Leben und Werk von Clara Westhoff-Rilke (1878-1954)

»Die greift den Marmor an wie ein Mann«

»Nun will ich Dir aber auch noch etwas erzählen was mich ganz besonders mit Freude erfüllt. Ich bin nämlich jetzt ganz mit mir ins Klare gekommen, daß ich Bildhauer werden will. Ich bin darüber sehr glücklich.«

Diese Zeilen richtete Clara Westhoff am 21. November 1898, ihrem zwanzigsten Geburtstag, an ihren Vater. Wohl mehr zufällig schrieb sie »Bildhauer« und nicht »Bildhauerin«, galt die Bildhauerei doch als Domäne der Männer. Wenn überhaupt, konnte man sich Frauen in der bildenden Kunst bestenfalls als Malerinnen kleiner Stilleben, Porträts oder Tier- und Landschaftsbilder vorstellen. Ein Zeitgenosse faßte die Vorurteile folgendermaßen ironisch zusammen:

  • »Blumen und Früchte, eine idyllische Landschaft oder zart beseelte Mädchenköpfe mit dem rosigen Lächeln der Jugend mögen die Frauen wohl mit Geschmack und Empfindung malen können. Aber für die großen Hauptgebiete der Kunst, für die Darstellung der Szenen aus der Geschichte, der Mythologie oder der dramatischen Ereignisse der biblischen Geschichte, da fehlt den Frauen der männliche Charakter, um den vollen Inhalt des Lebens in seinen Höhen und Tiefen zu erfassen. Das wird... immer Sache der Männer bleiben.«

Daß das immer wieder vorgebrachte Argument, Frauen mangele es für bildhauerisches Arbeiten an körperlicher Kraft, nur vorgeschoben war, zeigt der Diskurs über die angebliche »Natur der Frau«. Da nach landläufiger Meinung »der Farbsinn des Weibes ... stärker (sei) als der Formsinn«, könne es keine bedeutenden Bildhauerinnen geben, und wenn, dann als Ausnahmeerscheinungen höchstens im Bereich der Kleinplastik. Von solchen ideologischen Zuschreibungen zeigte sich selbst eine Frau wie Ricarda Huch bereits eine anerkannte Schriftstellerin zu der Zeit, nicht unbeeindruckt. In ihrem Aufsatz »Die Beurteilung der Frauendichtung« gab sie folgende Definitionen von »männlich« und »weiblich« in der Kunst:

  • » ... männlich ist die hervorbringende Kraft, das Gestalten und Formgeben; das Ausfüllen und Beseelen des Bildes ist weiblich. Männlich ist das Architektonische und Plastische, weiblich das Malerische und Musikalische, und innerhalb dieser Künste ist männlich wieder das Konstruktive, weiblich das Dekorative.«

Man muß sich diese Vorurteilsstruktur vor Augen halten, um ermessen zu können, welche Kühnheit für eine Frau um
1900 dazu gehörte, Bildhauerin werden zu wollen.
Clara Westhoff ließ sich jedoch von den Vorurteilen ihrer Zeit nicht beirren. Bereits als Achtzehnjährige hatte sie sich trotzig-selbstbewußt in Briefen an die Eltern als »regelrechtes emancipiertes Fin-de-siècle-Weib« und als »Malweib« bezeichnet und darum gekämpft, eine qualifizierte künstlerische Ausbildung zu bekommen.

»Ich glaube, bei Künstlerinnen ist es sehr schwer, daß sie es zu etwas bringen viel schwerer als bei Männern ... Daher hat es auch noch so wenig wirklich tüchtige Frauen gegeben. Also ich meine tüchtig in dem anderen Sinne, nicht als Frau tüchtig, sondern als Künstler oder überhaupt als Mensch im Beruf. Unter welchen Bedingungen die Frauen nun eigentlich was leisten können, weiß ich nicht, ich weiß nur, daß ich was leisten will.«

