Die Entmythologisierung der Männerwelt

Die ursprüngliche gesellschaftliche Stellung der Frau

»Die Gynaikokratie« Johann Jakob Bachofen

[1] Jede Untersuchung über das Mutterrecht muß von dem lykischen Volke ihren Ausgang nehmen. Für dieses liegen die bestimmtesten und auch an Inhalt reichsten Zeugnisse vor. Unsere Aufgabe wird es also zunächst sein, die Nachrichten der Alten in wörtlicher Übertragung, mitzuteilen, um so für alles Folgende eine sichere Grundlage zu gewinnen.

Herodot berichtet, die Lykier stammten ursprünglich aus Kreta; sie hätten unter Sarpedon Termiler geheißen, wie sie von den Nachbarn noch später genannt worden seien; als aber Lykos, des Pandion Sohn, von Athen in der Termiler Land zu Sarpedon gekommen, da seien sie nach ihm Lykier genannt worden. Dann fährt der Geschichtsschreiber also fort: »ihre Sitten sind zum Teil kretisch, zum Teil karisch. Jedoch eine sonderbare Gewohnheit haben sie, die sonst kein anderes Volk hat: sie benennen sich nach der Mutter und nicht nach dem Vater. Denn wenn man einen Lykier fragt, wer er sei, so wird er sein Geschlecht von Mutterseite angeben und seiner Mutter Mütter herzählen, und wenn eine Bürgerin mit einem Sklaven sich verbindet, so gelten die Kinder für edelgeboren; wenn aber ein Bürger, und wäre es der vornehmste, eine Ausländerin oder ein Kebsweib nimmt, so sind die Kinder unehrlich.« Diese Stelle ist darum so merkwürdig, weil sie uns die Sitte der Benennung nach der Mutter in Verbindung mit der rechtlichen Stellung der Geburten, folglich als Teil einer in allen ihren Folgen durchgeführten Grundanschauung darstellt. Herodots Erzählung wird durch andere Schriftsteller bestätigt und ergänzt. Aus Nicolaus Damascenus Schrift über die merkwürdigen Gebräuche ist uns folgendes Fragment erhalten: »Die Lykier erweisen den Weibern mehr Ehre als den Männern sie nennen sich nach der Mutter und vererben ihre Hinterlassenschaft auf die Töchter, nicht auf die Söhne.« Heraclides Ponticus hat die kurze Angabe: »Sie haben keine geschriebenen Gesetze, sondern nur ungeschriebene Gebräuche. Von Alters her werden sie von den Weibern beherrscht Zu den angeführten Zeugnissen kommt die merkwürdige Erzählung des Plutarch, wofür der Herakleote Nymphis als Gewährsmann angeführt wird. Sie lautet in wörtlicher Übersetzung: »Nymphis erzählt im vierten Buche über Heraklea, einst habe ein Wildschwein das Gebiet von Heraklea verwüstet, Tiere und Früchte vernichtet, bis es von Bellerophon erlegt wurde. Als aber der Held für seine Wohltat keinerlei Dank erhielt, habe er die Xanthier verflucht und von Poseidon erfleht, daß alles Erdreich Salz hervorbringe. So ging alles zu Grunde, da das Erdreich bitter geworden, und dies habe gedauert, bis Bellerophon aus Achtung vor den Bitten der Frauen wiederum zu Poseidon flehte, er möge seiner Verheerung ein Ende machen. Daher stammt den Xanthiern der Gebrauch, sich nicht nach dem Vater, sondern nach der Mutter zu nennen.« Nymphis Erzählung zeigt uns die Benennung nach der Mutter als Ausfluß einer religiösen Anschauung; die Fruchtbarkeit der Erde und die Fruchtbarkeit des Weibes werden auf die gleiche Linie gestellt.
Dies letztere wird in einer andern Version desselben Mythus noch deutlicher hervorgehoben. Plutarch erzählt nämlich an der gleichen Stelle folgendes: »Die Geschichte, die sich in Lykien zugetragen haben soll, sieht zwar einer Fabel sehr ähnlich, aber sie gründet sich doch auf einen alten Mythus. Amisodarus oder, wie ihn die Lykier nennen, Isaras kam, dieser Sage zufolge, aus der lykischen Pflanzstadt bei Zelea mit einigen Raubschiffen, die Chimarrhos, ein kriegerischer, aber dabei wilder und grausamer Mann, kommandierte. Er fuhr auf einem Schiffe, das am Vorderteil einen Löwen, am Hinterteile aber eine Schlange zum Zeichen hatte, und tat den Lykiern großen Schaden, so daß sie weder das Meer befahren noch die Städte an der Küste bewohnen konnten. Bellerophon tötete denselben, indem er ihn mit dem Pegasus verfolgte; er vertrieb auch die Amazonen, konnte aber seinen verdienten Lohn nicht erhalten, sondern wurde von Lobates aufs ungerechteste behandelt. Er ging deshalb ins Meer und betete zu Poseidon, daß dieses Land öde und unfruchtbar werden möchte. Als er nach verrichtetem Gebete wieder wegging, erhob sich eine Welle und überschwemmte das Land. Es war ein schrecklicher Anblick, wie das aufgetürmte Meer hinter ihm her folgte und die Ebene überdeckte. Die Männer konnten bei Bellerophon mit ihrer Bitte, daß er dem Meere Einhalt tun sollte, nichts ausrichten; als aber die Weiber ihm entgegenkamen, so ging er aus Schamhaftigkeit zurück, und zugleich wich auch, wie man sagt, das Meerwasser mit zurück.« In dieser Erzählung erscheint Bellerophon in einem doppelten Verhältnis zu dem Geschlechte der Frauen. Einerseits tritt er uns als Bekämpfer und Besieger der Amazonen entgegen. Andererseits weicht er vor dem Anblick der Weiblichkeit zurück und kann dieser die Anerkennung nicht versagen, so daß das lykische Mutterrecht geradezu auf ihn, als dessen Begründer, zurückgeführt wird. Dieses Doppelverhältnis, das einerseits Sieg, andererseits Unterliegen in sich schließt, ist in hohem Grade beachtenswert. Es zeigt uns das Mutterrecht im Kampfe mit dem Männerrechte, diesen Kampf jedoch nur durch einen teilweisen Sieg des Mannes gekrönt. Das Amazonentum, diese höchste Ausartung des Weiberrechts, wird durch den Sisyphussprößling, den korinthischen Helden, vernichtet. Die männerfeindlichen, männertötenden, kriegerischen Jungfrauen erliegen. Aber das höhere Recht des der Ehe und seiner geschlechtlichen Bestimmung wiedergegebenen Weibes geht siegreich aus dem Kampfe hervor. Nur die amazonische Ausartung der weiblichen Herrschaft, nicht das Mutterrecht selbst findet seinen Untergang. Dieses ruht auf der stofflichen Natur der Frau. In den mitgeteilten Mythen wird das Weib der Erde gleichgestellt. Wie Bellerophon vor dem Zeichen der mütterlichen Fruchtbarkeit sich beugt, so zieht Poseidon seine verwüstenden Wogen von dem bedrohten Fruchtlande zurück. Die männlich zeugende Kraft räumt dem empfangenden und gebärenden Stoffe das höhere Recht ein. Was die Erde, aller Dinge Mutter, gegenüber Poseidon, das ist das irdische, sterbliche Weib gegenüber Bellerophon. Die Frau vertritt die Stelle der Erde und setzt der Erde Urmuttertum unter den Sterblichen fort. Andererseits erscheint der zeugende Mann als Stellvertreter des allzeugenden Okeanos. Das Wasser ist das befruchtende Element. Wenn es sich mit dem weiblichen Erdstoffe mischt, ihn zeugend durchdringen so wird in dein dunkeln Grunde des Mutterschoßes alles tellurischen Lebens Keim entwickelt. So steht Okeanos der Erde, so der Mann dem Weibe gegenüber. Wer hat in dieser Verbindung die erste Stelle? Welcher Teil soll den andern beherrschen, Poseidon die Erde, der Mann das Weib, oder umgekehrt? In dem