1. Erziehung zur Ehe
Daß gegenwärtig das weibliche Geschlecht geistig im Durchschnitt unter dem männlichen steht, darüber dürfte keine Meinungsverschiedenheit bestehen. Balzac, der durchaus kein Frauenfreund war, behauptete zwar: »Eine Frau, die eine männliche Bildung erhalten, besitzt in der Tat die glänzendsten und fruchtbarsten Eigenschaften zur Begründung ihres eigenen Glückes und das ihres Gatten«, und Goethe, der Frauen und Männer seiner Zeit gut kannte, äußert bissig in Wilhelm Meisters Lehrjahren (Bekenntnisse einer schönen Seele): »Man hat die gelehrten Weiber lächerlich gemacht, und man wollte auch die unterrichteten nicht leiden, wahrscheinlich, weil man für unhöflich hielt, so viel unwissende Männer zu beschämen«, aber dadurch wird an der Tatsache, daß im allgemeinen die Frauen geistig hinter den Männern zurückstehen, nichts geändert. Dieser Unterschied muß auch vorhanden sein, weil die Frau nur ist, wozu sie der Mann als ihr Beherrscher gemacht hat. Die Bildung der Frau ist noch mehr als jene des Proletariers von jeher vernachlässigt worden, und was gegenwärtig Besseres geleistet wird, ist unzulänglich. Wir leben in einer Zeit, in der das Bedürfnis nach Ideenaustausch in allen Kreisen wächst, und da stellt sich die vernachlässigte geistige Ausbildung der Frau als ein großer Fehler heraus, der sich an dem Manne rächt.
Bei dem Manne richtet sich die Ausbildung, das behauptet man wenigstens, obgleich oft der Zweck durch die angewandten Mittel nicht erreicht wird, vielfach auch nicht erreicht werden soll, auf die Entwicklung des Verstandes, die Schärfung des Denkvermögens, die Erweiterung des realen Wissens und die Festigung der Willenskraft, kurz, auf die Ausbildung der Verstandesfunktionen. Hingegen erstreckt sich bei der Frau die Ausbildung der höheren Stände hauptsächlich auf die Vertiefung des Gemüts, auf formale und schöngeistige Bildung, durch die nur ihre Nervenreizbarkeit und Phantasie erhöht wird, wie Musik, Belletristik, Kunst, Poesie. Das ist das Verkehrteste, was geschehen kann. Hier zeigt sich, daß die Mächte, die über das Bildungsmaß der Frau zu bestimmen haben, sich nur leiten lassen von ihren Vorurteilen über das Wesen des weiblichen Charakters und die beschränkte Lebensstellung der Frau. Das Gemütsleben und die Phantasie der Frau dürfen nicht noch mehr entwickelt werden, was ihre Anlage zur Nervosität nur steigert, sondern es soll, so gut wie bei dem Mann, auch bei ihr die Verstandestätigkeit entwickelt und sie mit den Erscheinungen des praktischen Lebens vertraut gemacht werden.
