Dezember

Sonnabend 1ten
Unwohlsein, meine Augen immer schwächer; R. aber hatte eine gute Nacht und kann arbeiten! Gestern am Morgen sang mir R. das Thema aus dem Finale des A moll Quartetts[1] und sagte, etwas ähnliches Schönes wie die Modulation und den Abschluß des Themas gäbe es gar nicht mehr in der Musik. - Am Nachmittag geht er allein spazieren, da ich ihn nicht begleiten kann, er kehrt [heim] und meldet, daß, wie gestern der Himmel ein »faux air von soleil couchant« gehabt hätte, gleichsam sagend »ich könnte wohl, allein ich will nicht«**(Satz unvollständig) Abends 3ter und 4ter Aufzug von »Heinrich VI.« dritten Teiles; die Werbung vonLady Grey durch Edward findet R. ein Meisterstück dramatischer Virtuosität, bei aller Naivität - wir müssen anhaltend noch abends, ja selbst im Bett über diese Macht des Dichters uns auslassen, er läßt sprechen, was sonst Schweigen ist. R. sagt, ihm lägen historische Stücke ganz fern, wenn er aber seinen »Barbarossa« ausgeführt hätt', er hätte ihn in den gereimten leichten Versen der damaligen Dichtungen gedichtet, um etwas Populäres hineinzubringen. Wir seien aber zu entfernt von diesen Gegenständen; Shakespeare reichte durch Tradition schon zu den seinigen.
Sonntag 2ten
R. erzählt mir, er träumte, er habe ein Konzert angesagt, worin er Loewe'sche Balladen singen und die As dur Sonate von Beethoven spielen wbllte, wie er aber beginnen sollte, wurde ihm unheimlich, er ließ Anton Rubinstein, welcher unter den Anwesenden, zu sich kommen und bat [ihn], für ihn zu spielen, er aber ging in ein Wirtshaus, sich etwas geben zu lassen, wo ihm Baumgartner (es spielte in Zürich) den übermäßigen Erfolg Rubinstein's meldete. Nun wollte R. aber singen, doch sagte Baumgartner, die Leute gingen, mit dem Spiel ganz zufrieden, jedoch über R. bedenklich, welcher ärgerlich war, seinen Vortrag nicht zu halten. - R. arbeitet, und nach Tisch sagt er: »Den Parsifal schreibe ich noch für meine Frau, aber im Vertrauen auf den deutschen Geist würde ich nicht mehr sagen.« Nach dem 4ten Akt von »Heinrich VI.« sagt er zu mir: »Die Trauermusik für die Gefallenen werde ich doch noch schreiben, da kommt aber keine Apotheose am Schluß, da kannst du dich darauf verlassen.« - Wie er heute vom Spaziergang heimkommt, sagt er: »Für's Haus schließe ich die Trauermusik mit dem Sommernachtstraum-Schwirren, es sind die sich freuenden Juden.« - Sorge um Fidi, wir haben Knaben-Umgang für ihn gesucht, dieser bringt nun nichts wie Roheit, Gemeinheit, tückische Trägheit, ein Entsetzen. Abends spielen die Kinder uns Aschenputtel, wobei Fidi in der erheiterndsten Weise eine der bösen Schwestern spielt. Nach der sehr lustigen Komödie Schluß der Tragödie, bei immer sich steigernder Bewunderung und Erschütterung. Jeder neu eingeführte Charakter ganz individuell lebendig, das Gespräch zwischen Warwick und Gloster unglaublich an Humor. R. hob gestern noch besonders hervor, wie tragisch das wirke, wie des Wundertäters Frau im lten Akt des 2ten Teils ausruft: Die Not brachte uns dazu. Furchtbare Entschuldigung, welche selbst von dem edlen Gloster nicht angehört wird; das Volk gänzlich stupid gemacht durch diese Verachtung, hört dann auch nicht den guten hohen Heinrich an, findet in Cade[2] den brutalen Ausdruck seiner Leiden. Die Vornehmen keine Spur von Gefühl, nur eine großartige Auffassung des Schicksals in Bezug auf sich selbst. Wir sprechen noch lange von dem Dichter, der alles alles sieht, empfindet, wiedergibt, ohne jemals ein Zeichen von seiner Empfindung dabei zu geben. An Freund Nietzsche denken wir, der gegen Sh. sich aufbäumte - »er will eine gewisse Art Form«, sagt R., »dies hier ist ein Mißwuchs von Erhabenheit und Offenbarung«. So nehmen wir Abschied von der Dichtung, die uns ein ganzes Abbild von des Daseins Furchtbarkeit gege[ben hat].*(* Satzergänzung bei Seitenwechsel vergessen) Könnte ich nur beschreiben, wie schön, wie groß, wie erhaben in Blick, Ton, Gebärde R. bei der Lektüre war; wie genieße ich das Glück, ihn also allein zu gewahren und [zu] betrachten, dann auch möchte ich es der ganzen Welt gönnen. Mir ist es jetzt, als ob wir wiederum [an] das Tribschner Leben angeknüpft hätten! Wiederum haben wir von allem uns gewendet, arbeitet R., gedeihen die Kinder und vergeß ich alles, [um] nur seiner Güte, seiner Liebe zu gedenken!