mitgeteilten Mythus wird dieser Kampf dargestellt. Bellerophon und Poseidon suchen dem Vaterrecht den Sieg zu erringen. Aber vor dem Zeichen der empfangenden Mütterlichkeit weichen sie beide besiegt zurück. Nicht zur Verwüstung, sondern zur Befruchtung des Stoffes soll das Salz des Wassers, der Inhalt und das Symbol der männlichen Kraft, dienen, Dem stofflichen Prinzip der Mütterlichkeit bleibt, der Sieg über die unstoffliche, erweckende Kraft des Mannes. Wir konnten also mit Recht sagen, der Kampf, den Bellerophontes gegen das Weiberrecht unternahm, sei nur durch einen halben Sieg gekrönt worden. Zwar erlag dem Poseidonssohne des ehefeindlichen Amazonentums naturwidrige Ausartung, aber der ihrer physischen Bestimmung treugebliebenen Frau war er seinerseits genötigt den Sieg zu überlassen. Der ganze Mythus, als dessen Mittelpunkt Bellerophontes erscheint, stimmt mit dieser Auffassung überein. Der Held hatte Höheres erstrebt. Nicht nur die Amazonen zu vertilgen, sondern auch in der Ehe dem Vater die Mutter unterzuordnen, wir sein Ziel. Ja der Sieg, den er über jene davon getragen, schien ihm Anspruch zu geben, auch hier Anerkennung zu finden. Aber Lobates-Amphianax verweigerte ihm die Belohnung seiner Mühen und Anstrengungen. Dasselbe liegt in andern Zügen des Mythus angedeutet. Bellerophon muß sich zuletzt mit der Hälfte der Herrschaft begnügen. Auf seine Siege folgt Niederlage. Mit Hilfe des unter Athenes Beistand gebändigten Pegasus hatte er die Amazonen bekämpft und vernichtet. Von oben herab aus den kühlen Lufträumen hatte der Aiolide sie getroffen. Aber als er es unternahm, mit dem Flügelrosse noch höher zu steigen und die himmlischen Lichthöhen zu erreichen, da traf ihn Zeus Grimm. Zurückgeschleudert fiel er hinab in die Aleische Flur. Tarsus bezeugt, daß er wie Hephaest ein hinkendes Bein davontrug, »Seine Siege will ich besingen, doch seines Todesloses mag ich nicht gedenken« sagt Pindar, um das Mißverhältnis zwischen dem glänzenden Anfang und dem traurigen Ende des Helden anzudeuten. Die Höhe seines Strebens und der geringe Erfolg desselben wird bei Pindar und bei Horaz Bild des zu gewaltig emporeilenden, mit den Göttern ringenden und von ihnen bestraften Menschengeistes. Bellerophon tritt hierin Prometheus zur Seite, dem ihn Lysias als zweiten Feuerbewahrer an die Seite stellt. Durch sein Unterliegen unterscheidet sich Bellerophon von den übrigen Bekämpfern des Weiberrechts, von Herakles, Dionysos, Perseus und den apollinischen Helden Achill und Theseus. Während sie zugleich mit dem Amazonentum jegliche Gynaikokratie vernichten und als vollendete Lichtmächte das unkörperliche Sonnenprinzip des Vatertums über das stoffliche des tellurischen Mutterrechts erheben, vermag Bellerophontes nicht, die reinen Höhen des himmlischen Lichtes zu erreichen. Scheu blickt er nach der Erde zurück, die den aus der Höhe, in welche er sich hinaufgewagt, Zurückstürzenden wieder aufnimmt. Pegasus zwar, das Flügelroß, das der Gorgone blutender Rumpf geboren und Athene ihren Schützling zügeln gelehrt hatte, erreicht das Ziel seiner Himmelsfahrt, aber der irdische Reiter sinkt zu der Erde zurück, der er als Poseidons Sohn angehört. Die männliche Kraft erscheint in ihm noch rein als das poseidonische Wasserprinzip, das in lykischen Kulten eine so hervorragende Rolle spielt. Die physische Unterlage seines Wesens ist das tellurische Wasser und der die Erde umgebende Aether, der aus jenem seine Feuchtigkeit schöpft und sie in stetem Kreislauf an dasselbe wieder zurückgibt, wie der tarentinische Mythus in Aethras Tränen sinnreich andeutet. Über diesen tellurischen Kreis hinaus die Sonnenregion zu erreichen und das Vaterprinzip aus dem Stoffe in die Sonne zu verlegen, ist ihm nicht gegeben. Den vollständigen Sieg haben andere errungen, Herakles, Dionysos und die apollinischen Helden. Ihnen unterliegt nicht nur das Amazonentum, sondern auch die eheliche Gynaikokratie. Sie erheben das Vatertum aus den Banden des Stoffes zur Sonnenkraft und geben ihm dadurch jene unkörperliche höhere Natur, in welcher allein es seine Superiorität über das im Stoffe wurzelnde Mutterrecht dauernd zu erhalten vermag...
In der bisherigen Darstellung ist nur diejenige Seite des lykischen Mythus berührt worden, welche mit der Gynaikokatrie enge zusammenhängt. Aber derselbe enthält noch eine andere Beziehung, deren Erörterung zum Verständnis unseres Gegenstandes wesentlich beitragen wird. Von drei Kindern, welche der Held gezeugt, Isander, Laodamia und Hippolochos, wurden die beiden ersteren durch der Götter Wille ihm entrissen. Den Himmlischen verhaßt, irrt nun der Vater einsam durch die Aleische Flur und meldet, von Kummer verzehrt, die Pfade der Sterblichen, bis den Vereinsamten selbst das traurige Todeslos trifft. So sah der Held, der Unsterblichkeit zu erringen vermeinte, sich und seinen Stamm dem Gesetze des irdischen Stoffs verfallen. Gleich dem delischen Anius, dem Manne des Kummers, muß er den Tod seiner Kinder überleben, um ihm zuletzt selbst zu erliegen. Darin wurzelt sein Schmerz, darin das Gefühl, den Himmlischen verhaßt zu sein. Von ihm gilt, was Ovid Milet. 10 298) von Cinyras hervorhebt: si sine prole fuisset, inter felices Cinyras potuisset haberi. Wir sehen hier Bellerophon wieder in dem Lichte, in welchem wir ihn zuvor dargestellt haben. Der Poseidonssohn gehört dem Stoffe, in dem der Tod herrscht, nicht den Lichthöhen, in welchen die Unsterblichkeit thront. Zu diesen durchzudringen, ist ihm nicht gegeben. Er sinkt zur Erde zurück und findet hier seinen Untergang. Er gehört der ewig werdenden, nicht der seienden Welt. Was die Kraft des Stoffes hervorbringt, ist alles dem Tode verfallen.
Der Tod selbst ist Vorbedingung des Lebens, und dieses löst sich wieder in jenen auf, damit so in ewigem Wechsel zweier Pole das Geschlecht selbst seine Unvergänglichkeit bewahre. Diese Identität von Leben und Tod, die wir in unendlichen Mythenbildungen wiederfinden, hat auch in Bellerophon ihren scharfen Ausdruck erhalten. Er, der poseidonische Zeugungskraft in sich trägt, ist zu gleicher Zeit und, wir dürfen nun sagen, gerade deshalb auch Diener des Todes und Vertreter des vernichtenden Naturprinzips. Als solchen bezeichnet ihn sein Name Bellerophontes oder Laophontes. Er, Poseidons zeugungskräftiger Sohn, heißt der Mörder des Volks. Unfreiwillige Tötung seines Bruders eröffnet seine Laufbahn. Die zeugende Kraft erscheint zugleich als die vernichtende. Wer Leben erweckt, arbeitet für den Tod. Entstehen und Vergehen laufen in der tellurischen Schöpfung als Zwillingsbrüder gleichen Schrittes nebeneinander her. In keinem Augenblicke des irdischen Daseins verlassen sie sich In keinem Zeitpunkte, in keinem tellurischen Organismus ist Leben ohne Tod zu denken. Was dieser wegnimmt, ersetzt jenes, und nur wo Altes verschwindet, kann wieder neues entstehen.