Für beide Geschlechter wäre es von größtem Vorteil, besäße die Frau an Stelle überschüssigen Gemüts, das oft recht ungemütlich wird, eine gute Portion geschärften Verstandes und exakter Denkfähigkeit, an Stelle nervöser Überreiztheit und verschüchterten Wesens Charakterfestigkeit und physischen Mut, statt des schöngeistigen Wissens, so weit sie solches überhaupt besitzt, Kenntnis von Welt und Menschen und natürlichen Kräften. Im allgemeinen ist bisher das Gemüts- und Seelenleben der Frau ins Maßlose genährt, hingegen ihre Verstandesentwicklung gehemmt, schwer vernachlässigt und unterdrückt worden. Sie leidet infolgedessen buchstäblich an Hypertrophie des Gemüts- und Geisteslebens und ist darum meist jedem Aberglauben und Wunderschwindel zugänglich, ein überdankbarer Boden für religiöse und sonstige Scharlatanerien, ein gefügiges Werkzeug für jede Reaktion. Die bornierte Männerwelt beklagt das häufig, weil sie darunter leidet, aber sie ändert es nicht, weil sie noch selbst in der großen Mehrheit bis über die Ohren in Vorurteilen steckt. Dadurch, daß die Frauen fast allgemein wie geschildert sind, sehen sie die Welt anders als die Männer, und damit ist abermals eine starke Quelle von Differenzen zwischen beiden Geschlechtern geschaffen. Die Beteiligung am öffentlichen Leben ist heute für jeden Mann eine seiner wesentlichsten Pflichten; daß viele Männer das noch nicht begreifen, ändert an der Sache nichts. Aber der Kreis derjenigen wird immer größer, die erkennen, daß die öffentlichen Institutionen im innigsten Zusammenhang stehen mit den privaten Beziehungen des einzelnen, daß Wohl und Wehe der Person und Familie weit mehr vom Zustand der öffentlichen Einrichtungen als von persönlichen Eigenschaften und Handlungen abhängen. Man erkennt, daß die höchste Kraftanstrengung des einzelnen gegen Mängel, die in dem Zustand der Dinge liegen und seine Lage bestimmen, machtlos ist. Andererseits erfordert der Kampf um die Existenz weit höhere Anstrengungen als früher. Es werden heute fast allgemein Anforderungen an den Mann gestellt, die seine Zeit und Kräfte in immer höherem Maße in Anspruch nehmen. Aber die unwissende, indifferente Frau steht ihm verständnislos gegenüber. Man kann sogar sagen, daß die geistige Differenzierung zwischen Mann und Frau heute größer ist als früher, als die Verhältnisse noch kleine und enge waren und dem Verständnis der Frau näher lagen. Ferner nimmt gegenwärtig die Beschäftigung mit öffentlichen Angelegenheiten eine große Zahl Männer in einem früher nicht erkannten Maße in Anspruch, was ihren Gesichtskreis erweitert, sie aber auch dem häuslichen Kreise mehr und mehr entfremdet. Die Frau fühlt sich dadurch zurückgesetzt, und eine neue Quelle zu Differenzen ist geöffnet. Nur selten versteht der Mann, sich mit der Frau zu verständigen und die Frau zu überzeugen. In der Regel hat der Mann die Ansicht, daß, was er wolle, die Frau nichts angehe, sie verstehe es nicht. Er nimmt sich nicht die Mühe, sie aufzuklären. »Das verstehst du nicht«, ist die stereotype Antwort, sobald die Frau klagt, daß er sie hintansetze.
