1. Unser öffentliches Leben
Die Entwicklung der Gesellschaft hat in den letzten Jahrzehnten in allen Kulturstaaten der Welt ein ungemein rasches Tempo genommen, das jeden Fortschritt auf irgendeinem Gebiet menschlicher Tätigkeit weiter beschleunigt. Unsere sozialen Verhältnisse sind dadurch in einen früher nie gekannten Zustand der Unruhe, der Gärung und Auflösung versetzt worden.
Die herrschenden Klassen fühlen keinen festen Boden mehr unter ihren Füßen, und die Institutionen verlieren immer mehr die Festigkeit, um dem von allen Seiten heranziehenden Ansturm zu trotzen. Ein Gefühl der Unbehaglichkeit, der Unsicherheit und der Unzufriedenheit hat sich aller Kreise bemächtigt, der höchsten wie der niedersten. Die krampfhaften Anstrengungen, welche die herrschenden Klassen machen, um durch Flickwerk und Stückwerk am sozialen Körper diesem ihnen unerträglichen Zustand ein Ende zu machen, erweisen sich als eitel, weil als unzureichend. Die daraus erwachsende steigende Unsicherheit vermehrt ihre Unruhe und ihr Unbehagen. Kaum haben sie in das baufällige Haus in Gestalt irgendeines Gesetzes einen Balken eingezogen, so entdecken sie, daß an zehn anderen Punkten ein solcher noch nötiger wäre. Dabei befinden sie sich selbst untereinander beständig im Streit und in schweren Meinungsdifferenzen. Was der einen Partei notwendig dünkt, um die immer unzufriedener werdenden Massen einigermaßen zu beruhigen und zu versöhnen, geht der anderen zu weit, das betrachtet sie als unverantwortliche Schwäche und Nachgiebigkeit, die nur das Gelüste nach größeren Konzessionen erwecke. Dafür sprechen in schlagender Weise die endlosen Verhandlungen in allen Parlamenten, durch die immer neue Gesetze und Einrichtungen geschaffen werden, ohne daß man zur Ruhe und Befriedigung kommt. Innerhalb der herrschenden Klassen selbst sind Gegensätze vorhanden, die zum Teil unüberbrückbar sind, und diese verschärfen noch die sozialen Kämpfe. Die Regierungen - und zwar nicht nur in Deutschland - schwanken wie ein Rohr im Winde; stützen müssen sie sich, denn ohne Stütze können sie nicht existieren, und so lehnen sie sich bald auf diese, bald auf jene Seite. Fast in keinem vorgeschrittenen Staate Europas besitzt eine Regierung eine dauernde parlamentarische Mehrheit, auf die sie mit Sicherheit rechnen kann. Die sozialen Gegensätze bringen die Majoritäten in Zerfall und Auflösung; und der ewig wechselnde Kurs, insbesondere in Deutschland, untergräbt den letzten Rest von Vertrauen, der den herrschenden Klassen zu sich selbst noch geblieben ist. Heute ist die eine Partei Amboß, die andere Hammer, morgen umgekehrt. Die eine reißt ein, was die andere erst mühselig aufgebaut hat. Die Verwirrung wird immer größer, die Unzufriedenheit immer nachhaltiger, die Friktionen häufen und mehren sich und ruinieren in Monaten mehr Kräfte als früher in ebensoviel Jahren. Daneben steigen die materiellen Anforderungen in Form der verschiedensten Abgaben und Steuern und wachsen die öffentlichen Schulden ins Maßlose.