Montag 3ten
Endlich etwas Sonne! R. schlief gut und arbeitet; wir speisen zu zwei oben, weil ich mich nicht gut bewege und er nicht gern ohne mich ißt. Nachmittag geht er mit Fidi zu Freund Feustel und bespricht mit ihm die persönliche und die allgemeine (Defizit-)Lage; sie kommen überein, denKönig um 10%der Einnahme des »Ringes« für das Defizit zu bitten. Abends läßt R. Fidi's Lehrer kommen, um sich mit ihm zu besprechen wegen der Erziehung, doch geht der Horizont nicht über den Kreis des Seminars hinaus. Wie wir nachher noch unter uns über die Erziehung des Knaben sprechen, sagt R.: »Gott, in eine so schlechte Welt einen Knaben zu lassen; und immer schlechter wird sie; zu was ihn erziehen? Ich denke zum Afrika-Reisenden!«... Worüber wir herzlich lachen.
Dienstag 4ten
R. hatte eine erträgliche Nacht und arbeitet. Aber Schule und Sc/iournal, wie er alliterierend scherzhaft sagt, machen ihm Not; am liebsten möchte er nichts mehr nach außen beginnen, auch sind die Anmeldungen so geringfügig, daß es beinahe ein Unsinn scheint, dem halb Dutzend Menschen nicht abzusagen. Doch die uns sonst sehr werte Anwesenheit des H. v. W.*(* Hans von Wolzogen) zwingt R., ihm eine Tätigkeit anzuweisen. -Also die Zeitung! - R. ekelt es an, nur noch ein Wort öffentlich zu sprechen, und mir liegt nur am Herzen, daß er sich ausruhe zum Schaffen. Seltsame Lage. Wir lachen noch abends herzlich darüber, R. und ich, so peinlich auch die Not ist.
Mittwoch 5ten
R. arbeitet. Besuch unseres Freundes Pohl, dem wir das Aufgeben der Schule melden. Haupttätigkeit der Freunde jetzt Organisation des Patronatvereines, und aus diesem und für diesen Herausgabe der Blätter; Endziel des Vereines Aufführung des Parsifal. Ich mache dies mit Herrn v. W. ab und melde dies R., welcher sehr zufrieden damit ist und sagt, er würde mir eine Vollmacht ausstellen, daß ich alles anfangen könne, was ich wollte! Heiterkeit. So viel ist nun hoffentlich gewonnen, daß alles, was ihn vom Schaffen abhalten könnte, ihm aus dem Wege geräumt wird. - R. sagt mir, er habe eine schöne Melange, Amfortas' Thema, Herzeleide's und das Schwan-Motiv aus Lohengrin, wie die Knappen den Schwan entfernen.
Donnerstag 6ten
Arbeit, ich kann etwas übersetzen; auch hatte R. eine erträgliche Nacht. Nachmittags besuche ich Herrn Feustel und muß leider R. berichten, daß dieser sehr überrascht sei über die neuesten EntSchlüsse. R. sehr verstimmt hierüber, in Folge dessen auch unwohl! Abends lesen wir die Geschichte der Araber von Dozy, welche R. gerne wieder einmal vornimmt.
