Bettinas Entwicklung
Bettina Brentano, verheiratete von Arnim, 1785 geboren, wuchs in einem großbürgerlich-liberalen Milieu in Frankfurt auf - Frankfurt, das damals durch die Entwicklung des Handels und der Industrie freier war als die Städte, die vom feudalen Hofleben der deutschen Fürsten korrumpiert waren. Ihre Erziehung ist nicht nur stark weiblich geprägt, sondern vom weltbürgerlichen Geist der Salons beeinflußt: Ihre Großmutter, Sophie von La Roche, die die Schriftstellerei als »Broterwerb betrieb« und gleichzeitig pädagogisch engagiert war, übernahm die Erziehung der achtjährigen Bettina nach dem Tod der Mutter (einer Freundin des jungen Goethe).
Im Salon der La Roche trafen sich junge Künstler und Gelehrte, deutsche Jakobiner und französische Emigranten - die Ereignisse im Zusammenhang der Französischen Revolution waren ein Zentralthema. Bettina las, wie vor ihr Caroline Schlegel-Schelling, Mirabeaus Reden; sie hörte Isaak von Sinclair Hölderlin zitieren und diskutierte mit über die pädagogischen Interessen ihrer Epoche: ihre Briefe an die Freundin Karoline von Günderode und an ihren Bruder Clemens Brentano (zusammengestellt in den Briefromanen »Die Günderode« und »Frühlingskranz«) sind voll von den Erfahrungen ihrer intellektuellen Sozialisation, die vom Klima der Geselligkeit geprägt war. Die Briefromane, die sie erst in späten Jahren zusammenstellte, atmen den Geist dieser republikanisch engagierten Geselligkeit, die kein Thema arbeitsteilig in fachwissenschaftliche Bereiche verweist. Neben die Schriftstellerin La Roche treten, noch in ihrer Jugend, zwei weitere wichtige Frauengestalten: die Dichterin Karoline von Günderode und die Mutter Goethes, noch bevor Bettina sich Goethe selbst nähert (ihr Briefroman »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« ist ihr bekanntestes und vielfach publiziertes Werk, weshalb in der vorliegenden Ausgabe daraus nichts veröffentlicht wird).
Von der Frau Rat Goethe lernte Bettina, wozu sie schon prädestiniert war: Mit einem sozusagen antiautoritären Instinkt in jeder Nische des Denkens und Alltaglebens den Kern verhärteter Vorurteile zu erkennen und aufzubrechen, die ein freies Zusammenleben der Menschen verhinderten, und zwar nicht nur durch die äußere politische Unterdrückung, sondern durch jene Selbstunterdrückung des Menschen, die sich damals mit der kapitalistischen Zeit- und Arbeitsmoral zu etablieren begann. Der erste Teil des hier in Auszügen abgedruckten Königsbuches enthält - von Bettina manchmal verändert - die originelle kluge Redeweise von Goethes Mutter: »Die Frau Rat erzählt«. Die dritte für Bettinas Entwicklung wichtige Frau ist die fünf Jahre ältere Dichterin Karoline von Günderode. Zu ihr empfand Bettina eine leidenschaftliche Liebe, der gegenüber die Günderode sich gleichzeitig ängstlich-abwehrend und offen verhielt - die hier veröffentlichten Briefe zeigen deutlich diesen Widerspruch, der für die Verkehrsformen der Zeit, die zu schwärmerischer Sublimierung neigte, typisch ist und an die Bettina sich nicht hält. Der bekannte klassische Philologe und Historiker Georg Friedrich Creuzer, der sich 1804 in die Günderode verliebte, trug bei zu dem Bruch der Freundschaft zwischen der Günderode und Bettina. Seinetwegen erdolchte sich schließlich die Günderode 1806 in Winkel am Rhein. Daß Creuzers Werk »Die Mythologie und Symbolik der Alten« (1810) sich mit mutterrechtlichen Gesellschaftsstrukturen befaßte (und Bachofen beeinflußte), scheint kein Zufall. Die Auseinandersetzung mit weiblichen Kulturformen und die romantische Wiederentdeckung antiker Frauengestalten (z. B. durch Friedrich Schlegel) hat das romantische Frauenbild mitgeformt. »Weibliche Kultur« war dabei (wie Schlegels Roman »Lucinde« zeigt) nicht nur an die Frauen als Trägerinnen gebunden, sondern bestimmte die gesamte stark effeminierte romantische Bewegung. Die Einleitung zur »Günderode« geht auf diese Zusammenhänge »weiblicher Kultur« näher ein. Dazu kam bei Bettina der Einfluß ihres älteren Bruders, des romantischen Dichters Clemens Brentano, der ihr die Gedanken der Frühromantik vermittelte, genauer gesagt, die der jenaer Frühromantik (Novalls, Tieck, die Brüder Schlegel), denn Clemens studierte in Jena, hörte die Vorlesungen Fichtes und Schellings, die ihrerseits den frühromantischen Dichterkreis entscheidend beeinflußten. Der Bruder versuchte sehr stark, Bettina zu erziehen, aber aus den Briefen wird deutlich, daß er mindestens ebenso stark von ihr erzogen wurde. Der Umfang des hier Veröffentlichten erlaubt keine Auszüge aus dem Briefroman »Frühlingskranz«, in dem Bettina den Briefwechsel mit Clemens zusammenstellte und teilweise stilisierte, wie sie es in allen Briefromanen tat. Nur zum Thema »Judenfrage« wird ein kurzer Auszug des Briefwechsels abgedruckt, der den politischen Unterschied der beiden (»Politisch« in einem weiten Sinne verstanden) sehr deutlich zeigt, nämlich den fast ständischen Dünkel des Bruders und die aufklärerische Vorurteilslosigkeit Bettinas. Überhaupt wird bei der Judenfrage deutlich, wie stark die Romantikerin Bettina vom rationalistisch-aufklärerischen Denken geprägt ist. In ihrem Buch »Die Romantik« beschreibt Ricarda Huch das Verhältnis der Geschwister: »Bettine, die viel mehr Selbstbewußtsein hatte als ihr Bruder, empfand vieles als Reiz und Kraft an sich, was ihm mehr zur Pein und zum Selbstvorwurf wurde«. (Huch: 505) In der Rezeption wird die Begegnung mit Goethe als das entscheidende Jugenderlebnis Bettinas dargestellt. Es scheint aber, daß die Begegnung mit Karoline von Günderode für ihre Gedanken- und Gefühlsentwicklung viel entscheidender war. Sie hat sich als von der Günderode Verlassene und Enttäuschte Goethe trostbedürftig zugewandt, allerdings kam es im Laufe der Beziehung zu einer - wohl auch erotischen - Intensivierung dieser Begegnung. Beide Beziehungen hat Bettina in der Form von Briefromanen objektiviert. Ihr Werk besteht fast ausschließlich aus Briefromanen, die aus dem Briefwechsel mit den für sie entscheidenden Freundschaften entstanden sind, oft 30-40 Jahre später, weshalb es nicht erstaunlich ist, daß sie die Briefe überarbeitet und weitergedichtet hat. Für die Methode dieser ständigen Verarbeitung gilt, was Rahel Varnhagen allgemein über Bettina sagt: »Frau von Arnim ist von allen, die ich kannte, die geistreichste Frau. Man möchte sagen: ihr Geist hat die meisten Wendungen. Ihr Geist hat sie, nicht sie ihn. Was wir Ich nennen können, ist nur der Zusammenhang unsrer Gaben, und die Pegierung derselben, die Direktion darüber. So wie Frau von K. (Kalb) jeden Gesichtskreis als solchen verlassen und in der Gewißheit, einen neuen zu finden, freudig sein kann; so leuchtet, oder blitzt wenigstens, bei Frau v. A. Mißvergnügen gegen das eben Gefundene hervor, und dieses spornt sie an, um jeden Preis Neues hervorzufinden; dies Verfahren kann aber nicht immer ohne Störung vorgehen.