Nach seiner Natur und seinem Wesen ist der Staat ein Klassenstaat. Wir sahen, wie derselbe notwendig wurde, um das entstandene Privateigentum zu schützen und die Beziehungen der Eigentümer unter sich und zu den Nichteigentümern durch staatliche Einrichtungen und Gesetze zu ordnen. Welche Formen immer im Laufe der geschichtlichen Entwicklung die Eigentumsaneignung annimmt, es liegt in der Natur des Eigentums, daß die größten Eigentümer die mächtigsten Personen im Staate sind und denselben nach ihren Interessen gestalten. Es liegt aber auch im Wesen des Privateigentums, daß der einzelne nie genug von demselben erhalten kann und mit allen Mitteln auf seine Vermehrung bedacht ist. Er ist also bemüht, den Staat so zu gestalten, daß er mit Hilfe desselben seine Absicht in möglichst vollkommenem Maß erreichen kann. So werden Gesetze und Einrichtungen des Staates sozusagen von selbst Klassengesetze und Klasseneinrichtungen. Aber die Staatsgewalt und alle, die an der Aufrechterhaltung der bestehenden staatlichen Ordnung interessiert sind, wären nicht imstande, dieselbe auf die Dauer gegen die Masse derer, die kein Interesse an derselben haben, aufrechtzuerhalten, wenn diese Masse zur Erkenntnis der wahren Natur dieser bestehenden Ordnung gelangte. Das muß also um jeden Preis verhütet werden. Zu diesem Zwecke muß die Masse in möglichster Unwissenheit über die Natur der bestehenden Zustände erhalten werden. Nicht genug damit. Man muß sie lehren, daß die bestehende Ordnung ewig war und ewig bleiben werde, daß sie beseitigen wollen bedeute, gegen eine von Gott selbst eingesetzte Ordnung sich aufzulehnen, weshalb die Religion in den Dienst dieser Ordnung genommen wird. Je unwissender und abergläubischer die Massen sind, um so vorteilhafter; sie darin zu erhalten liegt also im Staats- im »öffentlichen Interesse«, das heißt im Interesse der Klassen, die in dem bestehenden Staate die Schutzanstalt für ihre Klasseninteressen sehen. Das ist neben den Eigentümern die staatliche und kirchliche Hierarchie, die alle zusammen zu gemeinsamer Arbeit für den Schutz ihrer Interessen sich verbinden. Aber mit dem Streben nach Erwerb von Eigentum und der Mehrung der Eigentümer hebt sich die Kultur. Es wird der Kreis der Strebenden größer, die an den gewonnenen Fortschritten teilnehmen wollen und denen dieses auch bis zu einem gewissen Grade gelingt. Es entsteht auf neuer Basis eine neue Klasse, die aber von der herrschenden Klasse nicht als gleichberechtigt und vollwertig anerkannt wird, aber alles daransetzt, es zu werden. Schließlich entstehen neue Klassenkämpfe und sogar gewaltsame Revolutionen, durch welche die neue Klasse ihre Anerkennung als mit herrschende Klasse erzwingt, insbesondere dadurch, daß sie sich als Anwalt der großen Masse der Unterdrückten und Ausgebeuteten aufspielt und mit deren Hilfe den Sieg erringt. Sobald aber die neue Klasse zur Mitmacht und Mitherrschaft gelangte, verbündet sie sich mit ihren ehemaligen Feinden gegen ihre ehemaligen Verbündeten, und nach einiger Zeit beginnen abermals die Klassenkämpfe. Indem aber die neue herrschende Klasse, die mittlerweile den Charakter ihrer Existenzbedingungen der ganzen Gesellschaft aufdrückte, ihre Macht und ihren Besitz nur dadurch ausdehnen kann, daß sie einen Teil ihrer Kulturerrungenschaften auch der von ihr unterdrückten und ausgebeuteten Klasse zukommen läßt, erhöht sie deren Leistungsfähigkeit und Einsicht. Damit liefert sie dieser aber selbst die Waffen zu ihrer eigenen Vernichtung. Der Kampf der Massen richtet sich nunmehr gegen alle Klassenherrschaft, in welcher Gestalt immer diese vorhanden ist. Da diese letzte Klasse das moderne Proletariat ist, so wird es die historische Mission desselben, nicht nur die eigene Befreiung, sondern auch die Befreiung aller anderen Unterdrückten, also auch der Frauen, herbeizuführen. Die Natur des Klassenstaats bedingt jedoch nicht nur, daß die ausgebeuteten Klassen in möglichster Rechtlosigkeit erhalten werden, sie bedingt auch, daß die Kosten und Lasten zur Erhaltung des Staates in erster Linie auf deren Schultern gelegt werden. Das