Das Leben der Jenny Westphalen-Marx (1814-1881)

»Uns Frauen fällt in allen diesen Kämpfen der schwerere, weil kleinlichere Teil zu ... «

  • »Wiederum hat der Tod sich ein Opfer geholt aus den Reihen der alten Garde des proletarischen, revolutionären Sozialismus. Am 2. Dezember d. J. starb in London, nach langer schmerzhafter Krankheit, die Gattin von Karl Marx.
    Sie war geboren in Salzwedel. Ihr Vater, bald darauf als Regierungsrat nach Trier versetzt, wurde dort eng befreundet mit der Familie Marx. Die Kinder wuchsen zusammen heran. Die beiden hochbegabten Naturen fanden sich. Als Marx die Universität bezog, war die Gemeinsamkeit ihrer künftigen Geschicke schon entschieden. 1843, nach der Unterdrückung der ersten, eine Zeitlang von Marx redigierten >Rheinischen Zeitung< war die Hochzeit. Von da an hat Jenny Marx die Schicksale, die Arbeiten, die Kämpfe ihres Mannes nicht bloß geteilt, sie hat daran mit dem höchsten Verständnis, mit der glühendsten Leidenschaft Anteil genommen ...
    Was eine solche Frau, mit so scharfem, kritischem Verstande, mit solch politischem Takt, mit solcher Energie und Leidenschaft des Charakters, mit solcher Hingabe für ihre Kampfgenossen, in der Bewegung während fast vierzig Jahren geleistet, das hat sich nicht an die Öffentlichkeit vorgedrängt, das steht nicht in den Annalen der zeitgenössischen Presse verzeichnet... Von ihren persönlichen Eigenschaften brauche ich nichts zu sagen. Ihre Freunde kennen diese Eigenschaften und werden sie niemals vergessen. Wenn es jemals eine Frau gab, die ihr größtes Glück darin gesehen hat, andere glücklich zu machen, so war es diese Frau. «

Dieser Nekrolog stand am 4. Dezember 1881 im »Sozialdemokrat«. Sein Verfasser war Friedrich Engels, der der Marxschen Familie seit mehr als fünfunddreißig Jahren freundschaftlich verbunden war. Mit dem Bild der aufopferungsvollen Gattin und bescheidenen Genossin, die ihr Leben in den Dienst des proletarischen Emanzipationskampfes gestellt hat, faßte Engels - in sicherlich wohlmeinender Absicht den Mythos zusammen, der sich um Jenny Marx bereits zu ihren Lebzeiten gebildet hatte. Schon früh wurde die »geliebte Frau von Karl Marx«, wie sie auf dem Grabstein hieß zum Kultobjekt gerade jüngerer Genossen, die, wie Liebknecht, in ihr die »Mutter, Freundin, Vertraute, Beraterin«, kurz: »das Ideal eines Weibes« sahen. Obgleich sie ganz in der Sorge für die Ihrigen« aufgehe, sei sie »himmelhoch weit von der strumpfstrickenden, den Kochlöffel rührenden deutschen Hausfrau« entfernt, schwärmte der junge Schriftsteller und spätere Arbeiterführer Stephan Born.
Natürlich enthalten alle diese Wahrnehmungen ein gut Teil Realität. Sicher hat Jenny Marx schon von ihrem Aussehen und ihrem Temperament her nie dem Typ des biederen Hausmütterchens entsprochen. Das Bild der treuen Parteigängerin der Revolution, die über vierzig Jahre in den »Reihen der alten Garde des proletarischen, revolutionären Sozialismus« entsagungsvoll gekämpft hat, entspricht ihr aber ebensowenig. Es ist eine Projektion von Männern, die als Revolutionäre für die Abschaffung der Ausbeutung kämpften, für diesen Kampf aber auf die »stillen« Kraftreserven der Frauen zurückgriffen. Es ist ein Wunschbild, das der Beruhigung des eigenen schlechten Gewissens diente.
Engels hätte es eigentlich besser wissen müssen. Als Freund der Familie wußte er, daß sich der sogenannte Nebenwiderspruch, die Emanzipation der Frau, nicht so einfach dem sogenannten Hauptwiderspruch, dem Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, unterordnen ließ. Aber auch bei ihm ist der Hamonisierungswunsch stärker als die Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse. Auch er verdrängt die »stillen Kämpfe« der Frauen, die sich neben den spektakulären Revolutionen der Männer tatsächlich marginal ausnehmen, wie Jenny Marx - kampferprobt und politikerfahren - selbst am besten wußte. Anders als Engels wußte sie jedoch auch, daß es im »täglichen Leben« der Frauen »viel schrecklichere Kämpfe und Leiden gibt als in den Kampfarenen der großen Politik«. An Karl Liebknecht, an dessen Verfolgungen sie lebhaften Anteil nahm, schrieb sie:

»Aufrichtig gestanden, haben meine sorglichen Gedanken noch mehr bei Ihrer Frau als bei Ihnen geweilt. Uns Frauen fällt in allen diesen Kämpfen der schwerere, weil heimlichere Teil zu. . . Ich spreche aus mehr als 50jähriger Erfahrung, und ich kann wohl sagen, daß ich den Mut nicht leicht sinken ließ.«

Über die »schrecklichen Kämpfe und Leiden des täglichen Lebens« hat aber auch Jenny Marx nur in Andeutungen gesprochen. Zu sehr hatte sie selbst das Bild der tapferen Gefährtin verinnerlicht, die ihren Part im politischen Kampf ohne Murren auf sich nimmt. Und doch sind ihre Erinnerungstexte und Briefe voll von Hinweisen auf die Kosten, die der politische Kampf vor allem den Frauen abverlangt. 1867, als nach mehr als fünfzehn Jahren angestrengtester Arbeit der erste Band des »Kapitals« von Karl Marx erschien, findet sich folgender Stoßseufzer in der Korrespondenz:

»Mir ist eine Riesenlast damit vom Herzen gewälzt... Ich könnte wohl eine geheime Geschichte dazu schreiben, die viel, unendlich viele stille Sorgen und Angst und Qualen aufdecken würde.«