Freitag 7ten
R. hatte eine sehr üble Nacht, und ich frage mich, wie alles von ihm abhalten, daß er nur dem einzig ihm Zukommenden leben kann? - Das weiche trübe Wetter bekommt ihm auch nicht gut. Es war mir gestern, als müßte ich ihm meinen Besuch bei Herrn Feustel mitteilen, nun denke ich, ich hätte dies sein lassen sollen, und [mochte] in Gottes Namen daraus erfolgen, was könne, lieber als ihn plagen! Freilich muß den paar Angemeldeten abgeschrieben werden! Und Freund Feustel wollte es nicht tun ohne Rücksprache mit R. — Mich quält dies unsäglich; mein ganzes Sein erhält nur Sinn dadurch, daß ich ihn behüte, ihn schirme und pflege! Er arbeitet doch etwas am Morgen. Am Abend aber bringen ihm die Korrektur-Bogen von Parsifal großen Ärger; der Druck ist zu groß und das Ganze nimmt sich nicht hübsch aus. Auch hat Herr Seidl eine so schlechte Abschrift gemacht, daß R. doppelte Arbeit hat. -Abends zu Herrn Feustel, um mit dem Bürgermeister dort zusammen zu kommen. Wie wir fahren, gedenkt R. der verschiedenen Male, wo er so ausfuhr abends, und sagt: »Mir nahen keine schwankenden Gestalten, nichts lebt in meiner Erinnerung, ich blicke in den Nebel der Vergangenheit, alles ist mir tot vor unserer Zeit.« - Herr Feustel und der Bürgermeister fügen sich R., es wird bloß festgestellt, daß vorläufig die Schule nicht eröffnet wird. - Wir kehren heiter heim, R. dankt mir! O Gott - - wie er mir heute sagte: »Ich bin schwer zu ertragen, an dem Liebsten muß man den Ärger und die Not auslassen« — weiß ich nicht, was sagen, das einzig Schwere ist ja nur, wenn er leidet!
Sonnabend 8ten
R. hat nicht viel geschlafen, doch hat er wenigstens keine Krämpfe gehabt und ist nicht aufgestanden. Er bringt seinen Morgen mit der Korrektur von »Parsifal« zu und verlangt von Dr. Strecker einen andren Druck als die »elegante Antiqua«, in welcher, wie wir mit Lachen bemerken, er die Dichtung anzeigt. Abends fahren wir fort in der Geschichte der Araber von Dozy.
Sonntag 9ten
R. ist ein Mal diese Nacht aufgestanden, doch sagt er, er habe nicht übel geschlafen; die Sorge hielt mich wach. - Weihnachtsgänge. R. arbeitet. Am Nachmittag kleiner Spaziergang. Kummer bei der Heimkehr! R. meldet, das Idyll sei schon in Mainz aufgeführt, und liest die törichten Worte (es seien Fidi's Freuden dargestellt!), welche diese Aufführung begleiten! - Ich habe gewußt, als ich das Opfer brachte, welches Opfer es war, und seltsam genug ergreift mich diese Notiz, als ob ich nichts geahnt! - Nie könnte ich der Welt entfremdeter sein, als ich es bin, nie ihren Freuden ungeteilter*,(Unzweifelhaft so gelesen, obwohl an dieser Stelle fraglos das Gegenteilige gesagtwerdensoll.) ihrem Treiben unverständnisvoller, und mein teuerstes Hab' muß ich in dieser Zeit ihr hingeben. Daß ich seiner unwert, will mich dünken, da ich es hingeben mußte - - und ich eile zu mir, um zu weinen und klagen und wiederum in mir hinnehmen alles Schwere als gerecht, hingeben alles Teure als zu hehr! Warum ich allein beglückt, ich allein selig?... Alle Tränen sehe ich fließen, die mir geflossen, alle Klagen höre ich klingen, und es verstummt meine Klage, versiegt meine Träne. Dir mein Fidi klage ich sie nur liest du die Zeilen, wenn ich dahin, hörst du die Töne, wenn ich entschwebt, gedenke der Mutter, wie sie dich geliebt und traurig in eine Welt sandte, von welcher sie im Leben schon geschieden. - Abends mit Wolzogens und der ganzen »Bucht« in die »Teufelsmühle«,[3] eine alte Erinnerung von R. - die Aufführung aber mehr als schlecht.
Montag 10ten
De. Daniel's Todestag! - Der Kmeister Eckert schrieb gestern, daß Herr v. Hülsen die Walküre wünsche, und zwar möchte er
im 2ten Akte Striche vornehmen. R. nimmt sich vor, nicht so bald zu antworten. Die Korrektur von »Parsifal« kommt an und nimmt sich im ganzen viel besser aus, so daß R. sich die »elegante Antiqua« gefallen läßt. Abends fahren wir in Dozy fort. Schönes Winter-Wetter, R. geht abends um das Haus, »wie Gloster«, sagt er, und kommt dann zurück, sagend, daß er noch nie eine »Oper« unter so freundlichen Auspizien geschrieben habe; bei allen seien Krämpfe oder Kämpfe. »Wenn diese uns nicht viel Geld einbringt!« lacht er hinzu. Die Erinnerung an Daniel's Tod macht ihn sehr heftig gegen diejenigen, welche er nicht mit Unrecht als Schuldige seines Todes erkennt, er wirft vor, daß man noch immer mit diesen verkehre: die Gefühle seien schwach.