ist um so leichter, wenn die Art der Lasten- und Kostenaufbringung unter Formen stattfindet, die ihren eigentlichen Charakter verschleiern. Es liegt auf der Hand, daß hohe direkte Steuern zur Deckung der öffentlichen Ausgaben um so rebellischer wirken müssen, je niedriger das Einkommen ist, von dem sie erhoben werden. Es gebietet also die Klugheit den herrschenden Klassen, hier Maß zu halten und an Stelle der direkten die indirekten, das heißt Steuern und Abgaben auf die notwendigsten Verbrauchsartikel zu legen, weil hierdurch eine Verteilung der Lasten auf den täglichen Verbrauch stattfindet, die für die meisten unsichtbar im Preise der Waren zum Ausdruck kommen und sie über die Steuerquoten, die sie zahlen, täuschen. Wieviel Brot-, Salz-, Fleisch-, Zucker-, Kaffee-, Bier-, Petroleumsteuer oder Zoll usw. jemand zahlt, ist den meisten unbekannt und schwer zu berechnen; sie ahnen nicht, wie stark sie geschröpft werden. Und diese Abgaben wachsen im Verhältnis zur Kopfzahl ihrer Familienglieder, sie bilden also die ungerechteste Besteuerungsweise, die sich denken läßt. Umgekehrt prahlen die besitzenden Klassen mit den von ihnen gezahlten direkten Steuern und messen sich nach der Höhe derselben die politischen Rechte zu, die sie der nichtsbesitzenden Klasse verweigern. Dazu kommen die Staatshilfe und Staatsunterstützung, die sich die besitzenden Klassen durch Steuerprämien und Zölle auf alle möglichen Lebensmittel sowie durch sonstige Beihilfen in Höhe von vielen Hunderten Millionen jährlich auf Kosten der Masse gewähren. Es kommen weiter hinzu die Riesenausbeutungen durch Preiserhöhungen auf die verschiedensten Bedarfsartikel, die die großkapitalistischen Unternehmerorganisationen durch Ringe, Trusts und Syndikate vornehmen und die der Staat durch seine Wirtschaftspolitik befördert oder widerspruchslos duldet, wenn nicht sogar durch eigene Anteilnahme unterstützt. Solange die ausgebeuteten Klassen über die Natur aller dieser Maßregeln im dunkeln gehalten werden können, bergen sie für Staat und herrschende Gesellschaft keine Gefahr. Sobald diese aber zur Kenntnis der geschädigten Klassen kommen - und die steigende politische Bildung der Massen befähigt sie immer mehr dazu - erregen diese Maßregeln, deren schreiende Ungerechtigkeit auf der Hand liegt, die Erbitterung und Empörung der Massen. Der letzte Funke von Glauben an das Gerechtigkeitsgefühl der herrschenden Gewalten wird zerstört, und die Natur des Staates, der solche Mittel anwendet, und das Wesen einer Gesellschaft, die sie fördert, wird erkannt. Der Kampf bis zu beider Vernichtung ist die Folge. In dem Streben, den widerstreitendsten Interessen gerecht zu werden, häufen Staat und Gesellschaft Organisationen auf Organisationen, aber keine alte wird gründlich beseitigt und keine neue gründlich durchgeführt. Man bewegt sich in Halbheiten, die nach keiner Seite befriedigen. Die aus dem Volksleben emporwachsenden Kulturbedürfnisse erfordern, soll nicht alles aufs Spiel gesetzt werden, einige Berücksichtigung, sie erheischen auch in ihrer verstümmelten Ausführung bedeutende Opfer, um so bedeutendere, weil überall eine Menge Parasiten vorhanden sind. Daneben bleiben aber alle mit den Kulturzwecken in Widerspruch stehenden Institutionen nicht nur aufrechterhalten, sie werden vielmehr infolge der bestehenden Klassengegensätze erweitert und werden um so lästiger und drückender, wie die steigende Einsicht sie immer lauter für überflüssig erklärt. Polizeiwesen, Militärwesen, Gerichtsorganisation, Gefängnisse, der ganze Verwaltungsapparat werden immer ausgedehnter und kostspieliger, aber es wächst dadurch weder die äußere noch die innere Sicherheit, vielmehr tritt das Umgekehrte ein. Ein ganz unnatürlicher Zustand hat sich allmählich in den internationalen Beziehungen zwischen den einzelnen Nationen herausgebildet. Diese Beziehungen mehren sich in dem Maße, wie die Warenproduktion zunimmt, der Austausch der Warenmassen mit Hilfe stetig sich vervollkommnender Verkehrsmittel ein immer leichterer wird und die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Errungenschaften Gemeingut aller Völker werden. Man schließt Handels- und Zollverträge, baut mit Hilfe internationaler Mittel kostspielige Verkehrswege (Suezkanal, St.