Zum Beispiel Griechenland

Demosthenes Savramis

I

Während Ende des 18. Jahrhunderts in Westeuropa eine neue Bewertung der Persönlichkeit der Frau einsetzte und in der Mitte des 19. Jahrhunderts sich ihre gesellschaftliche Stellung durch die Industrialisierung, die Frauenbewegung usw. grundlegend wandelte, befand sich Griechenland noch unter dem Joch der Türken. Nur ein Problem bewegte die Gemüter: Die Erringung der nationalen Unabhängigkeit. Die Frau stand ganz am Rande des gesellschaftlichen Lebens. Die weiter anhaltenden orientalischen Einflüsse und die gesellschaftliche Struktur der nach dem Befreiungskampf von 1821 sich neubildenden Nation hinderten die griechische Frau weiter, auch am Anfang unseres Jahrhunderts, den Anschluß an die in Westeuropa vollzogene Entwicklung zu finden. Erst in allerjüngster Zeit konnte eine gewisse Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau durchgesetzt werden.
In der Gesetzgebung z. B. gibt es eine spürbare Tendenz, der Frau die volle Gleichberechtigung zu gewähren, und nach dem Wortlaut des Gesetzes ist sie im Griedienland von heute schon fast Wirklichkeit geworden. Aber selbst in der rechtlichen Stellung der Frau in der Gesellschaft - von der realen und traditionellen wird weiter unten die Rede sein bestehen noch weiter gewisse Einschränkungen für die Frau. Das Zivilgesetz von Griechenland bestimmt z. B., daß der Wohnsitz des Mannes als Wohnsitz der Ehefrau gilt. Die Frau kann einen selbständigen Wohnsitz nur dann beanspruchen, wenn sie berechtigt ist, getrennt zu leben. Ein anderer Artikel des Zivilgesetzbuches bestimmt: »Das Eingehen einer Ehe ist einer Frau vor dem Ablauf von zehn Monaten seit der Auflösung oder Nichtigkeitserklärung ihrer früheren Ehe durch Entscheidung gegen die kein Rechtsmittel mehr eingelegt werden kann, nicht erlaubt.« Obwohl dieses Verbot für den Fall, daß die Frau vor dem Ablauf der zehn Monate geboren hat, nicht gilt, liegt hier ein deutliches Abweichen vom Prinzip der Gleichberechtigung vor, da es für den Mann ähnliche Beschränkungen niclit gibt. Der Artikel 135o des Zivilgesetzbuches besagt, daß »zur Eingehung einer Ehe erforderlich ist, daß der Mann das achtzehnte, die Frau das vierzehnte Lebensjahr vollendet hat«. Manche wollen hier einen Vorteil für die Frau sehen. Ob das der Fall ist, bleibt eine offene Frage, zumal in Griechenland grundsätzlich die Eltern bestimmen, welchen Mann ein Mädchen heiraten darf. Daß besonders sehr junge Mädchen dadurch leicht finanziellen oder anderen Spekulationen der Eltern geopfert werden, liegt auf der Hand.
Ein großer Fortschritt für die Gleichstellung der Frau wurde durch das Gesetz 1620 vom 17./28. 9. 1953 erzielt, das der Frau das Wahlrecht gewährte und das ihr den Zugang zu allen öffentlichen Amtern erschloß. Ferner betont das Gesetz 3192 Vorn 20./21- 4. 1953 ausdrücklich in seinem ersten Artikel, daß den Frauen ohne Unterschied alle Ämter, die kirchlichen ausgenommen, offenstehen. Damit wurden verschiedene Gesetze des Zivilgesetzbuches, die die Rechte der Frau schmälerten, außer Kraft gesetzt, z. B. die Bestimmungen, daß die Frau nicht Mitglied des Familienrates werden darf oder daß sie - mit Ausnahme der Mutter und der Großmutter des Minderjährigen - unfähig zur Übernahme oder Weiterführung einer Vormundschaft ist oder schließlich, daß sie als Zeuge bei der E. rrichtung eines Testamentes nicht mitwirken darf. Letztere Bestimmung war für die Frau besonders diskriminierend, da dieses Verbot nur für Frauen und für diejenigen, welche der Sehkraft oder des Gehörs vollkommen beraubt sind, für Schreiber und Helfer des Notars und für Minderjährige galt.
