Einleitung / Vorwort

Eine zierliche junge Frau in einem einfachen blauen Gewand, die an einem Schreibtisch sitzt — und ein Buch schreibt (in der rechten Hand die Schreibfeder, in der linken, wie damals üblich, ein Radiermesser); zu ihrer Rechten ein kleiner weißer Hund: Christine de Pizan ließ sich oft und gern als Autorin darstellen. Entweder, wie auch auf unserem Titelbild, als Schreibende, als Intellektuelle, häufig von Büchern umgeben (zu diesem Thema gibt es eine ganze Serie von Illustrationen), oder als Frau im höfischen Milieu, die einem ihrer mächtigen adligen Gönner eine kostbar gebundene Handschrift und damit eines ihrer Werke darbietet: auch dieses bildliche Thema wird oft variiert. Immer zeigen die Abbildungen die gleiche junge Frau in einem schlichten, meist blauen Kleid, in der Tracht einer Witwe, zu der ebenfalls die guimpe gehört, ein Schleier, der das Dekollete verhüllt und das Gesicht umschließt. Zweierlei ergibt sich aus dieser ersten und eher banalen ikonographischen Bestandsaufnahme: zunächst einmal die für das späte Mittelalter außergewöhnliche Erscheinung einer Autorin, die sich selbstbewußt in Szene setzt; und: wir haben es hier wie auch in ihrem Werk mit einem Individuum zu tun, das sich, als weibliches Ich mit ganz spezifischen Merkmalen, selbst darstellt — auch dies eine Neuheit in der Literatur jener Zeit. Ähnlich wie in den Illustrationen zu ihren Handschriften begegnen wir auch in ihrem umfangreichen Werk immer wieder dem »je, Christine« — »ich, Christine«: dies ist die einfachste Umschreibung für eine Frauenfigur, die in ihren Gedichten die »unpassenden« Erfahrungen von Einsamkeit und Trauer inmitten einer auf höfische Freude gestimmten Umgebung ausdrückt; die uns durch die Stadt der Frauen führt, uns den Entwurf und die Errichtung dieses weiblichen Zufluchtsorts schildert und als Dialogpartnerin im Gespräch mit ihren hochgestellten Begleiterinnen auftritt. Dabei setzt sie sich zuweilen die Maske der Naiven auf und gibt männliche Argumente gegen die Frauen mit gespielter Ernsthaftigkeit wieder — um schon in der nächsten Szene wieder in die ihr gemäßere Rolle der selbstbewußten Autorin und Intellektuellen zu schlüpfen. Wer verbirgt sich hinter diesem »ich, Christine«, wer war die Frau, die ihre Nachwelt auch noch mehr als 550 Jahre nach ihrem Tode zu interessieren vermag und zum Nachdenken über die Möglichkeiten einer Frau, einer Schriftstellerin um 1400 anregt?

I. »Ich Christine«: Das Leben der Christine de Pizan in ihrer Zeit

Christine wird 1365[1] in Venedig als Tochter des Tommaso di Benvenuto da Pizzano[2] geboren. Über ihre Mutter wissen wir nur, daß sie die Tochter des Tommaso di Mondini, eines Freundes und Kollegen von Christines Vater, war. Tommaso da Pizzano hat in Bologna von 1344-1356 einen Lehrstuhl für Astrologie inne und wird dann zum Rat der Stadt Venedig ernannt. Da er ein Wissenschaftler von überregionalem Ansehen und die Astrologie eine besonders an Fürstenhöfen äußerst gefragte Wissenschaft ist,[3] erreicht ihn schon bald das Angebot zweier Könige, Karls V. von Frankreich und Ludwigs des Großen von Ungarn, in ihre Dienste zu treten. Tommaso entscheidet sich für Karl V., den »Weisen«[4] (1338-1380), den bedeutenden Förderer von Wissenschaft und Künsten, dessen Hof ein intellektuelles Zentrum von europäischem Rang war. Zunächst zieht Tommaso allein nach Paris; Frau und Kind bleiben in Italien zurück. Auf Drängen des stets kränkelnden Königs, dem er als Astrologe und als Arzt gleichermaßen unentbehrlich ist, läßt er sie drei Jahre später (1368) nachkommen. Später schildert Christine ihre erste Begegnung mit Karl V. so:

  • »Die Frau und das Kind des Meisters Tommaso, meines Vaters, wurden in allen Ehren aufgenommen. Es gefiel dem mildtätigen, gütigen und weisen König, sie, die noch ihre reichverzierten lombardischen Gewänder trugen, gleich nach ihrer Ankunft zu empfangen; dies ereignete sich im Schloß Louvre zu Paris, in dem sich jener König im Monat Dezember aufhielt.«[5]

Christine, die im Umkreis des französischen Königshofes aufwächst, erhält durch dieses Milieu eine dauerhafte Prägung. Über ihre Jugend wissen wir relativ wenig, und dieses Wenige läßt sich zudem auch nur aus ihrem eigenen Werk erschließen. Wir müssen aber wohl annehmen, daß ihre Eltern unterschiedliche Auffassungen von der Erziehung ihrer Tochter haben: Christine selbst stellt dies im XXXVI. Kapitel des Zweiten Buches von der Stadt der Frauen dar, im Zusammenhang mit der Diskussion um die Notwendigkeit von Frauenbildung; dort läßt sie Frau Rechtschaffenheit sagen:

  • »Dein eigener Vater, ein bedeutender Naturwissenschaftler und Philosoph, glaubte keineswegs, das Erlernen einer Wissenschaft gereiche einer Frau zum Schaden; wie du weißt, machte es ihm große Freude, als er deine Neigung zum Studium der Literatur erkannte. Aber die weibliche Meinung deiner Mutter, die dich, wie es für Frauen gemeinhin üblich ist, mit Handarbeiten beschäftigen wollte,  stand dem entgegen, und so wurdest du daran gehindert, in deiner Kindheit weitere Fortschritte in den Wissenschaften zu machen.«

Immerhin wird der väterliche Einfluß Christines Freude und Interesse an Wissenschaft und Bildung, die »süße Lust des Wissens und Lernens«,[6] geweckt haben; einen ähnlichen Einfluß dürfte das in intellektueller Hinsicht stimulierende Milieu des französischen Königshofes ausgeübt haben.
Christine verbringt wahrscheinlich eine unbeschwerte Jugend und bewegt sich im Umkreis des französischen Hochadels; bis zu seinem Tode schätzt Karl V. in Tommaso da Pizzano den klugen Ratgeber und gewährt ihm und seiner Familie zahlreiche Vergünstigungen. Mit fünfzehn Jahren, in einem für die damalige Zeit durchaus üblichen Alter, wird Christine mit dem zehn Jahre älteren Etienne du Castel verheiratet, der am Hofe das Amt eines Notars und königlichen Sekretärs innehat. Nach ihren eigenen Äußerungen muß diese Ehe, aus der drei Kinder, eine Tochter und zwei Söhne, hervorgehen, als ausgesprochen glücklich gelten; diese Erfahrung dürfte auch ein Grund dafür sein, daß Christine später die Ehe stets als ideale Lebensform betrachten wird.
Christines Eheschließung findet wahrscheinlich zu Beginn des Jahres 1380 statt. Aber bereits wenige Monate später, am 16. September 1380, verschlechtert sich schlagartig die Lage der Familie Tommasos: an diesem Tage stirbt der königliche Gönner, und mit diesem Datum beginnt eine Reihe von Schicksalsschlägen, die Christines Leben überschatten, ihm aber auch eine neue Richtung geben werden. Das Gefühl, einem launenhaften, unberechenbaren Schicksal hilflos ausgeliefert, Opfer und Spielball der launischen Schicksalsgöttin Fortuna zu sein, wird von da an bestimmend für Christines Denken, und in ihren Werken variiert sie später immer wieder diese im gesamten Mittelalter sehr verbreitete Vorstellung.
Nach der Regierungszeit Karls V. (1364-1380), die für Frankreich trotz des Hundertjährigen Krieges eine Phase der Beruhigung und des Aufschwungs bedeutete, gerät das Land nun in eine der schwersten Krisen seiner Geschichte: der Thronfolger Karl VI. ist 1380 erst zwölf Jahre alt, und über Frankreich herrschen die machthungrigen, miteinander rivalisierenden Brüder Karls V, die »Onkel«. Selbst als Karl VI. im Jahre 1388 die Regierung übernimmt, kommt es zu keiner Befriedung des Landes, denn dieser König zählt zu den schwächsten und problematischsten französischen Herrscherfiguren; da er ab 1392 zunehmend seiner Geisteskrankheit verfällt, verleiht man ihm den Beinamen »der Wahnsinnige«.
Doch kehren wir zum Leben der Christine de Pizan zurück. Zwar kann ihr Vater noch eine Weile seine Position am Hofe behaupten, jedoch nimmt sein Einfluß seit 1380 kontinuierlich ab, und die wirtschaftliche Situation seiner Familie verschlechtert sich von Jahr zu Jahr. Dann, 1387, stirbt Tommaso da Pizzano, und Etienne du Castel wird Familienoberhaupt. Endgültig aus seinen Bahnen geworfen wird Christines Leben schließlich durch den Tod Etiennes, der 1390 in Beauvais einer Epidemie erliegt. Dem Gefühl des Verlassenseins, der Verlorenheit, das sie zu diesem Zeitpunkt empfindet, wird Christine einige Jahre später in einer berühmten und vielzitierten Ballade Ausdruck verleihen:

»Seulete suy et seulete vueil estre,
Seulete m'a mon doulz ami laissiee,
Seulete suy, sans compaignon ne maistre,
Seulete suy, dolente et courrouciee.«[7]

(»Ganz allein bin ich, und ganz allein will ich auch sein, / Ganz allein ließ mich mein süßer Freund zurück, / Ganz allein bin ich, ohne Gefährten, ohne Gebieter, / Ganz allein bin ich, von Schmerz und Kummer erfüllt.«)
Christine verharrt jedoch nicht im Zustand der Trauer und Resignation; allein ihre wirtschaftliche Lage erlaubt ihr dies nicht, denn sie hat für ihre drei Kinder, ihre Mutter und eine mittellose Nichte zu sorgen.
Ihre eigenen beiden Brüder, Paolo und Aghinolfo, sind ihr keine Hilfe, sondern kehren endgültig nach Italien zurück. Wahrscheinlich hat sich Christine zunächst als Schreiberin, mit dem Abschreiben fremder Werke ihr Brot verdient. Sie beginnt schließlich selbst zu schreiben, versteht es, einen Kreis bedeutender adliger Gönner[8] für sich zu gewinnen, und verdient auf diese Weise nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt, sondern auch den ihrer Familie. In den Jahren von 1395 bis 1429, in die allerdings auch eine rund elfjährige Pause (1418-1429) fällt, entsteht ein sehr umfangreiches Werk, das religiöse und weltliche Lyrik, Geschichtsschreibung, Lehrdichtung, Streitschriften zur Frauenfrage, Traktate zur weiblichen Erziehung und Stellungnahmen zur politischen Situation Frankreichs umfaßt.
Im Jahre 1418 verstummt Christines Stimme plötzlich. Es ist anzunehmen, daß sie zu diesem Zeitpunkt Paris verlassen und sich aufs Land, wahrscheinlich nach Poissy bei Paris, wo ihre Tochter als Nonne in einem Dominikaner-Kloster lebt, zurückgezogen hat. Zu erklären ist dieser Rückzug mit den bürgerkriegsähnlichen, chaotischen Zuständen, die im damaligen Paris herrschen und die 1418 ihren blutigen Höhepunkt erreichen. Nach dem Tode Karls V. war ein Machtkampf zwischen den Herrscherhäusern von Burgund (zunächst Philipp der Kühne, dann, nach seinem Tode, Johann ohne Furcht) und Orleans (Ludwig von Orleans) ausgebrochen, dem Ludwig von Orleans 1407 zum Opfer fällt; dessen Sohn und Erbe ruft nun die Parteigänger des Hauses Armagnac, die »Armagnaken«, zu Hilfe, die von 1408-1418 in Paris wüten; daraufhin verbindet sich Johann ohne Furcht mit den Engländern, die 1415 ein Heer von 30.000 Mann nach Frankreich schicken. Im Mai des Jahres 1418, zu dem Zeitpunkt also, als Christine Paris spätestens und wahrscheinlich bis ans Ende ihres Lebens verläßt, dringen die burgundischen Truppen in Paris ein und richten dort ein grauenvolles Massaker an. Erwähnt werden muß in diesem Zusammenhang auch die dubiose Rolle der französischen Königin Isabella von Bayern, der Frau Karls VI. Sie ist sechs Jahre jünger als Christine und seit 1385 mit Karl VI. verheiratet; zu schwach, um der schwierigen innenpolitischen Situation Herr zu werden, wird sie mehr und mehr zum Spielball fremder Interessen und macht sich zudem beim französischen Volk durch ihre aufwendige Hofhaltung und ihre Liebesverhältnisse unbeliebt.
Es ist notwendig, sich diese Situation, die hier nur in groben Zügen skizziert werden konnte, als Hintergrund für Christines Leben ab 1380, für ihre schriftstellerische Tätigkeit, zur Erklärung ihrer politischen Positionen und ihres Wertesystems zu vergegenwärtigen, denn nur so werden Haltungen und Denkweisen verständlich, die uns auf den ersten Blick fremd erscheinen und die wir, bei Anlegung eines ausschließlich modern-neuzeitlichen Maßstabes, allzu schnell mit grob vereinfachenden Etiketten versehen oder verurteilen. An zwei Punkten kann dies hier verdeutlicht werden: zum einen gewinnt auf diesem Hintergrund Christines Lob der Tugend ein neues Profil, jenes Ideals das »durch die pathetischen und rührseligen Apostrophen, welche die Bürger des 18. Jahrhunderts (...) an sie richteten, so mißliebig geworden (ist), daß wir uns eines Lächelns kaum erwehren können, wenn wir es hören oder lesen«;[9] darauf wird im Zusammenhang des Buches von der Stadt der Frauen noch zurückzukommen sein. Zum anderen ist eben jene politische Situation in Frankreich sehr genau zu bedenken, bevor Christines politische Optionen als »konservativ« oder gar als »reaktionär« bezeichnet werden. Wer wie sie ihre glücklichsten und entscheidenden Jahre im Umkreis eines in politischer Hinsicht und in seiner Haltung zu Kunst und Wissenschaft idealen Herrschers verbracht hat, dem dürfte es schwerfallen, in dem eher (politische) Unruhe stiftenden bürgerlichen Element jener Zeit den Träger einer erstrebenswerten neuen Ordnung zu erkennen. Ähnliches gilt für ihre eigenen Erfahrungen eines im Kampfe rivalisierender Parteien zerrissenen Frankreich: liegt in diesem Falle nicht der Traum von einer starken Monarchie unter einem Herrscher, der Künste und Wissenschaften fördert, näher — ohne in irgendeiner Hinsicht von einem »rückschrittlichen« Denken zu zeugen — als andere politische Vorstellungen?
Über ihr weiteres Leben nach dem Einschnitt von 1418 gibt es nur wenig zu berichten: sie selbst faßt diese Jahre rückblickend mit den folgenden Worten zusammen:

»Je, Christine, qui ay ploure
XI ans en abbaye close,
Ou j'ay tousjours puis demoure
Que Charles (c'est estrange chose!),
Le filz du roy, se dire l'ose,
S'en fouy de Paris de tire,
Par la traison la enclose (...)«[10]

(»Ich, Christine, die ich / Elf Jahre weinend hinter Klostermauern verbracht habe, /Wo ich mich ohne Unterbrechung aufgehalten habe, /Seit Karl (das ist schon sehr merkwürdig!), / Der Sohn des Königs, wenn ich ihn überhaupt noch so nennen darf, / Hals über Kopf Paris verließ, / Ich, die der Verrat zu diesem Rückzug bewog ...«)
Ihr letztes Werk ist das am 31. Juli 1429 abgeschlossene Gedicht auf die Jungfrau von Orleans (Ditié de Jehanne d'Arc), das mit den zuvor zitierten Versen beginnt. In ihm drückt Christine ihre Freude aus über diese von Jeanne d'Arc, »einem zarten sechzehnjährigen Mädchen« (V. 273), eingeleitete Wende in der französischen Geschichte. Dann verstummt Christines Stimme für immer. Über die Umstände ihres Todes, der sie wahrscheinlich im Jahre 1430 ereilt, wissen wir nichts.

