Vorwort

Ich unternehme den Versuch einer Propädeutik der feministischen Ideengeschichte, einer Rekonstruktion der Entfaltung von Gesellschaftskritik und -theorien durch Frauen, in deren Mittelpunkt das politische Verhältnis »der einen Hälfte der Menschheit, Frauen«, zur »anderen Hälfte, Männer«, steht. Es ist ein Versuch in mehrfacher Hinsicht; denn es gibt keinerlei Vorarbeiten: es gibt keine wissenschaftlichen Editionen der politisch-theoretischen Schriften feministischen Inhalts.
Quellen zur Geschichte der Frauen, bibliographische und biographische Daten sind - mit wenigen Ausnahmen - generell nicht, und wenn, dann nicht systematisch gesammelt. An deutschen Universitäten und Forschungsinstituten gab und gibt es keine Forschung zur Geschichte, Politikgeschichte, Ideengeschichte, Sozialgeschichte, Rechtsgeschichte usf. der weiblichen Bevölkerung, und folglich keine Lehre. Die Wissenschaften sind hier mit Blindheit geschlagen.
Und wie die deutschen Universitäten, so kommen das gesamte Schulsystem, der Kulturbetrieb, die politischen Institutionen und Massenmedien ohne sachliche Informationen, ohne Forschungsergebnisse, ohne Erkennmisse über die historischen und aktuellen Realitäten der weiblichen Bevölkerung aus.
Stattdessen werden die bösartigsten Vorurteile undurchdacht und ohne Zögern reproduziert: Macht kann dumm sein. Machthaber können sich dumm stellen. Machthaber können die Objekte ihrer Macht dumm halten wollen: darum sind die kritischen Ideen von Frauen über Machthaber ein Fundus des Wissens von einiger Tragweite, ein Fundus, der nicht zufällig verschüttet ist unter Bergen von Unkenntnis, Verachtung, Verleumdung und Lüge und der von Frauen wiederentdeckt werden muß.
Wer der Geschichte der Frauen nachgeht, der politischen Bewegung wie ihren geistigen Wegbereiterinnen, findet in der Zeit vor rund hundertachtzig Jahren einen Reflexionsstand, soziale und politisch-theoretische Erkenntnisse - oft im Zusammenhang mit einer ungewöhnlichen politisch-persönlichen Biographie -, deren Wahrheit und Radikalität erstaunlich sind: die Hinwendung zu den Müttern des politischen Denkens wird unversehens zu einem Gang - nicht zurück, sondern vorwärts in eine politische Radikalität des Denkens und Handelns, die in der Gegenwart erst wiederzuentdecken wäre: ich plädiere für eine Renaissance dieser frühen feministischen Erkennmisse, ich plädiere für den Versuch, die feministische Theorie-Diskussion heute durch die Theorien von gestern zu erneuern.
Und ich plädiere dafür, die Geschichte der Frauenbewegungen, besonders die ihrer sozialkritischen Ideen und politischen Gegenvorstellungen wissenschaftlich aufzuarbeiten, für die Theoriebildung fruchtbar zu machen und das feministisch-politische Wissen unter das weibliche Volk zu bringen; das männliche wird sich dann vielleicht auch endlich dafür interessieren müssen.
Meine Kommentierung dieser Theorie-Fragmente hat vorläufigen Charakter, denn man kann es nirgends studieren, man kann nirgends lernen, Theorien zur Frauen-Emanzipation wissenschaftlich zu bearbeiten. Es gibt keine Vorbilder - in ganz Deutschland gibt es nicht eine einzige Professorin für die Politikwissenschaft oder Sozialphilosophie der Frauenfrage (wo es doch Lehrstühle noch für das letzte, abgelegenste und fragwürdigste Arbeitsgebiet gibt) und keine Möglichkeit zur wissenschaftlichen Diskussion. Im Gegenteil, die einen umgebende Ignoranz und die antifeministische Feindseligkeit wirken notwendigerweise lähmend und erstickend.
Ohne die vielfältigen Anregungen feministischer Wissenschaftlerinnen aus den USA, Kate Millett, Eleonor Flexner, Betty Friedan, Alice Rossi, Jo Freeman, um nur einige namentlich zu nennen, wäre meine Arbeit nicht entstanden.
Die geplante Textsammlung mit Textabschnitten aus dem Zeitraum von 1789 bis zur Gegenwart soll einen ersten Eindruck vom politischen Denken nichtkonformer Frauen geben.
Was den gewählten Zeitraum anbetrifft, so wurde der Einschnitt des Jahres 1789 gewählt, weil damit die Geschichte des »bürgerlichen Rechtsstaates« in Europa beginnt, zugleich aber die Geschichte der organisierten feministischen Bewegung gegen eben diesen, gegen die vermeintlich progressive Gesellschaftsordnung.