Dienstag 11ten
R. arbeitet; wir mußten nachts viel lachen darüber, daß er in der Heftigkeit gestern anstatt zu Bett hinunter ging; nach einer Weile besorgt, schleich ich ihm nach, mein Bett verlassend; im Saal sitzt er schlafend, die Lampe angezündet, »Griechen und Römer« von Schlegel bei Seite. Sehr beglückt warte ich, bis er aufwacht, es geschieht bald, und wir lachen sehr über die Situation! Die zitierten Distichen hatten ihn eingeschlummert. Der übrige Teil der Nacht war gut. Er arbeitet etwas. Ich beginne den 3ten Akt zu übersetzen. Abends »Die Araber« und die Erzählung von Daucus Carota[4] von Hoffmann.
Mittwoch 12ten
R. arbeitet, er hatte eine ganz erträgliche Nacht, wenn er auch ein Mal noch aufstehen mußte. Ein Gespräch über die Schicksale in München, seine Entfernung auf Wunsch des Königs, bringt ihn darauf zu sagen: »Es ist aber so besser gekommen«, ich: »Ja, ein unerschütterlicher Glauben ist mir davon geblieben«, R.: »Der Glaube an das Gute und das Wahre; das besteht, dem ist nichts anzuhaben, es ist da, mag das übrige sein wie es will.« - Spaziergang mit R. im Hofgarten, wobei er die wunderbarsten Wege angibt, so daß wir 3 1/4 Stunde in dem kleinen Raum wandern, ohne zwei Mal denselben Weg zu machen. - Abends unerfreuliche Empfindung von einem Brief von Dr. Eiser, das Konzert in Frankfurt hat 3000 Mark Defizit eingetragen, und die Leute bleiben bei dieser unnützen Spielerei, welche ihnen eine Art Wichtigkeit gibt. - Schluß vom Märchen, welches uns sehr unterhält.
Donnerstag 13ten
R. unzufrieden mit seiner Morgen-Arbeit, will alles verwerfen. Verstimmung in Folge dessen; auch die Erwiderung von Dr. E. auf Herrn von W.'s Aufforderung, die lokalen Vereine in den allgemeinen Patronatverein aufzulösen, ist nicht geeignet zu erfreuen. - Abends liest uns Herr v. W. einen vortrefflichen Aufsatz von sich über Heinrich Kleist, worin er die Eigentümlichkeit der Genialität des Dichters sowie das Besondere der »Hermannsschlacht« wie des »Prinzen von Homburg« ganz ausgezeichnet dartut. - Darauf spielt uns R. aus den Meistersingern, dem herrlichsten Werke!
Freitag 14ten
R. sagt, er habe nun das Gestrige »gut gemacht«, man müsse sich hüten, von den Melodien sich verführen zu lassen, das sei gestern ihm passiert, und so sei er ganz aus der Stimmung geraten. Immer lichtloses Wetter; doch bei uns die Sonne der Liebe und des Schaffens. R. spielt und singt mir die Antworten von Parsifal an Gurnemanz! Abends gibt er Herrn v. W. als Thema des Studiums und der Ausarbeitung die »Rhetorik im Gegensatz zum deutschen Stil« - durch die ganze Entwickelung der Künste, auch namentlich der Musik, sei sie zu verfolgen, die Rhetorik, welche noch einen Haupt-Lehrgegenstand bei den Franzosen und in dem Unterrichtswesen der Jesuiten bildet. Prinzip aus den falsch [aufgefaßten Griechen entnommen, unsere ganze Kultur beherrschend, Gegensatz dazu der deutsche Stil. Vieles sprechen wir darüber, die Beispiele häufen sich. Dann spielt R. aus den Meistersingern zu wahrer Beseligung. - Das Idyll wird nun überall herabgespielt; diese Prüfung heiter hinzunehmen gilt mein Bemühen! Wir beginnen jetzt ein neues Tribschner Leben, und nur R.'s Unwohlsein kann es trüben. Alles scheinbar Harte in meinem Leben hat zum Segen sich verwandelt, selbst wo ich widerstrebte, hat das Schicksal mich gnädig gewaltig geführt, so stehe ich bar jedes Wertes, jedes Verdienstes entbehrend, von Gott beschützt und geliebt, staunend dankbar, unerschütterlich vertrauensvoll, vergehend vor Rührung vor diesem Geschicke, das mir gewährte, Gutes dem Höchsten tun zu dürfen - ich Unwerte!... So weiß ich nur Andacht und Arbeit und tiefste Demut in heiligem Glücke!