II. Grundtendenzen ihres Schaffens

Christines umfangreiches Werk, von dem ein großer Teil immer noch nicht ediert ist (und selbst die meisten der existierenden Textausgaben sind nur der Fachwelt zugänglich), zeichnet sich durch einen formalen und inhaltlichen Reichtum aus, der ihrem Oeuvre zu einer herausragenden Stellung in der Literatur ihrer Zeit verhilft. Für den Erfolg und die Verbreitung ihrer Werke spricht die beträchtliche Anzahl der heute noch erhaltenen Handschriften.
Will man sich einen Überblick über ihr in jeder Hinsicht facettenreiches Werk verschaffen, so bietet sich als Ausgangspunkt Christines autobiographischer Prosatext L' Avision Christine (Christines Vision, 1405) an; dort zieht sie selbst die Bilanz ihrer literarischen Entwicklung bis 1405:

  • »Ich habe damit begonnen, anmutige Gebilde zu ersinnen, und diese waren in meinen Anfängen ohne allzuviel Tiefgang. Dann aber erging es mir wie dem Handwerker, der mit der Zeit immer kompliziertere Dinge herstellt: in ähnlicher Weise bemächtigte sich mein Verstand immer außergewöhnlicherer Gegenstände; mein Stil wurde eleganter, meine Themen gewichtiger. Von meinen Anfängen im Jahre 1399 bis ins heutige Jahr 1405, das noch keineswegs einen Endpunkt meines Schaffens markiert, habe ich fünfzehn umfangreiche Bücher verfaßt (nicht mitgezählt habe ich hierbei andere, kleinere Texte, die rund siebzig große Hefte füllen) (...)«[11]

Die produktivste Phase ihres Schaffens fällt in eben jene Jahre 1399-1405. In dieser Zeit entsteht die Gedichtsammlung der Cent Ballades (um 1395 -1400), in der sich neben Gedichten mit höfischer (Liebes-) Thematik auch kleine, persönlich gefärbte Stimmungsbilder und Alltagsszenen finden. Ferner experimentiert sie mit lyrischen Kleinformen jener Zeit, den virelais und den jeux à vendre; das Resultat sind anmutige poetische Miniaturen im Stil der Zeit.
Spätestens 1399 beginnt Christines Hinwendung zur Frauenthematik, und zwar mit dem Sendbrief an den Gott Amor (Epistre au Dieu d'Amours), einer Vorstufe zu dem Buch von der Stadt der Frauen. Hier kritisiert sie bereits frauenfeindliche Tendenzen in der Literatur, vor allem im Rosenroman, verteidigt die Frauen und schreitet zum Gegenangriff, indem sie vorbildliche Frauengestalten anführt und darauf verweist, daß das ebenso unerfreuliche wie weitverbreitete Frauenbild ihrer Zeit allein mit der Wehrlosigkeit der Frauen und dem Monopol der männlichen Autoren zusammenhängt:

»Ich erwidere ihnen (den Männern, M.Z.), daß nicht die Frauen diese Bücher schrieben und sie es auch nicht waren, die das, was allerorts über sie und ihr Verhalten verbreitet wird, dort notiert haben.«[12]

