Januar

Montag 3ten Januar 1870
Die ganze Woche nicht in dem Buch geschrieben. Die meiste Zeit mit Pr. Nietzsche verbracht, welcher uns gestern verlassen hat. Heute Brief der Mutter, welcher es besser geht. Von außen sonst manches Freundliche, unter andrem heute eine Sendung von Judith M. mit von ihr gemalten Bildern aus den Werken R.'s. Am Sylvester wurde unser Baum noch einmal angezündet und von R. mir so beschert, daß ich ganz verdutzt war. An Marie Muchanoff telegraphierte er in Versen, ich schreibe nach allen Gegenden. Am 1ten Januar erhielt ich Geld, was mir ein gutes Zeichen dünkte. R. immer sehr mit seinem Aufsatz beschäftigt. Wir beide sind jetzt müde. Aus Paris erhielt ich anonym eine hübsche Bonbonniere, die ich Gräfin B. brachte. Am Rhyns und die ganze Familie B. wechselten mit uns Besuche in dieser Zeit. Viele sonderliche Notizen vom Konzil und von Paris (Ministerium Ollivier).
Dienstag 4ten
Sehr leidend wiederum, doch Briefe geschrieben, während die Kinder ihrer Tante schreiben (ich an Mama, Judith, Lenbach etc.). Die Kinder auch unwohl, kummervolle Stimmung hierüber.
Mittwoch 5ten
Mit den Kindern gearbeitet. Bei Tisch spricht R. vom Leben, das der ewig wabernden Lohe um Brünnhilde's Felsen glich, mitunter durchstreicht einer diese Lohe und bändigt sie, zumeist aber gehen sie darin unter. Abends »Tristram Shandy«. (Brief der beiden Schure's, sehr hübsch.) In Bezug auf meine Scheidung, die nicht vorschreitet, sagt R., »es erben sich Gesetze«[1] etc., »Natur und Liebe sind prompt, aber die Gesetze, die schleichen!«
Donnerstag 6ten
Loulou krank (Erkältung); ich bleibe bei ihr und spiele mit ihr den Tag über. Kindertisch mit den andren; Loldi sagt jetzt, »ich grüße dir einen Gruß für Onkel Richard«. R. spielt aus dem 3ten Akt von Siegfried - meine Lebenssonne seine Töne! (Brief Rothschild's).
Freitag 7ten
Durch R.'s gestriges Spiel bin ich wie auf Wolken getragen, freilich aber immer mit geängstetem Herzen, da Lusch noch zu Bett ist und Boni unwohl. Zur Stadt wegen meines Geldes, dann zur Gr. B., die mir sagt, sie wisse, das Jahr würde gut, da Richard sie am ersten Tage besucht habe. Von Mathilde Maier eine Anfrage über R.'s Krankheit! Ihr sofort geantwortet. - Abends »Tristram Shandy« mit abwechselndem Wohlgefallen und Mißbehagen daran. Talent, kein Genie.
Samstag 8ten
Nachts aufgewacht, an Hans' Geburtstag gedacht; wenn ich lediglich seiner gedacht hätte, nur für ihn gelebt, wäre dies wohl moralisch besser gewesen? Ich glaube es, allein ich glaube auch fest, daß das nicht meine Bestimmung war. Meine Hoffnung darauf gestützt, daß Loulou ihren Vater mir zulieb über alles lieben und sich ihm weihen wird. R. in Sorge, daß unsere Angelegenheit nicht vorwärts geht, auch wegen Fidi in Sorge. Lusch immer noch zu Bett, doch der Arzt unbesorgt. Föhnluft, großer Druck der Witterung. In München haben sie die Lucile Grahn[2] angestellt und wird an der Walküre gearbeitet, heißt es in der Musikalischen Zeitung. - Den Kindern an Lusch's Bett Komödie gespielt. Hübscher Brief Claire's; in Frankreich sei man mit dem Ministerium Ollivier zufrieden. - Abends auf die Sterne blickend, ergab sich mir folgender Vers:
Zum 8ten Januar

Ihr ruhigen Sterne
Enthüllt ew'gen Tanz
grüßt aus der Ferne    
daß er genese ganz
des armen Nacht!
von jeder Erdentaumelqual,
Entsendet euer Licht,
und sich ergebe fromm
daß nicht mehr er ficht    
dem Leiden wie es komm'
gen Schicksals Macht!
erblickend das Sternental.