Bereits als Siebzehnjährige verließ sie ihre Heimatstadt Bremen und ging zum Studium nach München, das als künstlerisches Zentrum galt und wo sich Clara Westhoff bessere Ausbildungsbedingungen erhoffte als zu Hause. Sehr bald wurde sie jedoch darauf gestoßen, daß sie als Frau gegenüber den Männern benachteiligt war. Die privaten Malschulen, in denen Frauen unterrichtet wurden, vermittelten eine sehr viel schlechtere Ausbildung als die staatlichen Akademien, die von männlichen Studenten besucht wurden. Darüber hinaus waren sie auch noch teurer. Erbitten schrieb sie an die Eltern: »Aber man muß bedenken, wie billig die Herren studieren, dann kriegt man doch 'ne Wut.« Vergeblich bemühte sie sich durch ein Gesuch beim zuständigen Ministerialrat darum, zu den Anatomiekursen zugelassen zu werden, die für die männlichen Studenten einmal in der Woche abgehalten wurden:

»Jetzt sag mir einer, warum nur für Herren? Das muß anders werden ... wenn der Staat sich verpflichtet fühlt für die männlichen Künstler ganz ungeheure Unterstützung zu leisten, warum tut er es nicht für die weiblichen?«

Wenn Clara Westhoff in der Sache auch keinen Erfolg hatte, so blieb sie doch beharrlich in der Durchsetzung ihres Wunsches, Bildhauerin zu werden. Als sie nach drei Jahren Ausbildung - davon zwei an der renommierten Malschule Fehr/Schmid-Reutte und ein Jahr zusätzliches Studium bei dem Landschaftsmaler Buttersack - 1898 nach Hause zurückkehrte, begann sie mit einer bildhauerischen Ausbildung bei dem Maler Fritz Mackensen in der Künstlerkolonie Worpswede. Den Kontakt zu Mackensen hatte der Maler Heinrich Vogeler hergestellt, den sie in München kennengelernt hatte und der zusammen mit Mackensen, Modersohn, am Ende und Overbeck den Kern einer der bekanntesten künstlerischen Gemeinschaften jener Zeit bildete. Seit die Maler 1895 mit einer gemeinsamen Ausstellung an die Öffentlichkeit getreten waren, war Worpswede zu einem nationalen Begriff geworden. Ein zeitgenössischer Kunstkritiker schrieb angesichts der triumphalen Ausstellung in München:

  • »Der Erfolg, den die Maler von Worpswede auf der heurigen Jahresausstellung im Münchner Glaspalast errangen, hat in der Geschichte der neueren Kunst nicht seinesgleichen. Kommen da ein paar junge Leute daher, deren Namen niemand kennt, aus einem Ort, dessen Namen niemand kennt, und man gibt ihnen nicht nur einen der besten Säle, sondern der eine (Mackensen) erhält die große goldene Medaille und dem anderen (Modersohn) kauft die Neue Pinakothek ein Bild ab. Für den, der irgend weiß, wie ein Künstler zu solchen Ehren sonst nur durch ein langjähriges Streben und gute Verbindungen kommen kann, ist das eine so fabelhafte Sache, daß er sie nicht glauben würde, hätte er sie nicht selbst erlebt. Niemals ist eine Wahrheit so unwahrscheinlich gewesen.«

Worpswede stand für die Abkehr von der akademischen Ateliermalerei, für eine geänderte Naturauffassung und für eine neue Lebensform intensiver künstlerischer Zusammenarbeit Gleichgesinnter. In Worpswede machte Clara Westhoff die Bekanntschaft mit Paula Becker, die seit 1898 ebenfalls Schülerin bei Mackensen war. Zum Teil arbeiteten Paula Becker und Clara Westhoff nach denselben Modellen. In einem Brief schilderte Paula Becker, welchen großen Eindruck ihr Clara Westhoff machte:

  • »Inniges Nachbilden der Natur, das soll ich lernen ... Da ging mir heute ein Licht auf bei Fräulein Westhoff. Die hat jetzt eine alte Frau modelliert, innig, intim. Ich bewunderte das Mädel, wie sie neben ihrer Büste stand und sie antönte. Die möchte ich zur Freundin haben. Groß und prachtvoll anzusehen ist sie und so ist sie als Mensch und so ist sie als Künstler.«