Aber trotz all dieser Fortschritte, die auf dem Gebiet der Gleichberechtigung in Griechenland zu verzeichnen sind, bleibt die griechische Frau in Wirklichkeit weiter in ihrer untergeordneten und benachteiligten Position. Das Zivilgesetzbuch bestimmt z. B., daß der Mann das Familienoberhaupt ist und daß ihm die Entscheidung ill allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zusteht. Der Frau steht zwar die Leitung des gemeinsamen Haushalts zu, der Mann kann aber der Frau Rechtsgeschäfte mit Dritten, auch für die laufenden Bedürfnisse der Hauswirtschaft, verbieten und dieses Verbot dem Dritten vor der Vornahme des Rechtsgeschäfts bekannt machen.

II

Die gesetzliche Feststellung, daß der Mann das Familienoberhaupt, d. h. der »Herr im Hause« ist, ist nur eine blasse Formulierung für die wirkliche traditionelle und reale Stellung der Frau in der Familie und in der Gesellschaft, die eine weitaus stärkere Abhängigkeit zeigt. Mütter fassen ihre Ratschläge für Töchter und Schwiegertöchter in folgendem Satz des Apostels Paulus zusammen: »Ihr Weiber seid untertan euren Männern in dem Herrn, wie sichs gebührt.«[1] Sie vergessen dabei, daß der Apostel Paulus in einer Zeit, wo von Gleichberechtigung keine Rede war, immerhin noch folgendes hinzufügte: »Ihr Männer liebet eure Weiber und seid nicht bitter gegen sie.«
Die Männer stehen in Griechenland noch unangefochten in der Rolle des Herren im Hause, und sie leben bewußt im Rahmen der patriarchalischen Ordnungen, wie sie seit Jahrhunderten gelten. Das harte alltägliche Leben weiter Scl-lichten der griedlischen Bevölkerung verschlechtert die Position der griechischen Frau, die rechtlos unter der Tyrannei des Mannes bzw. der Familie lebt. Der häufig arbeitslose und in der Gesellschaft erfolglose Ehemann sucht seine Selbstbestätigung in der Familie, und zwar auf Kosten der Persönlichkeit der eigenen Frau, die eine Dienerin des Mannes sein muß und seinem Willen untersteht. Eine weitere, auch durch das Gesetz unterstützte Tatsache setzt den Persönlichkeitswert der Frau herab. Das ist die traditionelle Mitgift, die eine Frau in die Ehe mitbringen muß, und die jeder Mann zu verlangen berechtigt ist, da laut Zivilgesetzbuch »Mitgift das Vermögen ist, welches von der Frau oder von einem anderen zugunsten der Frau dem Manne zur Bestreitung der Lasten der Ehe zugewendet wird«.
Diese gesetzlich legitimierte Mitgift, die sich auf uralte Traditionen stützen kann, erschwert das Leben der Frau in Griecl-lenland sehr. Abhän"ig von dieser Sitte wird die Frau zu einem Sklaven der Mitgift. Ausnutzung und Ausbeutung sind die häufigen Folgen. So manche Ehe wird nur auf Grund von rein finanziellen Überlegungen geschlossen, und es gibt Verträge, die aus der Ehe ein Geschäft machen. Gefühlslosigkeit und grausamer Verrat der Liebe sind nur einige der vielen Erscheinungen im Gefolge der Mitgift. Hinzu kommt die Tatsache, daß viele Eltern, zumeist die Väter, die Geburt einer Tochter als eine Katastrophe für die Familie ansehen, da sie sofort das Problem der Mitgift aufwirft. Damit steht aber die Frau von Kindheit an unter einer anderen Bewertung als der Mann.