Konsequent schließt sich, in den Jahren 1400-1402, die Kontroverse um den Zweiten Rosenroman von Jean de Meun[13] an, die »Bibel« der Intellektuellen jener Jahre; es handelt sich um den ersten großen Literaturstreit in Frankreich, den Christine entfacht und in dem sie gemeinsam mit dem Pariser Theologen Jean Gerson gegen die frühhumanistischen Intellektuellen Pierre und Gontier Col und Jean de Montreuil kämpft.[14] Christine geht es dabei um zweierlei: einmal attackiert sie Jean de Meuns Sprachgebrauch, genauer: sein Eintreten für eine offene Benennung der parties secretes des menschlichen Körpers, der Genitalien; dann das von ihm im Zweiten Rosenroman, vor allem in der sogenannten »Rede der Alten«, verbreitete Frauenbild, das in die eindringliche Warnung vor dem weiblichen Geschlecht mündet.
Christine ist um 1402 bereits eine anerkannte Autorin: dies geht einmal aus ihrer Haltung im Rosenroman-Streit hervor (und aus dem Respekt, mit dem ihr ihre Kontrahenten begegnen). Zum andern haben moderne Kunsthistoriker[15] festgestellt, daß Christine seit 1402 der bildlichen Ausstattung ihrer Handschriften besondere Aufmerksamkeit widmet, ganze Künstlerwerkstätten beschäftigt und, wie kein anderer Schriftsteller ihrer Zeit, auf den engen Zusammenhang zwischen Text und Illustrationen achtet und ihren Handschriften damit einen überdurchschnittlichen künstlerischen Wert verleiht.
Vom Streit um den Rosenroman führt ein direkter Weg zum Buch von der Stadt der Frauen (Le Livre de la Cite des Dames,[16] entstanden 1404/1405), zu jenem spätmittelalterlichen Lesebuch für Frauen, mit dem Christine verschiedene Ziele verfolgt: sie will den Frauen ihrer Zeit (und auch jenen späterer Epochen) Mut machen, ihnen Selbstbewußtsein einflößen, indem sie auf große Frauenfiguren der Bibel, der Geschichte und der Mythologie verweist; sie möchte die Frauen ferner dahin bringen, eine eigene, das heißt: nicht-fremdbestimmte Vorstellung von sich selbst, von der Bedeutung des weiblichen Geschlechts zu entwickeln. Und schließlich macht Christine den Versuch, »korrigierend« in die geschichtliche Überlieferung einzugreifen, diffamierenden Vorstellungen von bestimmten Frauengestalten (etwa von Sappho oder Xanthippe) den Garaus zu machen.
Implizit, in dem immer wiederkehrenden Loblied auf Werte wie Tugend, Standhaftigkeit und Klugheit, enthält das Buch von der Stadt der Frauen auch den Entwurf eines Erziehungsprogramms, das in Christines nächstem »Frauenbuch«, ihrer Prosaschrift Le Livre des trois vertus oder Tresor dela Citedes Dames (Buch der drei Tugenden oder Schatzkästlein der Stadt der Frauen), entwickelt wird.[17] Dieses wichtige Werk, das trotz verschiedener Ankündigungen bis zum heutigen Tage noch immer nicht ediert vorliegt, schließt sich inhaltlich direkt an das Buch von der Stadt der Frauen an: wiederum erscheinen Christine die drei allegorischen Frauenfiguren Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit und fordern sie auf, eine neue Anstrengung zu unternehmen, um möglichst vielen Frauen den Zugang zur Stadt der Frauen zu verschaffen; zu einer solchen sittlichen Vervollkommnung von Frauen aller Stände soll das Buch der drei Tugenden beitragen. Dieses Werk erweist sich als äußerst vielschichtiger Text: als Hausbuch, als Ratgeber für Frauen, als Erziehungsbuch und, aus heutiger Sicht, als wichtiges kultur- und sozialgeschichtliches Dokument. Seine Bedeutung liegt ferner darin, daß hier zum ersten Mal eine Frau diese Themen behandelt, denn Haus- und Erziehungsbücher für das weibliche Geschlecht, aber aus männlicher Feder, gab es schon vorher [18]; ungewöhnlich ist des weiteren die Ausführlichkeit, mit der Christine auf die Bedürfnisse des bürgerlichen Standes eingeht. — Dem Buch der drei Tugenden ist in seiner Zeit eine große Verbreitung beschieden; es erscheint in frühen Drucken des XV. und XVI. Jahrhunderts und wird im XV. Jahrhundert ins Niederländische und Portugiesische übersetzt.
Nachdem damit die Serie von Christines »großen« Werken zu Frauentragen abgeschlossen ist, bleibt der Verweis auf ihr bedeutendes Geschichtswerk nachzutragen, das Livre des fais et bonnes meurs du sage roy Charles V (Das Buch der großen Taten und des vorbildlichen Lebenswandels des weisen Königs Karl V.) von 1404, das auch heute noch als wichtiges geschichtliches Dokument gilt. — Wenigstens eine Erwähnung verdient auch das Livre du Chemin de long estude von 1402/03 (Das Buch vom Weg des langen Studierens), ein umfangreiches Versgedicht, in dem Christine als Traumvision eine phantastische Reise in Gesellschaft der cumäischen Sibylle erzählt, die sie in das Land des Wissens und Lernens führt; ferner: ihr 1400-1403 entstandenes und 23.636 Verse umfassendes philosophisches Gedicht Le Livre de la Mutacion de Fortune (Das Buch von den Wechselfällen des Schicksals), in dem sie den Einfluß Fortunas auf die Menschheitsgeschichte und auf ihr eigenes Leben behandelt. Genannt werden müssen schließlich noch zwei thematisch eng zusammenhängende Gedichtsammlungen, die um das Thema der Liebe kreisen, genauer: der »folle amour«, der »törichten Liebe«, vor der Christine stets warnt. Aus der Perspektive des an der Liebe leidenden, da abgewiesenen Mannes wird dieses Thema im Livre du duc des vrais amans (Das Buch vom wahrhaft liebenden Herzog um 1405) behandelt; aus der Sicht der an einem außerehelichen Liebesverhältnis zugrundegehenden Frau in den Cent Ballades d'amant et de dame (Hundert Balladen über einen Liebenden und seine Herzensdame, um 1409/10). Dieses Buch — übrigens das einzige Werk Christines, das heute in einer preiswerten französischen Taschenbuchausgabe vorliegt — ist, in Gedichtform, der Roman einer Liebe und ihrer verschiedenen Phasen, eine lyrische Abhandlung über die Beziehungen der Geschlechter im spätmittelalterlichen Frankreich und in einem höfischen Ambiente.
Das Jahr 1405 leitet eine Wende ein. In der Folgezeit läßt sich eine gewisse Verlangsamung in Christines literarischem Schaffen beobachten und vor allem: eine verstärkte Hinwendung zu tagespolitischen Fragen. Vorrangig geht es dabei um die Beendigung des Bürgerkriegs in Frankreich und der Leiden der Bevölkerung.
So verfaßt Christine am 5. Oktober 1405 einen Brief an die Königin Isabella, in dem sie diese beschwört, alles für die Wiederherstellung des Friedens in Frankreich zu tun. In ihrer einige Jahre später entstandenen Lamentacion (Klage, 1410) gibt sie ein erschütterndes Bild französischer Zustände und appelliert an die Verantwortlichen, Frieden zu schließen; ähnliche Ziele verfolgt sie auch mit dem Livre de paix (Das Buch vom Frieden, 1412/13), das sie dem Herzog von Berry überreicht. — Erwähnt seien abschließend noch ihr Livre du corps de policie (Das Buch vom Staatswesen, 1406/07), in dem sie ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen entwickelt; und ihre Rückkehr zur religiösen Dichtung, die stets ein Bestandteil ihres Schaffens war, mit den Septpsaumes allegorises (Sieben allegorisierte Psalmen) von 1409/10.
Christines späte Schaffensphase ist also eng mit der Entwicklung der politischen Situation verbunden, mit der Verschärfung der innenpolitischen Krise, die im Unglücksjahr 1418 ihren Höhepunkt erreicht. Damit erweist sich Christines Existenz als eng verknüpft mit den französischen Geschicken. Auch ihr allmähliches Verstummen als Autorin dürfte hiermit zusammenhängen, vielleicht aber auch mit der Einsicht in die Vergeblichkeit des Versuchs, die Zeitverhältnisse beeinflussen zu wollen. Anderes mag hinzugekommen sein: eine gewisse Abnutzung des »exotischen« Reizes der jungen Autorin inmitten einer ausschließlich von männlichen Kollegen bestimmten Umgebung, vielleicht auch — aber das ist natürlich reine Spekulation — eine gewisse Enttäuschung ihres Publikums, dem eine gefällige weibliche Hofdichterin lieber gewesen wäre als eine Frau, die sich so engagiert und nahezu ausschließlich »ernsthaften« Themen widmet. Als zunehmend schwierig erwies sich auch das Verhältnis zur französischen Königin und früheren Gönnerin Isabella, die sich im Laufe der Jahre immer weiter vom Ideal der Tugend entfernt (das französische Volk belegt sie später mit dem Schimpfnamen »la gaupe«, »die Schlampe«) und politisch Frankreich schließlich sogar den Engländern ausliefert. Aber auch wenn das Jahr 1418 in Christines Leben eine Flucht vor tödlicher Gefahr, vielleicht auch einen Rückzug in die Resignation bedeutet — ihr begeistertes Gedicht auf Jeanne d'Arc setzt noch einmal einen anderen und tröstlicheren Akzent.

III. Christine des Pizan im Urteil ihrer Nachwelt
Blaustrumpf, Vielschreiberin,  Frühe Feministin?

Das wohl am häufigsten zitierte Urteil über Christine de Pizan stammt aus der Feder des bedeutenden und einflußreichen französischen Literaturhistorikers Gustave Lanson (1857-1934); es findet sich in seiner bis in die fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts in zahlreichen Auflagen verbreiteten Histoire de la litterature francaise (1894). Lanson, der allerdings der gesamten französischen Literatur des späten Mittelalters kaum etwas abgewinnen kann und sie als unerfreulichen »Leerraum« zwischen Hochmittelalter und Renaissance darstellt, nennt Christine mürrisch

  • »... einen der vollkommensten Blaustrümpfe, den es in unserer Literatur gibt, die erste Vertreterin jenes unausstehlichen Geschlechts von Autorinnen, die über alles schreiben können und die während ihres ganzen lieben langen Lebens sich nichts anderes angelegen sein lassen, als die Beweise für ihren unermüdlichen Schreibfluß zu mehren, der ihrer umfassenden Mittelmäßigkeit entspricht.«[19]