Ein Produkt der Freundschaft zwischen den beiden Künstlerinnen ist eine Porträtbüste von Paula Becker (1899), die zeigt, wie sehr sich Clara Westhoff in ihrer bildhauerischen Arbeit inzwischen vervollkommnet hatte. Ihr Lehrer Mackensen hatte von ihrer Begabung eine so hohe Meinung, daß er sich bei Max Klinger, dem damals bedeutendsten Bildhauer in Deutschland, für sie verwendete. Obgleich Klinger für seine Abneigung gegen Bildhauerinnen berüchtigt war, erklärte er sich bereit, Mackensens Schülerin zu unterrichten. In einem Brief an die Eltern jubelte die Tochter:

»Zu Klinger zu kommmen, das ist ja ein ganz fabelhaftes Glück für mich. Wenn man bedenkt, was ein Mann wie Klinger alles anfängt - das ist ja unheimlich - und da ist man wirklich beneidenswert, wenn man Gelegenheit haben kann das in der Nähe zu sehen und womöglich da mitzuarbeiten.«

Obwohl sie keine direkte Schülerin Klingers war, hatte sie doch die Möglichkeit, mehrere Wochen lang täglich unter seiner Anleitung zu arbeiten. Sie lernte verschiedene bildhauerische Techniken kennen und arbeitete mit verschiedenen Materialien. Klinger war beeindruckt von ihrer Begabung. Anerkennend soll er geäußert haben: »Die greift den Marmor an wie ein Mann!« Er riet ihr ab, nach Worpswede zurückzugehen, weil sie dort, unter lauter Malern, in ihrer bildhauerischen Arbeit nicht genügend gefördert würde. Statt dessen schlug er ihr vor, nach Paris zu Rodin zu gehen, in dessen Ateliers sich die bildhauerische Elite der ganzen Welt ein Stelldichein gab. Von ihm unterrichtet oder auch nur korrigiert zu werden galt als höchste künstlerische Weihe. Ende 1899 ging Clara Westhoff nach Paris. Wenig später folgte ihr die Freundin Paula Becker nach, und es begann eine intensive Zeit der Ausbildung für die Künstlerinnen. Der Höhepunkt des Pariser Aufenthalts für Clara Westhoff war zweifellos die Begegnung mit Rodin. Es gelang ihr, in das gerade gegründete »Institut Rodin« aufgenommen zu werden. Paula Becker berichtete darüber nach Hause:

  • »Rodin hat eine Bildhauerschule eigerichtet, die Clara Westhoff besucht. Zwar hat sie monatlich nur ein bis zwei Korrekturen von ihm, sonst kommen seine Schüler. Aber sie ist eben ein Mensch der überall lernt.«

Trotz der vielen Anregungen, die die Kunstszene in Paris ihr vermittelte, sehnte sich Clara Westhoff sehr bald in das ruhige Worpswede zurück:

»... und doch höre ich durch all den Lärm und alles das Leben immer wieder meine große Sehnsucht hindurch und überall sehe ich sie wieder trotz Menschen, Frühlingslüfte und Kunstwerken... wie gut, daß man ein Worpswede kennt und besitzt. Ich wüßte gar nicht, wie man sich durch dieses ganze Leben hier hindurch leben sollte, wenn man das nicht immer mit sich herumtrüge.«

Bereits im Juli 1900 kehrte Clara Westhoff nach Worpswede zurück und gründete im Nachbarort Westerwede ein eigenes Atelier.
Die Künstlerkolonie Worpswede befand sich zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt nationaler Berühmtheit. Vogelers Barkenhoff wurde zum Mittelpunkt des geistigen und kulturellen Lebens. Feste, Lesungen, Konzerte und Theateraufführungen schufen eine Atmosphäre des gesteigerten Lebensgefühls, die Vogeler in dem berühmten Gemälde »Das Konzert« eingefangen hat. Zu Vogelers prominentesten Gästen gehörten die Schriftsteller Carl und Gerhart Hauptmann, Richard Dehmel, René Schickele, Otto Julius Bierbaum und Rudolf Alexander Schröder. Von Hauptmann, Dehmel und Schröder schuf Clara Westhoff wenige Jahre darauf sehr eindrucksvolle Porträtbüsten.
Otto Modersohn erinnerte sich an den Sommer:

  • »Mit wunderbarem Gefühl denke ich an das letzte Vierteljahr September bis Dezember 1900. Ich glaube, daß ich nie eine angeregtere, reichere Zeit erlebt habe. Bildersehen, Kunst, Musik, Literatur... glückliche Arbeit, alles vereinigte sich, um eine wahrhaft ideale Zeit zu bilden.«