« (Rahel 3:451) Durch ihren Bruder Clemens lernte Bettina dessen Freund, den Dichter Achim von Arnim kennen, den sie 1811 heiratete, mit 26 Jahren - in genau diesem Alter hatte ihre Freundin Günderode wegen ihrer unglücklichen Liebe zu Creuzer Selbstmord begangen; andere Frauen in diesem Alter waren 10 Jahre oder mehr schon verheiratet. Bettina sträubte sich sehr lange gegen eine Verheiratung, reiste in Männerkleidung und wollte möglichst lange das Eheritual vermeiden. »Bettina spürte eine tiefe Abneigung gegen das gleichmachende Treiben des Alltags und wollte auch die Liebe, die durch eine Heirat so leicht in die einförmige Ebene der Gewöhnung herabsinkt, auf einzigartiger Höhe erhalten wissen. In aller Heimlichkeit verband sie sich mit Arnim, damit nicht das leere Gerede der Welt ihrem heiligsten Fest den poetischen Zauber raube.« (Tanneberger: 79) Sie bekam sieben Kinder, zu denen sie, wie man aus den Briefen entnehmen kann, ein sehr zärtliches Verhältnis hatte. Nach ihrer antiautoritären Auffassung von Erziehung hat Bettina wohl auch gehandelt. Sie fühlte sich offensichtlich als Frau nicht unterdrückt, im Unterschied zu anderen Romantikerinnen. Sie wurde nicht von Eltern frühzeitig und ohne viel eigenen Willen verheiratet, und sie fühlte sich auch nicht ihrem Manne künstlerisch unterlegen wie Dorothea ihrem Mann Friedrich Schlegel oder Caroline dem Intellekt A. W. Schlegels (und verstärkt dem Schellings, den sie später heiratete). Um sich ein Bild davon zu machen, wie man damals als Tochter verheiratet wurde, sei hier Henriette Herz, die Freundin von Caroline Schlegel zitiert, die später als Ehefrau (nur als solche konnte man etwas gelten) einen berühmten Salon unterhielt: »Ich war 15 Jahre und sollte bei der Tante nähen lernen. Wie sehr erstaunte ich nicht, als diese mir im Vertrauen sagte, ich sollte Braut werden. >Mit wem?( fragte ich sie, und sie nannte mir den Mann; er war angehender praktischer Arzt, ich hatte ihn einige Male bei meinem Vater und auch an seinem Fenster gesehen... Ich freute mich kindisch dazu, Braut zu werden, und malte es mir recht lebhaft aus, wie ich, von meinem Bräutigam geführt, nun spazieren gehen würde, wie ich bessere Kleider und einen Friseur bekommen würde,... ferner hoffte ich auf ein größeres Taschengeld... Der ersehnte Tag erschien, ... mir klopfte das Herz mächtig, und ich antwortete, daß ich mit allem zufrieden sei, was er (der Vater) über mich beschließen würde.« (Erinnerungen der Henriette Herz von 1779; in Weber-Kellermann: 97). Dazu kam, daß die Mädchen meist älteren »wohlbetuchten« Herren von den Eltern verkuppelt wurden (anders kann man es nicht nennen), und daß die meisten der heute bekannten Künstler von damals als nicht ehefähig galten, weil sie nicht sicher genug eine Familie ernähren konnten. E. T. A. Hoffmann, der, selbst verheiratet, seine fünfzehnjährige Gesangsschülerin liebte, erlebte einen solchen Konflikt, der ihn, auch durch seine Eifersucht, in lächerliche Situationen brachte. Die zarte schöne Juliane Mark wurde ihrem Vetter, dem Kaufmann Groepel, verehelicht. Im »Goldenen Topf« hat E. T. A. Hoffmann diesen biografischen Konflikt dargestellt und poetisch gelöst: der Held, dessen bürgerliche Geliebte dem gutverdienenden Bürger angetraut wird, verschwindet mit seiner ihm entsprechenden Märchengeliebten (einer Abspaltung der realen Julia) ins Reich der Poesie: ein happy ending voll romantischer Ironie, die nicht nur hier aus der Konfrontation eines möglichen Reichs der Freiheit mit dem wirklichen Reich der Notwendigkeit entsteht. Bettina äußert sich sehr selten direkt zur »Frauenfrage«. Sie hat auch innerhalb der Romantik eine Sonderstellung als Frau - sie fühlte sich nie als Werkzeug für das Genie des Mannes, wie das die Frauen der Brüder Schlegel tun, die viel deutlicher Fragestellungen weiblicher Emanzipation aufgreifen. Bettina gehört eher in den Zusammenhang der selbsttätig-politischen Frauen wie George Sand oder Flora Tristan. Sie beschäftigt sich mit jeder Form der Unterdrückung außer jener der Frau - kritisch und helfend: mit der der Juden, des polnischen Volkes, des Landprolet«iriats, der schlesischen Weber, den Außenseitern allgemein; so wendet sie sich dem als wahnsinnig bezeichneten Hölderlin zu, den sie, im Vorgriff auf antipsychlatrische Fragestellungen, gegen den Wahnsinn der Normalität in den Briefen an die Günderode verteidigt. Nach dem Tod ihres Mannes (1831) kümmert sie sich gleichzeitig um die Herausgabe seines und ihres Werkes: sie ist künstlerisch produktiv und politisch engagiert. Bettina hat das Privileg, sich als Frau stark zu fühlen, ohne unterdrückt zu werden. Sobald so etwas wie patriarchallsche Züge erscheinen bei jemandem, und sei es bei dem geliebten Bruder Clemens, reagiert sie selbstbewußt, den anderen zurechtweisend. Sie kuscht nie: sie wird einerseits respektiert, andererseits genießt sie sozusagen als leicht ausgeflipptes »Wunderkind« einen exotischen Freiraum; sie versteht sich auch als Ausnahme, als exzeptionell, und sie kommuniziert in »ihrer Sphäre« mit Menschen, die ähnlich fühlen, seien es Männer oder Frauen; sie kämpft noch in reifen Jahren gegen das, was man die vernünftige Welt der Realitätstüchtigkeit nennen könnte. Sie romantisiert das Leben und die Menschen, die sie sich aktiv auswählt.