Auch wenn Jenny Marx damit in typischer Selbstverleugnung sicherlich in erster Linie auf die Anstrengung und Entbehrungen ihres Mannes anspielt, so umfaßt die »geheime Geschichte« des »Kapitals« doch auch ihr eigenes Leiden, das, wie Engels schrieb, »nicht in den Annalen der zeitgenössischen Presse« verzeichnet ist. Um diese »geheime Geschichte« zu verstehen, muß man sich die Voraussetzungen ansehen, unter denen Jenny Marx ihr gemeinsames Leben mit Karl Marx begann.
Geboren wurde Jenny Marx 1814 als älteste Tochter der alteingesessenen und wohlhabenden Familie Westphalen in Salzwedel im Braunschweigischen. Seit 1764 trug die Familie, die eine ganze Reihe von angesehenen Militärs und Beamten vorzuweisen hatte, den Reichsadelstitel als Dank für die militärischen Dienste, die der Großvater Jennys dem Herzog Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel im Siebenjährigen Krieg erwiesen hatte. Jenny hat den Adelstitel nie abgelegt. Auf Visitenkarten, die sie sich im Londoner Exil drucken ließ - nicht zuletzt, um die Gläubiger und Pfandleiher zu beeindrucken - nannte sie sich: »Mme Jenny Marx, née baronesse de Westphalen«. Jennys Vater, der liberale Ludwig von Westphalen, setzte die glänzende militärische Karriere seines Vaters nicht fort. Als hoher Verwaltungsbeamter hatte er zwar eine wichtige Funktion inne, führte aber trotz vieler Verpflichtungen ein eher zurückgezogenes und unauffälliges Leben. Seine Liebe galt den Sprachen und der Literatur. Er beherrschte fließend das Griechische, Lateinische, Englische, Französische und Spanische und begeisterte sich vor allem für Shakespeare und Homer, aus deren Werken er gerne lange Passagen auswendig rezitierte. Als er 1816 nach Trier versetzt wurde, zog er sich noch mehr als zuvor auf seine privaten Liebhabereien zurück. Den beiden Kindern aus seiner zweiten Ehe, der 1814 geborenen Jenny und dem 1818 geborenen Edgar, galt seine besondere Aufmerksamkeit. Zusammen mit den beiden Kindern der befreundeten Familie des Justizrates Heinrich Marx, Karl und Sophie, erhielten sie Unterricht von Ludwig von Westphalen.
Jenny war die älteste in der Gruppe, Sophie war zwei Jahre jünger, Edgar und Karl waren sogar vier Jahre jünger. Der Altersunterschied verhinderte nicht, daß die Kinder sich vortrefflich verstanden und unzertrennlich beim Lernen und Spielen wurden. Während der Unterricht beim Vater für die beiden Knaben jedoch nur der Vorbereitung der späteren Gymnasialzeit diente, scheint er für die beiden begabten Mädchen die einzige Form der intellektuellen Förderung gewesen zu sein. Im Gegensatz zu den beiden Knaben, die mit zwölf Jahren gemeinsam auf ein Trierer Gymnasium geschickt wurden, besuchten die Mädchen keine öffentliche oder private Lehranstalt. Zwar wurden sie auch weiterhin von Jennys Vater unterrichtet und erhielten eine Bildung, die für Mädchen der damaligen Zeit ungewöhnlich war, aber sie waren doch abgeschnitten von den außerhäuslichen Erfahrungen, die ihre Brüder machten. Dies muß besonders die temperamentvolle und wißbegierige Jenny, von der ihr späterer Schwiegervater Heinrich Marx schrieb, daß sie »etwas Genialisches« habe, als kränkende Zurücksetzung erlebt haben. Sie, die sich sehr stark am Vater und den beiden Knaben orientiert hatte, wurde plötzlich auf eine Rolle zurückgeworfen, für die sie sich nie so recht interessiert hatte und auf die sie auch vom Vater nicht vorbereitet war. Es entstand eine Leere, die nur kurzfristig durch ihren Ruf als »Schönstes Mädchen von hier« und ihre glänzenden Erfolge als »Ballkönigin« ausgefüllt werden konnte. Ihre überstürzte Verlobung mit einem jungen Leutnant adeliger Herkunft, die sie kurz nach der Einschulung der beiden Knaben einging, war sicherlich ein Versuch einen abgesicherten, gesellschaftlich akzeptierten Ort zu finden. Es zeigte sich jedoch bald, daß die Verbindung von Jennys Seite aus nicht tragfähig war. Gewöhnt an intellektuelle Herausforderungen und geistige Abenteuer, wurde ihr der Verlobte bald langweilig. Bereits nach wenigen Monaten wurde die Verlobung wieder gelöst, und Jenny schloß sich stärker als zuvor an den um vier Jahre jüngeren Karl an, der auch während seiner Schulzeit regelmäßig weiter im Westphalenschen Haus verkehrte.
Die Wiederaufnahme der gemeinsamen Studien beim Vater war ein Anknüpfen an alte glückliche Zeiten. Als der siebzehnjährige Karl das Studium der Rechtswissenschaft in Bonn aufnahm, war die Beziehung der beiden so eng geworden, daß für Jenny und Karl feststand, daß sie immer zusammenbleiben würden. Aber erst 1837 - Jenny war damals dreiundzwanzig, Karl neunzehn Jahre alt - kam es zur offiziellen Verlobung - gegen den Widerstand der gesamten Westphalenschen Familie, die trotz der Hochschätzung für den »Wunderknaben« Karl der Verbindung doch voller Bedenklichkeit gegenüberstand - nicht nur wegen des Altersunterschiedes, sondern auch wegen der noch ungesicherten Berufsaussichten des jungen Karl.
Die siebenjährige Verlobungszeit wurde eine harte Zeit, besonders für Jenny, die die rasante intellektuelle und politische Entwicklung ihres Verlobten nur aus der Ferne verfolgen konnte und dem hämischen Klatsch und Tratsch in dem kleinen Landstädtchen hilflos ausgesetzt war, vor allem als ihr Vater 1842 starb. Es waren Jahre, in denen Jenny und Karl zu einer verschworenen Gemeinschaft gegen den Rest der Welt zusammenwuchsen, in denen sie lernten, Anfeindungen standzuhalten, und in denen sie die emotionale und intellektuelle Substanz erwarben, von der ihre Beziehung mehr als fünfundvierzig Jahre zehren sollte. Es waren aber auch Jahre, in denen die Überlegenheit Jennys, die sie durch Herkunft und Alter ursprünglich in der Beziehung gehabt hatte, langsam zusammenschrumpfte und sich schließlich in ihr Gegenteil verkehrte. Durch den Weggang des Bruders und des Verlobten und durch den Tod des Vaters geriet sie in ein emotionales und intellektuelles Vakuum, das sie durch eine problematische Übersteigerung ihrer Liebe ins Grenzen- und Zeitlose zu füllen versuchte:

»Karl, Karl, wie lieb ich Dich! Ich bin heut unfähig und fast ohne Gabe der Mitteilung, und alles, was ich im Herzen trage, all mein Sinnen und Denken, alles, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, es ist nur ein Laut, nur ein Zeichen, nur ein Ton, und wenn er erklingt, so heißt er nur: ich liebe Dich unaussprechlich, grenzen- zeit- und maßlos.

Jenny von Westphalen, Jugendbildnis Den intellektuellen Vorsprung des fernen Verlobten konnte sie jedoch auch durch fleißiges Selbststudium nicht mehr einholen. Zwar nahm sie begierig die Anregungen auf, die von Karl kamen: Sie las viel, studierte auf seinen Vorschlag hin Hegel und lernte Griechisch. Aber ihr Lernen war jetzt nicht mehr wie früher Selbstzweck, sondern geschah in Hinsicht auf den Verlobten und die Anerkennung, die sie von ihm erhoffte:

»Schwarzwildchen, wie freu' ich mich daß Du froh bist und daß mein Brief Dich erheitert und daß Du Dich nach mir sehnst und daß Du in tapezierten Zimmern wohnst und daß Du in Köln Champagner getrunken hast und daß es da Hegel-Klubs gibt und daß Du geträumt hast und daß Du, kurz, daß Du mein, mein Liebchen, mein Schwarzwildchen bist. Aber bei alldem vermiß' ich doch eins: Du hättest mich wohl ein bißchen loben können wegen meines Griechischen und meiner Gelehrsamkeit einen kleinen belobenden Artikel widmen können; so seid Ihr aber mal, Ihr Herrn Hegelinge nichts erkennt Ihr an und wenn es das Allervortrefflichste wäre, wenn's nicht gerade in Eurem Sinne ist, und so muß ich mich denn auch bescheiden und auf meinen eignen Lorbeeren ruhen. Ja, Herzchen, ruhen muß ich leider Gottes noch immer, und zwar auf Federn und Kissen, und selbst diese kleine Epistel wird von meinem Bettchen aus in die Welt gesendet.«