Keinen Gedanken hat die alte Philosophie und Mythologie so vielartig und in so tiefsinnigen Bildern und Symbolen ausgesprochen als diesen. In dem Mythus von Bellerophon ist er dem Verständigen, der die Sagenhieroglyphik zu lesen versteht, unverkennbar. Den Wechsel alles tellurischen Lebens zwischen Werden und Verschwinden, Entstehen und Vergehen den Tod als Vorbedingung und Folge des Lebens, den Untergang als innerstes Gesetz aller irdischen Zeugung, das zeigt uns Bellerophons zugleich zeugende und volksmordende Kraft. Einen physischen Gehalt hat sein Mythus, wie nach Strabo die ganze Mythologie. Er selbst muß untergehen, damit er durch Aesculap Wiedererweckung finde. Drei Kinder muß er erzeugen, damit Eines übrig bleibe. In Isander, Hippolochos und Laodamia haben wir die menschliche Wiederholung der tierischen Chimära, zwei Männer und ein Weib, wie dort Löwe und Drache, die Bilder der zeugenden Wasser- und Feuerkraft, die weibliche Ziege, das empfangende und nährende Aesculapiustier, der fruchtbaren Erde Bild, umschließen, wie auch ein Ei die Dioskuren und Helena in seinem dunkeln Schoße birgt. Zur Dreieinheit entfaltet sich die tellurische Naturkraft, weshalb alle zeugenden Naturmächte als triplices erscheinen Die äußere Darstellung der Kraft verfällt stetem Untergang, nur die Kraft selbst bleibt ewig. Wie die Chimära, so ist auch Bellerophons dreifaches Geschlecht dem Tode gezeugt. Dasselbe Gesetz, dem jene unterliegt, ergreift auch dieses. Hatte es der Vater in der Jugend verkannt, so muß er es nun im Alter an seiner eigenen Nachkommenschaft erfahren.
Weiser als der Vater ist Hippolochos' edler Erzeugter Glaukos, der den Poseidonsnamen selbst trägt. Er ist es, der dem im Streite ihm begegnenden Diomed auf die Frage nach seiner Abstammung das Gleichnis von den Blättern, das Homer der Darstellung des Bellerophon Mythus vorausgehen läßt, als Bild des auch die Menschengeschlechter beherrschenden Gesetzes in Erinnerung ruft. Hat dieses durch seine innere Wahrheit schon im Altertum so große Berühmtheit erlangt, daß es von vielen, zumal von Plutarch und Lucian, oft wiederholt wird, so gewinnt es in Verbindung mit dem korinthischlykischen Mythus und im Munde eines Sisyphussprößlings doppelte Bedeutung.
Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechte der Menschen; Blätter verweht zur Erde der Wind nun, andere treibt dann wieder der knospende Wald, wann neu auflebet der Frühling. So der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes verschwindet. Was Bellerophon verkannt hatte, das spricht hier Hippolochos' Sohn in der ergreifendsten Weise aus. Ein Gesetz beherrscht die höchste und die niedrigste Schöpfung, wie die Blätter des Baumes so die Geschlechte der Menschen. Sisyphus wälzt ewig den Stein, der ewig mit unüberlistbarer Tücke zu des Aides Wohnung herab rollt. So erneuern sich die Blätter, die Tiere, die Menschen in ewiger Arbeit der Natur, doch ewig umsonst. Das ist des Stoffes Gesetz und des Stoffes Bestimmung, das auch Bellerophon endlich beim Anblick der mütterlichen Furche als aller Mutterkinder Los erkennt. Im Munde des Lykiers hat das Gleichnis doppelte Bedeutung Denn in ihm ist die Grundlage des lykischen Mutterrechts unverkennbar enthalten. So oft auch jenes berühmte Wort des Dichters Anführung fand, so ist sein Zusammenhang mit der Gynaikokratie doch immer unbemerkt geblieben. Soll ich ihn ausführen? Es genügt ihn anzudeuten, um ihn jedermann fühlbar zu machen. Die Blätter des Baumes entstehen nicht aus einander, sondern alle gleichmäßig aus dem Stamme. Nicht das Blatt ist des Blattes Erzeuger, sondern aller Blätter gemeinsamer Erzeuger der Stamm. So auch die Geschlechte der Menschen nach der Anschauung des Mutterrechts. Denn in diesem hat der Vater keine andere Bedeutung als die des Sämanns, der, wenn er den Samen in die Furche gestreut, wieder verschwindet. Das Gezeugte gehört dein mütterlichen Stoffe, der es gehegt, der es ans Licht geboren hat und nun ernährt. Diese Mutter aber ist stets dieselbe, in letzter Linie die Erde, deren Stelle das irdische Weib in der ganzen Reihenfolge der Mütter und Töchter vertritt. Wie die Blätter nicht auseinander, sondern aus dein Stamme, also entspringen auch die Menschen nicht einer aus dem andern, sondern alle aus der Urkraft des Stoffes Darum, meint Glaukos, habe Diomed unverständig gehandelt, da er ihn nach seinem Geschlechte frug. Der Grieche freilich, der in Vernachlässigung des stofflichen Gesichtspunkts den Sohn von dem Vater ableitet und nur die erweckende Kraft des Mannes berücksichtigt, geht von einer Anschauungsweise aus, welche seine Frage erklärt und rechtfertigt. Der Lykier dagegen antwortet ihm aus dem Standpunkte des Mutterrechts, das den Menschen von der übrigen tellurischen Schöpfung nicht unterscheidet und ihn, gleich Pflanzen und Tieren, nur nach dem Stoffe, aus dem er sichtbar hervorgeht, beurteilt. Der Vatersohn hat eine Reihe von Voreltern, die kein sinnlich wahrnehmbarer Zusammenhang verbindet; der Muttersohn durch die verschiedenen Geschlechter hindurch nur Eine Ahnin, die Urmutter Erde. Was würde es frommen, die ganze BIätterfolge aufzuzählen? Haben sie doch für das letzte Blatt, das noch grün am Stamme hängt, so wenig Bedeutung als für Glaukos seine männlichen Vorfahren, Hippolochos, Bellerophon, Halmos, Sisyphos. Ihre Existenz verliert mit dem Tode jedes einzelnen alle Bedeutung. Der Sohn stammt nur von der Mutter, und diese ist der Urmutter Erde Stellvertreterin. Der Gegensatz wird durch folgende Bemerkung noch deutlicher. Im Systeme des Vaterrechts heißt es von der Mutter mulier familiae suae et caput finis est. Das ist: so viel Kinder das Weib auch geboren haben mag, es gründet keine Familie, es wird nicht fortgesetzt, sein Dasein ist ein rein persönliches. In dem Mutterrecht gilt dasselbe von dem Manne. Hier ist es der Vater, der nur für sich ein individuelles Leben hat und nicht fortgesetzt wird. Hier erscheint der Vater, dort die Mutter als verwehtes Blatt, das, wenn es abgestorben ist, keine Erinnerung zurück läßt, und nicht mehr genannt wird. Der Lykier der seine Väter nennen soll, gleicht dem, der die gefallenen und vergessenen Blätter des Baumes aufzuzählen unternehmen wollte. Er ist dem stofflichen Naturgesetz treu geblieben und hält dem Tydiden die ewige Wahrheit desselben in dem Gleichnis vom Baume und dessen Blättern entgegen. Er rechtfertigt die lykische, Auffassung, indem er ihre Übereinstimmung mit den stofflichen Naturgesetzen nachweist und wirft dem griechischen Vaterrecht seine Abweichung von demselben vor.