Sonnabend 15ten
R. hatte eine gute Nacht und arbeitet; ich mit den Kindern. Kurzer Spaziergang im Hofgarten mit R., weil die feuchte Luft ihm nicht bekommt. Ich bleibe noch im Garten, und nach einigen Gängen im Düstren werde ich plötzlich wie von Licht überströmt, der Mond glänzt hell auf mich herab, und es grüßt mich so mild freundlich ein Stern, als ob sie meine Gedanken vernommen und mich segneten, der eine mit Mut, der andre mit Trost! Ganz erfüllt trete ich ein und finde R. unzufrieden durch Anzeige der Skizze zu einer Sonate, er möchte sie als Fantasie für das Album bezeichnet wissen, damit man die »elegante Nichtigkeit« verstünde; und ist überhaupt nicht zufrieden, daß es ohne Korrektur-Zusendung erschienen. Abends die »Araber« wieder, und etwas aus den Msingern.
Sonntag 16ten
Kirche und Schneefall! R. arbeitet, er habe endlich Kundry hinter das Gebüsch gebracht, sagt er mir bei Tisch. Abends freuen wir uns des Hauses und der Halle (von oben erleuchtet); wie ich mich von ihm trenne, er zur Arbeit und ich zur Lektüre mit den Kindern, sage ich ihm: Das sei das Schlimme, daß man sich trennen müsse; er erwidert darauf: »Das Zusammensein ohne Beisammensein ist aber ebenso schön, denn wenn man beisammen ist, spricht man auch noch von fremden Dingen, in der Trennung aber ist man geistig ganz bei einander - so, wenn ich arbeite, könnte ich nicht mit dir sprechen, und doch bin ich ganz bei dir.« - Herr v. W. liest mir seine sehr schönen Aufsätze: »Ring des Nibelungen« und »Christentum« vor. Abends »Die Araber« und etwas Musik, aus der Pastorale, Neunten Sinfonie, R. spielt. Vor dem Abendbrot zeigt er mir, was er bis jetzt mit Tinte verarbeitet, die glänzenden Männer von Parsif al!... Bei Tisch leuchtet sein Antlitz von dem ganzen Strahl des Genius und der Güte! Er sagte neulich, daß seine Heftigkeit ihm gegeben worden sei, um seine Weichheit zu kompensieren. Bis zur Feigheit scheue er davor zurück, jemandem etwas Hartes zu sagen. Und es ist so, für völlig unwahr könnten ihn die Leute halten, denn er vermag es nicht, das, was er von den Menschen hält, ihnen kund zu geben, darum auch ist seine einzige Wehr Zurückgezogenheit. Beethoven's Geburtstag!
Montag 17ten
»Wenn du sagst, du seist glücklich, so sag ich, ich sei durch dich übermütig.« Aber leider ist er heute wieder nicht ganz wohl. Er arbeitet aber doch. Nachmittags geht er zum Schneider wegen Siegfried's Weihnachtsanzug. - Er spürt Lust, Kmeister Eckert gar nicht zu antworten. - Viele Gedanken kommen mir, Gespräche zu mir in jeder Lage, bei jeder Empfindung, bei jedem Vorgang. Ich möchte es für die Kinder niederschreiben. - Beim Kaffee sprach R. Herrn v. W. darüber, daß er in seinen Aufsätzen von der trostlosen Metaphysik von Schopenhauer gesprochen: »Welchen größeren Trost kann es geben, als einem zu sagen, daß dieses Dasein nichtig ist. Nun empfinden wir eine Hoffnung in uns nach einem Andren, welches durchaus uns nicht vorstellbar ist, darüber also sich nichts sagen läßt, das Gefühl in uns ist aber schon der Genuß davon.« Auch sagt er, die Persönlichkeit von Faust habe W.*(* Wolzogen) zu christlich aufgefaßt, er habe nichts von Liebe, die Liebe käme von oben, am Schluß, und dies sei der ewige Ruhm Goethe's, dies so abgeschlossen zu haben. In Faust sei nur das rastlose Streben. - Abends »Die Araber«. -Viel Vergnügen an Fidi, welcher schlafend eine Art von türkischer Musik singt.