Das Nichtverständnis der Frauen wird durch den Unverstand der meisten Männer nur gefördert. Ein günstigeres Verhältnis bildet sich zwischen Mann und Frau im Proletariat heraus, insofern beide erkennen, daß sie an dem gleichen Strange ziehen und es für ihre menschenwürdige Zukunft nur ein Mittel gibt: die gründliche gesellschaftliche Umgestaltung, die alle zu freien Menschen macht. In dem Maße, wie diese Erkenntnis sich auch unter den Frauen des Proletariats immer mehr verbreitet, idealisiert sich, trotz Not und Elend, ihr Eheleben. Beide Teile haben jetzt ein gemeinsames Ziel, nach dem sie streben, und eine unversiegbare Quelle der Anregung durch den Meinungsaustausch, zu dem ihr gemeinsamer Kampf sie führt. Die Zahl der Proletarierfrauen, die zu dieser Erkenntnis kommt, wird mit jedem Jahre größer. Hier entwickelt sich eine Bewegung, die von ausschlaggebender Bedeutung für die Zukunft der Menschheit ist. In anderen Ehen machen sich die Bildungs- und Anschauungsdifferenzen, die im Anfang der Ehe, wenn die Leidenschaft noch vorherrscht, leicht übersehen werden, in reiferen Jahren immer fühlbarer. Je mehr aber die geschlechtliche Leidenschaft erlischt, um so mehr sollte sie durch geistige Übereinstimmung ersetzt werden. Aber davon abgesehen, ob der Mann einen Begriff von staatsbürgerlichen Pflichten hat und sie erfüllt, er tritt schon durch seine berufliche Stellung und den beständigen Verkehr mit der Außenwelt in fortgesetzte Berührung mit den verschiedensten Elementen und Anschauungen bei den verschiedensten Gelegenheiten und kommt dadurch in eine geistige Atmosphäre, die seinen Gesichtskreis erweitert. Er befindet sich meist, im Gegensatz zur Frau, in einer Art geistiger Mauserung, wohingegen der Frau durch die häusliche Tätigkeit, die sie von früh bis spät in Anspruch nimmt, die Zeit zur Ausbildung geraubt wird und sie so geistig versauert und verkümmert. Diese häusliche Misere, in der die Mehrzahl der Ehefrauen in der Gegenwart lebt, schildert durchaus richtig der bürgerlich denkende Gerhard v. Amyntor in »Randglossen zum Buche des Lebens« [13]. Dort heißt es in dem Kapitel »Tödliche Mückenstiche« unter anderem: »Nicht die erschütternden Ereignisse, die für keinen ausbleiben und hier den Tod des Gatten, dort den moralischen Untergang eines geliebten Kindes bringen, hier in langer schwerer Krankheit, dort in dem Scheitern eines warm gehegten Planes bestehen, untergraben ihre (der Hausfrau) Frische und Kraft, sondern die kleinen, täglich wiederkehrenden, Mark und Knochen auffressenden Sorgen. .. Wie viele Millionen braver Hausmütterchen verkochen und verscheuern ihren Lebensmut, ihre Rosenwangen und Schelmengrübchen im Dienste der häuslichen Sorgen, bis sie runzlige, vertrocknete, gebrochene Mumien geworden sind. Die ewig neue Frage: >Was soll heute gekocht werden<, die immer wiederkehrende Notwendigkeit des Fegens und Klopfens und Bürstens und Abstaubens ist der stetig fallende Tropfen, der langsam, aber sicher, Geist und Körper verzehrt. Der Kochherd ist der Ort, wo die traurigsten Bilanzen zwischen Einnahme und Ausgabe gezogen, die deprimierendsten Betrachtungen über die steigende Verteuerung der Lebensmittel und die immer schwieriger werdende Beschaffung der nötigen Geldmittel angestellt werden. Auf dem flammenden Altar, wo der Suppentopf brodelt, wird Jugend und Unbefangenheit, Schönheit und frohe Laune geopfert, und wer erkennt in der alten kummergebeugten, triefäugigen Köchin die einst blühende, übermütige, züchtig-kokette Braut in dem Schmucke ihrer Myrtenkrone? - Schon den Alten war der Herd heilig, und neben ihm stellten sie ihre Laren und Schutzgötter auf - lasset auch uns den Herd heilig halten, auf dem die pflichtgetreue deutsche Bürgerfrau einen langsamen Opfertod stirbt, um das Haus behaglich, den Tisch gedeckt und die Familie gesund zu erhalten.«