Der in dem Brief eher zufällig auftauchende Gegensatz zwischen Bett und Welt faßt die unterschiedlichen Lebensbereiche der beiden Liebenden in ein aufschlußreiches Bild, in dem sich alte geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen spiegeln: hier der stille Ort äußerster Zurückgezogenheit und vor sich hin kränkelnder Passivität, dort die brausende Welt mit ihren Anregungen und Verlockungen, mit Champagner und Hegel-Klubs. Zunehmend wird Jenny von der Angst geplagt, daß sie Karl eines Tages nicht mehr genügen könnte. Von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen gequält, flüchtet sie sich in Tagträumereien. Sie stellt sich vor, Karl habe eine Hand verloren und sie könne sich ihm unentbehrlich machen, indem sie seine Gedanken aufschreibe und »für andere sorglich aufbewahre«. Tatsächlich hat sie später als Ehefrau Tausende von Manuskriptseiten abgeschrieben, so viele, daß ihr die Finger wund wurden. Bemerkenswert an diesen Tagträumereien ist, daß die so strahlende, schreiblustige und denkfreudige Jenny sich bereits in der Verlobungszeit nicht mehr als eigenständiges Wesen wahrnimmt, sondern nur noch als Helferin eines überlegenen Mannes phantasiert. Hier kündigt sich jene Selbstaufgabe an, die ihr in der Ehe zur zweiten Natur werden sollte. In der Verlobungszeit ist Jenny dies nicht immer einfach gefallen. Ihre vielen nervösen Anfälle und Krankheiten weisen darauf hin, daß sie große Schwierigkeiten hatte, sich selbst in der neuen Rolle anzunehmen und ihre totale Abhängigkeit vom fernen Verlobten zu akzeptieren. Stürmische Liebesbeteuerungen wechseln mit depressiven Verstimmungen und übertriebener Fürsorglichkeit ab.
Als die Hochzeit schließlich im Juni 1845 in Kreuznach stattfand, hatte Jenny den Kampf um die eigene Person längst verloren: Aus der stürmischen, selbstbewußten »Vater-Tochter« Jenny von Westphalen, die sich als gleichberechtigte Partnerin der Männer sah, war eine Ehefrau geworden, die sich nur noch über den Mann definierte. Jennys Konfirmationsspruch »Ich lebe, aber doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir«, den sie übrigens bis an ihr Lebensende getreulich aufbewahrte, sollte sich bestätigen, freilich mit einer nicht unwichtigen Variante: Nicht Christus lebte in ihr, sondern Karl Marx.
Die sechsunddreißigjährige Ehe bestätigte nur die Strukturen, die sich bereits in der Verlobungszeit eingeschliffen hatten. Freilich wurde Jenny Marx nie ein biederes Hausmütterchen. Unermüdlich versuchte sie Schritt zu halten mit der intellektuellen und politischen Entwicklung ihres Mannes. Sie las viel, auch theoretische und philosophische Texte, unterstützte ihren Mann in seiner politischen Arbeit, exzerpierte für ihn, kopierte Aufsätze, ordnete Materialien, führte Verhandlungen mit Druckern und Verlegern und erledigte die umfangreiche Korrespondenz. Als »Botengängerin der Revolution« und als »Sekretär« von Karl Marx, wie sie sich selbst stolz bezeichnete, war sie unersetzlich. Eine unabhängige Existenz konnte sie sich jedoch nicht aufbauen. Ihre eigenen Veröffentlichungen beschränkten sich auf einige wenige Kritiken und Rezensionen. Das lag sicherlich nicht nur an der erdrückenden Kreativität und Schaffenskraft ihres Mannes, sondern auch an den schwierigen Bedingungen, unter denen sich das gemeinsame Leben vollzog. Die lebenslangen finanziellen Bedrückungen, das ungesicherte Dasein als politische Flüchtlinge in Brüssel, Paris und London, die umstrittene Funktion, die Marx als theoretischer Kopf der sozialistischen Internationale einnahm, die monomanische Verbissenheit, mit der er die theoretischen Grundlagen des Marxismus entwickelte - all dies wäre sicherlich genug gewesen, die Lebenskraft einer Frau zu absorbieren.