-Gotthard-Tunnel usw.). Die einzelnen Staaten unterstützen mit großen Summen Dampferlinien, die den Verkehr zwischen den verschiedensten Ländern der Erde steigern helfen. Man gründete den Weltpostverein - ein Kulturfortschritt ersten Ranges - beruft internationale Kongresse für alle möglichen praktischen und wissenschaftlichen Zwecke, verbreitet die vornehmsten Geisteserzeugnisse der einzelnen Nationen durch Übersetzungen in die verschiedenen Sprachen der Hauptkulturvölker und arbeitet durch das alles immer mehr auf die Internationalisierung und Verbrüderung der Völker hin. Aber der politische und militärische Zustand Europas und der Kulturwelt steht mit dieser Entwicklung in einem seltsamen Gegensatz. Nationalitätenhaß und Chauvinismus werden hüben und drüben künstlich genährt. Allerwärts suchen die herrschenden Klassen den Glauben zu erhalten, es seien die Völker, die, eins dem anderen todfeindlich gesinnt, nur auf den Augenblick warten, daß eins über das andere herfallen könne, um es zu vernichten. Der Konkurrenzkampf der Kapitalistenklasse der einzelnen Länder unter sich nimmt auf internationalem Gebiet den Charakter eines Kampfes der Kapitalistenklasse eines Landes gegen die des anderen an und ruft, unterstützt von der politischen Blindheit der Massen, einen Wettkampf der militärischen Rüstungen hervor, wie die Welt nie ähnliches gesehen hat. Dieser Wettkampf schuf Armeen von einer Größe, wie sie nie zuvor existierten, er schuf Mord- und Zerstörungswerkzeuge von einer Vollkommenheit für den Land- und Seekrieg, wie sie nur in einem Zeitalter vorgeschrittenster Technik wie dem unseren möglich sind. Dieser Wettkampf erzeugt eine Entwicklung der Zerstörungsmittel, die schließlich zur Selbstzerstörung führt. Die Unterhaltung der Armeen und Marinen erfordert Opfer, die mit jedem Jahre größer werden und zuletzt das reichste Volk zugrunde richten.[...]
Unter diesen Ausgaben leiden die Bildungs- und Kulturzwecke aufs höchste, es werden die dringendsten Kulturaufgaben vernachlässigt, und es erlangen die Ausgaben für den äußeren Schutz ein Übergewicht, daß selbst der Staatszweck untergraben wird. Die immer größer werdenden Armeen umfassen den gesundesten und kräftigsten Teil der Nationen, für ihre Entwicklung und Ausbildung werden alle geistigen und physischen Kräfte in einer Weise in Anspruch genommen, als sei die Ausbildung für den Massenmord die höchste Aufgabe unserer Zeit. Dabei werden Kriegs- wie Mordwerkzeuge in einem fort verbessert, sie haben eine Vollkommenheit in bezug auf Schnelligkeit, Ferntragfähigkeit und Durchschlagskraft erlangt, die sie für Freund und Feind furchtbar macht. Wird eines Tages dieser ungeheure Apparat in Tätigkeit gesetzt - wobei die sich feindlich gegenüberstehenden Mächte Europas mit 16 bis 20 Millionen Männern ins Feld rücken - so wird sich zeigen, daß er unregierbar und unlenkbar geworden ist. Es gibt keinen General, der solche Massen kommandieren kann, kein Schlachtfeld, das groß genug ist, um sie aufzustellen, und keinen Verwaltungsapparat, der auf die Dauer sie zu ernähren vermag. Im Falle von Schlachten fehlen die Hospitäler, um die Zahl der Verwundeten unterzubringen, und die Beerdigung der zahlreichen Toten wird fast zur Unmöglichkeit. Nimmt man hinzu die furchtbaren Störungen und Verwüstungen, die künftig ein europäischer Krieg auf wirtschaftlichem Gebiet anrichtet, so darf man ohne Übertreibung sagen: Der nächste große Krieg ist der letzte Krieg. Die Zahl der Bankrotte wird eine nie da gewesene sein. Die Ausfuhr stockt, wodurch Tausende von Fabriken zum Stillstand kommen; die Lebensmittelzufuhr stockt, wodurch enorme Teuerung der Lebensmittel die Folge ist, und die Zahl der Familien, deren Ernährer im Felde steht und die unterstützt werden müssen, beläuft sich auf Millionen. Woher aber die Mittel nehmen? So kostet zum Beispiel das Deutsche Reich die Haltung der Armee und der Flotte auf Kriegsfuß jeden Tag 45 bis 50 Millionen Mark.