Das ist der Trost, den die bürgerliche Welt der an der gegenwärtigen Ordnung der Dinge elend zugrunde gehenden Frau bietet. Jene Frauen, die durch ihre sozialen Verhältnisse in freierer Stellung sich befinden, besitzen in der Regel eine einseitige und oberflächliche Erziehung, die in Verbindung mit ererbten weiblichen Charaktereigenschaften sich nachdrücklich geltend macht. Meist haben sie nur Sinn für reine Äußerlichkeiten, sie bekümmern sich nur um Tand und Putz und suchen in der Befriedigung eines verdorbenen Geschmacks und in der Frönung üppig wuchernder Leidenschaften ihren Lebenszweck. Für die Kinder und ihre Erziehung haben sie kaum Interesse; diese verursachen ihnen zuviel Mühe und Langeweile, und sie überlassen sie deshalb den Ammen und Dienstboten und überantworten sie später der Pension. Allenfalls betrachten sie als Aufgabe, die Töchter zu Zierpuppen und die Söhne für die jeunesse dorée (goldene Jugend) heranzubilden, aus der sich das Gigerltum rekrutiert, jene verächtliche Klasse von Männern, die man so ziemlich mit dem Zuhältertum auf eine Stufe stellen darf. Diese jeunesse doree stellt auch ein Hauptkontingent zur Verführung der Töchter des arbeitenden Volkes, sie betrachtet Nichtstun und Verschwendung als Beruf. Aus den geschilderten Zuständen haben sich mancherlei Charaktereigenschaften der Frau gebildet, die sich von Generation zu Generation immer vollkommener entwickelten. Die Männerwelt hält sich mit Vorliebe darüber auf, sie vergißt aber, daß sie selbst die Ursache ist und durch ihr Verhalten denselben Vorschub leistet. Zu diesen vielfach getadelten weiblichen Eigenschaften gehören die gefürchtete Zungenfertigkeit und Klatschsucht, die Neigung, über die nichtigsten und unbedeutendsten Dinge unendliche Unterhaltungen zu führen, die Gedankenrichtung auf das rein Äußerliche, die Putz- und Gefallsucht und der daraus folgende Hang für alle Modetorheiten; ferner leicht erregbarer Neid und Eifersucht gegen die Geschlechtsgenossinnen, die Neigung zur Unwahrheit und die Verstellungskunst. Diese Eigenschaften machen sich bei dem weiblichen Geschlecht allgemein, nur im Grade verschieden, schon im jugendlichen Alter bemerkbar. Es sind Eigenschaften, die unter dem Druck der sozialen Verhältnisse entstanden und durch Vererbung, Beispiel und Erziehung weiterentwickelt werden. Ein unvernünftig Erzogener kann andere nicht vernünftig erziehen. Um über Entstehungsursachen und Entwicklung der Eigenschaften bei den Geschlechtern und bei ganzen Völkern sich klarzuwerden, muß man nach derselben Methode verfahren, die die moderne Naturwissenschaft anwendet, um die Entstehung und Entwicklung der Lebewesen und ihrer Charaktereigenschaften festzustellen. Es sind die materiellen Lebensbedingungen, die jedem Lebewesen in hohem Grade seine Charaktereigenschaften aufprägen; es wird genötigt, sich den vorhandenen Lebensbedingungen anzupassen, die schließlich zur Natur desselben werden. Der Mensch macht keine Ausnahme von dem, was in der Natur für alle Lebewesen gilt; der Mensch steht nicht außerhalb der Naturgesetze, er ist, physiologisch betrachtet, das höchstentwickelte Tierwesen. Das will man allerdings nicht gelten lassen. Die Alten hatten schon vor Jahrtausenden, obgleich sie die moderne Naturwissenschaft nicht kannten, in vielen menschlichen Dingen vernünftigere Anschauungen als die Modernen, und die Hauptsache ist, sie wandten ihre auf Erfahrungen begründeten Anschauungen praktisch an.