9ten Sonntag
Am Morgen macht sich R. wieder an seine Komposition und entwirft die Einleitung zum Vorspiel der Götterdämmerung. Ich lese Loulou Märchen von Grimm vor und freue mich, daß sie sie bei weitem den Andersen'schen[3] vorzieht. Kindertisch ohne Lusch, die immer noch zu Bett; die übrigen auch erkältet. Nach Tisch der Advokat Bayer, welcher R. viel Freude macht, indem er ihm meldet, daß sobald unsere Trauung vollendet, die Taufe von Fidi keinerlei Schwierigkeiten machen wird. R. sehr glücklich darüber, wie von einer Last befreit! - Beim Nachtisch sprach er zu mir von seinem Paten Träger in Leipzig, dessen Frau, ein Schöngeist, ihm den ersten Eindruck einer gebildeten Frau (Art Aspasia!) gegeben; von ihr habe er zuerst die Worte gehört: »architektonische Verhältnisse«, sie sagte es zu Rosalie von den Dekorationen des Leipziger Theaters, welche Rosalie schlecht fand. Bei dieser Frau habe R. mit zwölf Jahren die »Jungfrau von Orleans« vorgelesen, er war von ihr aufgefordert worden, sie ihr zu lesen. Er, sein Pate, schenkte ihm einen hechtgrauen Frack und eine rote türkische Weste von sich, worüber die Mutter R.'s sehr lachte, R. aber ging auf den Spott nicht ein, weil der für ihn hergestellte Frack des reichen Paten mit Seide gefüttert war. - Brief des Malers Krauße an mich über R.'s vermeintliche Krankheit, und von einem jungen unbekannten Wiener an R. eine sehr rührende Frage der Angst, ob er wirklich krank sei. - Abends mit Widerwillen endlich definitiv »Tristram Shandy« weggelegt, dafür die »Vita Nuova« begonnen (mystischpedantisch - sagt R.). Tiefer Eindruck der Canzone, in welcher D.* (* Dante) Beatrice tot sieht! »Das ist die Genesis aller Poesie«, sagt R. Mich führt dies zu Tristan's zweitem Akt, den ich mit Entzücken nochmals lese.
Montag l0ten
»Ich schreibe ein neues Werk«, ruft mir R. zu, »ich schreibe ein neues Werk, es beginnt mit dem zweiten Akt von Tristan und endigt mit Hans Sachsen's Hochzeit.« Brief des Königs, immer der alte Stil, R. glaubt daran anknüpfen zu können, um ihn zu bitten, ja nicht die Walküre ohne ihn aufzuführen, und ihm vorzuschlagen, sowohl dieses als das Rheingold ihm zur Aufführung bringen zu wollen. Wie ich ihm sage, daß ich dem nicht würde beiwohnen können, sagt er, dann um keinen Preis. Ich bin dann bei den Kindern, welche alle vier unwohl sind! Ich lese ihnen vor und spiele mit ihnen. R. arbeitet und ist heitrer Laune, verdirbt sich aber Laune und Befinden durch seinen Spaziergang. Er sagt, es sei draußen als ob nicht gelüftet, wie in einer Bauernstube, die Luft so dick. - Abends die »Vita Nuova« beendigt (Gedicht entworfen zum 7ten).
Dienstag 11ten
Alle fünf heute unwohl, Husten, Schnupfen u.s.w., große Not. R. auch unwohl, zwingt sich zur Arbeit. Wie er nochmals darauf zurückkommt, daß es undenkbar für ihn, ein Werk von sich aufzuführen ohne mein Dabeisein, küsse ich ihm tief ergriffen die Hand, worauf er lacht und sagt: »Nun wird man gelobt für eine Naturnotwendigkeit.« - Das Auftreten des Bischofs Stroßmayer[4] gegen die Jesuiten in der 5ten Konzilversammlung macht viel Spaß. Nach Tisch über die Geige als Soloinstrument (unmännlich, lächerlich). Ich schreibe an Claire und dem Maler Krauße. Dann das Zitat von Calderon. [ ]* (* [ ] Ursprünglich »es ist kein Vernünftiger und kein Mann, der vom Weib sich nicht läßt bewegen -«, zum größten Teil gestrichen, andere Wörter eingefügt, so daß übrigbleibt: »Nicht Vernünftiger nicht Mann, den man nicht zwingt -«.) Abends mit R. die Briefe seines Stiefvaters Geyer vorgenommen, sehr ergriffen davon. R. sagt: »Er hat sich uns aufgeopfert.« (Heute früh, wie Loldi zu R. kam, sagt er ihr, warum weinst du? »Ich weine nicht, es kommen nur Tränen!«) R. erzählt mir, daß er als Kind Amtmann Rührei genannt wurde, weil er so empfindsam war. - (R. hat an [den] König geschrieben und ihm Vorschläge gemacht).