Leider ist die Mitgift in Griechenland schwerlich zu bekämpfen oder abzuschaffen, da sie durch die soziale Struktur und Situation Griechenlands zu einem notwendigen übel geworden ist. Das Gesetz sagt: »Der Mann i.st verpflichtet, der Frau einen seiner sozialen Stellung, seinem Vermögen oder Einkommen entsprechenden Unterhalt zu gewähren.« Dem steht die rauhe Wirklichkeit und die Arbeitsmarktlage in Griechenland gegenüber. Sollte der Mann nicht zu dem Heer der Arbeitslosen oder Unterbeschäftigten gehören, so verdient er, etwa als Beamter oder kleiner Angestellter, sehr wenig. Wie wird er seiner Frau »einen seiner sozialen Stellung entsprechenden Unterhalt« gewähren können? Es bleibt nur eine Lösung: Die Frau leistet selbst einen Beitrag, da sie bestrebt ist, ihre soziale und finanzielle Stellung durch ihre Heirat zu verbessern. Die Frau kann aber keiner Erwerbsarbeit nachgehen und damit helfen, den Lebensunterhalt zu sichern. Selbst wenn sie die traditionellen Vorurteile mißachtete und sich zur Arbeit entschlösse, wird sie angesichts der herrschenden Arbeitslosigkeit und UnterbeschäfLigung keinen Arbeitsplatz finden. Allerdings sind die traditionellen Vorstellungen, die der Frau nicht gestatten, außerhalb einer Familiengemeir~schaft ihren Leb,-nsunterhalt durch Erwerbsarbeit zu verdienen, in den meisten Fällen zu stark. Ebenso erlernen wenige Frauen in Griechenland einen Beruf. Die einzige Lösung ist also die Mitgift, die mit allen ihren üblen Begleiterscheinungen in Kauf genommen werden muß. Ohne Mitgift kann ein Mann heute in Griechenland kaum eine Familie gründen.
Aus der Tatsache, daß die Griechin zumeist keinen Beruf erlernt oder daß sie in bürgerlichen Kreisen lieber im Haushalt und in der Familie als in der Fabrik oder im Büro tätig ist, läßt sich nicht folgern, daß die Frau in Griechenland arbeitsscheu ist. Die Griechin arbeitet im Hause in einem für westeuropäische Verhältnisse unvorstellbarem Maße. Sie liebt die Sauberkeit, und sie kocht zweimal am Tage für die Familie, da die griechische Familie sowohl mittags wie abends warmes Essen gewohnt ist und auf diesem Gebiet viele Ansprüche gestellt werden. Hinzu kon, mt, daß die Griechen kinderreiche Familien haben. Oft ist zu sehen, daß je ärmer eine Familie ist, desto mehr Kinder da sind. Die Frau muß dann ohne jeden Komfort oder technische Hilfsmittel diese großen Familien versorgen. Elektrische Geräte sind Kostbarkeiten, über die nur eine kleine Schicht in der Großstadt verfügen kann. Die meisten Hausfrauen arbeiten unter primitiven Bedingungen. Die große Zahl der in Deutschland arbeitenden griechischen Frauen beweist, daß die Griechinnen sich zur Arbeit drängen.
Trotzdem besteht weiterhin, besonders in den sogenannten guten, bürgerlichen Kreisen eine ablehnende Haltung gegenüber jeder arbeitenden Frau. Hier herrschen noch unangefochten die traditionellen Vorstellungen, daß der einzige geeignete Arbeitsplatz für eine Frau die Familiengemeinschaft ist. Für die eben erwähnten Kreise bedeutet die Frau ein Schmuckstück der Familie, sie erfüllt den Mann mit Besitzerstolz. Die Frauen nutzen in diesen Fällen die Situation bewußt aus, und sie wollen sich auch von der Hausarbeit befreien, indem sie von ihren Ehemännern ein Dienstmädchen verlangen. Das verschlechtert oft die ohnehin angespannte finanzielle Situation des Mannes, führt zu Ehekrisen oder degradiert die Ehe zu einer reinen Interessengemeinschaft. Der Mann fordert eine repräsentative und untertänige, sittsame Frau, und dafür muß er zahlen. Die Frau erhebt entsprechende Ansprüche, um den Forderungen des Mannes zu genügen. Sie steht zwar immer im Schatten des Mannes, ist aber dennoch nicht bereit, auf Kosten ihrer Eitelkeit Opfer zu bringen.