Man preist mit Bewunderung die Schönheit und Kraft der Männer und Frauen Griechenlands, übersieht aber, daß es nicht das glückliche Klima und die bezaubernde Natur des Landes an dem buchtenreichen Meere war, das auf Wesen und Entwicklung der Bevölkerung so günstig einwirkte, sondern daß es die mit Konsequenz von Staats wegen durchgeführten Körperausbildungs- und Erziehungsmaximen waren, darauf berechnet, Schönheit, Kraft und Gewandtheit mit Schärfe und Elastizität des Geistes zu verbinden. Allerdings wurde auch damals schon das Weib im Vergleich zum Mann in geistiger Beziehung vernachlässigt, aber nicht in bezug auf körperliche Entwicklung.[14] In Sparta, das am weitesten ging in der körperlichen Ausbildung beider Geschlechter, wandelten Knaben und Mädchen bis ins mannbare Alter nackt und übten sich gemeinsam in körperlichen Exerzitien, in Spielen und Ringkämpfen. Die nackte Schaustellung des menschlichen Körpers und die natürliche Behandlung des Natürlichen hatte die Wirkung, daß sinnliche Überreizungen, die vorzugsweise durch die Trennung des Verkehrs der beiden Geschlechter von Jugend auf künstlich erzeugt werden, nicht entstanden. Der Körper des einen Geschlechtes war dem anderen kein Geheimnis. Da konnte kein Spiel mit Zweideutigkeiten aufkommen. Natur war Natur. Ein Geschlecht freute sich an den Schönheiten des anderen. Und zu einem ungezwungenen, natürlichen Verkehr der Geschlechter muß die Menschheit zurückkehren, sie muß die jetzt herrschenden ungesunden spiritualistischen Anschauungen über den Menschen von sich werfen und Erziehungsmethoden schaffen, die eine physische und geistige Regeneration herbeiführen. Bei uns herrschen, insbesondere über weibliche Erziehung, noch sehr rückständige Begriffe. Daß auch die Frau Kraft, Mut und Entschlossenheit haben soll, wird als ketzerisch, als »unweiblich« angesehen, obgleich niemand wird leugnen können, daß durch solche Eigenschaften sie sich vor vielen Unbilden und Unannehmlichkeiten schützen könnte. Dahingegen wird ihre körperliche Entwicklung, genau wie ihre geistige, möglichst gehemmt, wobei auch die Unvernunft der Kleidung eine wesentliche Rolle spielt. Diese hemmt sie nicht nur in unverantwortlicher Weise in ihrer physischen Entwicklung, sie richtet sie oft direkt zugrunde, und doch wagen selbst die wenigsten Ärzte, dagegen einzuschreiten. Die Furcht, der Patientin zu mißfallen, veranlaßt sie zu schweigen, oder sie schmeicheln sogar ihren Verrücktheiten. Die moderne Kleidung hindert in hohem Grade die Frau an dem freien Gebrauch ihrer Kräfte, sie schädigt ihre körperliche Ausbildung und erweckt in ihr das Gefühl der Ohnmacht und der Schwäche. Auch ist diese Kleidung eine Gefahr für die Gesundheit ihrer Umgebung, denn die Frau ist in der Wohnung und auf der Straße eine wandelnde Stauberzeugerin. Die strenge Scheidung der Geschlechter in der Schule und im geselligen Verkehr, die ganz den spiritualistischen Anschauungen entspricht, die das Christentum uns tief eingepflanzt hat, hemmt ebenfalls die Entwicklung der Frau.
Die Frau, die nicht zur Entfaltung ihrer Anlagen und Fähigkeiten gelangt, im engsten Ideenkreis befangen gehalten wird und fast nur in Verkehr mit Angehörigen ihres Geschlechts kommt, kann sich unmöglich über das Alltägliche und Gewöhnliche erheben. Ihr geistiger Gesichtskreis dreht sich nur um die Vorgänge in ihrer nächsten Umgebung, um verwandtschaftliche Beziehungen und was damit zusammenhängt. Die breitspurige Unterhaltung um die größten Nichtigkeiten, die Neigung zur Klatschsucht wird dadurch mit aller Macht gefördert, denn die in ihr lebenden geistigen Eigenschaften drängen nach Betätigung und Übung. Und der hierdurch oft in Unannehmlichkeiten verwickelte, zur Verzweiflung getriebene Mann verwünscht dann Eigenschaften, die er, das »Haupt der Schöpfung«, hauptsächlich auf dem Gewissen hat. Es soll nicht verkannt werden, daß neuerdings vielfach Ansätze zu vernünftigerer Lebensauffassung Platz greifen, aber es sind nur Anfänge, und sie berühren nur kleine Schichten der Gesellschaft.