Anders Rahel Varnhagen, die als einzige Frau der Romantik neben Bettina den Mut hatte, ihre Briefe als Kunstform zu betrachten, als schriftliche Realisation romantischer Geselligkeit. »Ich kann nur Briefe schreiben; und manchmal einen Aphorismus; aber absolut über keinen Gegenstand, den man mir, oder ich mir selber vorlegen möchte ... Sie sehen also, ... daß das, was ich schreibe, immer in ganz direktem Zusammenhang mit meinen eigenen Erfahrungen steht und immer den ganz direkten Adressaten sucht.« (Rahel 2: 368) Das könnte von Bettina stammen und charakterisiert die Methode der Briefform als Kunstform der Geselligkeit. Dennoch spricht Rahel im Unterschied zu Bettina von der Unterdrückung der Frau - Bettina erwähnt vorwiegend deren starke, dem in der ratio eingesperrten Manne überlegenen Züge. 1819 gibt Rahel einem Mädchen den Ratschlag: »...geh an Orte, wo neue Gegenstände, Worte und Menschen dich berühren, dir Blut, Leben, Nerven und Gedanken auffrischen. Wir Frauen haben dies doppelt nöthig; indessen der Männer Beschäftigung wenigstens in ihren eignen Augen auch Geschäfte sind, die sie für wichtig halten rriussen, in deren Ausübung ihre Ambition sich schmeichelt; worin sie ein Weiterkommen sehen, in welcher sie durch Menschenverkehr schon bewegt werden: wenn wir nur immer herabziehende, die kleinen Ausgaben und Einrichtungen, die sich ganz nach der Männer Stand beziehen mussen, Stückeleien vor uns haben. Es ist Menschenunkunde, wenn sich die Leute einbilden, unser Geist sei anders und zu andern Bedürfnissen konstituirt, und wir könnten z. E. ganz von des Mannes oder Sohns Existenz mitzehren. Diese Förderung entsteht nur aus der Voraussetzung, daß ein Weib in ihrer ganzen Seele nichts Höheres kennte als gerade die Forderungen und Ansprüche ihres Mannes in der Welt: oder die Gaben und Wünsche ihrer Kinder: dann wäre jede Ehe, schon bloß als solche, der höchst menschliche Zustand: so aber ist es nicht: und man liebt, begt, pflegt wohl die Wünsche der seinigen; fügt sich ihnen; macht sie sich zur höchsten Sorge, und dringendsten Beschäftigung: aber erfüllen, erholen, uns ausruhen, zu fernerer Thätigkeit, und Tragen, können die uns nicht; oder auf unser ganzes Leben hinaus stärken und kräftigen. Dies st der Grund des vielen Frivolen, was man bei Weibern sieht, und zu sehen glaubt: sie haben der beklatschten Regel nach gar keinen Raum für ihre eigenen Füße, müssen sie immer nur dahin setzen, wo der Mann eben stand, und stehen will; und sehen mit ihren Augen die ganze bewegte Welt, wie etwa Einer, der wie ein Baum mit Wurzeln in der Erde verzaubert ware; jeder Versuch, jeder Wunsch, den unnatürlichen Zustand zu lösen, wird Frivolität genannt; oder noch für strafwürdiges Benehmen gehalten«. (Rahel 2: 564 f.) Rahel ringt sich zu einer schwer erkämpften Selbständigkeit (dreifach schwer als Jüdin, als Frau und um den Broterwerb besorgte Frau im Unterschied zu Bettina, deren Leben finanziell gesichert war) durch, die Bettina sozusagen immer schon für sich beanspruchte. Man kann ermessen, wie weit davon entfernt immer noch eine als besonders selbständig und sogar »frivol« geltende Frau war wie die dreimal verheiratete Caroline Schlegel-Schelling. Caroline ist völlig unsicher und unselbständig, sobald sie schriftstellerisch an die Öffentlichkeit tritt und läßt sich von ihren Männern diktieren, ob und wie und unter welchem Namen etwas erscheint. Sie verfaßt eine überschwengliche Rezension des wohl zu Recht als mittelrnäßig aufgenommenen Schauspiels »Jon« von A. W. Schlegel. Dazu schreibt sie: »Am Donnerstag hat Schelling einen Bericht, den ich aufgesetzt habe, an Spatzler (den Herausgeber) geschickt; unter meinem Namen hätte ich es auf keine Weise tun mögen; von Sch. wird er es wohl ohne Bedenken annehmen.« (Caroline Briefe 2: 263 f.) Aber nicht nur den Namen verleugnet sie, wie auch in der berühmten Schlegel-Tieckschen Shakespeare-Übersetzung (an der sie, was heute noch wenige wissen, beteiligt war), sie läßt sich auch die Form vorschreiben, d. h. verzichtet freiwillig auf die ihr angemessene Briefdarstellung, die sie sichtbar macht (wie Bettina und Rahel) als Kunstform versteht: »Die Briefform, die ich ihm (dem Bericht) anfangs gegeben, hat mir Schelling gestrichen, und übrigens mich sehr zum Besten gehabt mit der großen Zärtlichkeit für das Stück und alles dasselbe Betreffende, die durchgehends hervor leuchtete, und ich mußte selbst darüber lachen, welch ein weibliches Ansehen er hatte. Wir nahmen unter vielem Scherz noch eine und die andere allzu zarte Spur der zarten Hände heraus.« (Caroline Briefe 2: 264) Bettina läßt sich von niemandem etwas streichen oder beschneiden, sie bekennt sich zu dem Stil des locker Assoziativen, des Hin- und Herspringens im »Flug der Gedanken«. Wie Martin Platz den Stil von Rahel Varnhagen beschreibt, das könnte sehr wohl auf Bettina zutreffen: »In Rahels Briefen findet man das typische Durcheinander des Gesprächs, den Zickzack der Gedanken, das Abschweifen der Phantasie in immer neue Bereiche. Danach bestimmt sich auch ihre Sprache. Scheinbar absichtslos, willkürlich, verrückt durcheinander purzelnde Wörter, dazwischen die spontansten Ausrufe, Kommentare, Einsch.lebsel, wie sie im Gespräch vorkommen, für den damaligen Leser ständige Pro-Vokation zum Mitdenken, für uns heute allerdings oft schwer verständlich, dunkel.« (Platz: 39) In der natürlich männlich bestimmten Rezeptionsgeschichte Bettinas (für die hier leider kein Platz ist) wird dieser »weibliche Stil« als Mangel definiert. Ludwig Geiger, der Bettina im übrigen wohlgesonnen ist, schreibt - und das ist typisch für die Ansichten über sie: »Sie besaß weniger geistige Zucht, die rasch aufquellenden überströmenden Gedanken vermochte sie nicht in Ordnung zu halten. Sie hatte weder das Talent zur Komposition eines größeren Ganzen, etwa eines Romans, noch die Gabe, ihre Ideen zurückzuhalten und zu einem großen philosophischen Werke zu ordnen. Sie schrieb Briefe, »schüttelte« wie Jacob Grimm sagte, >lange Antworten aus ihrem weiten Ärmel, unfähig, das notwendige Maß der Dinge zu fassen und zu halten<.« (Geiger: 2) Dagegen versteht Ingeborg Drewitz Bettinas Stil im Zusammenhang des von Heine beeinflußten locker-assoziativen, Tagespolitik mit persönlichen Ereignissen mischenden Stils des Journalismus, der sich im Klima des Salons als Ausdruck politischer Opposition verstand: »Viele kamen aus den emanzipierten jüdischen Familien, denen Staatsämter nicht offenstanden, viele aus dem Kleinburgertum, das politisch noch bedeutungslos war, während das Bürgertum den Adel, der sich von der Agrarwirtschaftskrise 1825 nicht erholt hatte, in seiner politischen Bedeutung abgelöst hatte. Die Führer der Opposition kannten das Leben unter dem Druck der Not, sie waren hellhörig für die Unruhe unter den rechtlosen Armen. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte zeichnete sich die gesellschaftsbildende Kraft des Journalismus ab.« (Drewitz: 188) Dieser Stil hat aber auch einen poetologischen Aspekt ; er ist Teil einer modernen, antiklassischen Ästhetik, die Friedrich Schlegel theoretisch mitbegründet hat.
