der Staat selbst aber aus der Geschichte herauszubilden, und das ist der Staat als Heros! - Hiermit tritt er zugleich ins Zentrum zurück und wird Herr der gesamten Peripherie.
Bürgermeister.
Mensch ist der Staat? Mutter, Vater! Dann endlich Herz und Seele regiert vom Gesamtgeist, der ein Heros ist und ins Zentrum zurücktritt und Herr wird der gesamten Peripherie! Ei, wo bleibt der Landesvater?
Fr. Rat.
Ja! wo bleibt der, wenn er nicht rasch der Zukunft in die Mähne greift und kühn sich ihr in den Nacken schwingt, und unter jauchzendem Zuruf der Menge den atabyrischen Gipfel erreicht, bekanntlich der Siegesgipfel der olympischen Renner! Wenn er von diesem Höhenpunkt aus nicht herrscht, tief im Herzen die Weisheit, mit gradem Schritt daher tritt, die gerechte Seele voll Redlichkeit, daß Bürger und Freunde mit Ehrfurcht und Gunst und vaterlandliebender Wonne ihn umschwärmt. - Wo bleibt er? Mich ängstigt's selbst! - Wo bleibt er, wenn er nicht Genius der Menschheit wird? - Das heißt vollziehendes Prinzip ihrer Ansprüche! - Der Staat hat dieselbe Willkür, dieselbe Gewissensstimme für Gutes und Böses wie der Christ, doch die verkrümelt sich in den Rechthabereien der Staatsdiener gegeneinander. - Der Verbrecher ist des Staates eigenstes Verbrechen! - Der Beweis, daß er sich als Mensch an der Menschheit versündigt. Die ihn dahin bewegen zur Willkür, die alten Staatsphilister, die sind auch seine Krankheiten. Die sich aber dieser Willkür nicht fügen und nicht durch die seelenbeengenden Verhältnisse sich durchwinden können, das sind die Demagogen, an denen versündigt sich dieser ungesunde Staat, weil er ihre gesunden Kräfte nicht in Harmonie zu bringen weiß. Und grade denen muß er sich widmen, weil sie seine Ergänzung sind und seine Wiederherstellung, während die andern, die sich ihm fügen, ihn in sich versunkner und stocken machen!...
Bürgermeister
... - Man erbebe nicht über des Staates Härte, seine Moral, seine Politik und Religion weisen ihn darauf an; man beschuldige ihn keiner Gefühlslosigkeit, sein Mitgefühl sträubt sich dagegen, aber seine Erfahrung findet nur in dieser Strenge Hell! - Es gibt Krankheiten, in welchen nur drastische Mittel helfen. Der Arzt, welcher die Krankheit als solche erkennt, aber zaghaft zu Palliativen greift, wird nie die Krankheit heben, wohl aber den Patienten nach kürzerem oder längerem Siechtum unterliegen machen!
Fr. Rat.
Wenn Sie den Tod als drastisches Mittel anwenden, wie ist da zu heilen? - Gestehen Sie lieber, der Staat sei selber zu malade, um dem Verbrechen zuvorzukommen, obschon das auch nur kranke Einbildung ist. Aus gänzlichem Mangel an Energie, was das Hauptsymptom seiner Krankheit ist, streckt er alle Viere von sich, und wir versinken in diesem Krankheitssumpf! - Trauriges Los! Armer Verbrecher, du mußt zuerst dran, weil alle Energie noch in dir steckt, aus der der Lebensstoff, der gesundmachende, wieder aufkeime, so ist dein Los, daß du zuvörderst dieser Krankheit zum Opfer fallest, die nichts Energisches verträgt.
Bürgermeister.
Wie wollen Sie doch diese Krankheit dem Staat andichten in seinen edelsten Anstrengungen, gerecht und billig zu sein! -
Fr. Rat.