Der politisch-militärische Zustand Europas hat eine Entwicklung genommen, die leicht mit einer großen Katastrophe enden kann, welche die bürgerliche Gesellschaft in den Abgrund reißt. Auf der Höhe ihrer Entwicklung hat diese Gesellschaft Zustände geschaffen, die ihre Existenz unhaltbar machen, sie bereitet sich den Untergang mit Mitteln, die sie selbst erst als die revolutionärste aller bisher da gewesenen Gesellschaften schuf. In eine verzweifelte Lage gelangt allmählich ein großer Teil unserer Kommunen, die kaum noch wissen, wie sie die jährlich sich steigernden Ansprüche befriedigen sollen. Namentlich sind es unsere rasch wachsenden Großstädte und die Industrieorte, an welche die beschleunigte Bevölkerungszunahme eine Menge Anforderungen stellt, denen die in der Mehrzahl vermögenslosen Gemeinden nicht anders gerecht werden können als durch Auferlegung hoher Steuern und Aufnahme von Schulden. Schulen-und Straßenbauten, Beleuchtungs-, Beschleusungs- und Wasseranlagen, Ausgaben für Gesundheits-, Wohlfahrts-und Bildungszwecke, für Polizei und Verwaltung steigern sich von Jahr zu Jahr. Daneben macht die gut situierte Minorität überall die kostspieligsten Ansprüche an das Gemeinwesen. Sie verlangt höhere Bildungsanstalten, den Bau von Theatern und Museen, die Anlegung feiner Stadtviertel und Parks mit der entsprechenden Beleuchtung, Pflasterung usw. Mag die Majorität der Bevölkerung über diese Bevorzugung klagen, sie liegt in der Natur der Verhältnisse. Die Minorität hat die Macht, und sie gebraucht sie, um ihre Kulturbedürfnisse möglichst auf Kosten der Gesamtheit zu befriedigen. An sich läßt sich auch gegen diese gesteigerten Kulturbedürfnisse nichts einwenden, denn sie sind ein Fortschritt, der Fehler ist nur, daß sie in der Hauptsache den besitzenden Klassen zugute kommen, während alle daran teilnehmen sollten. Ein weiterer Übelstand ist, daß die Verwaltung öfter nicht die beste und kostspielig ist. Nicht selten sind auch die Beamten unzulänglich und haben für die vielseitigen, oft großes Sachverständnis voraussetzenden Erfordernisse keine genügenden Kenntnisse. Die Gemeindeberater haben aber meist für ihre private Existenz so viel zu tun und zu sorgen, daß sie die geforderten Opfer für gründliche Ausübung ihrer Pflichten nicht zu bringen vermögen. Öfter werden auch diese Stellungen zur Begünstigung von Privatinteressen und zu schwerer Schädigung des Gemeinwesens benutzt. Die Folgen fallen auf die Steuerzahler. An eine gründliche Anderung dieser Zustände, die einigermaßen befriedigte, kann die Gesellschaft nicht denken. In welcher Form immer Steuern erhoben werden, die Unzufriedenheit steigt. In wenigen Jahrzehnten sind die meisten dieser Kommunen außerstande, in der gegenwärtigen Form der Verwaltung und Beitragsaufbringung ihre Ansprüche noch zu befriedigen. Auf dem Gebiet der Kommune stellt sich wie im Staatsleben die Notwendigkeit zu Neugestaltungen von Grund aus heraus, denn an sie werden die größten Anforderungen für Kulturzwecke gestellt, sie bildet den Kern, von dem aus die gesellschaftliche Umgestaltung, sobald der Wille und die Macht dazu vorhanden sein werden, auszugehen hat. Aber wie soll dem Genüge geschehen, wo gegenwärtig die Privatinteressen alles beherrschen und diesen die Gemeininteressen hintangesetzt werden? Das ist, mit wenigen Worten, der Zustand in unserem öffentlichen Leben, und dieser ist nur das Spiegelbild des sozialen Zustandes der Gesellschaft.