Friedrich Schlegels Lob dieses Stils findet sich überall dort, wo er über die Arabeske schreibt (bei seiner Verteidigung jean Pauls beispielsweise). Die Arabeske ist für ihn die ursprüngliche Form der Poesie, wie er im »Brief über den Roman« - Teil des »Gespräch über die Poesie« (Briefe Gespräch - Formen der Geselligkeit) sagt. Im Unterschied zu den geschlossenen Kunstwerken, vor denen wir uns nur anbetend verneigen können, geben uns die geselligen Kunstformen die Möglichkeit, einer - wie Brecht später formuliert produktiven Rezeptionsweise. So, meint Schlegel, sei der Humor von Laurence Sterne (vor allem in seinem schönen Roman »Tristram Shandy«, der für die moderne Ästhetik wichtig war) eine »... geistreiche Form, die Ihre Phantasie dadurch gewann; und ein Eindruck, der uns so bestimmt bleibt, den wir so zu Scherz und Ernst gebrauchen können, ist nicht verloren; und was kann einen gründlicheren Wert haben als dasjenige, was das Spiel unsrer innern Bildung auf irgendeine Weise reizt oder nährt. Sie fühlen es selbst, daß Ihr Ergötzen an Sternes Humor rein war und von ganz andrer Natur als die Spannung der Neugier, die uns oft ein durchaus schlechtes Buch in demselben Augenblick, wo wir es so finden, abnötigen kann. Fragen Sie sich nun selbst, ob Ihr Genuß nicht verwandt mit demjerngen war, den wir oft bei Betrachtung der witzigen Spielgemälde empfanden, die man Arabesken nennt.« (Schlegel: 509 f.) Schlegel nimmt einen anschaulichen Vergleich aus der Malerei, indem er die Arabeske, jene kleinen Kritzeleien, die wir am Rand großer Stiche als eine Art Vorübung oder Vorstudie zum »großen Bild« des Künstlers sehen, überträgt auf diese spielerisch-gesellige Art des Dichtens, die den Leser zum Mitspielen stimullert. Eben diese Form finden wir in den Briefen einer Rahel Varnhagen oder Bettina mit ihren Abschweifungen und lockeren Assoziationen, die recht eigentlich Gesprächsfiguren sind. In einer ganz anderen Weise werden wir so auch philosophische, ästhetische und politische Inhalte (und Bettina schafft eine Synthese von allen) nachvollziehen können. Sie werden uns weder durch eine geschlossene Kunstform noch durch ein geschlossenes philosophisches System vermittelt: in diesen beiden Fällen müssen wir meist von uns selbst abstrahieren und dürfen nur eine ganz abgehobene Form der Phantasie und des Denkens zulassen, während wir im anderen Fall die Flügel der Phantasie - so sie noch der Ent-Faltung fähig sind - nicht beschnitten bekommen. In diesem Sitine ist Schlegels Begriff des »Interessanten« zu verstehen, den er an die Stelle des Begriffs »Schönheit« setzt, so wie er den Begriff der bewußten Künstlichkeit der Moderne an die Stelle der alten »Nachahmung der Natur« setzt. »Nur auf Natur kann Kunst, nur auf eine natürliche Bildung kann die künstliche folgen.« (Schlegel: 133) Künstlichkeit (mit der »Kunst« ja zusammenhängt) behauptet sich als subjektive Art des Synthetisierens im nahezu chemischen Sinn: des Zusammenbringens verschiedener »natürlicher« Elemente als Leistung des künstlerischen Subjekts, das nicht die Natur nachahmen will im Kunstwerk, sondern auch die Natur - wie alles andere - zum Material der Poesie macht. Bettina, das ist ganz deutlich, betrachtet alles um sie her als Material ihrer künstlerischen Produktion, die wiederum für sie Teil einer sozialen Kominunikation ist; nicht Bildung eines »Werks«, sondern Bildung, Entfaltung des Menschen (der sich in der künstlerischen Produktion verwirklichen kann) ist das Ziel. Deshalb geht es nicht um Darstellung bestimmter Inhalte, sondern um Selbstdarstellung, d. h. Vermittlung des Subjekts in der Methode der Aneignung der Inhalte, der Gedanken, Stimmungen und Gefühle, die uns stimulieren, unsere Gedanken, Stimmungen, Gefühle zu reflektieren. Nicht Gefühlsschwärmerei, sondern Reflexion des Gefühls ist »romantisch«. In diesem Sinne schreibt die Günderode am 18. Juni 1799 mit 19 Jahren an eine Freundin: »Von den Begebenheiten unserer Reise kann ich nichts sagen. Schriebe ich ein Tagebuch, so wäre ich in der traurigen Nothwendigkeit, viele gedankenlose Gedankenstriche anzubringen. Dies gilt aber nur von Begebenheiten, denn von dem, was ich gedacht, empftinden, könnte ich ganze Seiten voll schreiben.« (Günderode 2. 222) Ähnliche Gedanken finden wir bei Bettina, vor allem in ihren Briefen an die Günderode. Die Reflexion auf das, was man produziert, ist Teil der »Romantisierung«. Reflexion der Reflexion, Denken des Denkens ist die nochmalige »Potenzierung« des Lebens, wie Novalls sie versteht. Der Akt des Produzierens wird dabei transparent. Wenn ich einen Gegenstand, ein Wort aus seinem gewöhnlichen (Alltags-)Zusammenhang löse, mache ich den Gegenstand, das Wort, neu wahrnehmbar. Das ist Romantisierung, sichtbare Verwandlung des Lebens in Kunst rnit dem Anspruch der Synthese von Leben und Kunst. Da13 diese sich nicht in philosophische Systeme pressen ließ, leuchtet ein. Was Ricarda Huch über die Geschwister Brentano (Clemens und Bettina) schreibt, gilt für viele Romantiker: »Eben das Unsystematische, Sprunghafte ihres Denkens, dem die Mittelglieder fehlen, sodaß es lauter Drücker und Glanzlichter gibt, machte ihre Äußerungen im geselligen Kreise oder in Briefen so reizvoll und anregend. Diese beiden Menschen, die in Folge einer abnormen Anlage im Leben überall anstießen, ziehen durch ihre Schriften, die sie hinterlassen haben, unwiderstehlich an.« (Huch: 525) Allerdings geht Ricarda Huch hier, wie in ihrer gesamten Interpretation der Romantik von einer höchst fragwürdigen Definition des Normalen und der Norm aus; es verwundert nicht, daß Goethes lapidares Urteil, das Klassische sei das Gesunde und das Romantische das Kranke, in dieser Art von Rezeption lange Zeit nicht in Frage gestellt wurde.