Ganze Generationen von Christine-Interpretinnen haben sich mit diesem Verdikt auseinandergesetzt und es zu widerlegen versucht, bis dies 1982 überflüssig wurde: Jacqueline Cerquiglini, die Herausgeberin von Christines Cent Ballades d'amant et de dame, hält es, angesichts der Ergebnisse der Forschung und des immer stärker werdenden Interesses am literarischen Werk der Christine de Pizan, gar nicht mehr für nötig, dieses Fehlurteil noch ernstzunehmen: sie setzt es deshalb, in einem Akt heiterer Provokation, ganz einfach als Motto über ihr Vorwort, ohne es noch eines weiteren Kommentars zu würdigen, und demonstriert so die Überlebtheit der Lansonschen Position.
Christines Ruhm überdauert ihren Tod, jedoch ist das Interesse an ihrem Werk abhängig von den verschiedenen Phasen der Mittelalter-Rezeption in Frankreich. So wird sie zwar noch im XVI. Jahrhundert von den Dichtern Jean und Clement Marot gepriesen, dann aber, im Gefolge des Antike- und Italien-Kults und der Mittelalter-Verachtung der Dichter der französischen Pleiade, gerät auch ihr Werk in Vergessenheit. Daran ändert sich im XVII. Jahrhundert, das nur wenig Geschmack am »barbarischen« Mittelalter findet, nichts. Erst im XVIII. Jahrhundert, im Gefolge eines neuen Geschichtsbewußtseins und Interesses für die nationale Geschichte, tritt eine Wende ein,[20] von der das Mittelalter und seine Literatur profitieren. So verfassen der Abbe Lebeuf (1743) und der Abbe Sallier (1751) kurze Darstellungen zu Christine und ihren Werken; wenige Jahre vor der Revolution kommt es dann zur Veröffentlichung längerer Auszüge aus Christines Sendbrief an den Gott Amor und dem Buch der drei Tugenden, und zwar in einer frühen Frauenliteratur-Anthologie, in Mlle de Keralios Collection des meilleurs ouvrages composes par desfemmes (1787).
Im XIX. Jahrhundert erscheinen dann erste große Ausgaben von Christines Werken und wichtige, in erster Linie biographisch orientierte Studien; als editorischer Meilenstein darf die dreibändige Ausgabe ihrer Versdichtung, die von Maurice Roy herausgegebenen Oeuvres poetiques (1886-96), gelten. Mit diesem seit dem späten XIX. Jahrhundert kontinuierlich zunehmenden Interesse an Christine verbindet sich seit dem Beginn des XX. Jahrhunderts ihre Rezeption aus einem von feministischen Fragestellungen bestimmten »Gegenwartsinteresse«.[21] Diese Aktualisierungstendenzen bestimmen auch heute noch einen Teil der Forschung zu Christine de Pizan, sind jedoch nicht unproblematisch: die Gefahr liegt in einer oberflächlichen und unhistorischen Vereinnahmung (oder Ablehnung) Christines. Charity Cannon Willard, eine bedeutende amerikanische Christine-Spezialistin, weist in diesem Zusammenhang auf die bedenkliche Versuchung hin, Christines Äußerungen so (miß-) zu verstehen, daß sie mit modernen Zielsetzungen gewaltsam in Einklang gebracht werden können.[22] Mit anderen Worten: wenig ergiebig sind Untersuchungen, die mit einer modernen (und oft sehr diffusen) Vorstellung von Feminismus an Christines Werk herangehen und es mit Hilfe eines neuzeitlichen Fragenkatalogs analysieren, um dann, mit einer gewissen Enttäuschung, festzustellen, Christine sei keine feministische Autorin. Eine solche nur an Aktualisierung, an schnellem Gegenwartsbezug interessierte Rezeptionshaltung gerät notwendig mit der Zeitbedingtheit von Christines Positionen in Konflikt. Sinnvoller, allerdings auch mühsamer, ist dagegen die Rekonstruktion weiblicher Lebensbedingungen um 1400, verbunden mit der Frage nach den Möglichkeiten weiblicher Selbstverwirklichung in jener Zeit und innerhalb des höfischen Milieus, in dem Christine sich bewegte. — Zu bedenken ist ferner, ob es eine »feministische Autorin« im modernen Verständnis überhaupt schon in der Phase vor 1800 geben kann — und ob dieser Status nicht auch an wirtschaftliche Voraussetzungen geknüpft ist, die um 1400 noch fehlen: erinnert sei vor allem daran, daß wir uns in der Zeit vor Erfindung des Buchdrucks (Mitte des XV. Jahrhunderts) befinden; und daß ohnehin erst seit dem XIX. Jahrhundert und dem Aufkommen eines breiten Lesepublikums die wirtschaftliche Unabhängigkeit eines Autors möglich wird. Zum Schluß nur noch einige Hinweise auf andere Probleme der Christine de Pizan-Rezeption.
Gewisse Schwierigkeiten bereitet heute der Kompilationscharakter vieler Werke Christines, das heißt: die Tatsache, daß wir es mit einer Autorin zu tun haben, die ganz selbstverständlich aus der ihr zugänglichen literarischen Tradition schöpft, und hier vor allem aus antiken Quellen. Dies jedoch Christine als literarische Unfähigkeit oder mangelnde Originalität anzukreiden, bedeutet lediglich, in völliger Unkenntnis mittelalterlicher Literatur und ihrer Entstehungsbedingungen zu urteilen: für den mittelalterlichen Autor war eine solche Einbindung in die Tradition selbstverständlich und der Rückgriff auf die Antike legitim. In ihrem Geschichtswerk über Karl V. hat sich Christine selbst zu diesem Problem geäußert und die wichtige Unterscheidung zwischen den literarischen Stoffen — die sie aus fremden Quellen übernimmt und überarbeitet — und der Zusammenfügung dieser inhaltlichen »Bausteine« zu einem neuen Ganzen, die ihr eigenes Werk ist, getroffen:

  • »Auch wenn der Baumeister oder Maurer selbst weder die Steine noch die Materialien herstellt, aus denen er das Schloß oder Haus erbaut (...), so hat er doch die Materialien zusammengetragen, ihnen ihren je eigenen Platz zugewiesen, gemäß der Absicht, die er zu verwirklichen sucht. Genau so bin ich mit den Stoffen verfahren, aus denen sich meine Abhandlung zusammensetzt; mir genügt es völlig, wenn ich sie so zu verwenden weiß, daß sie der Idee, die ich entwickeln will, dienen und diese verstärken.«[23]

In letzter Zeit hat die Forschung dies stärker berücksichtigt; hinfällig geworden ist damit auch der Vorwurf der (ideenlosen) Vielschreiberei, der sich in älteren Publikationen zuweilen findet. Stattdessen wird immer stärker die für Christines Zeit neue Bedeutung der Individualität in ihrer Dichtung betont, Christine de Pizans Fähigkeit, »ihre eigene Persönlichkeit, ihr Schicksal und ihre durch diese geprägte Individualität zum Thema des dichterischen Werks zu erheben.«[24]

IV »Das Buch von der Stadt der Frauen« -
Ein spätmittelalterliches Lesebuch für Frauen