Vergleichen wir nunmehr die beiden Teile unserer bisherigen Ausführung, das was über Bellerophons Beziehung zu dem Mutterrecht und das was über seine stoffliche Natur überhaupt bemerkt worden ist, so tritt der innere Zusammenhang der Idee, die beides beherrscht, sogleich entgegen. Das mütterlich-tellurische Prinzip ist es, was die gemeinsame Grundlage beider Mythenteile bildet. Die Vergänglichkeit des stofflichen Lebens und das Mutterrecht gehen Hand in Hand. Andererseits verbindet sich das Vaterrecht mit der Unsterblichkeit eines überstofflichen Lebens, das den Lichtregionen angehört. So lange die Religionsauffassung in dem tellurischen Stoffe den Sitz der zeugenden Kraft erkennt, so lange gilt das Gesetz des Stoffes, Gleichstellung des Menschen mit der unbeweinten, niedern Schöpfung, und Mutterrecht in der menschlichen wie in der tierischen Zeugung,. Wird aber die Kraft von dem Erdstoffe getrennt und mit der Sonne verbunden, so tritt ein höherer Zustand ein. Das Mutterrecht verbleibt dem Tiere, die menschliche Familie geht zum Vaterrecht über. Zugleich wird die Sterblichkeit auf den Stoff beschränkt, der in den Mutterschoß, aus welchem er stammt, zurückkehrt, während der Geist, durch das Feuer von des Stoffes Schlacken gereinigt, zu den Lichthöhen, in denen Unsterblichkeit und Unstofflichkeit wohnt, sich emporschwingt. So ist Bellerophon zugleich sterblich und Vertreter des Mutterrechts, Herakles dagegen Begründer des Vaterrechts und in den Lichträumen Tischgenosse der olympischen Götter. Alles führt zu dem Schlusse: Das Mutterrecht gehört dem Stoffe und einer Religionsstufe, die nur das Leibesleben kennt und darum, wie Bellerophon, verzweifelnd vor dem ewigen Untergang alles Gezeugten trauert. Das Vaterrecht dagegen gehört einem überstofflichen Lebensprinzip. Es identifiziert sich mit der unkörperlichen Sonnenkraft und der Anerkennung eines über allen Wechsel erhabenen, zu den göttlichen Lichthöhen durchgedrungenen Geistes. Das Mutterrecht ist das bellerophontische, das Vaterrecht das herakleische Prinzip; jenes die lykische, dieses die hellenische Kulturstufe; jenes der lykische Apoll, der nur die sechs toten Wintermonde in seinem Geburtslande weilt, dieses der zu metaphysischer Reinheit erhobene hellenische Gott, der die lebensvollen Sommermonde auf der heiligen Delos waltet.
Um in dem so wenig verstandenen und doch so inhaltsreichen lykisch korinthischen Mythus keine dunkle Ecke, wo Zweifel von neuem sich festsetzen könnten, zurückzulassen, soll jetzt noch eine Reihe einzelner Punkte berührt werden.
In der mitgeteilten Erzählung Plutarchs vertreibt Bellerophon die Amazonen aus Lykien, das sie gleich dem übrigen Vorderasien aus Norden bei- heimgesucht hatten. Andere Zeugnisse gehen noch weiter. Nach der Ilias, nach Pindar, Apollodor, nach den Scholien zu Pindar, zu Lykophron wird das weibliche Schützenheer von dem Helden ganz vertilgt, und diese Tat gilt nicht geringer als der Sieg über das dreigestaltete Ungetüm Chimära, über das verwüstende Wildschwein oder über der Solymer verheerende Horden. Damit nun scheinen Denkmäler der bildenden Kunst im Widerspruche zu stehen; denn hier wird Bellerophon in seinem Kämpfe gegen die Chimära von den Amazonen unterstützt. Aus Gegnerinnen sind sie Kampfesgenossen geworden. Dieser Übergang aus feindlichem zu freundlichem Verhältnis, wie er hier erscheint, wiederholt sich in den Mythen der großen Amazonenbekämpfer, namentlich in denen des Dionysos und Achill. Bei den Schriftstellern sowohl als auf Kunstdenkmälern erscheinen sie gar oft im Gefolge der Helden, denen sie erst kämpfend gegenüberstanden. ja auf sehr bekannten Darstellungen geht der Krieg in ein Liebesverhältnis über. Der Kampf endet mit Einigung. Achill wird durch den Anblick der in seinen Armen sterbenden Penthesilea, deren vollendete Schönheit er jetzt erst erkennt, zur Leidenschaft für seine besiegte Gegnerin hingerissen. Der Gedanke ist in allen diesen, auf verschiedenste Weise modifizierten Darstellungen derselbe. in dem siegreichen Helden erkennt das Weib die höhere Kraft und Schönheit des Mannes. Gerne beugt es sich dieser. Müde seiner amazonischen Heldengröße, auf der es sich nur kurze Zeit zu halten vermag, huldigt es willig dein Manne, der ihm seine natürliche Bestimmung wiedergibt. Es erkennt, daß nicht männerfeindlicher Kriegsmut, daß vielmehr Liebe und Befruchtung seine Bestimmung ist. In diesem Gefühl folgt es nun willig demjenigen, der durch seinen Sieg ihm die Erlösung brachte. Es schützt den gefallenen Gegner gegen der wütenden Schwestern erneuten Anlauf, wie wir dies auf einem Relief des Apollotempels von Bassae in ergreifendem Kontraste dargestellt sehen. Gleich der Danaide, die allein von allen Schwestern des Bräutigams schont, will das Mädchen jetzt lieber weich als grausam und tapfer erscheinen. Die Jungfrau fühlt, daß der Sieg des Feindes sie ihrer wahren Natur zurückgibt, und entsagt darum dem Gefühle der Feindschaft, das sie früher zu dessen Bekämpfung anfeuerte. jetzt in die Schranken der Weiblichkeit zurückgekehrt, erregt auch sie des Mannes Liebe, der nun erst ihre volle Schönheit erkennt und ob der tödlichen Wunde, die er selbst gezwungen beibrachte, von wehmütiger Trauer ergriffen wird. Nicht Kampf und Mord, nein, Liebe und Ehe sollte zwischen ihnen herrschen. So verlangt es des Weibes natürliche Bestimmung. In der Verbindung des Bellerophontes mit den Amazonen liegt also kein Widerspruch gegen jene Nachrichten, die uns beide im Kampfe zeigen. Vielmehr enthält sie, gleich dem Schlußakt der Tragödie, die Wiederherstellung des natürlichen Verhältnisses, das in dem Amazonentum eine gewaltsame Unterdrückung gefunden hatte. Blühend in Kraft und jugendlicher Schönheit wird uns Bellerophon von Pindar dargestellt. Aber keusch ist er auch, und darum von Stheneboia Anteia verleumdet und verfolgt. Die Namen des Proetusweibes deuten klar genug die der Befruchtung harrende