Mittwoch 12ten
Wiederum sehr unruhig diese Nacht; die Kinder auch immer leidend, Kummer und Sorge auch um Fidi, welcher zahnt. In der Zeitung gelesen, daß der König die Walküre befohlen hat. Großer Schrecken hierüber, die Arbeitslust wiederum gänzlich durchkreuzt. Dazu sehr böse Luft. Abends nichts gelesen.
Donnerstag 13ten
Sehr leidend, Brustschmerzen; Freude an Fidi, der mich besucht am Morgen, R. frühstückt bei mir am Bett und sagt, er möchte Maler sein, um mich mit dem Kinde zu malen. - Heitere Stimmung darüber, daß, wie R. dem Arzt ein Überbein zeigt, das ihm am Finger wächst, dieser ihm sagt: »Gott wie sind Sie produktiv.« - R. arbeitet ein wenig; nachmittags schreibt er seinem Freunde Pusinelli, meldet die Geburt seines Sohnes. Brief von Frau Schure; Paris ist förmlich in Aufruhr über den Mord des Victor Noir durch den Prinzen Pierre Napoleon.[5] Abends »Theaitetos« von Platon begonnen, große göttliche Freude daran.
Freitag 14ten
Wieder wohler, R. auch, er arbeitet, ich gehe zur Stadt, Besorgungen und Besuch zur Gr. Bassenheim. Lusch erzählt mir, daß sie von ihrem Vater geträumt habe und über seine Ankunft eine solche Freude empfunden, daß sie beinahe aus dem Fenster gefallen sei. Ich freue mich, daß die Pflege ihrer Gefühle zum Vater mir gelingt. R. arbeitet und gibt, wie ich heimkehre, die ersten Bleistiftblätter der Götterdämmerung, mit welchen ich das Eckschränkchen einweihe. Nachmittags mit den Kindern gespielt, ihnen Märchen vorgelesen. Abends schreibt R. seiner Schwester Cäcilie, indem er zu meiner Beruhigung den Fall zwischen ihr und mir ignoriert; mir aber verbietet er es, ihr ein Wort zu schreiben, er sagt: Sie sei es nicht wert. Abends »Theaitetos«. - (Sonnenschein).
Sonnabend 15ten
Ich sage R., daß mir der Aufsatz von Lessing »Wie die Alten den Tod darstellten«[6] recht lebendig am Morgen gewesen und daß seine Isolde mir dabei eingefallen wäre, welche, indem sie die Leuchte auslischt, zugleich als Liebesheldin und Todesgöttin lächelnd uns erscheint. Vom Skelett des Mittelalters; R. erwähnt, >daß die Deutschen es gewußt hätten, selbst diesem grauenvollen Bild eine gemütliche heitere Seite abzugewinnen, was die Deutschen so originell und den Griechen am nächsten stellte. - Die Kinder wohler, ich kann mit ihnen ausfahren (Boni und Loldi). Nach Tisch mit R. aus; er ist nicht wohl und hat nicht viel arbeiten können. Frühlingswetter. Abends Schluß des »Theaitetos«. (Brief M. Maier's).
Sonntag 16ten
Erheiterte Stimmung durch der Kinder Besserbefinden; Spiel mit ihnen; nachmittags mit R. die Mappen rangiert. (Gestern spielte mir R. aus der 9ten Symphonie vor, der letzte Satz - und wir waren wiederum ganz überwältigt von dieser Naivität des Glaubens, welche sowohl durch Schiller's Gedicht als durch Beethoven's Töne weht. Wer kann sich das geben; gewiß z.B. ist der Vater überzeugt, doch nenne ich dies keinen Glauben). - Abends »König Lear« von R. mir vorgelesen.