Christines Buch von der Stadt der Frauen, das hier zum ersten Male in einer ungekürzten Fassung einem deutschsprachigen Publikum präsentiert wird,[25] stellt einen Höhepunkt innerhalb ihrer dem Frauenproblem gewidmeten Schriften dar und kann, im Hinblick auf seine Bedeutung, durchaus mit Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht verglichen werden, auch wenn beide Werke natürlich grundsätzliche und zeitbedingte Unterschiede aufweisen.
Am Beginn des Buchs von der Stadt der Frauen steht eine ganz konkrete Situation, eine Erfahrung, die Christine wahrscheinlich stellvertretend für viele andere Frauen ihrer Zeit formuliert: sie beschreibt, wie ihr eher zufällig das Buch des frauen- und ehefeindlichen Autors Matheolus[26] in die Hände fällt, sie es aber schon nach kurzer Lektüre unwillig beiseitelegt, weil Inhalt und Argumentationsniveau dieser Schrift ihr nicht zusagen. Im I. Kapitel beschreibt sie nun sehr eindringlich, wie sie trotz dieser verstandesmäßigen »Bewältigung« des Problems in Selbstzweifel, in eine Verurteilung des weiblichen Geschlechts und schließlich in untätige Resignation verfällt. Sie schildert damit eine »typisch weibliche« Haltung und Schwäche: an die Stelle von Gelassenheit tritt destruktiver Selbstzweifel, und die Lust zu kämpferischer Auseinandersetzung mit einer gegnerischen Position wird durch lähmende Traurigkeit ersetzt. Allerdings ironisiert Christine diese Haltung bereits und kündigt damit eine Wende an — etwa, wenn sie von sich selbst behauptet, sie sei in ihrer »Einfalt und Unwissenheit unfähig«, ihre »eigenen schlimmen Schwächen und die der anderen Frauen zu erkennen« (I.Kap.).
In der Tat lassen Hilfe und Trost nicht lange auf sich warten: drei vornehme Frauen, die Verkörperungen der drei Tugenden Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit, statten Christine einen Besuch ab. Sie sprechen ihr Mut zu und kündigen ihr den gemeinsamen Bau einer »Stadt der Frauen« an, eines »Ortes der Zuflucht«, einer »Festung gegen die Schar der boshaften Belagerer« und Verleumder des weiblichen Geschlechts (III. Kap.). Die drei Bücher, in die sich das Buch von der Stadt der Frauen gliedert, beschreiben nun, wie Christine in Begleitung von jeweils einer Frauengestalt die Frauenstadt errichtet. Dabei bedient sich Christine de Pizan der allegorischen Darstellungsweise, die vor allem im späten Mittelalter sehr beliebt und verbreitet war, nicht zuletzt aufgrund der langanhaltenden Wirkung des Rosenromans. In der Allegorie werden abstrakte Begriffe und Vorstellungen bildlich oder über eine Person dargestellt: so überträgt Christine den gesamten geistigen Vorgang des Schreibens eines Buches zur Verteidigung der Frauen auf die bildlich-konkrete Ebene der Errichtung einer gut befestigten mittelalterlichen Stadt. Diesem Darstellungsprinzip gehorcht auch die Präsentation der drei Tugenden Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit als vornehme Frauenfiguren überirdischer Herkunft. Ähnlich verhält es sich mit den Fragen Christines an ihre jeweilige Begleiterin und den sich daraus entspinnenden Diskussionen: sie werden zu den für den Bau der Frauenstadt notwendigen manuellen Tätigkeiten des Aushebens der Erde oder des Mauerns. Und auch die zahlreichen vorbildlichen Frauengestalten aus Frühgeschichte, Antike, aus der Bibel und der eigenen Zeit, die Christine zur Verteidigung des weiblichen Geschlechts in ihrer Stadt versammelt, erfüllen so die Funktion von »Baumaterial«, sind »Steine« unterschiedlicher Art und Größe, aus denen die »Stadt der Frauen« errichtet wird.
Hierbei greift Christine auf ein anderes, ebenfalls typisch mittelalterliches Verfahren zurück, auf die Reihung sogenannter Exempla, erzählter »Beispiele« mit Beleg- und Beweischarakter, die ihren Aussagewert immer erst im Zusammenhang der These oder Lebensregel erhalten, die sie illustrieren sollen. Das Buch von der Stadt der Frauen läßt sich auf das folgende grundsätzliche Bauprinzip zurückführen: Christines Fragen, die Wechselrede zwischen ihr und den »hohen Frauen«, die Gespräche über angebliche weibliche Schwächen und Fehler, über männliche Vorwürfe und Verleumdungen, bilden das argumentative »Gerüst« des Werks. In dieses »Gerüst« werden dann, zwecks Entkräftung oder Widerlegung solcher Vorwürfe und zur Demonstration weiblicher Stärken und Vorbildlichkeit, beispielhafte »Geschichten« eingefügt; letztere besitzen, als »positive models of moral identification«, [27] auch eine pädagogische Funktion. Christine schöpft ihre Exempla aus den im Mittelalter beliebten Sammlungen des Valerius Maximus, des Vincent von Beauvais, aus der Legenda aurea des Jacobus da Voragine und anderen Werken. Ferner übernimmt sie einige Novellen aus dem Decameron (1348) ihres berühmten Landsmannes Giovanni Boccaccio, vor allem aber übernimmt und überarbeitet sie zahlreiche Frauengeschichten aus dessen Werk De claris mulieribus (Über berühmte Frauen, 1360-62), das 104 anekdotenhafte Kurzbiographien zu großen Frauengestalten, überwiegend aus der Frühgeschichte und der Antike, enthält.[28]
Christine bearbeitet diese »Geschichten« für ihre Zwecke, das bedeutet: sie kürzt, setzt andere Akzente, fügt das Erzählte in neue Zusammenhänge ein und vermeidet vor allem Details, die das sittliche Empfinden ihrer zeitgenössischen Leserinnen verletzen könnten. Auf eine weitere Weise paßt sie die aus fremden Quellen übernommenen Stoffe dem Horizont ihres spätmittelalterlichen Publikums an: die antike Welt und ihre Gestalten werden — in einer für das Mittelalter charakteristischen Weise — »höfisiert«, und so treten uns griechische Heroen im Gewand mittelalterlicher Ritter entgegen, und römische Frauen verkörpern mittelalterliche Tugendideale. Einer Umdeutung werden auch vorchristliche weibliche Gottheiten unterworfen, die bei Christine meist als sehr »menschliche« junge Frauen dargestellt, damit ihrer heidnischen Götter-Aura entkleidet und in das christliche Universum eingefügt werden. Auf diese Weise entsteht ein umfangreiches spätmittelalterliches Lese-und Trostbuch für Frauen, ein Werk, das den Blick für die Bedeutung des weiblichen Geschlechts schärft und den Frauen gewichtige Argumente und reiches Beispielmaterial für eine Auseinandersetzung mit frauenfeindlichen Denkweisen an die Hand gibt.