und sie sehnlich wünschende Natur des mütterlichen Erdstoffes an. Wir erkennen in dem korinthischen Weibe die Platonische Penia wieder, die stets neuen Männern nachgeht, um von ihnen stets frische Befruchtung, stets neue Kinder zu erhalten. Unter Penia versteht Plato, wie Plutarch erklärend hinzufügt, »die Materie, die an und für sich des Guten bedürftig ist, aber von demselben angefüllt wird, sich stets nach ihm sehnt und dessen teilhaftig wird«, mithin die Erde in ihrem Hetärismus. In diesem Zuge erscheint Bellerophon als Vertreter der Heiligkeit ehelicher Verbindung. Wie das männerfeindliche Amazonentum, so weist er auch den Hetärismus zurück. Beiden Ausartungen des weiblichen Geschlechts, der Entfremdung von seiner natürlichen Bestimmung und regelloser Überlassung an dieselbe, tritt er mit gleicher Entschiedenheit entgegen. Durch das eine sowohl als durch das andere ist er Lykiens Wohltäter geworden Durch beides hat er sich zumal des Weibes Dankbarkeit erworben. Um so williger folgt ihm der Amazonen besiegtes Heer. In der Ehe und ihrer Keuschheit finden die Artemisdienerinnen Erfüllung ihrer höheren Bestimmung, welcher sie ungeregelte Männerliebe nicht weniger entfremdet als männerfeindlicher Sinn So erscheint Bellerophon als der Bekämpfer jeder ungeregelten, wilden, verwüstenden Kraft. Durch die Vernichtung der Chimära wird des Landes geregelter Ackerbau, durch die das Amazonentums und des Hetärismus die Ehe mit ihrer strengen Ausschließlichkeit möglich gemacht. Beide Taten gehen Hand in Hand, weshalb der Held bei Homer durch Philonoes Hand und das Geschenk fruchtbarer Äcker belohnt wird. Das Prinzip des Ackerbaus ist das der geordneten Geschlechtsverbindung. Beiden gehört das Mutterrecht. Es verdient besondere Beachtung, dass das Mutterrecht mit der Ehe und strengsten Keuschheit derselben in Verbindung steht. Sind auch die Folgerungen, die sich aus dem Mutterrecht ergeben, insbesondere Benennung der Kinder und ihres Status nach der Mutter, solche, die im Systeme des Vaterrechts die uneheliche Geschlechtsverbindung kennzeichnen und voraussetzen, so erscheinen sie doch unter der Herrschaft des Mutterrechts als Folge und Eigentümlichkeit der Ehe selbst und mit strengster ehelicher Keuschheit verbunden. Gynaikokratie besteht nicht außerhalb, sondern innerhalb des matrimonium. Sie ist kein Gegensatz, sondern notwendige Begleiterin desselben. Ja der Name matrimonium selbst ruht auf der Grundidee des Mutterrechts. Man sagte matrimonium, nicht patrimonium, wie man zunächst auch nur von einer materfamilias sprach. paterfamilias ist ohne Zweifel ein späteres Wort. Plautus hat materfamilias öfters, paterfamilias nicht ein einziges Mal benutz. Nach dem Mutterrecht gibt es wohl einen pater, aber keinen pater familias. Familia ist ein rein physischer Begriff, und darum zunächst nur der Mutter geltend. Die Übertragung auf den Vater ist ein improprie dictum, das daher zwar im Recht angenommen, aber in den gewöhnlichen nicht juristischen Sprachgebrauch später erst übertragen wurde. Der Vater ist stets eine juristische Fiktion, die Mutter dagegen eine physische Tatsache: (mater) semper certa est, etiamsi vulgo conceperit. Pater vero is tantum, quam nitptiae demonstrant. tantum deutet an, daß hier eine juristische Fiktion in die Stelle der stets fehlenden natürlichen Sicherheit treten muß. Das Mutterrecht ist natura verum, der Vater bloß iure civili. Unrichtig wäre es, wollte man diejenigen Völker, welche Gynaikokratie zeigen, auf jene unterste Lebensstufe zurückführen, in welcher noch gar keine Ehe, sondern nur natürliche Geschlechtsverbindung, wie unter den Tieren, besteht. Die Gynaikokratie gehört nicht vorkulturlichen Zeiten, sie ist vielmehr selbst ein Kulturzustand. Sie gehört der Periode des Ackerbaulebens, der geregelten Bodenkultur, nicht jener der natürlichen Erdzeugung, nicht dem Sumpfleben. Ist das Mutterrecht auch iuris naturalis, weil es aus den Gesetzen des Stoffes hervorgeht, in welchem Sinne der Ausdruck noch von den römischen Juristen gebraucht wird, so ist dies ius naturale doch schon durch die positive Institution der Ehe beschränkt und nicht mehr in seinem vollen Umfange anerkannt. Es herrscht innerhalb des matrimonium und schließt die freie Geschlechtsmischung aus...
Auf der tiefsten Stufe des Daseins zeigt der Mensch neben völlig freier Geschlechtsmischung auch Öffentlichkeit der Begattung. Gleich dein Tiere befriedigt er den Trieb der Natur ohne dauernde Verbindung mit einem bestimmten Weibe und vor aller Augen. Gemeinsamkeit der Weiber und öffentliche Begattung wird am bestimmtesten von den Massageten berichtet. »Jeder ehelicht eine Frau, allen aber ist erlaubt, sie zu gebrauchen. Denn was die Griechen den Skythen zuschreiben, tun nicht die Skythen, sondern die Massageten. So oft einen Mann nach einem Weibe gelüstet, hängt er seinen Köcher vorn an dem Wagen auf und wohnt ihm unbesorgt bei« Dabei steckt er seinen Stab in die Erde, ein Abbild seiner eigenen Tat. Ober die Massageten enthüllt Strabo folgendes: »Es heiratet jeder eine sie gebrauchen aber auch die der andern, und zwar nicht im Verborgenen. Wer sich so mit einer Fremden begattet, hängt seinen Köcher vorn an dem Wagen auf und übt den Beischlaf ganz offen.« - Mit den Massageten stellt Herodot öfters die Nasamonen zusammen »Sie haben nach Gebrauch jeder viele Frauen und begatten sich mit ihnen insgeheim Beim Beischlaf beobachten sie das gleiche wie die Massageten; sie stecken nämlich ihren Stab in die Erde.« Hier und dort haben wir nicht nur Gemeinsamkeit, sondern auch Öffentlichkeit der Geschlechtsmischung.
...Jeder Stamm hat seinen Tyrannos. Es ist das Recht der Zeugung, auf welcher diese Herrschaft beruht. Da in der Geschlechtsverbindung keine Sonderung eintritt, mithin auch das individuelle Vatertum wegfällt, so haben alle nur Einen Vater, den Tyrannos, dessen Söhne und Töchter sie alle sind und welchem alles Gut gehört...