2. Verschärfung der Klassengegensätze
In unserem sozialen Leben wird der Kampf um die Existenz immer schwieriger. Der Krieg aller gegen alle ist in heftigster Weise entbrannt und wird unbarmherzig, oft ohne Wahl der Mittel, geführt. Der Satz »Ôte-toi de là, que je m'y mette« (Geh weg da, damit ich mich hinsetze) wird mit kräftigen Ellenbogenstößen, mit Püffen und Kniffen in der Praxis des Lebens verwirklicht. Der Schwächere muß dem Stärkeren weichen. Wo die materielle Kraft, die Macht des Geldes, des Besitzes nicht reicht, werden die raffiniertesten und nichtswürdigsten Mittel in Anwendung gebracht, uni ans Ziel zu kommen. Lüge, Schwindel, Betrug, falsche Wechsel, falsche Eide, die schwersten Verbrechen werden begangen, um das ersehnte Ziel zu erreichen. Wie in diesem Kampfe einer dem anderen gegenübertritt, so Klasse gegen Klasse, Geschlecht gegen Geschlecht, Alter gegen Alter. Der Nutzen ist der einzige Regulator für die menschlichen Beziehungen, jede andere Rücksicht muß weichen. Tausende und aber Tausende von Arbeitern und Arbeiterinnen werden, sobald der Vorteil es gebietet, aufs Pf laster geworfen und sind, nachdem sie das letzte, was sie besaßen, zusetzten, auf die öffentliche Wohltätigkeit und die Zwangswanderschaft angewiesen. Die Arbeiter reisen sozusagen in Herden von Ort zu Ort, die Kreuz und die Quere durch die Lande, und werden von der Gesellschaft mit um so größerer Furcht und mit um so tieferem Abscheu betrachtet, als mit der Dauer ihrer Arbeitslosigkeit ihr Äußeres reduziert und in weiterer Folge auch ihr Inneres demoralisiert wird. Die honette Gesellschaft hat keine Ahnung, was das heißt, monatelang sich die einfachsten Bedürfnisse für Ordnung und Reinlichkeit versagen zu müssen, mit hungrigem Magen von Ort zu Ort zu wandern und meist nichts als schlecht verhehlten Abscheu und Verachtung gerade von denen zu ernten, welche die Stützen dieses Systems sind. Die Familien dieser Armen leiden die gräßlichste Not und fallen der öffentlichen Armenpflege anheim. Nicht selten treibt die Verzweiflung die Eltern zu den schrecklichsten Verbrechen an sich und an den Kindern, zum Mord und Selbstmord. Namentlich mehren sich in Zeiten der Krise diese Verzweiflungsakte in erschreckendem Maße. Aber die herrschenden Klassen stört dieses nicht. In derselben Zeitungsnummer, die solche Taten der Not und Verzweiflung meldet, stehen die Berichte über rauschende Festlichkeiten und glänzende offizielle Schaustellungen, als schwämme alles in Freude und Überfluß. Die allgemeine Not und der immer schwerer werdende Kampf um die Existenz jagen Frauen und Mädchen immer zahlreicher der Prostitution und dem Verderben in die Arme. Demoralisation, Roheit und Verbrechen häufen sich, und was prosperiert, sind die Gefängnisse, die Zuchthäuser und sogenannten Besserungsanstalten, welche die Masse der Insassen kaum zu fassen vermögen. Die Verbrechen stehen in engster Beziehung zu dem sozialen Zustand der Gesellschaft, was diese allerdings nicht wahrhaben will. Sie steckt wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand, um die sie anklagenden Zustände nicht eingestehen zu müssen, und lügt sich zur Selbsttäuschung vor, daran sei nur die »Faulheit« und »Genußsucht« der Arbeiter und ihr Mangel an »Religion« schuld. Das ist Selbstbetrug der schlimmsten oder Heuchelei der widrigsten Art. Je ungünstiger der Zustand der Gesellschaft für die Mehrheit ist, um so zahlreicher und schwerer sind die Verbrechen. Der Kampf um das Dasein nimmt seine roheste und gewalttätigste Gestalt an, er erzeugt einen Zustand, in dem der eine in dem anderen seinen Todfeind erblickt. Die gesellschaftlichen Bande lockern sich, und der Mensch steht als Feind dem Menschen gegenüber.[1]