Angezogen von dem Ruf Worpswedes als einem Ort, in dem sich die Utopie eines neuen Paradieses abzeichnete, stößt im Sommer 1900 auch Rainer Maria Rilke - damals ein schon recht bekannter Dichter - zu den Worpswedern. Er kommt auf Vogelers Einladung, den er 1898 in Florenz kennengelernt hatte, auf den Barkenhoff. Rilke schließt sich vor allem an Paula Becker und Clara Westhoff an, die ihm wie »Schwestern seiner Seele« erscheinen. In einer Tagebuchaufzeichnung vom 10. September heißt es:

  • »Ganz in Weiß kamen die Mädchen vom Berg aus der Heide. Die blonde Malerin zuerst, unter einem großen Florentiner Hut lächelnd... Dann begrüßte ich alle. .. Als wir eben in der dunklen Diele standen und uns aneinander gewöhnten, kam Clara Westhoff. Sie trug ein Kleid aus weißem Batist ohne Mieder im Empirestil. Mit kurzer, leicht unterbundener Brust und glatten langen Falten. Um das schöne dunkle Gesicht wehten die schwarzen, leichten, hängenden Locken die sie, im Sinn ihres Kostüms, lose läßt zu beiden Wangen. - Das ganze Haus schmeichelte ihr, alles wurde stilvoller, schien sich ihr anzupassen, und als sie oben bei der Musik in meinem riesigen Lederstuhl lehnte, war sie die Herrin unter uns. Ich sah sie an diesem Abend wiederholt schön. Im Lauschen, wenn die manchmal zu laute Charakteristik des Gesichts gebunden ist an Unbekanntes...«

Deutlich wird an einer solchen Eintragung die Stilisierung, der Rilke sowohl das »blonde« wie das »dunkle Mädchen« unterwirft. Es entwickelt sich eine flirrende erotische Beziehung à trois, in der die wesentlichen Gefühle unausgesprochen bleiben. Rilke scheint unsicher gewesen zu sein, wem seine Zuneigung eigentlich galt. Von einer Fahrt nach Bremen schreibt er:

  • »Unterwegs holte uns Clara Westhoff atemlos ein. Sie fuhr zu Rad... und sprach einige kurze bewegte Worte mit dunklen Augen und zitterndem Mund in unseren Wagen hinein ... Mir gegenüber saß die blonde Malerin ... Und so genoß ich die Stärke des einen Mädchens mit meinen hochgehaltenen Händen, und aus dem lieben Gesicht der anderen kam mir etwas Mildes und zu aller Demut Mutiges zu.«

In den Aufzeichnungen Rilkes gewinnen die beiden Frauen kein eigenes Profil, sie sind bloße Stimmungsträger. So ist es wohl auch nicht zufällig, daß man Clara Westhoff und Paula Becker vergebens in dem »Worpswede«-Buch von Rilke sucht, das 1903 erscheint. Nur den Männern, Mackensen, Modersohn, Overbeck, am Ende und Vogeler, ist dort ein Denkmal gesetzt. Die beiden Frauen, obwohl Rilke zumindest zu dieser Zeit Clara Westhoff als Bildhauerin sehr schätzt, werden nicht primär als Künstlerinnen wahrgenommen, sie verkörpern für ihn ein Stück mythischer Heimat. Paula Becker hat sich später sehr negativ über das Buch geäußert: »Da sind viele Phrasen und schöne Sätze, aber die eigentliche Nuß ist hohl.« Die Landschaft und die beiden Frauen verschmelzen in Rilkes Erinnerung zu einem poetischen Bild. Über Clara Westhoff schreibt er so, daß man unwillkürlich an die Bilder Vogelers denken muß:

  • » ... und einmal stand Clara licht schilfgrüne Schlankheit vor Landschaft und umgeben von grau dämmernder Luft, so unsagbar rein und groß, daß wir alle vereinsamten und jeder ganz ergriffen war und hingegeben an reines Schauen. Ich konnte mich kaum mehr zu den anderen zurückfinden so sehr hatte mich dieser Eindruck aus allen Zusammenhängen gehoben.«