Montag 17ten
Brief der Mutter, gut und freundlich; mit den Kindern gearbeitet, während R. seinen Nornen-Sang für die zweite Skizze bearbeitet. An Pr. Nietzsche geschrieben. Dieser schickt mir Gervinus über Händel;[7] wie ich bei dieser Gelegenheit R. berichte, daß Gervinus' Buch über Shakespeare jetzt nach 30 Jahren immer [noch] viel gekauft wird, sagt R.: »Das macht der Gegenstand, wenn Shakespeare über Gervinus ein Buch schriebe, würde es wahrscheinlich gar nicht gekauft werden.« - »Die Arithmetik ist für die Musik, was das Wort dem Begriff ist.« »Der Musiker, der von früh bis abends nichts als Musik treibt, die Begriffswelt gar nicht beachtet, muß ein Vieh sein, es fehlt ihm ungleich mehr als demjenigen, welcher nichts von Musik wissend die übrige Welt beachtet.« -»Alle Goethe und Schiller zielen auf die Musik. Was uns in Calderon zuweilen befremdet, ist das italienische Element, welches die Oper hervorbrachte ; in unsren Dichtern fühlen wir die Grundlage zum Musikdrama.« R. geht spazieren, schreibt dann an Bon Werthern, ihn gebeten, das Berliner Diplom ihm zu schicken. Ich mit den Kindern, Grimm'sche Märchen. Abends Beendigung von »König Lear«.
Dienstag 18ten
Schlaflose Nacht; Grund die innere Aufregung über die Frage der Mutter, wie es Hans gehe. Ich schüttle mich aber zusammen so gut ich vermag und gebe den Kindern ihre Stunde. R. arbeitet. Alles ziemlich wohl, draußen Schnee. Ich beginne meine Stickerei für R. Nichts von außen, die Zeitungen sind noch voll von Rochefort,[8] Prinz Bonaparte, Ollivier etc. Abends »Timon« begonnen.
Mittwoch 19ten
R. erzählt mir, daß er nachts im Traum Minister gewesen sei bei der Königin Anna von England und sich mit einem Lord Evans gestritten hätte (aha, hätte R. bei sich gedacht, der weiß noch nicht, was ich bin, er hält mich noch für einen Musiker). Viel Heiterkeit infolge der Erzählung; R. sagt mir dann, wie glücklich er mit mir, durch mich sei, »ja, wüßte ich nur ein Wesen, das im geringsten mit dir zu vergleichen, wo ich mir sagen könnte, ah! das war eine Anlage, das hat sich in C. verwirklicht. Ich fürchte nur die Veränderung und die Krankheit. Ich weiß noch gar nicht genug, wie glücklich ich bin. Ich genieß es noch gar nicht genug. Gar nicht mehr vom Haus will ich«. Wie danke ich Gott um dieses Glück! Wer könnte ermessen, wie mein Herz solche Worte empfängt. Es kommen Briefe (von einem Bremer, welcher ihm dankt, die sogenannten Kapellmeister so tüchtig gegeißelt zu haben, von Pusinelli, seinem Freund, ich einen von Claire, sehr hübsch). Lusch fährt zur Gräfin Bassenheim, R., der sie zum Wagen begleitet, fällt auf die Treppe vor dem Hause, großer Schrecken, Gott sei Dank erholt er sich bald und fühlt nur unbedenkliche Schmerzen. Abends Schluß von »Timon«. Am Nachmittag die drei Kinder unten, Loldi sagt, »der Wind spricht so viel«. -
Donnerstag 20ten
Brief des Vaters an Lusch, unser Weihnachtsfest hat ihn gerührt. R. leidend von seinem Fall, doch an die Arbeit. Ich bei den Kindern, dann Kindertisch, glücklich, daß alles gesund ist. Abends schreibt R. an C. Frantz (Besorgung von Daniel's Grab). Des Abends plaudern wir. Wie ich R. sage, daß ich noch einmal an den Vater schreiben werde mit einem Auftrage für Hans, dann aber schweigen werde, sagt er: »Das ist recht, denn nicht, wie man ist, trennt einen, sondern wie man sieht, wie man sich ausspricht.« Mutter hat an R. geschrieben, der Verleger in Paris will die alten französischen Lieder[9] für 500 Franken ankaufen.