Gerecht und billig! - Da er krank ist, wär's zu viel verlangt, es geht über unsre Kultur hinaus, gibt es doch nicht zwei Freunde im Staat, die in Tat und Urteil gerecht und billig einander sind. Auch, ihr Verbrecher! - letzter Lebensfunke! letzte Hoffnung dieses rualaden Staates, könnte ich Mittel finden, eure Kraft in ihn hinüberzupumpen, der zu nichts zu bringen ist mehr als einen lamechten Gaul und einen Husaren, der nicht zu Hause ist, an euch zu wenden. - Wenn diesem ursprün£rllchen Verbrecher, diesem maladen Staat das Gewissen erwacht, so greift der arme Kranke zu den Prinzipien der Welterfahrung, kann er sich damit durchreißen, so ist keine Räson mehr in ihn zu bringen, er wird bei jedem Gewissensschmerz nach diesem Oplat greifen! - Dies einzige wäre zu versuchen, wenn man ihn bewegen könnte, den großen Karpfenteich der Wissenschaft den Verbrechern zu öffnen. Gefangen würden sie nicht zaudern, den einzigen Ausgang zu wählen; ihre angeborene Energie, ihre noch ungebrochne Naturkräfte, ihr starkes Organ für Naturrecht, ihr von Vorurteilen und selbstsüchtiger Politik noch nicht gebeugter und geknebelter Geist würde vielleicht in der Wissenschaft, namentlich in der spekulativen, die Gesundheitskrise des Staates vorbereiten; ihr Scharfsinn, ihre ungebändigte Sinnenkraft und Ausdauer, die nicht Tag noch Nacht ermüden - wie könnten die neues feuriges Blut dern veralteten Sündenstaat einströmen! Und auch dem Schwert der Gerechtigkeit wär damit Genüge geleistet, denn durch eine neue sittliche Auferstehung in der Wissenschaft waren sie von ihrem moralischen Tod geschieden, sie würden zu einem neuen Leben erwachen, sie würden selbst sich nicht mehr als Verbrecher anerkennen und würden am End mit Ruhm bedeckt hervorragen.
Pfarrer.
Wie? - was? - wie meinen Sie das? - die Verbrecher sollten sich der Wissenschaften bemächtigen, um durch sie sich aus der Versunkenheit zu retten?... - ...
Fr. Rat.
Dem Verbrecher kann nur ein Leben gedeihen, dessen Besitz ihm niemand streitig mache, in dem allein alles sein gehöre, in dem er alles hervorbringe; ein Stoff des tiefen Nachsinnens, und zwar von nur erhabner Wirkung. - Statt eurer hoffnungslosen einsamen Einsperrungen laßt sie ein phantastisch Reich betreten des schaffenden Genusses, vielleicht führt dieser Weg zur Quelle der Magie, wo sie Dichter, Schöpfer, Künstler, Genien werden... Der Posten des Überblicks ist das Volk, es begreift seine Dichter und Philosophen und hat also den Begriff seiner Zeit. Es ist der Pol, der die schaudervolle leer-erhabne Bildung abstößt, wo das Herz nichts fühlt, weil der Geist nichts umfaßt Das Volk würde mich in meinen Strebungen verstehen, denn es fühlt sich selbst im Verbrecher! -
Bürgermeister.
So! - Es kann sein! ich mein es auch! Aber ist das zu seinem Ruhme?
Fr. Rat.
Sprechen Sie sich nicht selbst das Urteil, daß Sie sich in ihm nicht fühlen und doch ihn verurteilen.
Bürgermeister.
Wär dem so, dann würde ich nie ihn verurteilen, denn man wird sich nicht selbst Recht sprechen.
Fr. Rat.