Dienstag 18ten
R. träumte, ich sei erbittert, ihm entfremdet, ich träumte von einem Kampf zwischen Schwänen und Hunden, in welchem
R., dem »Rus« zu Hülfe kommend, in das Wasser gezogen wurde, so gleich aber wieder daraus erstand. - R. arbeitet und spielt mir Kundry's »Gang zum Busch« und die Worte Gurnemanz' darauf. Es ist ganz herrlich, und wie ich ihm meine Freude darüber bezeige, sagt er: »Ja, man muß gut mit mir sein, dann geht es alles.« »Bin ich es wert, gut gegen dich zu sein?« »O über alle Maßen bist du's, und ich weiß, was es bei dir heißt, denn du bist so, daß du zu beachten wärst.« Heiterkeit. Nachmittags geht er aus und erzählt mir dann, er habe einen Mann im Hofgarten gesehen, der habe im Schnee mit seinem Stock regelmäßig geschlagen, er sei ihm aus dem Weg gegangen, er wolle nicht von einem Wahnsinnigen auf die Schläfe geschlagen werden und umgebracht. Wir lachen über diese Furcht. **(** Am Rand über die ganze Seite: »Nachricht von der für Osman Pascha sehr ehrenvollen Kapitulation von Plewna.«) Er korrigiert die »Album-Sonate«.[5] - Abends »Die Araber«
und zwei Präludien aus dem »Wohltemperierten Klavier«, von R. gespielt zu unserer größten Ergriffenheit; zu der einen in (*** [ ] Leere Stelle im Text) sagt er: »Das hat mir meinen Duktus gegeben, es ist unglaublich, wie vieles aus der Musik-
Literatur ohne Eindruck an mir vorübergezogen ist, aber das hat mich bestimmt. Das ist unendlich! So etwas hat keiner wieder gemacht!« Weber's Geburtstag!
Mittwoch 19ten
R. sagt: Er brauche niemanden, er habe alles, was zu seinem Glück er brauche, alles, er wolle es nur in Ruhe haben. - Er arbeitet. Ankunft eines großen Gloster-Käse von Herrn Schlesinger, welcher R. das größte Vergnügen macht. Abends wird gleichfalls von London ein Stilton-Käse angesagt, was uns recht lachen macht. - R. wurde wiederum gefolgt von einem Individuum, das ihm kein Vertrauen erweckte. Er sagte: »Ich würde ihm keine Prise aus meiner Dose angeboten haben.« Kummer über Fidi, welcher ganz gegen seine Gewohnheit mit seinen Schwestern nicht teilte, was wir ihm gegeben.
Donnerstag 20ten
R. fühlt sich nicht ganz wohl, versucht zu arbeiten, aber ist nicht mit dem zufrieden, was er tut. Er geht nicht aus, doch schmeckt ihm die Speise abends, er lacht darüber und sagt mir: »Wenn du wüßtest, was mich drückt: es ist ein rhythmischer Kampf. Plötzlich heute früh verstand ich meine Sachen alle nicht.« Abends » Araber« gelesen. Früh zu Bett. - Ich kämpfe mit bangen Gefühlen, welche mich umnachten, wenn R. nicht ganz wohl ist. - Wir scherzen viel über Mac Mahon, welcher weinend erklärt, man wolle seine Ehre von ihm haben, er würde sie opfern dem Wohl des Landes!
Freitag 21ten
Wiener Künstler beabsichtigen einen Germanen-Zug zu arrangieren und bitten R. in überschwenglichen Ausdrücken, die Musik dafür zu komponieren! Es ist gar seltsam, den Abstand dieser Verehrung [zu sehen] mit dem, was eigentlich R. erfüllt!... Mit R. für Fidi Weihnachten besorgt. R. hat seinen rhythmischen Kampf überstanden und sagt mir, wie er von der Arbeit kommt: Ich habe heute einen philosophischen Satz komponiert; »hier wird der Raum zur Zeit«. - Er sagt, nun habe er etwas vor sich, wo die »dramatischen Flausen« ihm nichts helfen! - Abends »Die Araber«, wobei die Auffassung der Goten seitens des Herrn Dozy mir nicht gefallen will und die nachlässige Übersetzung des Gr. Baudissin[6] auch nicht. »Alle diese Leute kennen die Sprache nicht«, sagt R., »sie haben nicht Grimm durchgemacht, sie fußen alle noch auf Lessing; Gott, solch ein für oder vor, wie lebt das für einen in Grimm.«