Freitag 21ten
Brief des Bon Werthern's an R., er hatte das Diplom nicht zugeschickt und zuerst angefragt, um von R. ein Autograph zu bekommen; auf meine Bitte schreibt er ihm einen kleinen Vers; »Wohl ist mir Preußen werth, der Nordbund doch noch werther, am werthesten jedoch von Werthern, dem trotz verfangner Rolle ich ganz gewiß nicht grolle, dem werthesten der Barone, die Autographen-Krone.« R. an seinem Webstuhl, ich bei meinen Kindern; R. zufrieden mit seiner Arbeit, »wie Nachtvogelflattern klingt es; alles kommt auf Natureindrücke an, hier in der Nornenscene sehe ich die hohe Tanne beim Felsen und höre das nächtliche Rauschen«. Bei Tisch, bei Gelegenheit des Weines, erzählt er, in Königsberg habe es einen buckligen Weinhändler gegeben, genannt Tiplowski, bei dem habe er den guten Chateau d'[Unleserlich] kennen gelernt, und dieser, einmal nach einem sonderbaren Exkurs über irgend etwas, habe ihm gesagt: »Denken Sie daran, heute am 2ten Dezember, an dem Tag, wo Bonaparte sich zum Kaiser gemacht hat, sage ich Ihnen das in dem Blutgericht« (der Weinkeller hieß so, weil er an der Stelle, wo früher das Gericht, in einem alten Schlosse stand). Späterhin, wie Louis Napoleon seinen 2ten Dezember aufbrachte, mußte Richard immer an den buckligen Tiplowski denken. - Viel Freude an Fidi, und bei seiner Betrachtung spricht R. über die Natur, die nur nach der Gattung schaue, nie nach den Individuen, deshalb die Kinder zuweilen so unähnlich den Eltern mache und irgend eine Anlage der Familie zur Ausbildung bringt; weil sie so dumm ist, sucht sie intelligente Wesen hervorzubringen; »hier kann mir vielleicht eine kleine statt einer großen Nase helfen; denn alles sucht sie in der Form, was uns wiederum zeigt, wie ästhetisch sie verfährt«. Bei Tisch sagt er: »Seit meiner Verbindung mit dir habe ich ein unglaubliches Zutrauen in mich und mein Schicksal, ich weiß, ich werde alt werden, beginnt doch das Leben erst für mich.« Nach Tisch spielt er mir die Nornen-Scene vor, unaussprechliche Freude. Abends zeige ich Loulou die Zeichnungen von Genelli zu Homer; nicht sonderliche Freude daran; R. sagt: »Homer ist Homer und Genelli ist Genelli«, es fehlt die Schönheit. Abends befinde ich mich sehr unwohl; Gedanke an meinen Tod. Sorge um die Kinder. Hört mich, Lusch und Boni, Loldi, Eva und Siegfried, sollte man euch nach meinem Tode von einander trennen und euch fremd zueinander machen, bewahrt eure Liebe im Herzen, laßt nicht von euch, sucht euch wieder auf, verbindet euch im Gedenken der Mutter; dieses Band wird sich bewähren, vergeßt meine Mahnung nicht. — Abends liest mir R. aus der »Hohen Braut« von König[10] vor; sehr hübscher Roman.
Samstag 22ten
Immer leidend, R. übergibt mir Sigufrid, Drama von Ettmüller,[11] einem Freund aus Zürich. Es ist sehr altdeutsch und ärgert mich. Seitdem R. die Edda-Mythen zu seinem Ring geschweißt hat, macht sich ein jeder daran, Stücke daraus zu machen, wird auch dafür gelobt und besprochen, während R.'s ewiges einziges Werk aber was tut das? (Gestern an Frau Schure geschrieben). Bei Tisch teilt mir R. mit, daß er einen Brief des Advokaten erhalten, in Folge welchem die Scheidung zu stocken scheint; Hans hat kein Lebenszeichen von sich gegeben, und sein Aufenthalt in Berlin ist erforderlich, um die Sache zu Ende zu bringen. Ich schreibe Hans' Advokaten. Sorge, daß Hans möchte gestört werden. Ich will die üble Lage tragen, in die ich mich begeben, und selbst für Fidi die Schwierigkeiten, die ihm aus der Unentschiedenheit entspringen, als Bezahlung des nie zu lohnenden Glückes! Dann schreib ich an E. Ollivier, der in der unwürdigsten Weise in der Kammer angegriffen worden ist; so wird er nicht glauben, daß seine Erhöhung mich verführt hätte, mich ihm wieder zu nähern. Abends liest mir R. aus dem ersten Teil von »Faust«; bei dem Vers »ich bin zu alt um nur zu spielen« sagt R.: »Goethe hat diese höchste Weisheit in dieser großen Jugend gehabt, da sieht man, wie töricht es ist, von den Dichtern anzunehmen, sie müßten erst ihre Dichtungen erleben.« - Die Zeitungen bringen viel; erstens den sehr merkwürdigen, mit Namen unterzeichneten Protest des Dompropstes v. Döllinger gegen die Unfehlbarkeits-Adresse; dann die Hinrichtung von Onkel Traupmann, wie sie uns R. meldet (der Mörder von einer Familie von 8 Menschen!), dann das Ministerium Ollivier und seine Kämpfe.