Dazu kamen noch extrem schwierige persönliche Konstellationen: die Geburt von sieben Kindern von denen vier bereits im Säuglings- beziehungsweise Kleinkindalter als »Opfer der bürgerlichen Misere« starben, wie Marx hellsichtig schrieb. Es ist erstaunlich, wie tapfer sie all diese Schicksalsschläge weggesteckt und wie sie die Unbilden des Alltags gemeistert hat. Vor allem die Sorge um das Lebenswerk ihres Mannes hat sie immer wieder neue Kräfte mobilisieren lassen. Aufopferungsvoll versuchte sie ihrem Mann den Rücken für seine theoretische Arbeit freizuhalten. Störungen im Arbeitsalltag waren vor allem die vielen Schwangerschaften, die sich Jenny Marx als persönliche Schuld anrechnete: Über die zweite Schwangerschaft schrieb sie an Marx:

»Fiele nur die Katastrophe nicht grade in die Zeit der Ausarbeitung Deines Buches, dessen Erscheinen ich ängstlich entgegenharre«

Sie organisierte das Leben so, daß Marx so wenig wie möglich von der wachsenden Kinderschar behelligt wurde:

»Unten ist dann der Kinderlärm ganz abgesondert Du bist oben ungestört ich kann in ruhigen Momenten zu Dir kommen ... «

Karl Marx hat diese Rücksichtnahme zu schätzen gewußt und darauf manchmal sogar mit leisen Schuldgefühlen reagiert, wie der Brief zeigt, mit dem er auf den Bericht seiner Frau über ihre von Gläubigern bedrängte Situation antwortete:

  • »Du brauchst Dich übrigens gar nicht zu genieren, mir immer alles mitzuteilen. Wenn Du armes Teufelchen die bittre Realität durchmachst, ist es nichts weniger als billig, als daß ich wenigstens ideal die Qual mitdurchlebe. Ich weiß übrigens, wie unendlich elastisch Du bist und wie das geringste Günstige Dich wieder neubelebt.«

Diese »unendliche Elastizität« zeigte jedoch deutliche Verschleißerscheinungen, auf die Karl Marx unwirsch reagierte. So tadelte er an seiner Frau die »exzentrische Aufregung«, mit der sie auf den drohenden Bankrott der Familie reagierte, und notierte in einem Brief

  • »Die Weiber sind komische Kreaturen selbst die mit viel Verstand ausgerüsteten.«

Tatsächlich finden sich in der Familienkorrespondenz der fünfziger und sechziger Jahre viele Hinweise darauf, daß Jenny Marx sich in einem desolaten psychischen Zustand befand. Die Depressionen, nicht zuletzt als Reaktion auf den Tod von vier Kindern und die katastrophale materielle Situation der Familie, steigerten sich bis zu Selbstmordgedanken. 1862 schrieb Marx niedergeschlagen:

  • »Meine Frau sagt mir jeden Tag, sie wünschte, sie läge mit den Kindern im Grabe.«

Jenny Marx schüttete einer Freundin ihr Herz aus:

»...unterdessen sitze ich da und gehe zu Grunde ... Ich sitze hier und weine mir fast die Augen aus und weiß keine Hilfe. Nun kann ich nicht mehr.«