...Seiner Betrachtung der lydischen Weiberherrschaft fügt Klearch folgende Erklärung bei: »Von Weibern beherrscht zu werden, sei stets die Wirkung gewaltsamer Erhebung des weiblichen Geschlechts gegen frühere ihm angetane Schmach; bei den Lydern sei es Omphale, die solche Rache zuerst geübt und die Männer der Gynaikokratie unterworfen habe.« Die hier angedeutete Entwicklung ist ohne Zweifel die historisch richtige. Das Mutterrecht zwar, soweit es nur die einseitige Mutterabstammung des Kindes festhält, ist iuris naturalis, daher auch dein Zustande freier Geschlechtsmischung nicht fremd, und so iit als das Menschengeschlecht; die mit jenem Mutterrecht verbundene Gynaikokratie, welche die Herrschaft in Familie und Staat der Mutter in die Hand gibt, ist dagegen erst späteren Ursprungs und durchaus positiver Natur. Sie entsteht durch Reaktion des Weibes gegen den regellosen Geschlechtsumgang, von dem sie zuerst sich zu befreien bestrebt ist. Dem tierischen Zustande allgemeiner, ganz freier Geschlechtsmischung setzt zuerst das Weib entschiedenen Widerstand entgegen. Sie ist es, die nach Erlösung aus jener Erniedrigung ringt und durch List oder Gewalt sie endlich zu erringen weiß. Dem Marine wird der Stab entrissen, das Weib gelangt zur Herrschaft. Dieser Übergang kann ohne eheliche Verbindung mit einem Einzelnen nicht gedacht werden. Beherrschung des Mannes und der Kinder ist in dein Naturzustand freier Geschlechtsmischung unmöglich, und die Vererbung der Güter sowie des Namens nach der mütterlichen Abstammung nur in der Ehe selbst von Bedeutung. Sind Weiber und Kinder gemeinsam, so sind es auch notwendig die Güter. Einem solchen Zustande fehlen auch Eigennamen, wie es für die libyschen Atarantes Nicolaus Damascenus bezeugt. Sonderrecht und eine bestimmte Erbordnung setzen Aufhebung jenes Naturzustandes voraus. Diese erfolgt aber nun selbst in einer gewissen Stufenfolge. Zwischen der ausschließlichen Ehe und der völlig ehelosen Geschlechtsgemeinschaft liegen mehrere Grade in der Mitte. Bei Massageten und Troglodyten sehen wir die Ehe selbst mit gemeinschaftlichem Gebrauch der Frauen verbunden. jeder hat eine Gemahlin, aber allen ist erlaubt, auch der des andern beizuwohnen. Augiler, Balearen, Thraker stehen höher: sie halten die Keuschheit der Ehe und beschränken den Hetärismus auf die Brautnacht. jene mit gemeinsamem Gebrauch verbundene Ehe ist reiner als die völlig ehelose Gemeinschaft, unreiner als die zur Ausschließlichkeit entwickelte eheliche Verbindung. Dennoch hat sie auch in der späteren Zeit noch bei den Lakedämoniern Anerkennung gefunden. Nach Nicolaus Damascenus erlauben sie ihren Gemahlinnen, von den Schönsten der Bürger und der Fremden sich befruchten zu lassen...
Der aus Ehe und Weibergemeinschaft zusammengesetzte Mittelzustand zeigt Sondereigentum und eine abgeschlossene Familie, welche beide auf der untersten Stufe eheloser Begattung fehlen. Ihm gehört das Mutterrecht, welches für den Erbgang der Güter von Bedeutung wird und daher auf der untersten Stufe eheloser Begattung, wo Gütergemeinschaft notwendig herrscht, gänzlich inhaltslos bleibt, außer in Beziehung auf die Vererbung des Königtums selbst. Aber mit dem Mutterrecht ist noch keine Gynaikokratie verbunden. Wie auf der untersten Stufe, so herrscht auch hier noch der Mann; an der Spitze jedes Stammes steht der Tyrannos, dessen Herrschaft nach Mutterrecht vererbt. Bei den Abyllen Libyens herrschte ein Mann über die Männer, eine Frau über die Frauen. Wir sehen dort das Muttertum noch ohne Gynaikokratie. ja, es stellt sich dar in Verbindung mit der tiefsten Erniedrigung des Weibes, das willenlos dem Gelüste jedes Mannes zu dienen verpflichtet ist und vor dem Stabe, den nur der Mann führt, rechtlos sich beugt. Diese Mannesgewalt nun wird gebrochen, das Weib findet in der ausschließlichen Ehe Schutz. Nun erweitert sich das Mutterrecht zur Gynaikokratie. Die Vererbung der Güter und des Namens nach mütterlicher Abstammung wird verbunden mit dem Ausschluß der männlichen Nachkommen von jedem Anspruche und mit der Herrschaft der Frauen im Geschlechte wie im Staate. Diese vollendete Gynaikokratie ist also nicht nur keine Eigenschaft jenes ersten gänzlich ehelosen Zustandes, sondern vielmehr in entschiedenem Kampfe gegen denselben entstanden. Ja, auch dem Mittelzustande eines aus Ehe und Weibergemeinschaft gemischten Lebens blieb sie fremd, und kam erst mit Überwindung desselben zu voller Anerkennung. Die Gynaikokratie setzt also in der Regel die vollendete Ehe voraus. Sie ist ein ehelicher Zustand, mithin wie die Ehe eine positive Institution, wie sie eine Beschränkung des völlig tierischen ius naturale, dem jedes Gewaltverhältnis wie jedes auf Anerkennung des Sondereigentums beruhende Erbrecht fremd ist. in dieser Verbindung stellt sich die Begründung der Gynaikokratie als ein Fortschritt des Menschengeschlechts zur Gesittung dar. Sie erscheint als eine Emanzipation aus den Banden des rohsinnlichen tierischen Lebens. Dem auf dem Übergewicht physischer Stärke beruhenden Mißbrauch des Mannes setzt das Weib das Ansehen seines zur Herrschaft erhobenen Muttertums entgegen, wie dies der Mythus von Bellerophon und seiner Begegnung mit den lykischen Frauen zu erkennen gibt. je wilder die Kraft des Mannes, desto notwendiger ist jener ersten Periode des Weibes zügelnde Macht. Solange der Mensch dem rein stofflichen Leben verfallen ist, solange muß das Weib herrschen. Die Gynaikokratie nimmt eine notwendige Stelle in der Erziehung des Menschen, des Mannes zumal, ein. Wie das Kind seine erste Zucht von der Mutter erhält, ebenso die Völker von dem Weibe. Dienen muß der Mann, bevor er zur Herrschaft gelangt. Der Frau allein ist gegeben, des Mannes urerste ungezügelte Kraft zu bändigen und in wohltätige Bahnen zu lenken. Athene allein besitzt das Geheimnis, dem wilden Scythius Zaum und Gebiß anzuziehen. je gewaltiger die Kraft, desto geregelter muß sie sein. Durch den Tanz läßt Hera ihres wilden Sohnes Ares übermäßige Manneskraft zügeln, wie die bithynische Sage bei Lucian meldet. Dies Prinzip harmonischer Bewegung liegt in der Ehe und ihrem von dem Weibe aufrechterhaltenen strengen Gesetz. Darum mag auch Bellerophon sich ohne Zaudern den Matronen unterwerfen. Gerade hiedurch ist er seines Landes erster Gesitter geworden. Gewiß ist, daß in dem Weibe eine nähere Beziehung zu der Gottheit erkannt und ihm ein höheres Verständnis ihres Willens beigelegt wurde. Sie trägt das Gesetz, das den Stoff durchdringen in sich. Unbewußt, aber völlig sicher, nach Art des Gewissens, spricht aus ihr die Gerechtigkeit; sie ist durch sich selbst weise, von Natur Autonoe, von Natur Dikaia, von Natur Fauna oder fatum, die das Fatum verkündende Prophetin, die Sibylla, Martha, Phaennis, Themis. Darum galten die Frauen als unverletzlich, darum als Trägerinnen des Richteramts, als Quelle der Prophezeiung. Darum weichen die Schlachtlinien auf ihr Gebot auseinander, darum schlichten sie als priesterliche Schiedsrichter den Völkerstreit: eine religiöse Grundlage, auf welcher die Gynaikokratie fest und unerschütterlich ruhte. Von dem Weibe geht die erste Gesittung der Völker aus, wie die Frauen überhaupt an jedem Verfall und jeder Wiedererhebung besonderen Anteil haben, ein Gedanke, den der Graf Leopardi in einem herrlichen Hochzeitsgesang seiner Schwester Paolina zu Gemüte führt. Des sinnlich rohen Mannes Zähmung ist das Werk des Weibes. Dort Kraft und Ungestüm, hier das Prinzip der Ruhe, des Friedens, der Gottesfurcht, des Rechts...