Sonntag 23ten
Kinderspieltag! R. nennt mich die gute Glucke; wirklich vergeht mir der ganze Tag mit der Unterhaltung der Kleinen. Nur am Nachmittag nehme ich die Eroica[12] mit R. vor; bei der einen Stelle im ersten Satz steht er ergriffen auf; >das einzige Wesen, das mit Shakespeare zu vergleichen sei!< Abends liest er mir von Schopenhauer über die Liebe (»ohne Sachkenntnis sprach Kant darüber«); R. meinte, es würde vielleicht mich abstoßen, ich bin aber im Gegenteil ganz ergriffen und erhoben. - R. sagt, »eine Liebe ohne Kinder ist eine Grimasse«. Der letzte Aufsatz des Dirigierens heute gedruckt da.
Montag 24ten
Ich bin immer krank, die Kinder aber wohl; R. arbeitet. - Wir hatten gestern eine Art Beruhigung, als wir lasen, daß Hans in Florenz einige Mal vor einem kleinen Kreis gespielt habe. »Tempo a gentil uomo«,[13] vielleicht, daß es einigen Balsam bringt. Beim Spaziergang trifft R. unsren Advokaten, dieser meldet, daß der Pfarrer Fidi für die k. Kirche reklamiert habe. Wir hoffen, daß sich alles noch gibt. Abend mit Lusch aus »Tausend und eine Nacht«. (Am Morgen Gegengedicht des Barons Werthern). R. liest mir einiges vor, weil wir einen großen Schreck erlebten. Fidi fiel vom Sofa herunter mit großem Lärm. R. heftig erregt; Boni, welche zugegen, lacht; ich frage sie nachher warum, sie sagt mir, er habe so (sie macht es) seine Kappe vom Kopfe gerissen. Wir mußten sehr lachen, und R. machte mich darauf aufmerksam, daß man immer milde gegen Kinder sein muß, da sie selten aus Bosheit höhnen, sondern unmittelbaren Eindrücken sich hingeben.
Dienstag 25ten
Brief Düfflipp's; die Vorschläge R.'s werden nicht angenommen, die Walküre aber aufgeführt. Nagender Kummer. Bei Tisch, nachdem er sich vergebens zur Arbeit gezwungen, sagt R.: »Wenn ich dich nicht hätte, ich wüßte gar nicht, wofür ich auf der Welt wäre, ich glaube, ich würde wahnsinnig, von der einen Seite nicht anders sein [zu] können als man ist, und von der andern Seite in keiner Weise der Welt recht sein.« An mich Brief des Professor Nietzsche und Zusendung einer Semper'schen Zeichnung. Ich arbeite rastlos an meiner Tasche für den Richard-Tag, die denn auch fertig wird. Große Kälte, wir müssen den oberen Salon aufgeben. Abends lese ich R. aus Gervinus (Shakespeare, Händel), großer Schreck über den Stil - (vom Inhalt gar nicht zu reden), er schreibt wie Eduard Devrient! Auch ein philosophisches Buch (Hartmann)[14] hatte mir Pr. N. geschickt, welches einen großen Widerwillen erregt. Immer wieder kommt R. auf Schopenhauer's Größe zurück.