Die Welt muß romantisiert werden
Weshalb interessiert uns Bettina heute? Bettina interessiert uns als Teil einer Bewegung, nämlich der kritisch-romantischen, die mit der Entdeckung des Unbewußten und einer antizipierenden Kapitalismuskritik die sich gerade etablierende bürgerliche Gesellschaft in Frage stellte. Bettina, indem sie das kritische Bewußtsein der Frühromantik (um 1800) der spätromantischen, auch politischen Reaktion (ab 1830) entgegenstellte, berührte sich mit dem jungen Deutschland. Diese zeitliche Differenz ist relevant, sie wird in der Rezeption oft übersehen. Die Frühromantik, besonders der »Jenaer Kreis« (in dessen Mittelpunkt die Brüder Schlegel mit ihren berühmten Frauen Dorothea und Caroline, die Philosophen Schelling und Schleiermacher, die Dichter Ludwig Tieck und Friedrich von Hardenberg, genannt politisch, standen) sind als ästhetisch-progressiv und gesellschaftskritisch zu begreifen. Die Spätromantik, und mit ihr die Brüder Schlegel, wurde politisch reaktionär (Friedrich Schlegel diente sogar Metternich). Kritisch blieben vor allem E. T. A. Hoffmann, Jean Paul, Heinrich Heine und Bettina von Arnim, wobei Bettina geistig der Frühromantik am nächsten ist. Bettina ist politisch näher als dem Romantiker-Bruder Clemens Brentano und dem Romantiker-Ehemann Achim von Arnim; aber im Unterschied zu politisch versucht sie, das frühromantische Programm der Verbindung von Kunst und Leben nicht nur in einer kleinen Gruppe von Freunden im Experiment neuer kollektiv verstandener Verkehrsformen zu realisieren; Bettina versucht, diesem Progran-im einen politischen Stellenwert zu verleihen, indem sie politisch handelt, ohne sich mit ihrem Anspruch einer romantischen Revolutionierung des Alltaglebens in die Privatsphäre abdrängen zu lassen. Ihr politisches Engagement verbindet sie mit den Jungdeutschen. Die begeisterte Rezension des »Königsbuches« von dem jungdeutschen Schriftsteller Karl Gutzkow zeigt diese Affinität auch von den Jungdeutschen her. Aber Bettina bleibt auch in ihren tagespolitischen Aufsätzen und Aufrufen Romantikerin, ob es um Darstellung des Alltagslebens oder um beschwörende Aufrufe gegen die Unterdrückung des polnischen Volkes oder der Juden im Frankfurter Getto geht. (Romantisieren hier im Sinne der Definition von politisch als qualitative »Potenzierung« des Lebens.) Das frühromantische Programm der Romantisierung ist poetologische Kritik an der Quantifizierung des Lebens. Mit der kapitalistischen Produktionsweise wurde die Eigentümlichkeit der Dinge, ihre Qualität, reduziert auf ihre quantitative Vergleichbarkeit und damit Austauschbarkeit; auch der Mensch selbst wurde als »Ware Arbeitskraft« zum meßbaren und austauschbaren Vergleichswert, und das Maß, mit dem alles mit allem vergleichbar und austauschbar gemacht wurde, war das Geld. Diese kapitalistische Produktionsweise blieb nicht ohne Folgen für das Alltagsleben und die Bewußtseinsbildung. Die Entfaltung der (quantifizierenden) Naturwissenschaften, die Philosophie des Rationalismus und die Verinnerlichung jener Tugenden - Fleiß, Disziplin, Sparsamkeit - die den reibungslosen, zeitlich meßbaren Verlauf der neuen Produktionsweise garantieren halfen, führten nicht nur zu massenhaftem Elend und gewaltsamer Einpeltschung einer neuen, von der Zeitökonomie beherrschten Lebensform; diese Dialektik von Reduktion (der Qualität auf Quantität), Verkümmerung einerseits und unendlicher Entfaltung der Produktionskräfte andererseits, führte beim Übergang zum bürgerlichen Staat auch zu einer Entfaltung der Bedürfnisse und einer quasi kosmopolitischen Verfügbarkeit über den materiellen und ideellen »Reichtum der Welt«. »Romantisierung« umschließt diese Dialektik; sie ist nicht restaurative, rückwärtsgewandte Kritik an den »neuen Verhältnissen« (wie in der spätromantischen Reaktion, von der Bettina umgeben war, bis hin zu ihrem Bruder). Romantisierung - von den Spätromantikern längst aufgegeben zugunsten einer Idyllisierung des Bestehenden und einer Verteufelung aller progressiven Folgen der Französischen Revolution - enthält die Reflexion auf die »Universalität der Bedürfnisse« (Marx) und auf die Freisetzung der materiellen und geistigen Produktivkräfte durch den Kapitalismus, der die »bornierten« Schranken des Feudalismus, die in den Zollschranken von über 300 deutschen Fürstentümern ihren äußeren Ausdruck fanden, aufhebt. Wenn politisch eine »universelle Humanität« (politisch:441) fordert, so berührt sich dies mit der Schellingschen Dialektik der Humanisierung der Natur und der Naturalisierung des Menschen. Der natürliche ist nicht der primitive Mensch, sondern der nicht mehr zwanghafte. Politisch verbindet »Natürlichkeit« und Geschichte, und er setzt dabei den romantischen Begriff reflektierter Natürlichkeit voraus, der impliziert, daß es die »erste« Natur für uns nicht gibt, daß sie immer schon und von je bearbeitete Natur ist, und sei es die geistig angeeignete »wilde Natur«, welche die Romantik nicht zufällig entdeckt. Überall finden wir, auch in Bettinas emphatischen Naturbeschreibungen der Günderode-Briefe, die Beschreibung wilder Natur in Korrespondenz zur eigenen Stimmung. Diese Stimmungsnatur und Stimmungslandschaft der Romantik beginnt mit Rousseaus »Neuer Heloise« und den Ossian-Dichtungen des Schotten MacPherson, sie setzt sich fort in Goethes Werther, der heitere Landschaft beschreibt, solange der Held sich positiv-verliebt in ihr bewegt und der sich mit der Landschaft, in der er sich bewegt, verdüstert, der schließlich nicht zufällig die dunklen nebligen Landschaftsschilderungen Ossians zitiert, wenn er sich Zuständen nähert, die der romantische Dichter Lenau, sich kennzeichnend, eine »Gravitation nach dem Unglück« nannte. Das ist alles andere als naive Naturbeschreibung, wie sie sich mit dem so eingerasteten mißverstandenen Image der Romantik verbindet (die Stimmungslandschaft des Werther, wenn auch zwei Jahrzehnte vor dem Beginn der Romantik, 1774, ist romantisch). Diese den Figuren analoge Stimmungslandschaften sind im höchsten Maße synthetisch, angepaßt an den psychischen Zustand des Menschen. Im »Werther« wird das Synthetische nochmals verdoppelt, indem Werther den Ossian zitiert, (der 1763 erschien und einflußreich für den deutschen Sturm und Drang war, dem der »Werther« zugerechnet wird). Das Ausmaß des Zitathaften in der Romantik, des Collagierten im modernen Sinne, des künstlich Zusammengestellten, wird heute kaum mehr nachvollzogen, weil uns die Bildung fehlt, aus der heraus die Anspielungen und das freie Spiel mit dem »Bildungsgut« zu verstehen wäre. Der Anmerkungsapparat zu Bettinas Briefen würde den Umfang des Originaltextes weit überschreiten, ließe man sich auf alle Anspielungen ein. Im Rahmen eines kleinen Buchs wäre dies nur auf Kosten von Bettinas Texten möglich, um die es schließlich geht. Aber es ist auch nicht nötig, denn Bettina zeigt durch ihre Vermischung der Bereiche, Gattungen, Stimmungen, durch die Gleichzeitigkeit von spontaiier Gefühlsäußerung und Reflexion darauf selbst die Methode des Romantisierens. Novalis hat die »Methode« als noch ganz »unbekannte Operation« bezeichnet: daß er damit schon im Wort auf den operativen, eingreifenden (und nicht naturnachahmenden und widerspiegelnden) modernen Dichter vorausweist, konnte nur deshalb übersehen werden, weil Novalis mit dem Vorurteilsblick dessen, der sich schon immer vorher ein Bild macht (und die Literaturwissenschaftler haben dafür ein spezielles Talent), gelesen und abgehakt wurde. Die Welt, sagt Novalis, muß romantisiert werden.
- »Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung. Das niedre Selbst wird mit einem besseren Selbst in dieser Operation identifiziert. So wie wir selbst eine qualitative Potenzreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt... Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es...« (Novalis: 424)
In diesem Sinne romantisiert Bettina ihr Leben in ihrem Schreibprozeß.
Daß die Romantisierung (dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn geben heißt, es verfremdend - ungewohnt - darzustellen, um es neu wahrnehmbar zu machen) eine Vorform der Verfremdung ist, sollte uns besonders dann auffallen, wenn wir Bettinas Texte seltsam oder schwer verständlich oder überraschend finden - in ihrem Nebeneinander von Trivialem und »Wesentlichem«, in einer Art Mythisierung des Alltags bei gleichzeitiger Kritik des Alltagslebens der Epoche. Das ist nicht Undiszipliniertheit, wie das so gern mit einem tolerierenden Augenzwinkern in der Rezeption (so z. Bsp. Geiger) über Bettina gesagt wird, das ist bewußte, sozusagen antiklassische, nämlich romantisierende Methode aus der Einsicht in die Künstlichkeit der (auf einer arbeitsteiligen Vereinbarung beruhenden) Grenzziehungen zwischen Wissenschaft und Kunst, Kunst und Leben, Phantasie und Wirklichkeit. Bettina wird alles zum Material ihrer dichterischen Kommunikation mit einem »Du«: mit der Günderode, Goethe, der Frau Rat, Clemens Brentano, König Friedrich Wilhelm IV., der Preußischen Nationalversammlung, einem jungen Freund »Pamphilius«, etc. Dieses »Du« ist gleichzeitig die Welt; und »die Welt«, für die diese Briefe, aus denen ihr Werk besteht, zu Briefromanen verdichtet, ein zweites Mal romantisiert werden, ist die deutsche literarische Öffentlichkeit, die statt einer politischen Öffentlichkeit - wie in Frankreich und England - auch das politische Gewissen der Nation ist, ein kleines Grüppchen ohne wirkliche Verbindung zum »Volk«, eine Verbindung, die Bettina immer wieder herstellen will. Novalis hat diesen Zustand analysiert.