Mit dem Fortschritt von der Einheit zur Vielheit, von chaotischen Zuständen zur Gliederung fällt derjenige von rein stofflicher zu höherer geistiger Existenz zusammen. Mit jener beginnt das Menschengeschlecht, diese ist sein Ziel, zu welchem es durch alle Senkungen und Hebungen hindurch unablässig fortschreitet. »Nicht das Geistige ist das Erste, sondern das Seelische, nachher das Geistigen (Paulus, I. Korinther 15, 46). In diesem Entwicklungsgange nimmt die Ehe mit Gynaikokratie die Mittelstufe ein. Ihr voran geht das reine ius naturale der ununterschiedenen Geschlechtsverbindung. Sie selbst weicht hinwieder dem reinen ius civile, das heißt der Ehe mit Vaterrecht und väterlicher Herrscher. Auf der Mittelstufe der ehelichen Gynaikokratie verbindet sich beides, das stoffliche und das geistige Prinzip. So wie einerseits das stoffliche nicht mehr ausschließlich herrscht, so ist andererseits das geistige noch nicht zu voller Reinheit durchgedrungen. Aus dem stofflichen ius naturale ist das Vorwiegen der mütterlichen, stofflichen Geburt mit allen ihren Folgen, dem Vererben der Güter in der mütterlichen Linie und dem ausschließlichen Erbrecht der Töchter, beibehalten; dem geistigen ius civile aber gehört das Prinzip der Ehe selbst und das einer sie zusammenhaltenden Familiengewalt. Auf dieser Mittelstufe erbaut sich zuletzt die höchste des rein geistigen Vaterrechts, das dem Manne die Frau unterordnet und die ganze Bedeutung, die die Mutter besaß, auf den Vater überträgt. Seine reinste Ausbildung hat dieses höchste Recht bei den Römern gefunden. Kein anderes Volk hat die Idee der potestas über Frau und Kind so vollkommen entwickelt, kein anderes daher auch die entsprechende des staatlich-einheitlichen imperium vom ersten Tage an so klar bewußt verfolgt...
In allen mit unserem Gegenstande zusammenhängenden Mythen ist die Erinnerung an wirkliche Ereignisse, die über das Menschengeschlecht ergangen sind, niedergelegt. Wir haben nicht Fiktionen, sondern erlebte Schicksale vor uns. Die Amazonen und Bellerophon ruhen auf einer realen, nicht auf poetischer Unterlage, Sie sind Erfahrungen des sterblichen Geschlechts, Ausdruck wirklich erlebter Geschicke. Die lykische Gynaikokratie ist. kein vorehelicher, sondern ein ehelicher Zustand. Aber noch in einer andern Beziehung ist sie besonders belehrend. Wie nahe liegt es nicht, aus der anerkannten Herrschaft des Weibes auf Feigheit, Verweichlichung, Entwürdigung des männlichen Geschlechtes zu schließen. Ist doch sich von Weibern beherrschen zu lassen Zeichen ganz gebrochener Manneskraft, wie Klearch bemerkt. Wie unrichtig diese Folgerung, zeigt uns das lykische Volk am besten. Seine Tapferkeit wird besonders gerühmt, und der xanthischen Männer Heldentod gehört zu den schönsten Beispielen aufopfernden Kriegsmuts, die uns das Altertum hinterlassen hat. Und erscheint nicht auch Bellerophon, an dessen Namen sich das Mutterrecht knüpft, als untadeliger Held, dessen Schönheit die Amazonen huldigen, keusch zugleich und tapfer, der herakleische Taten vollbringt, in dessen Stamm auch das Losungswort gilt, das Posidonius dem ihm auf Rhodos begegnenden Pompeius nachrief: »Immer der erste zu sein und vorzustreben vor andern.« Was wir bei den Lykern vereinigt finden, Gynaikokratie und kriegerische Tapferkeit der Männer, erscheint auch anderwärts, zumal bei den mit Kreta und Lykien so nahe verbundenen Karern. ja Aristoteles gibt derselben Verbindung die Bedeutung einer ganz allgemeinen geschichtlichen Erfahrung. Aus Anlaß der lakonischen Weiberherrschaft, die ihm als so großer Mangel der Lykurgschen Gesetzgebung erscheint, nimmt er die allgemeine Bemerkung auf, »die meisten kriegerischen und streitbaren Völkerstämme ständen unter Weiberherrschaft...
So erscheint die lykische Gynaikokratie in einer Umgebung von Sitten und Zuständen, die geeignet sind, sie als Quelle hoher Eigenschaften erscheinen zu lassen. Strenge, Keuschheit der Ehe, Tapferkeit und ritterlicher Sinn des Mannes, gebietendes, ernst waltendes Matronentum der Frau, dessen religiöse Weihe anzutasten selbst Unsterbliche nicht wagen. Das sind Elemente der Kraft, durch welche ein Volk seine Zukunft sichert. Daraus mag es sich erklären, wenn solche geschichtlichen Tatsachen überhaupt erklärt werden Können, daß die Lykier ihr Mutterrecht so lange festhielten. Es ist eine gewiß nicht zufällige Erscheinung, daß zwei Völker, welche. im Altertum besonderen Ruhm genossen, Lokrer und Lykier, eben auch diejenigen sind, welche Gynaikokratie so lange bei sich aufrechterhielten. Ein stark konservatives Element ist in der hohen Machtstellung der Frau nicht zu verkennen. Während das Mutterrecht bei andern Volksstämmen so frühe dem Vaterrecht weichen mußte, war Herodot nicht wenig erstaunt, es in Lykien erhalten zu sehen...
Die Verbindung der Gynaikokratie mit kriegerischer Unternehmungslust der Männer rechtfertigt sich noch von einer andern Seite. In jenen Urzeiten, in welchen die Männer so ausschließlich kriegerischem Leben obliegen und durch dieses in weite Fernen weggeführt werden, kann nur das Weib über Kinder und Güter walten, die meist seiner ausschließlichen Obhut anvertraut bleiben. Das klarste Bild solcher Zustände geben die alten Nachrichten über der skythischen Stämme weite Eroberungszüge. Während achtundzwanzig Jahren sind die Skythen von Hause entfernt. Bis nach Ägypten dehnen sie ihre Streifzüge aus. Nach ihnen ist Skythopolis, das Josephus oft erwähnt, in Palästina genannt. Sie rechtfertigen so Strabos Bemerkung, daß die weitesten Völkerzüge der ältesten Welt angehören. Durch Geschenke erkauft Psammetich ihre Umkehr. Verheerung bezeichnet ihre Bahn. Gleich den Kimmeriern vermögen sie nicht, befestigte Städte zu erobern. Nur um Beute ist es ihnen zu tun. Den Sitten nomadischer Hirtenstämme sind Unternehmungen solcher Art allein entsprechend. Bald ist es innerer Zwist, bald das Vordringen benachbarter Stämme, das den Auszug veranlaßt. Die Weiber aber bleiben zu Hause, hüten die Kinder, warten des Viehs. Der Glaube an ihre Unverletzlichkeit hält die Feinde fern. Die Sklaven werden des Augenlichts beraubt. Solchen Zuständen entspricht Gynaikokratie vollkommen. Jagd, Streifzüge und Krieg erfüllen des Mannes Leben, halten ihn von Weib und Kind ferne. Der Frau bleibt die Familie, der Wagen, der Herden, der Sklaven Menge anvertraut. In dieser Aufgabe des Weibes liegt die Notwendigkeit seiner Herrschaft. Aus derselben folgt sein ausschließlicher Anspruch auf das Erbrecht. Durch Jagd und Krieg soll der Sohn sein Dasein fristen. Die Tochter, von diesem Selbsterwerbe ausgeschlossen, wird auf der Familie Reichtum angewiesen. Sie allein erbt, der Mann hat seine Waffen, trägt sein Leben in seinem Bogen und Speer. Für Weib und Tochter erwirbt er, nicht für sich, nicht für seine männlichen Nachkommen So unterstützen sich Gynaikokratie und kriegerisches Leben. Die Wirkung wird Ursache, die Ursache Wirkung. In dem Ausschluß von allem ererbten Besitz findet der Mann immer neuen Antrieb zu kriegerischen Unternehmungen; in der Entbindung von jeder häuslichen Sorge die Möglichkeit, auf weiten Zügen von Raub und Krieg zu leben...