Und doch ist jed Urteil ungerecht, das nicht aus diesem Begriff hervorgeht. Der Richter muß sein eignes Selbst im Verbrecher fühlen, er muß die Möglichkeit ahnen, die Willensstärke erwägen, sich selbst zu retten und die Mittel dazu erforschen. - Naturgesetz, Naturrecht wie viel tiefer geht es doch, wie innig schließt es sich an Geist und Herz, wie nährt es die Seele, wie strömt es fortwährend Mitgefühl, das heißt schaffendes Leben. Da gehört der Geist nicht einem, von dem er ausgehe, nein allen, die ihn trinken wie die Luft, wie den Tau, wie das Licht und die Nahrung der Erde. Wer das Naturgesetz versteht, der ist kühn, er fühlt sich im Verbrecher - Sie zucken die Achseln? - Ich fühl mich im Verbrecher, ich will mit meinem Naturgenie vortreten, und der Regent wird mich verstehen und wird eingehen auf was die Welt umwälzen wird, und das ist grade die höchste Zeit jetzt... Im Menschen gelten alle Charaktere, sie gehen in ein neues Element über, in das der Schöpfung! - der Charakter erschafft sich; - was in sich nicht geschaffen ist, das ist Verbrechen. So durch Geist - wird das, was noch ungebändigte Sinnenwut war, Geschöpf - vollkommen in sich organisiertes - und lernt sich fassen, das heißt seiner Kräfte harmonisch sich bedienen, - das heißt Rechenschaft von sich geben - das heißt: wirklich Mensch werden! - Was ist der Verbrecher? - Die Sinnenkräfte überwältigen in ihm die sittliche Natur, die von selbst sich dem Geist unterwirft. Die Sinnenkräfte sind stärker und hemmen dies edle Regiment, - sind wir deswegen berechtigt, eine so im Kampf begriffne Natur zum Teufel oder aus dem sinnlichen Reich der Schöpfung zu verbannen? - Stehen denn wir im vollkommenen Gleichgewicht unserer innern Regungen? Oder ist vielmehr das höhere Besinnen ganz taub in uns? Ist dieser ineinander wirkenden Mächte, der Seele, des Leibes und des Geistes, - ein einzig harmonisches Erzeugnis in uns, dessen wir uns rühmen könnten? - Was haben wir Großes vollendet, dieser Lebensbewegungen würdig? Trauer und Freude und sonst Regungen des Geistes und des Herzens sind sie so, daß ihre reinen und ungetrübten Empfindungen Zeugnis geben für die Keuschheit oder Unschuld unserer Natur? - oder für das Feuer unseres Geistes, oder für die Hingebung der Seele? - Sind es Leidenschaften, ist es Begrifflosigkeit, ist es totaler Wahnsinn selbstischer Befangenheit, die in uns wühlen, wenn wir mit den Begriffen der Menschheitsrechte aufs grausamste uns herumstreiten, den innern Frieden daran setzen, sie zu leugnen? - Wie läßt dies Rätsel sich lösen, daß das Geschöpf harmonisch geordneter Kräfte nicht wird und nur Schlmäre ist? - Daß es ein sittliches Dasein lügt, vorstellt, aber nicht wirklich ist, daß es die Tugend fingiert, daß es die Vernunft widersacht, die Gefühle verbildet, leugnet oder lügt so wie alles! - Deutlicher ausgesprochen: - Morden wir nicht, und rauben und plündern und verleumden? und verderben die Menschheit, sittlicherweise schuldvoller wie jene Verbrecher, weil wir für einen gelogenen Ausdruck den reinen Ausdruck der Natur leugnen, und wer weiß, haben wir nur darum Verbrecher, weil sie nicht unter Tugendlarven zu wandeln verstehen, wer weiß, verachten sie deswegen die Religion, weil auch nur Larven die Stellen der echten Götterbilder im Heiligtum eingenommen haben. - Und aber, wenn in uns die vollkommne, die idealistische Natur nur als Keim sich entwickelte, so würden wir die kühnen Gedanken und Begriffe fassen, wodurch die Menschheit sich neu erzeugen könnte, aber nicht an unserm Urteil, an unserer Fassungskraft zu scheitern käme. Warum ist der Verbrecher nicht Tugendheld geworden? Weil er in die enge verschrobene Kultur seine breiteren Anlagen nicht einpferchen konnte! Ihr habt ja nur Maßstäbe, weil ihr vor dem Unermeßlichen euch fürchtet! Ihr habt gegenüber der Idealität eine Tugendfestung handwerksmäßig mit Nachdenken und Beweisführen euch gebaut und macht aus dieser heraus den Prozeß der feldflüchtigen vogelfreien Menschheit. Was habt ihr aus diesem Sitz der Beschränktheit schon für Dekrete erlassen? - Wie habt ihr die Natur verfolgt, weil sie in euer System nicht paßt. Für euch ist ein Etwas nicht, was dem Verbrecher als wuchernder Reiz einverleibt ist, das sich Luft niacht unter Bedingungen, durch die es zum Verbrechen wird. Wären diese Bedingungen nicht, so würde es vielleicht der wirkende Reiz der Begeistrung fürs Unendliche sein, an das ihr euren Maßstab nicht anlegt. - Verstehen Sie mich? Nein! - Natürlich, denn Sie stehen mitten in dieser bewußtlosen Bewußtheit einer angemeßnen Tugend!