Erst wenn das Volk ein Publikum wird, wird es geschichtlich. Vorher, so kann man mit Marx ergänzen, befindet es sich in der Vorgeschichte:
- »Von wie wenig Völkern ist eine Geschichte möglich! Es ist natürlich, daß ein Volk erst geschichtlich wird, wenn es ein Publikum wird. Ist denn der Mensch geschichtlich, eh er mündig ist und ein eignes Wesen vorstellt?» (Novalis: 441)
Wir haben hier wieder den Begriff reflektierter Natur vorauszusetzen, wenn von Natürlichkeit die Rede ist. Es gibt kein Zurück in die unbeschädigte Natur, ins einfache Leben, in die heile Welt, wie das der Romantik oft als Intention unterstellt wird. Es gibt nur die Bewußtwerdung durch die Geschichte, und das heißt auch, durch die Entfremdung hindurch, um zu einem »eignen Wesen« zu kommen. Die Naturalisierung des Menschen (die reflektierte Aneignung seiner Triebnatur, das nicht mehr selbstunterdrückende Umgehen mit seinen Triebbedürfnissen) und, unlösbar damit verbunden, die Humanisierung der Natur (die angesichts der Umweltzerstörung makabre Aktualität gewinnt) ist ein romantisches Konzept, das nicht zufällig Marx wiederaufgegriffen hat. Daß diese Verbindung nur kollektiv möglich ist, haben die romantischen Gruppenmenschen begriffen. Die romantische Geselligkeit enthielt diesen Anspruch, sein »eignes Wesen«, seine individuellen Produktionskräfte in und durch die Gruppe zu entfalten. Erst im Surrealismus werden diese Intentionen dann wieder aufgenommen. Bettinas Briefromane sind Ausdruck dieser romantischen Geselligkeit.
Romantische Geselligkeit
»Journale sind eigentlich schon gemeinschaftliche Bücher. Das Schreiben in Gesellschaft ist ein interessantes Symptom - das noch eine große Ausbildung der Schriftstellerei ahnden läßt. Man wird vielleicht einmal in Masse schreiben, denken und handeln. Ganze Gemeinden, selbst Nationen werden ein Werk unternehmen. « (Novalis: 414)
Die romantische Geselligkeit fand ihren gesellschaftlichen Ausdruck in den Salons einerseits, andererseits in den gemeinschaftlichen Zeitschriften oder gar einem kollektiv geschriebenen Roman wie »Karls Versuche« (die Autoren waren Varnhagen, Fouqué, Neumann und Bernhardi). Die Briefform wurde im Zusammenhang dieser Tendenzen zur Kunstform erklärt, weil Kunst Teil der romantischen Geselligkeit war, verbunden mit dem Leben, mit dem Versuch gemeinsamer Lebensformen in Gruppen. Der Brief, Kunstform der Frauen im besonderen, richtete sich an einen bestimmten Adressaten, aber gleichzeitig an eine literarische Öffentlichkeit, von der dieser Adressat ein Teil war. Die Trennung von Privatheit-Öffentlichkeit (von bourgeois und citoyen, von Gefühl und politischem Verstand, von Familie und Geschäft) wurde durch die romantische Briefform doppelt aufgehoben: einmal durch die inhaltliche Vermischung von Öffentlichem und Privatem - wofür Bettinas Briefe ein hervorragendes Beispiel sind -, und zum anderen durch die Ver-öffentlichung des scheinbar Privaten, das zunächst nur für einen Briefpartner bestimmt ist. Auf diese Weise ist es nicht mehr möglich, daß der »Rationalität« des öffentlichen Geschäfts (und zunehmend des Betriebs) die Emotionalität der Familie als »Hort des Intimen« gegenübersteht. Vielmehr wird am Beginn der Spaltung diese literarisch kritisiert und spielerisch aufgehoben. Die Aufhebung wurde dadurch erleichtert, daß die historisch »veraltete« Form der Großfamilie als Produktions-und Konsumtionsgemeinschaft erst allmählich abgelöst wurde durch die Kleinfamilie, die keine Produktionsgemeinschaft mehr war und diese zunehmende Funktionslosigkeit kompensierte durch Emotionalität und das libidinöse Besetzen einer »Intimsphäre«, die nach außen hermetisch abgeschlossen war mit dem potentiell schizoiden »Gummizaun.« ödipaler Konflikte. Durch die Briefform wurde die Familie als Inbegriff des Privaten kritisiert. An ihre Stelle trat sogar konkret am Beginn der Romantik (1797) die Gruppe - nicht erstaunlich, daß es keiner der Frühromantlker außer Tieck zu einem »ordentlichen Familienvater« brachte, und daß Bettina ihre schriftstellerische Tätigkeit in vollem Umfang erst nach dem Tod ihres Mannes realisierte. Bei Betrachtung des Lebens von Clemens Brentano schreibt Ricarda Huch: »Drei Punkte sind in unserem Leben wesentlich und finden sich in den Lebensläufen aller Romantiker, nämlich die Berufslosigkeit, die Familienlosigkeit und die Heimatlosigkeit.« (Huch: 478) Der Skandal der »Indiskretion«, wie die Herausgabe der »Lucinde« von Friedrich Schlegel (in welcher die Entwicklung seiner Liebe zu Dorothea ausführlich beschrieben wird), ist typisches Merkmal der Romantik. Die radikale Infragestellung eines der Öffentlichkeit entzogenen Intimbereichs ist Teil der romantischen Revolte gegen die Verkümmerung des Lebens und einer Arbeitsteilung bis hinein in den menschlichen Körper und Geist. Die Romantiker hatten eine konkrete Vorstellung davon, wie das Leben besser und glücklicher werden könnte. Sie hatten aber keine, die sich in einem berechenbaren Konzept darstellen ließ. Das machte sie äußerlich den Rationalisten unterlegen, die ebenfalls von den Möglichkeiten eines besseren Lebens sprachen, die aber das grundlegende Prinzip der Industriellen Revolution, die Arithmetik, auf das Leben übertrugen, den Menschen als Maschine ansahen (das »Maschinenmonster« der schwarzen Romantik war eine Reaktion auf diese Quantifizierung) und glaubten, das Glück mit dem Rechenschieber berechnen zu können: »Für Jeremy Bentham und seine Anhänger, die konsequentesten Verfechter dieser Art von Rationalität, waren sogar Moral und Politik Gegenstände von Berechnungen. Thema der Politik war das allgemeine Glück. Die Freude eines jeden Menschen konnte (zumindest in der Theorie) in Kategorien der Quantität ausgedrückt werden, ebenso sein Schmerz. Diejenige Regierung galt als die beste, die das größte Glück für die größte Zahl garantierte. Die Buchhaltung über die Menschlichkeit würde wie die eines Geschäfts Soll und Haben aufweisen.« (Hobsbawm 1:79)
Dieses Modell spukt heute noch in den Köpfen »progressiver« Reformer. Die protestantische Wertethik und die Aufspaltung des Lebens in einen öffentlichen und privaten Bereich ist Teil solcher Rationalität: Sie hat geschichtlich ein fortschrittliches Element gegenüber der feudalen Hierarchie, sie stellt eine Berechenbarkeit den unberechenbaren Privilegien entgegen, aber sie führt, verabsolutiert zum Prinzip des Lebens, in die Logik der Tauschgesellschaft, in der jede »freie bewußte Tätigkeit« erstickt wird zugunsten einer Produktion für den Tausch, in der selbst das Glück zum berechenbaren Tauschartikel reduziert wird.