Die herrschenden Klassen, die den Dingen nicht auf den Grund sehen oder nicht sehen wollen, versuchen nach ihrer Art den übeln zu begegnen. Nehmen Armut, Not und infolge davon Demoralisation und Verbrechen zu, so sucht man nicht nach der Quelle des Übels, um diese zu verstopfen, sondern man bestraft die Produkte dieser Zustände. Und je größer die übel werden und die Zahl der Übeltäter sich vermehrt, um so härtere Verfolgungen und Strafen meint man anwenden zu müssen. Man glaubt, den Teufel mit Beelzebub austreiben zu können. Auch Professor Haeckel findet es in der Ordnung, daß man gegen Verbrechen mit möglichst schweren Strafen vorgeht und namentlich die Todesstrafe nachdrücklich anwendet.[2] Er ist darin mit den Rückschrittlern aller Schattierungen in schönster Übereinstimmung, die ihm sonst todfeindlich gesinnt sind. Haeckel meint, unverbesserliche Verbrecher und Taugenichtse müßten wie Unkraut ausgerottet werden, das den Pflanzen Licht, Luft und Bodenraum nimmt. Hätte Haeckel sich auch mit dem Studium der Sozialwissenschaft befaßt, statt sich ausschließlich mit Naturwissenschaft zu beschäftigen, er würde wissen, daß diese Verbrecher in nützliche, brauchbare Glieder der menschlichen Gesellschaft umgewandelt werden könnten, falls ihnen die Gesellschaft entsprechende Existenzbedingungen bieten würde. Er würde finden, daß Vernichtung oder Unschädlichmachung des einzelnen Verbrechers sowenig das Entstehen neuer Verbrechen verhindert, wie wenn man auf einem Acker zwar das Unkraut beseitigt, aber übersieht, Wurzeln und Samen mit zu vernichten. Die Bildung schädlicher Organismen absolut in der Natur zu verhüten wird dem Menschen nie möglich sein, aber seine eigene, durch ihn selbst geschaffene Gesellschaftsorganisation so zu verbessern, daß sie günstige Existenzbedingungen für alle schafft, gleiche Entwicklungsfreiheit jedem einzelnen gibt, damit er es nicht mehr nötig hat, seinen Hunger oder seinen Eigentumstrieb oder seinen Ehrgeiz auf Kosten anderer zu befriedigen, das ist möglich. Man studiere die Ursachen der Verbrechen und beseitige sie, und man wird die Verbrechen beseitigen.[3] Diejenigen, welche die Verbrechen beseitigen wollen, indem sie die Ursachen dazu beseitigen, können sich selbstverständlich mit - gewaltsamen Unterdrückungsmitteln nicht befreunden.
Sie können die Gesellschaft nicht hindern, sich in ihrer Art gegen die Verbrecher zu schützen, die sie in ihrem Treiben unmöglich gewähren lassen kann, aber sie verlangen um so dringender die Umgestaltung der Gesellschaft von Grund aus, das heißt die Beseitigung der Ursachen der Verbrechen. Der Zusammenhang zwischen dem Sozialzustand der Gesellschaft und den Vergehen und Verbrechen ist von Statistikern und Sozialpolitikern vielfach nachgewiesen worden.[4] Eines der naheliegendsten Vergehen das unsere Gesellschaft ungeachtet aller christlichen Lehren von der Wohltätigkeit als Vergehen ansieht - ist in Zeiten schlechten Geschäftsganges die Bettelei. Da belehrt uns die Statistik des Königreichs Sachsen, daß in dem Maße, wie die große Absatzkrise zunahm, die in Deutschland 1890 begann und 1892 bis 1893 ihren Höhepunkt erreichte, auch die Zahl der wegen Bettelei gerichtlich bestraften Personen stieg. Im Jahre 1890 wurden wegen dieses Deliktes 8815, 1891 10075 und 1892 13120 Personen bestraft. Ähnlich in Österreich, wo im Jahre 1891 wegen Vagabundage und Bettelei 90926 Personen verurteilt wurden, im Jahre 1892 98 998.[5] Das ist eine starke Steigerung. Massenproletarisierung auf der einen mit steigendem Reichtum auf der anderen Seite ist überhaupt die Signatur unserer Periode. Die Tatsache, daß in den Vereinigten Staaten fünf Männer, J. D. Rockefeller, der unlängst verstorbene Harriman, J. Pierpont Morgan, W. K. Vanderbilt und J. Gould, im Jahre 1900 zusammen über 3200 Millionen Mark besaßen, und ihr Einfluß ausreichte, um das ökonomische Leben der Vereinigten Staaten und auch teilweise Europas zu beherrschen, zeigt die Richtung der Entwicklung, in der wir uns befinden. In allen Kulturländern bilden die großen Kapitalistenvereinigungen die bemerkenswerteste Erscheinung der neueren Zeit, deren sozialer und politischer Einfluß immer maßgebender wird.