Sonnabend 22
Ankunft der Exemplare von Parsifal; R. arbeitet, ist zufrieden mit einer heute geschriebenen »Mittelstimme«. Wir gehen zusammen aus, noch ein Mal zum Schneider, dann in [den] Hofgarten. Abends »Die Araber« und ein Intermezzo aus der Sammlung von Rapp.[7]

Sonntag 23ten
Baumputzen; R. arbeitet und ist ganz erträglich wohl. Leider muß das erste, was uns über Parsifal zukommt, ein recht gespreizt alberner Brief und eine Rezension im Börsencourier sein!... R. arbeitet aber doch am Nachmittag. Abends liest er den Kindern eine sehr hübsche rührende Geschichte aus den Fl. Blättern:[8] »Der Goldammer«, vor. Dann, inmitten des allgemeinen Gespräches, faßt er einen Band Goethe und zeigt mir bedeutungsvoll die Worte: »Doch nichts glich dem Behagen ...«, die so tief unser Leben durchgeklungen haben!... Ergreifendster Augenblick, in der Stille erlebt!  - In den »Arabern« fortgefahren, bei den Erzählungen der Märtyrer ruft mir R. zu: »Ja, das wäre eine Zeit für dich gewesen, nicht zwei Tage hättest du gelebt!«
Montag 24ten
R. träumte von einem freundlichen Verkehr mit Lachner, dieser führt den Fidelio auf, streicht in der Ouvertüre das Allegro aus,
»dies mag ein tiefer Sinn sein«, denkt R., »die Ouvertüre paßt eigentlich nicht zum Werk«, aber wie L. einen Chor (der Schnitter oder derlei) zu Anfang hineinkomponiert hatte, wurde es ihm zu arg - dann befand er sich in einem Saal von antiken Büsten, die aber sprachen, hernach war eine die Schröder-Devrient, und R. sagte sich: Ich möchte nicht träumen, daß ich sie geküßt, denn es ist nicht gut, im Traume Tote zu küssen. - R. arbeitet etwas; ich den ganzen Tag durch das Christkindchen in Anspruch genommen. Endlich um 6 Uhr komme ich in den Saal und werde empfangen durch »Willkommen lieber Christ!« R. war es beim Nachhausegehen, beim Anblick des Hauses, »aller der Freuden«, eingefallen, daß Christ nicht nur ein Erlöser, sondern ein »Erfreuer« auch ist! Die Kinder unter Lulu's Anleitung lernten es sogleich und sangen es schön. Herrlicher Aufbau von R. für mich, das »Manuskript« von dem, der mich »ript« (für liebt - Loldü); >man müsse mit dem Erhabensten scherzen können<, dann sei man glücklich! Und tausenderlei, von seiner Güte mit emsiger Fürsorge beschaffen!*(*Dem Tagebuch beiliegende Aquarellzeichnung mit der Aufschrift: »Japanesisches Neglige von Richard mir geschenkt / Weihnachten 1877«) Ein langer Briefwechsel[9] zwischen ihm und Judith hat sich darob entsponnen, wobei leider ihm klar geworden, daß der beste Franzose über gewisse Beschränktheiten nicht hinaus kann! Judith will z. B. nicht glauben, daß Parsifal in das Französische unübersetzbar ist! Sie kennen aber das Andre nicht! - Herrlicher Abend, die Kinder jubelnd, Erinnerungen an Italien, Eva singt den Olivenjungen von Sorrento. Alles heiter, freudig, erhaben, Tränen der Lust und des verklärten Schmerzes! Um 11 Uhr zu Bett, R. und ich, wir hören noch die Glocken! - Die überwältigendsten Worte sagt mir R.
Dienstag 25ten
Glänzende wirkliche Sonne, heute zum ersten Male seit zwei Monaten! R. sagt mir: Dein Geburtstag ist mein Sonntag! Er beschließt einen Spaziergang mit den Kindern vor Tisch, wir gehen in [den] Hofgarten, Siegfried's neuer altdeutscher Anzug macht uns viel Vergnügen. Heitres Mahl, ernste Gesundheit von R. mir gebracht. Abends wieder »Die Araber«, worauf R. 3 erste Gesänge der »Divina Commedia« zu unserem Entzücken uns vorliest, dann bitte ich ihn um etwas von »Parsifal«, er spielt Gurnemanz' Erzählung, Parsifal's Eintritt, himmlischer Segen für meinen Tag!