Wichtig sind die Gefühle, die Stimmungen, die in Rilke ausgelöst werden. Ihnen gilt die Zuneigung, nicht den konkreten Frauen, die nur zum Stimulanz poetischer Inspiration werden:

  • »Wieviel lerne ich im Schauen dieser beiden Mädchen, besonders der blonden Malerin, die so braune schauende Augen hat! Wieviel näher fühl ich mich jetzt wieder allem Unbewußten und Wunderbaren... Wieviel Geheimnisvolles in diesen schlanken Gestalten, wenn sie vor dem Abend stehen oder wenn sie, in samtenen Sesseln lehnend, mit allen Linien lauschen ... Langsam lege ich Wort für Wort auf die silberne, zarte Waage ihrer Seelen, und ich bemühe mich, aus jedem Wort ein Kleinod zu machen.«

Die Verlobung Paula Beckers mit Otto Modersohn zerstört die schöne Stimmung und gefährdet den Balanceakt der Gefühle, mit denen Rilke seine widersprüchlichen Neigungen zu neutralisieren und einer Entscheidung auszuweichen versucht hatte.
Entgegen seinem ursprünglichen Plan, den Winter in Worpswede zu verbringen, reist Rilke bereits im Oktober 1900 überstürzt nach Berlin. Clara Westhoff besucht ihn dort im Februar des nächsten Jahres, wo es zu einer Begegnung gekommen sein muß, die die Lebensweichen neu stellt. Clara Westhoff und Rilke beschließen zu heiraten, gedrängt sicher durch die Tatsache, daß Clara Westhoff schwanger ist.
Die Worpsweder Freunde sind von der übereilten Verbindung überrascht und mokieren sich über das »ungleiche Paar«. Otto Modersohn schreibt an Paula Becker nicht ohne Bosheit:

  • »Und am Freitag Nachmittag - wer kam da? Du ahnst es schon: Clara mit ihrem Rilkchen unterm Arm.«

Bereits im April 1901 findet die Trauung statt. Wenn man den Aussagen von Paula Beckers Mutter glauben darf, scheint Clara Westhoff von den sich überstürzenden Ereignissen gleichsam überrollt gewesen zu sein. Sie soll geäußert haben: »Vor vierzehn Tagen hätte ich noch drauf geschworen, es sei nur Freundschaft.«
Über ihre Gefühle weiß man so gut wie gar nichts. Ihre Tagebuchaufzeichnungen und ihre Briefe aus dieser Zeit, die im Rilke-Archiv in Gernsbach liegen, sind noch immer für die Benutzung gesperrt. Über die Gründe kann man nur spekulieren. Sind die Aufzeichnungen so unerheblich, oder kratzen sie an der Legende, die Rilke selbst über die Beziehung gelegt hat? Wie dem auch sei. Tatsache ist, daß die Verbindung zu Rilke das Leben Clara Westhoffs in ganz entscheidender Weise prägte. In der Wahrnehmung der Zeitgenossen, vor allem aber in der Rezeption der Nachwelt wurde aus der Künstlerin Clara Westhoff »Frau Rilke«. Bereits die Worpsweder Freunde registrierten sehr sensibel die Veränderungen, die die Ehe für Clara Westhoff bedeutete. Für Rudolf Alexander Schröder war es einfach eine Messalliance:

  • »Es war ein seltsam ungleiches Paar. Die junge Frau, ein stolzes hochgewachsenes Menschenkind... in der glühenden Lieblichkeit ihrer Reife anzuschauen wie ein übervoller Kirschbaum; der Mann in allem das Gegenteil, in allem Äußeren völlig unscheinbar. Neben der Frau erschien er klein.«

Noch schärfer urteilte Heinrich Vogeler. Er warf Rilke vor, den »lebensfrohen, freien, offenen Charakter« seiner Frau zu verschütten und sie menschlich und künstlerisch zu lähmen. Auch Carl Hauptmann machte sich Sorgen um die Wesensveränderungen der ehemals »heiter stürmenden« Freundin.