Da von der Frau verlangt wird, daß sie nach außen wirkt und da sie selbst viel Wert legt auf ihre äußere Erscheinung, sieht man in allen großen Städten gut gekleidete Griechinnen, die bewußte Eleganz ausstrahlen. Dieses Bild beschränkt sich aber auf die wenigen Großstädte. Die Frau in der Provinz und auf den Dörfern wirkt einfach und ist äußerst schlicht gekleidet. Der Unterschied zwischen einer Frau aus der Provinz und einer Griechin aus Athen ist so groß, daß man kaum verstehen kann, daß diese beiden Frauen einem Land und Volk zugehören, das eine einheitliche Zivilisation besitzt.

III

Ebenso läßt sich noch heute sagen, daß in Griechenland die Welt des Mannes streng von der Welt der Frau getrennt ist. Das wird jedem Beobachter auffallen, der sieht, wie der Mann seine Freizeit verbringt. Es gibt in Griechenland Tavernen oder die sogenannten »Kapheneia« eine Art Kaffeehaus, die nur für Männer bestimmt sind. Dort sitzen die Männer stundenlang, um zu diskutieren und zu spielen. Diese Welt der Kaphenia ist den Frauen streng verschlossen, da eine Frau ein solches Lokal nicht betreten darf. Überhaupt verbringen die meisten Männer in Griechenland ihre Freizeit außerhalb des Hauses. Hier ist die Erklärung wiederum in den sozialen Mißständen dieses Landes zu suchen. Der größte Teil der griechischen Bevölkerung lebt in kleinen und schlechten Wohnungen. Die Überfüllung der wenigen Wohnräume durch die vielköpfigen Familien, die Hitze, die alte, enge Wohnungen oft unerträglich macht und andere durch die Armut bedingte Mißstände treiben den Mann aus dem Haus. Er geht in seine Taverne oder sein Kaphenion, wo er für geringes Geld einen Kaffee bestellt und ungestört seine Freunde sieht und diskutiert. Die Frau bleibt zu Hause bei den Kindern.
Auch im religiösen und kirchlichen Bereich sieht die Welt der Frau anders aus als die des Mannes. Abgeschen davon, daß noch heute in den Kirchen während der Messe die Männer von den Frauen getrennt sitzen, ist die Stellung der Frau in der Kirche grundsätzlich anders als die des Mannes. Als Beweis führe ich das neu in der Kirche eingeführte Amt der Diakonissen an, das sich nur schwer durchsetzen kann, da gewisse Vorurteile die Eingliederung der Frau in den Dienst der Gemeinde erschweren. Eine Ausnahme bilden in dieser Hinsicht die christlichen Laienbewegungen privaten Charakters, die die Frauen mit in den Dienst rufen und ihr viele Möglichkeiten erschließen für eine karitative und missionarische Arbeit. Allerdings arbeiten diese Bewegungen nach Möglichkeit streng nach Geschlechtern getrennt; orientieren ihre Haltung den Frauen gegenüber auf Grund einer sexual- und frauenfeindlichen »Moral« und haben die bürgerlichen Vorstellungen von Ehe und Mitgift sich auch zu eigen gemacht.