Mittwoch 26ten
R. träumte, ich und Fidi, wir seien gestorben, er trüg bei sich ein Relief von uns, sei zu Brandt gegangen, es ihm zu zeigen, und meint dieser: »Wie können Sie so etwas bei sich immer tragen, überhaupt, ein Mann, der weint, ist mir jämmerlich.« »Ah«, denkt R., »da ist der ganze Kerl!« - Gestern am Nachmittag, wie ich noch im Saal war, freute sich R. einer großen Terz von fis, ais, zu f, a, welche ihm eben eingefallen. Heute arbeitet er sie aus in dem Marsch der Gralsritter. - Abends »Die Araber« und zwei Gesänge der »Göttlichen Komödie«, von R. gelesen. So wunderbar, eindrucksvoll wie - sprach R. - die Mitteilung Francesca's, und wie groß der Dichter, welcher eine so schreckliche Weltanschauung uns hinnehmen läßt, ja Freude und Entzücken inmitten aller Greulichkeit empfinden läßt.
Donnerstag 27ten
Herr R.*(* Rubinstein) schickt das Arrangement des Idylls - R. freut sich des wunderbaren teuren Werkes! - R. arbeitet an dem Gralsmarsch und sagt, er ginge nächstes Jahr nach Marienbad oder Ems, um es zu hören! Das sei der rechte Bademarsch. - Ich räume die Briefe von 1877 ein. Nachmittags Spaziergang mit R. im Hofgarten. - Wenn wir abends uns trennen und er mir die heilig ernsten Worte der Liebe sagt, so vergehe ich und frage mich, wie ich das Glück verdiente. Verstummen möchte ich, verschwinden, nichts wissen, nichts hören, außer ihm dienen, ihm! Ein wahres Grauen erfaßt mich, denke ich an die Welt, und daß Larven und Fratzen zwischen diesen Einklang, dieses Leben treten könnten - Aufführungen, Konzerte, Reisen, alles eine Qual, nur hier in dem bergenden Haus ihm helfen, ihn ertragen lassen, und mit ihm dann von dieser Welt scheiden!
Freitag 28ten
R. arbeitet an dem »Grals-Marsch«, er hat die Kristall-Glocken gestrichen; er sah noch die »Glocken v. Straßburg« des Vaters sich an, um zu sehen, ob er kein »Plagiat« begeht. Dr. Schemann[10] aus Göttingen zu Besuch. Gespräche über Osman Pascha, welchen R. als Helden bezeichnet, über Mac Mahon's Erbärmlichkeit gelacht, französisches protestantisches Ministerium! England in Nöten, wahrscheinlich Dis-raeli's Abzug. Am Nachmittag schreibt R. an Eckert wegen Walküre und zitiert dabei die Fl. Blätter: Einem, der eine Halbe verlangt, »warten Sie, bis Sie Durst zu einer Ganzen haben«. - Geschenke des Königs, Porzellan-Service, Leuchter etc. - Abends mit Dr. Schemann bespricht R. den ßewstädte-Bund zur Pflege Bayreuths.
Sonnabend 29ten
R. arbeitet! Ich räume ein, Briefschaften, und blicke mit Rührung auf jüngste wie entfernteste Vergangenheit zurück! R. arbeitet an seinem Bademarsch und kommt zu mir zu Mittag sehr zufrieden mit einem Kontrapunkt. Wir speisen allein oben, weil ich etwas unwohl bin. Wir trinken auf den Kontrapunkt, in herrlicher Stimmung. Abends schreibt R. an den König und läßt mich seinen schönen Brief[11] lesen. - Wie ich ihn frug, ob er denn nicht das Mittel gefunden hätte, wie er zaubern könne, mich ganz aufhören zu lassen, in ihm aufgehen, deutet er mit dem Finger auf das Grab.
Sonntag 30ten
R. arbeitet! - Viel Einräumen für mich und Briefe. Tauwetter eingetreten, R. geht in den Hofgarten mit den Hunden. Abends »Die Araber«, die Normannen des Südens, unsympathisch, ohne Poesie und ohne Religion - darauf die »Göttliche Komödie« zu sich steigernder Freude. Wie alles wirklich geschaut ist! Man kann sich die Konzeptionen M.Angelo's aus dem wunderbaren Gedicht erklären, das uns zeigt, daß nicht die abstrakten Gedanken, nicht die Gefühle den Dichter ausmachen, sondern das Schauen. - R. spielt mir den »Marsch« vor, der überwältigend herrlich nun erklingt!
Montag 31ten
R. befiehlt das Mittag eine Stunde später, um etwas in Tinte ausarbeiten zu können. - Fröhlicher Sylvester-Abend mit Bleigießen und Erleuchtung des Baumes, »Divina Commedia« und Klänge aus »Parsifal«. - Wie innig befriedigt und innerlich beseligt beschließen wir dieses so schwere Jahr! »Nun danket alle Gott!« O wie dank ich ihm!...