- »Wir fragen uns, welche Menge an Kaufkraft oder Waren und Dienstleistungen usw., die für Geld erhältlich sind, sie wievielen Individuen hat zugute kommen lassen.« (Hobsbawm: 79)
Bettinas oft trotzig anmutendes Bestehen auf der Eigentümlichkeit und Besonderheit des »Individuellen«, auf der Berechtigung, sich nicht konform zu verhalten, kritisiert diese Tendenz zur Reduktion des Unaustauschbaren auf Austauschbar-Berechenbares. Diese Kritik ist keine Kritik an gerechten und möglicherweise kollektiven Lebensformen. Bettina weist immer wieder darauf hin, daß der Einzelne sich nur mit den anderen entfalten kann. Gerade die abgeschlossene Monade, die Fiktion des autonomen Individuums, ist das Austauschbare, weil Unentfaltete, Verkümmerte. Die romantische Geselligkeit, der ständige Kontakt mit den anderen, die gegenseitige produktive Kritik mündeten konkret in Versuche, gemeinsam zu leben, zu denken, zu schreiben, seine Subjektivität überhaupt erst im Zusammenhang mit anderen Subjekten zu verwirklichen. Der romantische Subjektivismus, der auch an Bettina oft als Untugend getadelt wird, ist Ausdruck dieser Geselligkeit. Damals wäre es niemandem in den Sinn gekommen, Kollektivität mit »Gleichmacherei« etc. in Zusammenhang zu bringen. Erst der durch den kapitalistischen Arbeits-Prozeß »vereinzelte Einzelne«, der sich in ständiger konkurrenzhafter Selbstbehauptung von den anderen abgrenzen muß, die er vorwiegend unter dem Aspekt der Konkurrenz (um den Arbeitsplatz, uni die Frau oder den Mann, um die Fiktion der Einmaligkeit der eigenen Qualitäten etc.) wahrnimmt, kann sich von kollektiven Lebensformen bedroht fühlen. Im übrigen sind diese Lebensformen bislang in keinem der Länder, die sich sozialistisch nennen, realisiert worden, sondern eher - ähnlich wie in der Romantik - in kleinen gettoisierten Intellektuellen-Gruppen, die das Privileg haben, sich zur Reproduktion des Lebens nicht ständig konkurrenzhaft abgrenzen zu müssen.
Vor 150 Jahren allerdings war die Kollektivität der Lebensformen als »feudalistischer Überhang« in der Großfamilie noch lebendig und deshalb nicht so abgespalten vom übrigen Volk wie heute. Darauf reflektiert Alexander von Gleichen-Russwurm, wenn er (1909!) feststellt, der heutige Mensch belächle
- »die Art der Vorfahren, durch Wort oder Brief sich einander fortwährend mitzuteilen, ihr Bedürfnis, sich anzuschließen, wenn er solches Gehaben nicht überhaupt verachtet. Wir merken vielleicht kaum, wie ungeheuer vereinsamt wir sind im Vergleich zu jenen verschwundenen Generationen und fühlen schwerlich, daß wir nichts von dem besitzen, was in der Vergangenheit... die Menschen elastisch und heiter, leichtsinnig und frohgemut stimmte. Einsam freut sich der moderne Charakter, einsam muß er leiden.« (Gleichen-Russwurm: 47)
Bettinas Briefe sind auch deshalb so faszinierend, weil sie den Geist dieser Geselligkeit atmen, weil Einsamkeit (sehr oft im Zusammenhang emphatischer Naturschilderungen auf Spaziergängen) nicht als Mangel, sondern als produktive Distanz vom Zusammenhang mit den anderen Menschen erlebt wird. Wie soll für den, der »einsam« leiden muß (Gleichen-Russwurm:5), Einsamkeit etwas Produktives sein? Er müßte ja aus der Not eine Tugend machen. Und also begibt er sich in den Sarg der Kleinfamilie, um sich nicht einsam zu fühlen. In dieser Isoliertheit versteinern die Menschen und treffen auf andere Versteinerte, die sie nur als Feindbilder wahrnehmen, denn sie sind außerhalb der Intimsphäre der Kleinfamilie, auf die allein der Mensch sich in der zunehmend bedrohlicher werdenden Wirklichkeit zurückziehen kann. Daß das Konkurrenzprinzip in der Familie mit schmerzhaften Abgrenzungskämpfen gegen symbiotische Umarmungstechniken weiter reproduziert wird, das verschleiert er sich. Die »Privatsphäre« wird als helle Welt postuliert und phantasiert. Von dieser Situation aus ist es schwer, die Existenz der literarischen Salons zu verstehen, im besonderen die der romantischen.
Die Salons der Aristokratinnen im 17. Jahrhundert in Frankreich, in denen hinter den Kulissen Politik gemacht wurde, und zwar meist unter der Regie attraktiver Frauen, hat mit dem deutsch-romantischen, bürgerlich-aristokratisch gemischten Salon nicht mehr viel gemeinsam - allerdings soviel, daß, im Unterschied zu den englischen Herrenclubs, Frauen darin dominieren. In einer Zeit, in der Maria Theresia, Katharine II. und eine Madame Pompadour die europäische Politik bestimmten, waren die männlichen Aristokraten in Frankreich im wahrsten Sinne des Wortes depotenziert: Sie waren ihrer Machtfunktionen beraubt und lebten als funktionslose und abhängige Parasiten am Hof des »Sonnenkönigs« Ludwig XIV. Und während sie stickten und, was damals Mode war, goldenen Brokat auftrennten, machten ihre Frauen mit halber oder ganzer Oben-ohne-Mode Politik. Der romantische Salon ist dagegen der Treffpunkt bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen.
- »Im Salon treffen sich die, welche gelernt haben, im Gespräch darzustellen, was sie sind. Der Schauspieler ist stets der >Schein< seiner selbst, der Bürger hat als einzelner gelernt, sich zu zeigen, nicht ein Sein, das hinter ihm steht, sondern nichts als sich selbst. Der Adlige verliert langsam in der Aufklärung das, was er repräsentierte, er ist zurückgeschlagen auf sich selbst und verbürgerlicht.« (Hannah Arendt: 45).
Den berühmtesten Salon, den Salon der Romantikerin Rahel Varnhagen in Berlin, nennt Hannah Arendt in ihrem Buch über Rahel Varnhagen einen »sozial neutralen Raum, in dem sich alle Stände treffen und von jedem als Selbstverständlichkeit verlangt wird, daß er ein einzelner sei.« (Arendt:45) Das Sichdarstellen als bürgerliches Rollenspiel löst die feudale Repräsentanz ab, die in den Salons der französischen Aristokratie noch ausschlaggebend war. Bettina und vor allem ihr Bruder Clemens gehörten zum Kreis der Freunde um Varnhagen. Rahel starb ein Jahr nach Goethe, 1833, und hat deshalb von der schriftstellerischen Tätigkeit Bettinas, die im größeren Umfang nach 1835 anzusetzen ist, kaum etwas erlebt. Bettinas Salon war auch - in der politisch explosiveren Situation des Vormärz - wesentlich als kleiner Zirkel einer politischen Gegenöffentlichkeit zur Zeit härtester Zensur zu verstehen. Für ihn gilt schon nicht mehr, was Hannah Arendt von Rahels Salon sagt:
- »für eine kurze Zeit hat sich alles, was in der Gesellschaft Rang und Namen hatte, den gesellschaftlichen Ordnungen und Konventionen entzogen, war ihnen entlaufen. Der jüdische Salon in Berlin war der soziale Raum außerhalb der Gesellschaft, und Rahels Dachstube stand noch einmal außerhalb der Konventionen und Gepflogenheiten auch des jüdischen Salons... Der jüdische Salon, das immer wieder erträumte Idyll einer gemischten Geselligkeit, war das Produkt der zufälligen Konstellation in einer gesellschaftlichen Übergangsepoche. Die Juden wurden zu Lückenbüßern zwischen einer untergehenden und einer noch nicht stabilisierten Geselligkeit... Juden wurden in dem gelockerten Konventiongefüge der Zeit in der gleichen Weise gesellschaftsfähig wie die Schauspieler: beiden attestiert der Adel ihre bedingte Hoffähigkeit. (Hannah Arendt: 62f.)