Was das Gebiet der Beziehungen der zwei Geschlechter angeht, so sind in Griechenland jahrhundertealte Vorstellungen ungebrochen, die der Gleic~,berechtigung Hohn sprechen. Die herrschende doppelte Moral gesteht dem Manne auf dem Gebiet der Sexualität jede Freiheit zu. Die gleiche Moralvorstellung verurteilt aber jede Frau, die auf diesem Gebiet oder in Liebesbeziehungen überhaupt irgendeine Selbständigkeit entwickelt. Es schadet dem Ansehen des Mannes nicht, vor seiner Ehe mehrere Freundinnen gehabt zu haben. Eine Frau jedoch, die ihre Jungfräulichkeit verlor, hat keine Chance, je zu heiraten. Man kann sehr häufig in der Zeitung lesen, daß ein Vater, Bruder oder Onkel seine Tochter, Schwester oder Nichte tötete, weil diese Mädchen angeblich die Ehre der Familie beleidigten. Dabei handelt es sich oft um harmlose Flirts oder Bekanntschaften, die diese Mädchen ohne Wissen der Familie begannen. Diese für die Frauen bedrückende Situation äußert sich häufig im seelischen Zustand der Frauen und hat auch Rückwirkungen auf ihre äußere Erscheinung. Das Gefühl, nicht frei über sich verfügen. zu können, führt zur Unselbständigkeit, und die ständige Aufsicht der Familie hemmt die gesunde Entwicklung.
So gesehen hat die »Tugend« der Frauen nicht das geringste mit ihren moralischen Überzeugungen zu tun. Sie ist das Produkt der ständigen Angst der Griechin, daß sie eventuell das Ehrgefühl - das »Philotimo«, wie die Griechen sagen - ihres Mannes verletzen kann. Wird das Philotinio eines griechischen Mannes reell oder in seiner Phantasie verletzt, so folgen heftige Auseinandersetzungen in der Familie, die grundsätzlidi auf Kosten der Frauen ausgetragen werden. Wie weit ein Grieche gehen kann, der an die Möglichkeit denkt, daß seine Frau eventuell ihn bzw. sein Ehrgefühl verletzen kann, zeigt folgende, kleine Geschichte, die am 7. November 1970 in einer griechischen Zeitung zu lesen war.[3] Ein in Deutschland lebender und arbeitender Grieche erdolchte am zweiten Tag nach seiner Hochzeit seine junge Frau, und er begründete seine Tat vor der Polizei mit der Behauptung, er könne nicht sicher sein, ob seine Frau ihm auf die Dauer treu bleiben würde.
Heuchelei, Zuwachs der Prostitution, unnatürliche Erscheinungen in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, Zwangsehen etc. sind nur einige der Begleiterscheinungen dieser im 20. Jahrhundert einfach überholten Behandlung der Frau. Gewiß gibt es auch Ausnahmen. Besonders in den Großstädten, an erster Stelle Athen, bahnt sich eine gewisse Änderung dieser Zustände an. Die Regel bleibt aber, daß diejenige Frau, die ihre eigenen Wege in der Gesellschaft gehen will und ihre eigene Persönlichkeit entwickeln möchte, negativ beurteilt und als unmoralisch angesehen wird. Die in den Augen der Gesellschafl ideale Frau unternimmt nichts ohne die Zustimmung der Familie, und sie bemüht sich wenn möglich das Musterbeispiel dessen zu werden, was man in Deutschland um die Jahrhundertwende eine »höhere Tochter« nannte.

IV

Eine Verifizierung meiner Ausführungen über die Stellung der Frau in der neugriechischen Gesellschaft sehe ich in einer interessanten soziologischen Arbeit, die die Griechin Joanna Lambiri der Londoner School of Economics als Dissertation vorlegte.[4] Diese Studie darf im Rahmen der neugriechischen soziologischen Bemühungen als ein guter Anfang bezeichnet werden, dessen Wert darin liegt, daß hier in einer detaillierten, empirischen Untersuchung konkrete Auskünfte über den sozialen Wandel in Griechenland zu finden sind. Deutlich und empirisch belegt treten viele Grundprobleme hervor, die mit diesem Wandel verbunden sind und die sich aus dem Kampf zwischen der Tradition und den durch die Industrie bewirkten neuen Lebensformen ergeben. Ebenso vermittelt uns diese Studie wertvolle empirische Daten, die die Stellung der Frau in der griechischen Gesellschaft und die Gegensätze Stadt/ Land gut illustrieren können. Lambiri versucht selbst,[5] den Zweck ihrer Untersuchung herauszuarbeiten, indem sie vier Punkte nennt, die sie beschäftigten. So erfahren wir, daß sie sich interessiert, 1. für die Motive, die die Mädchen einer kleinen Stadt in Griechenland bewegen, als Arbeiterinnen in eine Fabrik zu gehen oder anders gesagt, für die Faktoren, die den Wandel in einer von der Tradition stark geprägten Gesellschaft begünstigten, 2. für die Hindernisse, die einem solchen Wandel im Wege stehen, 3. für die Einflüsse der Beschäftigung in der Industrie auf die Mentalität und die Lebensführung der Fabrikarbeiterinnen innerhalb von zehn Jahren (1950-196o) und 4. für die Reaktionen der übrigen Bewohner der kleinen Stadt gegenüber den Fabrikarbeiteripnen innerhalb dieses Zeitraumes. Kurzum, durch ihre Studie will die Verfasserin einerseits jene fördernden oder hindernden Faktoren und Bedingungen herausstellen, die der soziale Wandel und besonders die Indtistrialisierung in Griechenland vorfindet, während sie andererseits eine Analyse der Resultate - nach eingetretenem Wandel - versucht.