  • » ... und die wundervolle, fliegende Clara Westhoff ist still geworden und saust nicht mehr einher wie ein Sturmwind... nein, das kann ja nicht sein. Oder wenigstens nicht so bleiben.«

Die Geburt der Tochter Ruth im Dezember 1901 reduzierte die Möglichkeiten Clara Westhoffs noch weiter. Otto Modersohn, der sich nicht eben als großzügig gegenüber der eigenen Frau Paula Becker erwies, notierte voller Schrecken in seinem Tagebuch:

  • »Wie hat sie ganz ihre Individualität eingebüßt. Wo sie vor einem Jahr tobte, in ihrem einfachen bäuerlichen Kram saß, zwanglos und ungeschlacht - da sitzt sie nun, ein Vogel, dem man die Flügel geschnitten, still in ihrem Sessel, in einem kühl, äußerst pedantisch, übermäßig ordentlichen Zimmer...«

Vor allem Paula Becker litt unter den Veränderungen, die sie an der Freundin wahrnahm:

  • »Clara Westhoff hat nun einen Mann. Ich scheine zu ihrem Leben nicht mehr zugehören... Ich sehne mich eigentlich danach, daß sie noch zu meinem gehöre, denn es war schön mit ihr.«

In einem Brief an die beiden Freunde greift sie das Problem der Beziehung sehr direkt auf

  • »Aus Ihren Worten spricht Rilke zu stark und zu flammend. Fordert das denn die Liebe, daß man werde wie der andere? Nein und tausendfach nein ... Ich weiß wenig von Ihnen Beiden, doch wie mir scheint, haben Sie viel von Ihrem alten Selbst abgelegt und als Mantel gebreitet, auf daß Ihr König darüber schreite. Ich möchte für Sie für die Welt für die Kunst und auch für mich, daß Sie den güldenen Mantel wieder trügen. Lieber Reiner (sic!) Maria Rilke, ich hetze gegen Sie. Und ich glaube es ist nötig, daß ich gegen sie (sic!) hetze. Und ich möchte mit tausend Zungen der Liebe gegen Sie hetzen, gegen Sie und gegen Ihre schönen bunten Siegel, die Sie nicht nur auf Ihre fein geschriebenen Briefe drücken.«

Rilke hat diese Entwicklung selbstverständlich ganz anders gesehen. Er erstrebte eine Künstlerehe, in der jeder »den anderen zum Wächter seiner Einsamkeit bestellt«. »Ein Miteinander zweier Menschen ist eine Unmöglichkeit, und, wo es doch vorhanden scheint, eine Beschränkung, eine gegenseitige Übereinkunft, welche einen Teil oder beide Teile ihrer vollsten Freiheit und Entwicklung beraubt.« Rilke wollte keine Unterordnung und keine Anpassung, sondern eine starke Frau, die ihn stärken sollte, ein »Gegenspiel«, keinen »Spiegel«. Daß er selbst es war, der Clara Westhoff durch die Art der Lebensführung, die er ihr aufzwang, zur Unkenntlichkeit umformte, hat er nicht sehen wollen, ebensowenig wie die Belastung, die sie als Mutter und Hausfrau in der ungesicherten finanziellen Situation der Ehe allein zu tragen hatte. Bereits ein halbes Jahr nach der Geburt der Tochter löst sich die eheliche Gemeinschaft auf. Sicher hat dabei die finanzielle Misere eine Rolle gespielt. Beide konnten von ihrer Kunst nicht leben und waren von der Unterstützung durch die Eltern abhängig. Entscheidender ist aber wohl gewesen, daß die »mystische Feierlichkeit«, mit der Rilke sich, seine Frau und die kleine Tochter zur »heiligen Familie« zu stilisieren versuchte, im Alltag nicht durchgehalten werden konnte.
Der Aufbruch Rilkes nach Paris im August 1902 ist quasi eine Flucht und ein Neuanfang ohne die Familie. Ironischerweise ist es Clara Westhoff, die ihm die Richtung weist. Sie hat die Verbindung, zu Rodin hergestellt. Vergessen ist der ursprüngliche Plan, gemeinsam ein Buch über Rodin zu schreiben. Ein Jahr später wird Rilke dieses Buch, mit dem Rodin zum Mythos wird, allein schreiben. Immerhin widmet er es seiner Frau. Clara Westhoff bleibt die schwere Aufgabe, den Haushalt in Westerwede aufzulösen. Noch schwerer wird ihr die Trennung von der kleinen Tochter gefallen sein, die zu den Großeltern gegeben wird.