Abschließend noch einige Bemerkungen zu den Widerständen, die sich den Leserinnen und Lesern des späten XX. Jahrhunderts an einigen Stellen des Buchs von der Stadt der Frauen auftun dürften. Zweifellos verlangt dieses Werk zunächst einmal eine ganz andere Lesehaltung als moderne Texte: seine Lektüre erfordert eine gewisse Geduld, ein Sich-Einlassen auf eine fremde, da zeitlich weit zurückliegende Vorstellungswelt, auf andere Denkweisen und Wertsysteme, den Verzicht auf hastigen Lesekonsum und auf den Versuch einer vorschnellen Angleichung an eigene Erwartungen.
Zuweilen ist es auch erforderlich, Begriffe und Werte, die an zentraler Stelle im spätmittelalterlichen Denken auftauchen, von den belastenden Bedeutungsschichten zu befreien, die sich in späteren Jahrhunderten über sie gelegt haben. Dies gilt in besonderem Maße für den Begriff der Tugend, die, wie Max Scheler ausführt, im Mittelalter keineswegs den sauertöpfischen Beigeschmack besaß, der ihr heute eigen ist, sondern »ein höchst anmutiges, anlockendes und charmantes Wesen«[29] war, »ein dauernd lebendiges, glückseliges Könnens- und Machtbewußtsein zum Wollen und Tun eines in sich selbst und gleichzeitig für unsere Individualität allein Rechten und Guten«.[30] — Insgesamt muß also das dem Buch von der Stadt der Frauen und Christines Denken zugrundeliegende Wertsystem auf dem Hintergrund ihrer Zeit (und dem der besonderen Situation einer Frau) gelesen und in seine ursprünglichen Bezüge zurückversetzt werden.
Schwierigkeiten anderer Art dürften bei der Lektüre der Heiligenlegenden des Dritten Buchs der Stadt der Frauen entstehen: die häufige Wiederholung von inhaltlichen Versatzstücken wirkt heute eher monoton, die dargestellten Situationen mit ihrer stets ähnlichen Spirale von Gewalttätigkeit auf der Seite der Übeltäter und von zunehmender Heiligkeit bei den stets makellos unschuldigen Opfern haben etwas Ermüdendes.
Wenn jedoch in dieser Übersetzung sehr bewußt auf Kürzungen verzichtet wurde, dann aus verschiedenen Gründen: zum einen geht es nicht an, ein Werk wie das Buch von der Stadt der Frauen willkürlich, das heißt: nach den Bedürfnissen des modernen Lesers zu beschneiden und damit zugleich seine Architektur empfindlich zu stören.[31] Ferner haben wir es mit einem typischen Zeugnis spätmittelalterlicher Frömmigkeit und Heiligenverehrung zu tun, zu der nun einmal Wiederholungen und gewisse stereotype inhaltliche Elemente gehören. Und schließlich besteht die Möglichkeit, diese Heiligenlegenden auch »anders« zu lesen; weshalb sollen wir uns nicht ebenfalls erfreuen können an diesen Texten: etwa an der mutigen »Jungfrau Christine«, der es gelingt, mit einem letzten Stück der ihr aus dem Mund gerissenen Zunge so zielsicher nach einem ihrer Richter zu werfen, daß dieser sogleich auf einem Auge erblindet? Oder an der klugen und wortgewandten Katharina, die die berühmtesten Philosophen ihrer Zeit in die Enge treibt? — Auch dies sind schließlich, im spätmittelalterlichen Zeitgeschmack, Zeugnisse weiblicher Stärke und Überlegenheit, Beweise für unglaublichen Mut und große Beharrlichkeit, für den Triumph von Frauen selbst in den widrigsten Situationen.
Solche und andere Widerstände, die sich bei einer heutigen Lektüre des Buchs von der Stadt der Frauen auftun, gehören in gleichem Maße wie das Lesevergnügen, das an anderen Stellen entsteht, zu jedem Sich-Einlassen auf die Denk- und Vorstellungswelt des späten Mittelalters, sie machen sogar einen wichtigen Teil des Vergnügens im Umgang mit dem Mittelalter aus. Da gerade solche Widerstände die Bruchstellen, die Problemzonen einer Begegnung zwischen modernem und mittelalterlichem Bewußtsein anzeigen, wäre es bedenklich, diese Widerstände einzuebnen und so in die Fallen des »psychologischen Anachronismus« (L. Febvre) zu tappen, der dazu verführt, das zeitlich Ferne zu nivellieren und den Denkweisen des modernen Interpreten anzugleichen.

V. Weibliche Wirklichkeit um 1400 und ihr Reflex
im »Buch von der Stadt der Frauen«

Auch wenn das Buch von der Stadt der Frauen in erster Linie als Ort idealer Frauengestalten aus fernen Zeiten und fremden Kulturen entworfen ist und Christine hier eher Modelle und Leitbilder entwirft als zeitgenössische Verhältnisse wirklichkeitsgetreu abbildet, geraten an zahlreichen Stellen des Werks doch auch Elemente der Lebenswirklichkeit von Frauen um 1400 ins Blickfeld. Äußerungen dieser Art finden sich vor allem in Christines Antworten im Gespräch mit den allegorischen Frauenfiguren. Da sie als Frau spricht, die von den dargestellten Verhältnissen selbst sehr direkt betroffen ist, versteht sich eine subjektive Färbung von selbst. Wichtig sind diese Stellen aber in zweierlei Hinsicht: zum einen handelt es sich hier um den so selten überlieferten »weiblichen Blick« auf einen Teil der spätmittelalterlichen Wirklichkeit; zum andern können wir davon ausgehen, daß Christine aufgrund des Milieus, in dem sie sich bewegte, einen umfassenden Einblick in zeitgenössische Verhältnisse besaß und über ein breites Erfahrungsspektrum verfügte. Dies trägt zum Gewicht ihrer Aussagen bei.
Ein Thema, das ihr besonders am Herzen liegt und auf das sie im Buch der drei Tugenden zurückkommen wird, wenn auch aus anderer Perspektive, ist das der Bildung von Frauen und Mädchen. In dem Buch von der Stadt der Frauen geht es ihr vor allem darum, den zeitgenössischen Frauen das Gefühl der Unterlegenheit zu nehmen und sie über die Ursachen für Unterschiede in männlicher und weiblicher Bildung, in dem jeweiligen Verfügen über Wissen, aufzuklären. Mit zwei gewichtigen Argumenten, die ihrerseits auf zeitgenössische Gepflogenheiten verweisen, fegt Christine die Behauptung vom Tisch, Frauen seien von Natur aus weniger intelligent und lernfähig als Männer (Erstes Buch, XXVII. Kap.): sie weist auf die Folgen einer geschlechtsspezifischen Erziehung hin (»Wenn es üblich wäre, die kleinen Mädchen eine Schule besuchen und sie im Anschluß daran, genau wie die Söhne, die Wissenschaften erlernen zu lassen, dann würden sie genauso gut lernen und die letzten Feinheiten aller Künste und Wissenschaften ebenso mühelos begreifen wie jene«); ferner bringt sie ein immer noch aktuelles Argument ins Spiel, und zwar die Bedeutung von Außenerfahrungen, denn »nichts (...) schult vernunftbegabte Wesen so sehr wie die Praxis, die konkrete Erfahrung auf zahlreichen und verschiedenartigen Gebieten«, dies ein Bereich, in dem das Defizit von Frauen auch heute noch groß ist.

Ein anderes »großes« Thema ihrer Schriften, die Liebe und das Verhältnis der Geschlechter, taucht an verschiedenen Stellen des Buchs von der Stadt der Frauen auf. Christine wird nicht müde, die Frauen immer wieder auf die Gefahren eines außerehelichen Liebesverhältnisses und einer unkontrollierten Sinnlichkeit hinzuweisen (siehe dazu vor allem ihre Ausführungen am Ende des LX. Kap. des Zweiten Buchs, ferner den Schluß des Buchs von der Stadt der Frauen). Wenn Christines geballte Gruppierung unglücklicher Liebesgeschichten im Zweiten Buch dann in die eindringliche Warnung vor der »törichten Liebe«, vor jenem »so überaus gefährlichen und verdammtingswürdigen Meer der maßlosen Liebe« mündet, dann darf dies heute keineswegs als sinnenfeindliche mittelalterliche Prüderie mißverstanden werden. Vielmehr betrachtet Christine nüchtern — und aus einem anderen Blickwinkel als die von Männern verfaßte Literatur dieser Zeit — die angeblichen Glücksverheißungen solcher Liebesverhältnisse für die Frauen; sie weiß, wie unterschiedlich die Rechtsprechung jener Jahre den weiblichen und den männlichen Ehebruch beurteilt, sie kennt die geringen Möglichkeiten einer Frau, sich außerhalb des institutionellen Rahmens der Ehe zu behaupten: aus all diesen Gründen kann sie gar nicht anders, als jede Form der ungezügelten, der nichtinstitutionalisierten Liebe scharf zu verurteilen.
Das Gegengewicht zu Christines Verurteilung der »folle amour« bildet ihr Lob der Ehe, wie überhaupt Das Buch von der Stadt der Frauen zahlreiche Äußerungen zur zeitgenössischen Ehepraxis enthält (vor allem das Zweite Buch). Hier ist von unglücklichen Ehen die Rede und von Geldnöten (Kap. XIII), vom Umgang mit unehelichen Kindern des Mannes (Kap. XX), vom Problem des Altersunterschieds (Kap. XXII), von der unverbrüchlichen Treue gewisser Frauen zu ihren leprakranken Männern (Kap. XXIII) und vom Umgang mit Männern, die einen ausschweifenden Lebenswandel pflegen (Kap. XXIII). Christine gibt also keineswegs eine geschönte Darstellung ehelichen Zusammenlebens, und ihre Unterscheidung (am Ende des Dritten Buches) guter, »mittlerer« und schwieriger Ehemänner zeigt nur zu deutlich, daß sie mit der Realität dieser Lebensform vertraut war. Wichtig ist aber, daß sie zahlreiche Beispiele für die Verträglichkeit von Liebe und Ehe gibt (siehe unter anderem das XIII. Kap. des Zweiten Buches); damit, wie auch mit ihrer Kritik an der »folle amour« aus weiblicher Perspektive, setzt sie sich ab von einem Teil der höfischen Dichtung, in der zwischen beiden Bereichen eine scharfe Trennung vollzogen wird.