Aus den Zuständen des früheren kriegerischen Lebens wird von den Alten die Entstehung des Amazonentums abgeleitet. Dieses ist selbst nur eine bis zur Unnatürlichkeit gesteigerte Gynaikokratie, herbeigeführt durch entsprechende Entartung, des männlichen Geschlechts. Durch der Männer Verbindung mit thrakischen Mädchen, die sie auf ihren Streifzügen erbeuten, werden die Lemnerinnen zu ihrer sprichwörtlichen Untat getrieben. Alles Männliche mordend, gehen Sie zu amazonischem Leben über. Auf der männerlosen Insel finden die Argonauten günstige Aufnahme. Die skythischen Frauen des Thermodon sehen ihre Männer im Kampfe aufgerieben. Nun sind sie selbst genötigt, zu den Waffen zu greifen, und Scharen kriegsgeübter Jungfrauen ergießen sich siegreich über ganz Vorderasien, nach Hellas, nach Italien, nach Gallien, und wiederholen in diesen Weltteilen, was auch Afrika, wie es scheint unabhängig von jenen nordischen Ereignissen, in gleicher Weise erlebt hatte. Während andere, der langen Abwesenheit ihrer Männer müde, mit Sklaven und Fremdlingen sich verbinden. Ereignisse, die wie für die Skythen so auch für die Lakedämonier und wiederum für die Zeiten des Trojanischen Krieg's bezeugt werden, entsagen jene der Ehe und legen den Grund zu Erscheinungen, die nicht nur durch die Verwüstungen, welche sie über die Welt brachten, in der Geschichte unseres Geschlechts eine hervorragende Stelle einnehmen, sondern namentlich auch zu dem gänzlichen Untergang der Gynaikokratie das meiste beitrugen. An der Amazonen Bekämpfung knüpft sich die Einführung des Vaterrechts. Durch die Lichtmächte wird das amazonische Mondprinzip vernichtet, die Frau ihrer natürlichen Bestimmung wiedergegeben, und dem geistigen Vaterrechte für alle Zeiten die Herrschaft über das stoffliche Muttertum erworben. Die größte Übertreibung führt zu dem gänzlichen Sturze. Nur in Verbindung mit dem Mutterrechte und der damit vereinigten Kriegsübung wird das Amazonentum Asiens und Afrikas eine begreifliche Erscheinung; denn trotz aller Verschönerung, mit der Sage und Kunst um die Wette es ausgeschmückt haben, ist die historische Grundlage der alten Nachrichten, die Strabo mit so nichtigen Gründen anficht, nicht zu bezweifeln. Man hat geleugnet, wo es sich darum handelte, zu verstehen. Darin liegt die Schwäche heutiger Forschung: sie bemüht sich weniger uni die antike als um die moderne Idee, bringt Erklärungen, die mehr der heutigen als der alten Weit entsprechen, und endet so notwendig in Zweifel, Verwirrung und trostlosem Nihilismus. Amazonischer Staaten Existenz zu beweisen ist unmöglich. Aber das bringt die Natur der Historie überhaupt mit sich. Keine einzige geschichtliche Überlieferung ist je bewiesen worden, Wir horchen allein dem Gerüchte...
Mit dem lykischen Mutterrecht steht noch eine andere Nachricht im Zusammenhang. Plutarch schreibt in dem Trostbrief an Apollonius: »Der Gesetzgeber der Lykier, erzählen sie, habe seinen Bürgern verordnet, so oft sie trauerten, Weiberkleidung anzuziehen. Da der Name dieses Gesetzgebers nicht beigefügt wird und auch sonst alle Nachrichten von einem lykischen Nomotheten fehlen, so kann mit Sicherheit behauptet werden, daß das Tragen von Weiberkleidung durch die Männer zu jenen ungeschriebenen ethesi gehört, welche Heraclides bei den Lykiern statt geschriebener Gesetze gefunden haben will. Dadurch erhält jene Sitte die höhere Bedeutung eines aller Willkürlichkeit enthobenen Herkommens. Plutarch führt sie auf eine ethische Bedeutung zurück Das Trauern, meint er, sei etwas Weibisches, Schwaches, Unedles, dazu waren die Weiber mehr geneigt als die Männer, Barbaren mehr als die Hellenen, gemeine Leute mehr als vornehme. Aber der lykische Brauch hat eine tiefere Wurzel. Er verbindet sich mit der stofflichen Religionsanschauung. An der Spitze alles tellurischen Lebens steht das weibliche Prinzip, die große Mutter. Dieses Prinzipes physische Unterlage ist die Erde, ihre sterbliche Stellvertreterin das irdische Weib. Aus ihm ist alles geboren, zu ihm kehrt alles wieder zurück. Der Mutterschoß, aus welchem das Kind hervorgeht, nimmt es im Tode wieder auf, Darum sind auf dem bekannten lykischen Grabmonumente die Harpyen in mütterlicher Eiform dargestellt. Darum ist bei der Trauer auch zunächst nur die Mutter beteiligt. Über des Stoffes Untergang trauert nur das Weib, das durch Empfängnis und Geburt des Stoffes Bestimmung erfüllt. Will der Mann sich daran beteiligen, so muß er selbst erst die mütterliche Erdnatur anziehen. Wie die Toten Demetrier werden und heißen, so kann auch der Erde Schmerz nur von der Mutter und in Muttergestalt dargelegt werden. Daher trauern bei den Keern die Männer gar nicht, nur die Mütter. Nun sieht man leicht, wie nahe die Weibertracht der lykischen Männer mit der lykischen Gynaikokratie zusammenhängt. Hat der Vater für das lebende Kind keine Bedeutung, so hat er auch keine Berechtigung, um das tote zu trauern. Nicht des Vaters, sondern der Mutter Sprößling ist ja der lykischen Erde Sohn. Hat das Vatertum keine weitere Bedeutung als die physische erweckender Befruchtung, so hat es mit dem Tode des Gezeugten vollends jeden Anspruch auf Beachtung verloren. Dem Toten tritt nur noch der wiederaufnehmende mütterliche Stoff gegenüber; die erweckende Manneskraft sinkt mit dem verschwindenden Leben ganz in Vergessenheit. Darum gebraucht Virgil in der Beschreibung der Unterwelt den Ausdruck matres atque viri und nicht matres atque patres. Nach dem Tode gibt es nur viri, keine patres. Daher holen auch einzelne Helden ihre Mütter, nie ihre Väter aus dem Totenreiche. Darum erscheint des Vaters mütterliche Kleidung als der höchste Ausdruck der Gynaikokratie. Der darin liegende Kleiderwechsel begegnet uns in vielen Kulten. Fassen wir nun die Angaben der Alten über das lykische Mutterrecht zusammen, so ergeben sich folgende Hauptsätze:
Seine äußere Darstellung findet es in der Benennung des Kindes nach der Mutter. Seine Bedeutung aber äußert sich in mehreren Punkten:

  • erstens in dem Status der Kinder: die Kinder folgen der Mutter, nicht dem Vater;
  • zweitens in der Vererbung des Vermögens: nicht die Söhne, sondern die Töchter beerben die Eltern;
  • drittens in der Familiengewalt: die Mutter herrscht, nicht der Vater, und dieses Recht gilt in folgerichtiger Erweiterung, auch in dem Staate.

Man sieht, wir haben es nicht nur mit einer ganz äußerlichen Eigentümlichkeit der Nomenklatur, sondern mit einem durchgeführten Systeme zu tun, einem Systeme, das mit religiösen Anschauungen im Zusammenhange steht und einer älteren Periode der Menschheit angehört als das Vaterrecht.