Pfarrer.
Blieben Sie doch nur ein klein bißchen bei der Wirklichkeit, bei der Möglichkeit nämlich, Ihre weite noch nie und nirgend gefaßte Anschauung zu realisieren.
Fr. Rat.
Was denken Sie? - Nicht zu realisieren wären meine Anschauungen! sie müssen realisiert werden, sowie ihr einen Funken dieser Wahrheitsflamme nur auffangt. Entweder ihr habt den Keim der Menschheit nicht in euch, oder ihr müf3t diesen Keim schützen, so verwildert er auch sei. Zum Ausreuten habt ihr kein Recht; und eure verfeinerte Kultur, eure philosophischen Begriffe sind die tiefste Lüge, wenn ihr wagt, dem Menschen, dem die ganze Welt gehört, das Dasein auf dieser abzuschneiden. Zur Bildung der Erde sind wir berufen, und der Beruf läßt sich immer realisieren.
Pfarrer.
Wie wollen Sie nun eine Lehranstalt oder Verbrecheruniversität organisieren? -
Fr. Rat.
Nichts leichter als das! - Wie man einen Karpfenteich abläßt durch einen Abzugsgraben in einen weiteren größeren See, so läßt man die Verbrecher überschwippen in die vollgepumpten Anstalten von Lehrstühlen, Musensitze, Zenosgänge und sonstige klassischen Böden, statt nur mit Predigten von der ungenießbarsten Tautologie gefüttert zu werden. Ein geschwätziges Weib erzählt alles dreimal, aber die geschwätzige Theologie schwätzt ohne Aufhören dasselbe, bei welchem Schwätzfieber sie aus allen Schweißlöchern Vokale dazu ausschwitzt, was kann davon ein gesunder Verbrecher inspiriert werden! -
Bürgermeister.
Was Sie sich ausgeheckt haben, Sie wollen die Verbrecher zu großen Gelehrten umbilden! wenn ich's recht verstehe! - Aber wie ist's möglich! wo nimmt der Staat die Kräfte her? - Er kann sich nicht ganz dafür verwenden. Er hat Pflichten, denen er obliegen muß, die ihn ganz in Anspruch nehmen, auch wenn diese idealischen Projekte nicht ganz Phantasma wären. - Was hat eine Staatsmacht für Verantwortungen ...
Fr. Rat.
Ich habe mir oft die Frage gestellt, was doch des Gerichteten Seele gleich nach dem Tod empfinde für ihren Richter, und ob sie Ruhe habe endlich nach dem verzweifelten Kampf mit der gemeinsten Leidenschaftlichkeit, die sie aus jedem Schlupfwinkel heraushetzte. Ja, wenn der nicht gleich nach dem Tod seinem Verderber sich sühnte, so müßte ein rächend Geschick über ihn hereinbrechen.
Bürgermeister.
Sie wollen vor dem Geist des Gerichteten uns bange machen, daß er uns verfolgen könne? Es hat noch keiner nach dem Tod uns nachgesetzt!
Fr. Rat.