VI. Die »Stadt der Frauen« - ein weiblicher »Wunschtraum«?
Zur utopischen Dimension des Werks

Die Stadt der Frauen ist, trotz aller Ähnlichkeiten mit mittelalterlichen Städten, ein letztendlich abstraktes, wenig konkretes und »unsinnliches« Gebilde. Lediglich über den Baugrund erfahren wir etwas aus dem Mund von Frau Vernunft, wenn sie Christine auffordert (Erstes Buch, VIII. Kap.):

  • »Laß uns, ohne noch mehr Zeit zu verlieren, hinaus aufs Feld der Literatur gehen: dort soll die Frauenstadt auf einem fetten und fruchtbaren Boden errichtet werden, dort, wo alle Früchte wachsen, sanfte Flüsse fließen und die Erde überreich ist an guten Dingen jeglicher Art.«

Diese Situierung der Frauenstadt an einem idealen Ort, an dem alle mittelalterlichen Nöte und Mängel außer Kraft gesetzt scheinen; ferner: der Entwurf einer Gemeinschaft idealer Frauengestalten suggeriert die Frage nach der utopischen Dimension der Stadt der Frauen, die zudem entworfen ist als Ort der Zeitlosigkeit, als Reich, das die menschlichen Vorstellungen von Zeit und Notwendigkeit außer Kraft setzt. Um jedoch überhaupt von »Utopie im Mittelalter« sprechen zu können, bedarf es der Lösung von beliebt-vertrauten »Hie Mittelalter - da Neuzeit«-Vorstellungen; es ist ferner notwendig, den Begriff der »Utopie« zu befreien aus seiner neuzeitlichen Verklammerung [32] und davon auszugehen, daß jede Epoche »die ihr eigenen und ihr entsprechenden Inhalte und Ausdrucksformen des Utopischen«[33] hat. Sinnvoll scheint schließlich der Rückgriff auf einen Begriff des Wirtschafts- und Sozialhistorikers Alfred Doren,[34] der von »Wunschräumen« spricht und damit »ausgegrenzte und in sich abgeschlossene Räume« meint, »in denen einige oder viele Menschen leben können, nicht aber alle Menschen leben müssen«.[35]
Als ein solcher weiblicher Wunschraum, dessen äußere Umrisse sich an den Gegebenheiten der mittelalterlichen Stadt orientieren, wird von Christine die Bastion, der Zufluchtsort der Frauen entworfen. Der Zutritt zur Stadt der Frauen ist an zwei Kriterien gebunden: einmal an die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht, dann an eine Vorbildlichkeit, die religiöser, intellektueller oder moralischer Art sein kann. Der Wunschraum definiert sich also primär über eine strenge Selektion. Über seine innere Strukturierung sagt Christine nichts; es ist lediglich von der »Regierung« dieser Wunschstadt durch die Jungfrau Maria die Rede, nicht aber von Regeln, die das Zusammenleben der Bewohnerinnen bestimmen, wie es etwa in Campanellas Citta del Sole (1623) der Fall ist, die über eine rigide Ordnung mit monastisch-militärischen Zügen verfügt.
Christines Stadt der Frauen antwortet auf eine reale Situation, in der nur wenig Raum für weibliche Selbstverwirklichung ist, in der ein Bewußtsein weiblicher Identität kaum entstehen kann, weil die männliche Perspektive in allen Bereichen dominiert. Der »weibliche Wunschraum«, der im Buch von der Stadt der Frauen entworfen wird, ist ein erster und wichtiger Schritt in Richtung auf eine Befreiung und zeigt Möglichkeiten eines neuen weiblichen Selbstbewußtseins.

VII. Zu dieser Übersetzung

Eine Übersetzung Christine de Pizans ist mit Schwierigkeiten verschiedener Art verbunden. Zunächst einmal gibt es so gut wie keine Vorbilder in dieser Hinsicht, denn bisher wurden lediglich kürzere Textauszüge in einigen älteren deutschsprachigen Dissertationen übersetzt, und generell ist mittelfranzösische Literatur in deutscher Übersetzung Mangelware. Es fehlt ferner und vor allem das wohl wichtigste Hilfsmittel überhaupt, nämlich ein Wörterbuch der mittelfranzösischen Sprache. Hinzu kommt, daß sich das Problem einer sprachlichen — und damit auch geistigen — Vermittlung zwischen zwei Denkformen aus sehr weit auseinanderliegenden historischen Epochen bei der Übertragung eines mittelalterlichen Werks mit besonderer Schärfe stellt.
Wichtigstes Anliegen dieser Übersetzung ist es, dem heutigen Lesepublikum Christines Buch von der Stadt der Frauen in einer modernen Sprache zu präsentieren, die zwischen den beiden Extremen eines antiquiert-»tümelnden« Jargons und einer krampfhaften, das Original verfälschenden Aktualisierung nach einem gangbaren Weg sucht. Dabei kam es allerdings nicht unbedingt darauf an, Christines Sprache allzusehr zu »glätten« — dies wäre auf eine bedenkliche moderne »Verbesserung« ihrer Ausdrucksweise hinausgelaufen —, vielmehr wurde zuweilen eine gewisse Sprödigkeit des Ausdrucks auch im Deutschen ganz bewußt beibehalten.
Einige geringfügige Eingriffe schienen mir jedoch vertretbar: Christines zuweilen gewaltige Satzgefüge, die sogar ihren Zeitgenossen Schwierigkeiten bereitet haben, wurden an einigen Stellen in überschaubare Gebilde verwandelt. Die Anzahl der von ihr ebenfalls sehr geschätzten synonymen Formulierungen wurde eingeschränkt, und zwei Begriffe mit ähnlicher Bedeutung wurden, falls dies möglich war, durch einen einzigen bedeutungsstärkeren Begriff ersetzt. Ferner: zuweilen wurden Abtönungspartikel (»ja«, »doch«, usw.) eingefügt und zwecks größerer Eindeutigkeit an einigen Stellen Personalpronomen durch Eigennamen ersetzt. Schließlich habe ich in einigen Fällen die Zeichensetzung leicht modernisiert und, wenn dies nicht zu Sinnentstellungen führte, syntaktische Konzentrationen vorgenommen.
Grundlage für die Übersetzung war M. Ch. Curnows Ausgabe des Livre de la Citedes Dames von 1975.

VIII. Zur Präsentation des Textes

Bei der vorliegenden deutschen Übersetzung wurden die römischen Kapitelziffern aus der Handschrift Fonds francais 607 der Bibliotheque Nationale (Paris) beibehalten.
Weggelassen wurden die langen Inhaltsverzeichnisse mit den Kapiteltiteln zu Beginn eines jeden Buches.
Begriffe und Eigennamen, die mit einem Sternchen versehen sind, werden im Anhang erläutert.
Münster, im Juli 1986
Margarete Zimmermann

N.B. In den Anmerkungen zum Vorwort begnüge ich mich damit, nur den Verfassernamen und das Erscheinungsjahr der jeweiligen Publikation zu nennen: die kompletten bibliographischen Angaben finden sich in der Bibliographie am Ende dieses Bandes. Alle deutschen Übertragungen französischer Zitate stammen von mir.

Texttyp

Vorwort