Es beginnt - mal mit, mal ohne Rilke - jene unruhige Zeit des Reisens, des Pendelns zwischen Worpswede, Paris, Rom, Kopenhagen und Berlin, in der Clara Westhoff versucht, sich eine eigene Existenz als Künstlerin aufzubauen. Rilke beobachtet die Bemühungen seiner Frau mit Sympathie und fördert sie, soweit es ihm möglich ist, aus der Ferne:

  • »Ich freue mich, daß sie wieder ganz in ihre Arbeit überströmt, ihr Leben muß sich dort abspielen: im Stein, im Holz, das sie formt, denn ich glaube von ihrer Kunst ganz Großes erwarten zu dürfen.«

Für das Leiden seiner Frau an der Beziehung und vor allem für die aufgezwungene Trennung von der Tochter scheint er keinen Blick gehabt zu haben. In den zahlreichen Briefen an seine Frau kommt die Tochter so gut wie nicht vor. Gegenstand der Korrespondenz sind zumeist Rilkes gerade in Produktion befindliche Arbeiten, seine Gefühle, seine Gedanken. Die Arbeiten seiner Frau werden zwar registriert, zum Teil auch sehr positiv aufgenommen, für die Probleme des Alltags gibt es jedoch keinen Raum.
Clara Westhoff gelingt es erst nach mehreren Jahren, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Ihr Selbstbildnis von 1905 zeigt, stärker noch als das Porträt, das die Freundin Paula Modersohn-Becker 1906 von ihr macht, eine depressive, verschlossene Frau, die in ihrem Lebensmut und ihrer Schaffenskraft gebrochen scheint. 1911 hat sie sich jedoch so weit stabilisiert, daß sie die Tochter endgültig zu sich nach München nehmen kann. Im Frühjahr 1911 bis zum Sommer 1912 begibt sie sich in psychoanalytische Behandlung, um ihr Leben »wirklich einmal in die Hand zu bekommen«. Sie wird selbstsicherer in ihrer Kunst, und es entstehen eine Reihe von eindrucksvollen Porträtbüsten, zum Beispiel die von Ricarda Huch. Aber auch in Hinsicht auf Rilke gewinnt sie an Selbstsicherheit: Sie verlangt von ihm die offizielle Scheidung, die realiter ja längst vollzogen war. Diese unterbleibt jedoch wegen bürokratischer Schwierigkeiten. Aber auch ohne offizielle Scheidung verlaufen die Lebenswege bis zum Tode Rilkes 1926 weiter getrennt.
Der Ausbruch des Krieges 1914 verschlechtert die Existenzbedingungen Clara Westhoffs. Sie bekommt kaum noch Aufträge und ist angewiesen auf die Zuschüsse, die sie über Rilkes Verleger Kippenberg erhält. Nach dem Ende des Krieges geht Clara Westhoff nach Norddeutschland zurück und siedelt sich 1919 in Fischerhude, einem kleinen Ort in der Nähe von Worpswede, an. Dort bleibt sie bis zu ihrem Tod 1954.
Über die Jahre in Fischerhude ist wenig bekannt. Nach dem Auseinanderbrechen der alten Worpsweder Zusammenhänge und nach dem Tod Rilkes 1926 werden die ohnehin spärlichen Lebenszeugnisse noch spärlicher. Hier macht es sich besonders schmerzlich bemerkbar, daß der Nachlaß von Clara Westhoff-Rilke immer noch nicht freigegeben ist. Kann man bis zu Rilkes Tod wenigstens auf ihn, wenn auch als unzuverlässigen Chronisten zurückgreifen, so fehlen für die letzten dreißig Lebensjahre entsprechende Materialien fast ganz.
Dennoch zeichnen sich die Lebenslinien in groben Zügen ab: Äußerlich verlaufen die Jahre in Fischerhude erlebnisarm, künstlerisch sind sie jedoch sehr spannungsreich und wechselvoll. Ab 1925 wendet sich Clara Westhoff der Malerei zu, die eine immer stärkere Bedeutung für sie bekommt und zeitweise die Bildhauerei verdrängt:

»Jetzt wird mir langsam wieder freier und froher, weil ich mir sage: auch wenn ich modelliere - habe ich Zeit - kann es von mir abrücken - kann warten - kann es anders probieren warum macht das Malen so glücklich? Warum sitze ich stundenlang vor der kleinsten dummsten Sache - in dem Gefühl vor der ganzen Weite der Zukunft zu sitzen? Ich hin so ungeschickt im Malen und doch bedeutet jeder Pinselstrich einen Fortschritt - auch wenn er ganz mißglückt ist.«

Um sich in ihren malerischen Fähigkeiten zu vervollkommnen, besucht sie von 1927 bis 1929 zusammen mit ihrem jüngeren Bruder Helmuth Westhoff eine private Malschule in Berlin. Hier empfängt sie so viele Anregungen, daß die Malerei einen immer größeren Raum in ihrem künstlerischen Schaffen einnimmt. Neben Ölbildern entstehen Hunderte von kleinformatigen Temperabildern. Eines ihrer Lieblingsmotive ist der Blick aus dem Fenster auf die weite Wümmelandschaft, den sie zu jeder Jahreszeit malt. Die Malerei hilft ihr, die Krise, in die sie als Bildhauerin ohne den Austausch und den Kontakt mit anderen Kollegen in den zwanziger Jahren gerät, zu überwinden. Mitte der dreißiger Jahre beginnt sie wieder zu modellieren. 1936 entsteht eine postume Rilke-Büste, die eine neue Sicherheit in der Auffassung und Bearbeitung verrät. Offensichtlich ist es ihr mit dieser Büste, die an die beiden früheren Rilke-Büsten von 1901/05 anknüpft, gelungen, das Rilke-Trauma endgültig hinter sich zu lassen.

Mit der Rilke-Büste beteiligt sich Clara Westhoff an der »Großen Deutschen Kunstausstellung« im »Haus der Deutschen Kunst« in München. Hier wird ihr eine zweifelhafte Ehre offizieller Anerkennung zuteil: Die Reichskanzlei kauft die Rilke-Büste an. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine Anerkennung der künstlerischen Leistung Clara Westhoffs, sondern um ein politisches Kalkül der Machthaber: Die Vereinnahmung Rilkes für den Faschismus sucht die Besetzung des Sudetenlandes ideologisch mit vorzubereiten.
Abgesehen von den politischen Fatalitäten hat dieser Erfolg noch eine weitere problematische Seite: Was biographisch und künstlerisch als Ablöseprozeß von Rilke gedeutet werden kann, wird durch das Kalkül der Machthaber wieder zusammengeführt wobei sich alte Strukturen bestätigen: Die Künstlerin erringt Anerkennung nur vermittelt über den Mann. Noch nach seinem Tod zieht Rilke die Aufmerksamkeit auf sich, die Leistung der Frau tritt in den Schatten.
Clara Westhoff hat aus diesem Ankauf für sich kein Kapital geschlagen. Sie läßt sich nicht für die Kunstpolitik der Nationalsozialisten vereinnahmen, sondern führt ein Leben der »Inneren Emigration«, zurückgezogen in ihre Kunst, die sie unbeeindruckt von allen Moden und Entwicklungen vorantreibt, der aber auch erkennbar die Anregungen von außen fehlen. Die Fotos, die aus dieser Zeit von ihr existieren, zeigen ein kraftvolles Gesicht, in dem die frühen Erschütterungen zwar ihre Spur hinterlassen haben, das aber eine ganz eigentümliche Ruhe, Sicherheit und Schönheit ausstrahlt. Es scheint, als habe Clara Westhoff in ihrer abgeschiedenen Arbeit als Malerin und Bildhauerin in Fischerhude die Harmonie eines »gelebten Lebens« gefunden, von der die Worpsweder Freunde um die Jahrhundertwende geträumt haben.
Es ist an der Zeit, dieses »gelebte Leben«, auch in seinen Widersprüchen, nicht nur biographisch weiter aufzuhellen und Clara Westhoff-Rilke in ihren Tagebüchern und Briefen endlich selbst zur Sprache kommen zu lassen sondern auch ihr Werk zu entdecken und der Malerin neben der Bildhauerin Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.