Aus der Welt kann der nicht fort sein, dem ihr eben den sinnlichen Lebensfaden abgeschnitten habt. Deswegen ist sein Dasein nicht von der Natur aufgehoben, weil ihre Ordnung zerrissen ist, sie fängt im Rettungskahn ihn auf, den ihr in die Wogen hinabgestoßen habt. - Die feineren Sinne, wenn auch nicht überzeugt, empfinden ahnungsweise dem Gemordeten das Lebensgeheimnis nach. Mancher Richter fühlt die Ohnmacht als Todesbote in seinen Gliedern, wenn er ein Todesurteil unterzeichnet. Manchen verfolgt die Ziehkraft der Erinnerung gegen die er nichts vermag, sie wird zum unwillkürlichen Bewußtsein in uns des Unrechts. Die geistigen Organe haben ein willkürliches Vermögen in die Ferne, wie gesendete Boten, die -ahnungsweis solcher gewaltigen Schicksale Verzweiflungsmomente, widerhallen und der Seele den schauder- und schmerzempfindenden Reiz geben der Sympathie! - So hab ich lange den hingerichteten König der Franzosen in meinen Träumen gesehen, mit ihm gesprochen, in seine Geschichte, in seine Persönlichkeiten mich hineingefühlt. Dann war mein Geist plötzlich gehoben zu seiner Verteidigung und hielt die Volkswut bezähmt. Sag mir einer, das sei nichts! - Zum Redner bin ich geworden in meinen Träumen und prägte dem Volk meinen Willen auf.
Bürgermeister.
Ein Wille, im Traum dem Volk aufgeprägt? Was müßte aus dem schon geworden sein, wenn es den Willen ausdrücken müßte unserer Träume!
Fr. Rat.
Wo käm seine Bedrängnis her als von euren verkehrten Träumen, ob ihr wacht oder schlaft, einerlei! - Mir gab der Traum Empfindnerven der Wirklichkeit. Die Heldengeister der Revolution kamen im Traume zu mir, sie gaben mir die Hand, und ihr Anblick belehrte mich über die Zeiten, ist dies Unwirklichkeit zu nennen? Nein, dies Mitempfinden muß Gegenwirkung sein des Geliebten, Empfundenen. Wir können nicht für das Nichts empfinden. Die Seele kann nicht im Leib sterben, die angezogen wird durch begeistigte Verwandtschaften, sonst würde ja der Reiz, die Anziehungskraft der Liebe, das Ersterben des Geliebten bewirken. Mag auch die Seele einen Leib haben nach dem Tod, uns fehlen die Sinne - oder sie schlafen noch -, dies neue Sein zu gewahren, wie die Natur Wesen mit mehr oder weniger Sinnen begabt und dadurch ihre Lebensbeziehungen einschränkt, - im Kristall beschränkter wie in der Pflanze, weniger im Tier, am wenigsten im Menschen. Also in ihm ist das Bewußtsein am stärksten, doch ist's nur eine erweiterte Grenze, und die Schöpfung hört nicht da auf, wo unser Begriff aufhört. - Da unser Bewußtsein kaum zu lallen beginnt, wie wollen wir jetzt schon hinaus über alles, was es im Strom offenbarender Beredsamkeit uns noch mitteilen wird? Eben wie der Maulwurf die Gestalt des Menschen nicht ahnt, nichts weiß von dem, was das Auge wahrnimmt, ebenso kann außer unserer Sphäre selbständiges Leben sich bewegen, das wir nicht ahnen, aber empfinden. Wasser, Feuer, Luft, Erde! - kann es nicht noch ein Element geben und noch eins, in dem unsre Sinnennatur noch nicht unmittelbar schwimmt, weil die Kraft dazu noch nicht erwacht ist? In der Raupe sind alle Sinnenkräfte des Schmetterlings gebunden. - Diese Zukunftssinne müssen in uns vorbereitet liegen, und grad im Tod erst werden sie geboren, wodurch sie wie bei dem Schmetterling einen höheren Grad der Schöpfung einnehmen. Das Erwachen der Sinne ist das Erweitern des Schöpfungskreises für das Geschöpf selbst, es lernt mehr durch sich selber bestehen; seine Teile erleiden Veränderungen, die es zu seiner ewigen Existenz mehr befähigen! Das Übergehen durch noch ungeahnte Krisen sind die ewige Machtsprache der Schöpfung: »Es iierde!« Nichts anders ist der Tod! - Alle Anlagen, alle Ausbildung derselben sind organisches Werden jener höheren Existenz. Wir nennen geistig, was Bezug auf dieses höhere Werden hat, weil es unsern jetzigen Lebenssinnen entwachsen ist; als Begriff mag es die werdende Sinnennatur des nächsten Schöpfungsmoment sein. Da das hier Geistige vielleicht das dort Sinnliche ist ...