Lambiri wählte für ihre Untersuchung die griechische Kleinstadt Megara (15 500 Einwohner). Aus dieser Stadt stammen 124 unverheiratete Arbeiterinnen, die in einer Fabrik (=Peiraike-Patraike) in der Nähe von Megara arbeiten und die die Verfasserin für ihre Untersuchung heranzog. Zu diesen Arbeiterinnen kamen noch ihre Mütter (111) und eine Kontrollgruppe von 129 unverheirateten Nichtarbeiterinnen und deren Mütter (112) hinzu.
Die Hauptergebnisse dieser Untersuchung lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. In Megara herrscht die durch die Tradition diktierte Erwartung, daß die Mädchen zu Hause bleiben und daß sie die Keuschheit als den höchsten Wert betrachten. 2. Mädchen, die nicht dieser Rollenerwartung entsprechen, müssen mit Sanktionen rechnen. Eine solche Sanktion ist im Falle der vorliegenden Untersuchung der Spitzname »Katsambissa«[6] (aus Katsambas-Name des Generaldirektors der Fabrik), mit dem man die Mädchen, die in der Fabrik arbeiten, belegte und der eine deutliche moralische Abwertung enthielt. 3. Die meisten Mädchen, die die Erwartungen ihrer Umgebung mißachteten, um in einer Fabrik zu arbeiten, taten es, getrieben von dem Wunsche, Geld zu verdienen und weil sie nur auf diese Weise eine Mitgift erwerben zu können glaubten, die gemäß griechischer Tradition eine unvermeidbare Voraussetzung zur Heirat ist. Am Anfang entschlossen sich Mädchen aus den ärmsten Familien zur Fabrikarbeit, die keine Ausbildung besaßen und die keine Hoffnung hatten, mit Hilfe ihrer Familie eine Mitgift zu bekommen, 5. Der gute Verdienst der Fabrikarbeiterinnen führte dazu, daß sie bald bessere Kleidung als die Nichtarbeiterinnen trugen, was zunächst negative und diskriminierende Auswirkungen hatte. 6. Väter und Brüder leisteten den größten Widerstand gegen die Arbeit in der Fabrik 7.  Mütter dagegen, und zwar diejenigen, die selbst als Landarbeiterinnen gearbeitet hatten, standen der Fabrikarbeit positiv gegenüber. 8. Die Fabrikarbeiterinnen gewannen langsam eine relative Unabhängigkeit. 9. In der Tat lebten sie aber weiter unter dem Einfluß ihrer Familien und ihrer lokalen Umgebung. 1o. Innerhalb von zehn Jahren (1950-1960) hat sich deutlich herausgestellt, daß der durch die Industrie bedingte Wandel in der Lebensführung der Fabrikarbeiterinnen positiver Natur war. So änderte sich langsam die feindliche Einstellung der Einwohner von Megara gegenüber der Beschäftigung der unverheirateten Mädchen in der Industrie, was zugleich auch eine Verbesserung des sozialen Status dieser Mädchen bedeutet.[7]