Bettina, die nicht nur den jüdischen Salon kannte, sondern auch das jüdische Elend des Frankfurter Gettos, nahm zur Judenfrage sehr engagiert Stellung und machte auch diese zum Thema des Salons.
Der literarische Salon, gesellschaftlich neutralisierter Ort gebildeter Geselligkeit, wird von den Romantikern als literarische Produktionsstätte betrachtet. Erst in der geselligen Wechselwirkung von Gespräch und Werk, von Sprechen und Schreiben wird die neue »romantische« Kunst begriffen. Der für die Moderne entscheidende Aspekt ist der Prozeßcharakter der Kunst, in dem das Resultat verschwindet. Es geht den Frühromantikern nicht um das abgeschlossene Kunstwerk, um das Produkt, sondern um den künstlerischen Prozeß als integrierten Teil freier Selbsttätigkeit, um die Produktion des »Lebens«, wie es sein sollte.
Deshalb soll, wie Inge Hoffmann-Axthelm Friedrich Schlegels Ästhetik definiert, »der Übergang vom gesprochenen zum geschriebenen Wort derart fließend werden, daß alle Formen geselliger Mitteilung sich möglichst unvermittelt als literarische konstituieren«. (Hoffmann-Axthelm: 96) Die Formen dieser künstlerischen Geselligkeit gehen über den Salon weit hinaus. Der Jenaer Kreis produzierte gemeinsam für die Zeitschrift »Athenäum« (1798-1800). Diese Zeitschrift war nicht nur zum Selbstverständnis der Gruppe gegründet worden (die Schlegels, Tieck und Novalis schrieben hauptsächlich für sie), sondern auch, um ein größeres Publikum durch die Form des Journals zu erreichen. Das Wichtigste für Friedrich Schlegel ist am Athenäum aber »nicht die Tatsache, daß es eine eigene kritische Zeitschrift darstellt, sondern daß es Instrument der literatischen Vereinigung der Gruppe ist« (Hoffmann-Axthelm: 94). Der literarische Ausdruck ist deshalb nicht zufällig meist die Form des Dialogs, des Gesprächs, des Fragments, des Briefes (Gespräch über die Poesie, Brief über den Roman etc.); sie entspricht einem dem geschlossenen Kunstwerk entgegenstehenden Konzept des offenen Werks, das produktive Rezeption, also kommunikativen, kritischen Eingriff erlaubt. Allerdings gelingt die Vermittlung der Gruppe nach außen gerade auf dem Höhepunkt der literarischen Geselligkeit, wo ein Teil der Gruppenmitglieder zusammenleben, am wenigsten.
Im Jahre 1799 (Bettina ist 14 Jahre alt und konnte diese Intensität des Gruppenlebens erst ein Jahrzehnt später, als es längst vorbei war, vermittelt bekommen) ist die Gruppe am engsten zusammen. Im Hause A. W. Schlegels und seiner Frau Caroline, einer der dominierenden romantischen Frauengestalten, wohnten oder hielten sich als Dauergäste auf: Der Philosoph Schelling (den Caroline später nach ihrer Scheidung von A. W. Schlegel heiratete), der Dichter Tieck mit Frau und Tochter, der Bruder Friedrich Schlegel und Dorothea, die als »Lucinde« die romantische Frau par excellence wurde, der Naturforscher Steffens, der die Naturwissenschaften romantisieren wollte (Im Sinne der frühromantischen Forderung nach Vereinigung von Kunst und Wissenschaft), Novalis und, zu einem späteren Zeitpunkt allerdings, der Philosoph Schleiermacher, der seinen Freund Friedrich Schlegel in seinen »Vertrauten Briefen Schlegels über Lucinde« gegen die Anwürfe der Rezensenten in Schutz nahm.
Die Frauen dominieren nicht nur in der Geselligkeit des Salons, sie halten auch eine Künstlergruppe wie diese zusammen, allerdings auf Kosten der eigenen Produktivität. Im Unterschied zu Rahel Varnhagen und Bettina betrachten sich Caroline und Dorothea Schlegel in ihrer künstlerischen Produktion nicht als eigenständig, sondern letztlich doch als Musen ihrer genialen Männer, ja ihre Rezensions- und Übersetzungstätigkeiten ist für sie teilweise Broterwerb zugunsten der »wahrhaft künstlerischen« Produktivität der Männer. Das steht im klaren Widerspruch zum frühromantischen Programm, und es steht auch im Widerspruch zur Forderung nach Auflösung der männlichen und weiblichen Rollen, wie wir sie in der »Lucinde« finden (das Spiel mit dem Rollentausch, die Chance, daß sanfte Männlichkeit und starke aktive Weiblichkeit sich zum »höheren Menschsein« vereinigen). Das hat mit der berühmten Diskrepanz von Theorie und Praxis zu tun, mit dem Widerstand, den »das Bestehende deren Vereinigung und der Kritik von Ehe und Familie entgegensetzt.
Mit ihrer Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise und deren Bewußtseinsbildungen, ihrer Kritik am bürgerlichen Staat und seinen Sozialisationsinstanzen und -Institutionen (Familie, Ehe, Erziehungs- und Strafanstalten etc.) wirkte die Romantik demnach nicht unmittelbar beeinflussend. Ihr Selbstverständnis einer menschenwürdigeren, antipatriarchalischen Gesellschaft, das in Bettinas Werk verbunden ist mit direkten politischen Fragestellungen, ist vielleicht gerade deshalb heute aktuell, weil damals diese Kritik kaum über das Gruppenverständnis hinaus zu vermitteln war. Ulrike Prokop hat diese antizipierende Kapitalismuskritik als Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Bewußtseinsbildung der Aufklärer begriffen:
- »In ihrer Auseinandersetzung mit der Aufklärung und den Erfahrungen der beginnenden Industrialisierung, der sich differenzierenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung, stellt die deutsche Frühromantik Gewinnstreben und ökonomisch orientierte Produktivität in Frage. Die romantische Literatur kommt zugleich zum Angriff auf die Ehe als Institution, da sie der lebendigen Liebe eine äußerliche, fremde Form, der zerstörten Beziehung eine unwürdige Fessel (vor allem für die Frau) sei.« (Prokop: 148)
Immer wieder finden wir in Bettinas Briefen diese Beschwörung der lebendigen Liebe (vor allem in den Günderode-Briefen) in der Begegnung jenseits von Institutionen und reglementierenden Konventionen. Dazu gehört nicht nur die Ehe als gesellschaftliche Zwangsjacke, die ein kontrolliertes Bewegen garantiert, es gehört dazu auch die masochistische Partnerwahl, die mit Instinktsicherheit den Partner wählt, der einen an der eigenen Entfaltung, vor deren Möglichkeiten man selbst Angst hat, hindert. Bettina dagegen wirft sich emphatisch selbst den Menschen in die Arme, bei denen sie bis zum Grad der Gefährdung ins Pulsieren, fast ins Brennen gerät. Sie demonstriert, wie das Einlassen auf den andern Einlassen auf die eigene verdrängte Geschichte bedeutet. Und sie bestürmt die verhaltene Günderode mit ihrer Liebe auch für ihre eigene Selbstfindung. Für die Begegnung der Liebenden ist die romantische Geselligkeit der Rahmen, der verhindert, daß die Begegnung ins Raster eingefahrener Institution gezwängt wird.