Beigetragen zu der tiefen Verzweiflung hat sicherlich auch die Geburt von Freddy Demuth, den die im Marxschen Haushalt beschäftigte Helene Demuth 1851 zur Welt brachte. Helene Demuth, die seit 1845 in der Familie lebte, war mehr als eine Hausangestellte. Sie war der Familie bedingungslos ergeben und teilte - auch sie eine Meisterin der Aufopferung alle Höhen und Tiefen. Sie war Ersatzmutter für die Kinder, Vertraute von Jenny Marx und Schachpartnerin für Karl Marx. Eine Mischung zwischen Hausdrachen und guter Fee, war sie die Achse, um die sich der Marxsche Haushalt drehte. Nach dem Tode von Marx 1883 wurde sie quasi als Erbstück von Friedrich Engels in seinen Haushalt übernommen.
Durch Veröffentlichung von Familiendokumenten in den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts steht fest, daß Karl Marx der Vater von Freddy Demuth war und nicht Friedrich Engels, der - auch er ein Meister der Aufopferung - die Vaterschaft wohl nur übernommen hat, um seinen Freund Karl Marx zu entlasten. Die DDR-Forschung weigert sich bis heute, die Vaterschaft von Marx zur Kenntnis zu nehmen.
Es ist unklar, ob und, wenn ja, wann Jenny Marx von der Vaterschaft ihres Mannes erfahren hat. Die Korrespondenz weist gerade in den entsprechenden Jahren erhebliche Lücken auf, die wohl nicht zufällig sein dürften. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß Jenny Marx das Spiel mit der fingierten Vaterschaft von Friedrich Engels, das zu ihrer Schonung erdacht worden war - knapp drei Monate zuvor hatte sie ihr fünftes Kind, die Tochter Franziska, zur Welt gebracht - nicht durchschaut haben sollte. Beide Kinder wurden übrigens sofort nach der Geburt aus dem Hause gegeben. Franziska starb bereits 1853, Freddy lebte bis 1929.
Der Ehebruch ihres Mannes, so verständlich er von Marxens Seite als Reaktion auf die »bürgerliche Misere« auch gewesen sein mag, traf Jenny Marx an ihrer empfindlichsten Stelle: Die angenommene bedingungslose Liebe und Treue ihres Mannes hatte sie in all den Jahren für die demütigenden Erfahrungen des politischen Exils entschädigt. Die Geburt von Freddy Demuth nahm ihr diese letzte Bastion. Sie demonstrierte ihr, daß sie auch sexuell ersetzbar war. Intellektuell ersetzt worden war sie bereits längst durch Friedrich Engels, der seit 1845 - damals waren Jenny und Karl zwei Jahre verheiratet - zum lebenslangen Freund und kongenialen Mitarbeiter von Karl Marx geworden war.
In Wahrheit war Jenny Marx natürlich - trotz des Seitensprungs ihres Mannes und trotz seiner symbiotischen Arbeitsbeziehung zu Friedrich Engels - für ihren Mann unersetzlich. Sie blieb das vergötterte Idol ihres Mannes, der sich bis ans Ende seines Lebens wie ein Kind über die Eroberung des »schönsten Mädchens von Trier« freute. 1865, also Jahre nach der Geburt von Freddy Demuth, schrieb Marx an seine in Trier zu Besuch weilende Frau:

  • »Ich habe Dich leibhaftig vor mir, und ich trage Dich auf den Händen und ich küsse Dich von Kopf bis Fuß, und ich falle vor Dir auf die Knie, und ich stöhne: >Madame, ich liebe Sie.< Und ich liebe Sie in der Tat, mehr als der Mohr von Venedig je geliebt hat... So ist es mit meiner Liebe... Es gibt in der Tat viele Frauenzimmer auf der Welt, und einige darunter sind schön. Aber wo finde ich ein Gesicht wieder, wo jeder Zug, selbst jede Falte die größten und süßesten Erinnerungen meines Lebens wiedererweckt? Selbst meine unendlichen Schmerzen, meine unersetzlichen Verluste lese ich in Deinem süßen Antlitz, und ich küsse mich weg über den Schmerz, wenn ich Dein süßes Gesicht küsse . . .«

Jenny Marx war klug genug, einzusehen, wie unersetzlich sie trotz aller Eskapaden für ihren Mann war. Die wilde Verzweiflung der fünfziger und sechziger Jahre ging schließlich über in eine stille Resignation die gefördert wurde durch die sich allmählich stabilisierende finanzielle Situation, die langsame öffentliche Anerkennung des Lebenswerkes ihres Mannes und durch den Stolz auf die drei Töchter, die sich zu ungewöhnlich gescheiten und erfolgreichen Frauen entwickelten. Als Jenny Marx Mitte der siebziger Jahre erfuhr, daß sie unheilbar an Darmkrebs erkrankt war, fiel ihr der Abschied vom Leben schwer, wie sie selbst mit Verwunderung feststellte:

»So halte ich mich an jedem Strohhalm fest. Ich möchte noch gern ein bißchen länger leben ... Sonderbar ist's. Je mehr die Geschichte zur Neige geht, je mehr hängt man an dem »irdischen Jammertal.«