Es bedeutet keinesfalls, daß vor diesem Zeitpunkt noch keine sozial- und kulturkritischen Schriften von Frauen verfaßt worden wären. Der der Gegenwart näherliegende Zeitabschnitt nach 1789 ist jedoch, was die Geschichte der Emanzipationstheorien anbetrifft, generell so unerforscht und unbekannt, aber für die aktuelle politische Situation so wichtig, weil dieser Geschichtsabschnitt machtvoll in die Gegenwart hineinreicht, daß ich es für sinnvoll erachte, hier zu beginnen.
Jede einzelne Autorin (und jeder Autor) verdiente die vollständige Publikation ihrer (und seiner) Schrift, soweit es sich um umfangreiche Werke handelt, aus welchen hier nur sehr kurze Textstücke ausgewählt werden konnten. Jede verdient, daß ihre Texte gesammelt, gesichtet, publiziert und wissenschaftlich ausgewertet werden. Und es gibt mit Sicherheit noch viele vergessene Autorinnen wiederzuentdecken. Die politische Aktualität ihrer jeweiligen Erkenntnis und die Relevanz des politischen Gegenstandes - Ehe, Arbeit, Lohn, Eigentum, bürgerliche Rechtslosigkeit, Weiblichkeits- und Natur-Ideologie -sind mir bei der Auswahl die wichtigsten Kriterien gewesen. Dabei habe ich heute völlig unbekannte Autorinnen und Schriften, die noch nie ins Deutsche übersetzt, bzw. seit ihrem ersten Erscheinen nicht mehr aufgelegt worden sind, bevorzugt: der Grad ihrer Unbekanntheit scheint in ursächlichem Zusammenhang mit ihrer politischen Radikalität zu stehen.
Die Anregungen, die Frauen in deutschen Ländern aus Frankreich, England und Amerika erhalten haben, waren von großer Bedeutung, auch wenn es eine direkte Rezeption der dort erschienenen Schriften oft nicht gegeben hat: es gab aber eine allgemeine Vorstellung darüber und auch konkrete Nachrichten, daß die Frauen in diesen Ländern freier, mutiger, fortgeschrittener seien als in Deutschland, was für die deutschen Frauen eine Quelle der Hoffnung und Ermutigung war, die sie fähig machte, gegen die demokratisch unterentwickelten, extrem patriarchalen Zustände in Deutschland anzugehen. So haben in der Geschichte der Frauenbewegung die amerikanischen Frauen eine aktivierende Avantgarde-Rolle für die Frauen Deutschlands und vieler anderer Länder gespielt, die sie zeitweise an die englischen Frauen abgaben. Der internationale Zusammenhang der feministischen Ideen und politischen Bewegungen soll durch die Präsenz der Autorinnen aus diesen Ländern und durch die Reihefolge der Kapitel zugleich deutlich werden.
Diese Textauswahl und Kommentierung soll dem Selbststudium von Frauen dienen, vor allen den Studentinnen in den Sozialwissenschaften.  Sie soll den akademisch ausgebildeten Frauen dienen, die zwar ein Studium absolviert, vielleicht sogar einen seltenen Platz im akademischen Betrieb erobern konnten, aber über Frauen nichts lernten und folglich nichts lehren können. Wo es an deutschen Universitäten schon Frauen-Studien geben sollte, sollen die ausgewählten Texte eine Grundlage für die Seminararbeit sein, und wo es sie nicht gibt, dazu anregen, Forschung und Lehre zur Frauenfrage im weitesten Sinne zu fordern und durchzusetzen. Sie sollen den Lehrerinnen aller Schulstufen helfen, Unterrichtseinheiten vorzubereiten, sie sollen Frauen-Kursen an Volkshochschulen und anderen Orten der Erwachsenenbildung wie den Frauengruppen und Frauenzentren zur Information und politischen Selbstbesinnung dienen. Wenn gar einige der Millionen Frauen, die im Deutschen Frauenrat, in den Männer-Parteien und -Gewerkschaften und in »linken« Gruppen oder Bürger-Initiativen organisiert sind, sich ein paar Gedanken dieser frühen feministischen Autorinnen zu eigen machten, wäre das für ihre politische Orientierung sicher nützlich. Ich habe kaum Hoffnung, daß es geschieht; es ist jedoch dringend notwendig, daß Meinungsmacher von rechts bis links, die ihre Vorurteile täglich millionenfach über die Medien verbreiten, ihrer Sorgfaltspflicht, der Pflicht zur Wahrheit, wie der Pflicht, keine Frau wegen ihres Geschlechts zu diskriminieren, mehr folgen als ihren Vorurteilen, ihrem Antifeminismus und ihrer Ignoranz. Ihnen und all den guten »Demokraten« im Lande seien die politischen Denkerinnen dringend empfohlen.

Danksagung

Ich habe keine langjährige Sekretärin und keinen treusorgenden Mann, der mir das Manuskript abgeschrieben hätte.
Ich danke Gertrud Finus, Gerda Guttenberg, Dr. Theresia Sauter und Romina Schmitter für die Übersetzungen aus dem Französischen.
Und ich danke den holländischen Frauen, die mir in letzter Minute beim Abschreiben des Manuskripts geholfen haben.
Im Exil
Amsterdam, Winter 1978/79    
Hannelore Schröder

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