Mittwoch 26ten
Freundliche Morgenstimmung, in meiner Schlafstube wird gefrühstückt. Nachher arbeitet R., ich wie gewohnt mit den Kindern. Nachmittag mit Lusch zur Gr. Bassenheim. An R. Brief von Pr. Marbach, welcher, entzückt von den Meistersingern, sagt, wenn er die Nibelungen erlebt, würde es ihm sein wie ein erster Blick im Alpenglühn. - Die Walküren-Aufführung wirft ihren langen trüben Schatten auf unser Leben. Daß meine Scheidung auch sich so hinzieht, bekümmert R. - Abends aus Sch. über Bücher und Lesen[15] (bei Gelegenheit Gervinus!) -.
Donnerstag 27ten
Die Polizei erkundigt sich nach mir, es wird an den Rechtsanwalt verwiesen. Von Berlin an mich keine Antwort. So sind denn die Konstellationen von außen böse - die Walküre trübt uns jeden Gedanken an die Welt- »wenn nicht das Kunstfeuer und Liebeswärme mich erhielten, ich lebte nicht mehr«, - sagt R. Mit Lusch Klavierübungen. Abends mit ihr aus »Tausend eine Nacht«. Nach dem Tee mit R. vierhändig Klavier gespielt, wobei großes Entsetzen über die Schlechtigkeit dieser Arrangements.
Freitag 28ten
Keine gute Nacht, doch stehe ich rasch auf, Fidi zu baden, und dann gemütlich mit R. zu Frühstück; dann zu den Kindern; Lusch unwohl, keine Stunde, ich setze mein Gedicht für den Fürsten Wallerstein auf, das Lusch ihm Sonntag sagen soll. Nachmittag mit R. spazieren gegangen. Unwohl; abends in Schopenhauer gelesen.
Samstag 29ten
Die ganze Nacht durchwacht, von angstvollen Vorstellungen bekümmert; am Morgen doch steh ich froh auf. R. arbeitet immer; »du machst mir zu schaffen«, sagt er der Statuette von Siegfried. Unser Advokat kommt, er vermeint, daß der Advokat Simson in Berlin maliciös die Scheidung hinhält. Abends mit Loulou »Alibaba« fertig gelesen. Früh zu Bett, weil sehr angegriffen.
Sonntag 30ten
Die Kinder angezogen, daß sie Loulou begleiten; während ihrer Abwesenheit schreibe ich die erste Scene meines Lustspieles auf. Kindertisch ohne Loulou; nachher Kasperl-Theater, von Boni sehr gut gespielt. Loulou kehrt heim und erzählt mir, daß der alte Fürst sehr geweint habe, wie sie ihm ihr Gedicht vorgesagt habe. - Hübscher Brief Schure's; R. lobt an ihm die einfache Natur, im Gegensatz zu C. Mendes; »für die Franzosen ist die Bildung nicht eine Befreiung, sondern eine Fessel«, bemerkt R. - Er arbeitet, ist aber sehr düster gestimmt durch die Walküren-Angelegenheit. Mich erfüllt es mit Wehmut zu denken, daß er die Möglichkeit der Vollendung seines Werkes durch das Preisgeben der ersten Teile derselben erkaufen muß. Das Wesen der Welt scheint mir hierin geoffenbart. Brief der Tante Isa an die Kinder. Ein Schleier fällt dabei mir immer auf die Seele; oder erhebt sich aus ihr und verdüstert jede Vorstellung. -
Montag 31ten
Die Geyer-Wagner-Tasse, die ich R. geschenkt, am Morgen von der Magd zerbrochen; so leid es mir tut, danke ich Gott, daß das Mißgeschick in dieser Weise abgetan ist, daß den Kindern nichts geschehen ist. R. arbeitet, ich mit den Kindern gearbeitet. Nachmittags Besuch des alten Fürsten, welcher mir sagt, er habe vor Rührung und Freude geweint, wie Lusch ihm gestern mein Gedicht vorgesagt hat. Er erzählt noch von seiner Kindheit - die Bayernkönige hat er noch erlebt -, sein Vater ein regierender Fürst, und nun endet er in Luzern. R. aufgeregt, manches in seinem Entwurf ist noch nicht, wie er es will. »Ach! ich bin kein Komponist«, sagt er, »nur so viel wollt ich erlernen, um Leubald und Adelaide[16] zu komponieren; und so ist es geblieben, nur die Sujets sind anders geworden.«