Das Ende war so qualvoll, wie es durch den unerbittlichen Verlauf der Krankheit vorgezeichnet ist. Karl Marx überlebte seine Frau nur um knapp ein Jahr.
Auf die relative Harmonie, zu der Jenny Marx trotz ihrer schweren Krankheit in den letzten Jahren gefunden hat, fällt ein tiefer Schatten, wenn man sich das Schicksal ihrer Töchter ansieht. Das, was Jenny Marx stolz als den »Glanzpunkt« ihres Lebens bezeichnet hat - die drei Töchter - erwies sich als eine äußerst problematische »Hinterlassenschaft«. Gerade die Lebenswege der Töchter spiegeln die Problematik der Mutter noch einmal in bedrückender Weise. Schön, leidenschaftlich und hochbegabt wie die Mutter, werden sie auch hierin ein getreues Abbild ihrer Mutter - zu fanatischen »Vater-Töchtern«. Der Vater, der in der Tat ein hinreißender Vater gewesen sein muß - wenn er da war - wird ihr Abgott, für die Mutter haben sie nur ein hochmütiges, bestenfalls mildes Lächeln übrig. Das hindert sie jedoch nicht, die Fehler der Mutter zu wiederholen. Alle drei übertreffen die Mutter sogar noch in ihrer Selbstaufopferung - dem vergötterten Vater und den Männern gegenüber, die der Vater ihnen aus der Schar seiner Kampfgenossen zu Lebensgefährten bestimmte hatte.
Jenny, die älteste, starb mit achtunddreißig Jahren an Blasenkrebs, nachdem sie sich durch die politische Arbeit für den Vater, durch sechs Schwangerschaften und den frühen Tod von zweien ihrer Kinder körperlich und psychisch aufgerieben hatte. Der Vater mußte den Tod seiner Lieblingstochter noch miterleben. Danach war seine Lebenskraft gebrochen.
Auch Laura überforderte sich durch die vielfältigen politischen Aktivitäten für das Lebenswerk ihres Vaters und durch extreme familiäre Belastungen. Von ihren drei Kindern überlebte keines das Kleinkindalter, sie selbst setzte ihrem Leben zusammen mit ihrem Mann aus Grauen vor der Perspektivlosigkeit eines kinderlosen Alters mit Zyankali ein vorzeitiges Ende.
Eleanor, die jüngste der Schwestern, die eine herausragende Rolle in der Zweiten Internationale spielte, nahm sich ebenfalls das Leben, weil sie, wie sie in einer depressiven Phase schrieb, nicht wisse, »wofür es sich lohnt, zu leben«. Zu ihrer Desillusionierung mag beigetragen haben, daß sie nach dem Tod von Friedrich Engels die wahren Umstände von Helene Demuths unehelicher Schwangerschaft erfahren hatte. Sie, die brillanteste und öffentlich erfolgreichste der drei Schwestern, hat wohl am klarsten die Ursache für ihr psychisches Elend gesehen. Offen hat sie eingestanden, wie sehr sie unter den Ansprüchen des Vaters und dem Erwartungsdruck der Umwelt, der auf ihr als Tochter von Karl Marx lag, gelitten hat:

»Ich klage überhaupt nicht gern - und vor allem gegenüber Papa nicht - denn er schimpft mich dann richtig aus, als ob ich mich auf Kosten der Familie >gehenließe< ... Was weder Papa noch die Ärzte noch sonst jemand verstehen will, ist, daß ich hauptsächlich seelischen Kummer habe... Sie können und wollen nicht sehen, daß seelische Bedrängnis genauso eine Krankheit ist wie körperliche Beschwerden es wären ... Und noch selbstsüchtiger scheint es, daß ich überhaupt an mich denke, statt nur an unseren lieben Mohr. Wie sehr ich ihn liebe, kann niemand wissen, und doch müssen wir alle schließlich unser eigenes Leben leben ... «

Dieses eigene Leben ist weder der Mutter noch den Töchtern geglückt.