2. Das Elend des heutigen Ehelebens
Durch unsere sozialen und geschlechtlichen Beziehungen ist die Frau mit allen Fasern ihrer Existenz auf die Ehe hingewiesen, ganz natürlich bilden Ehe- und Heiratsangelegenheiten einen wesentlichen Teil ihrer Unterhaltung und Aspiration. Auch ist für die physisch schwächere, durch Sitten und Gesetze dem Manne unterworfene Frau die Hauptwaffe gegen ihn die Zunge, und selbstverständlich benutzt sie dieselbe. Ähnlich verhält es sich mit der heftig getadelten Putz- und Gefallsucht, die ihre abschreckende Höhe in den immer exzentrischer werdenden Modetorheiten erreicht und oft Väter und Ehemänner in die größten Nöte und Verlegenheiten bringt. Die Erklärung hierfür liegt nahe. Die Frau ist für den Mann in erster Linie Genußobjekt; ökonomisch und gesellschaftlich unfrei, muß sie ihre Versorgung in der Ehe erblicken, sie hängt also vom Manne ab und wird ein Stück Eigentum von ihm. Ihre Lage wird noch ungünstiger dadurch, daß in der Regel die Zahl der Frauen größer ist als die der Männer - ein Kapitel, das noch näher besprochen werden wird. Durch dieses Mißverhältnis steigt die Konkurrenz der Frauen unter sich, die noch verstärkt wird, weil aus den verschiedensten Gründen eine Anzahl Männer nicht heiratet. Die Frau ist so genötigt, durch möglichst günstige Darstellung ihrer äußeren Erscheinung mit ihren Geschlechtsgenossinnen in den Wettbewerb um den Mann einzutreten. Man beachte nun die lange Dauer dieser Mißverhältnisse durch viele Generationen, und man wird sich nicht mehr wundern, daß diese Erscheinungen bei dauernd wirkenden gleichen Ursachen ihre heutige extreme Gestalt angenommen haben. Dazu kommt, daß vielleicht in keinem Zeitalter der Konkurrenzkampf der Frauen um die Männer so heftig war als im gegenwärtigen, teils aus schon angeführten, teils aus noch zu erörternden Ursachen. Auch weisen sowohl die immer größeren Schwierigkeiten, eine auskömmliche Existenz zu erlangen, als auch die steigenden gesellschaftlichen Anforderungen die Frau mehr als je zuvor auf die Ehe als »Versorgungsanstalt« hin.
Die Männer lassen sich diesen Zustand gerne gefallen, denn sie ziehen die Vorteile daraus. Es sagt ihrem Stolz, ihrer Eitelkeit und ihrem Interesse zu, die Rolle des Herrn zu spielen, und in dieser Herrscherrolle sind sie, wie alle Herrschenden, schwer Vernunftsgründen zugänglich. Um so mehr liegt es im Interesse der Frauen, sich für Herstellung von Zuständen zu erwärmen, die sie aus dieser entwürdigenden Stellung befreien. Die Frauen dürfen so wenig auf die Hilfe der Männer warten, wie die Arbeiter auf die Hilfe der Bourgeoisie warteten. Erwägt man ferner, welche Charaktereigenschaften der Kampf um die bevorzugte Stellung auch auf anderen Gebieten, zum Beispiel auf dem industriellen, zur Entfaltung bringt, sobald die Unternehmer sich gegenüberstehen, mit welch niederträchtigen, selbst schurkenhaften Mitteln gekämpft wird, wie Haß, Neid und Verleumdungssucht geweckt werden, so hat man die Erklärung für die Tatsache, daß sich in dem Konkurrenzkampf der Frauen um die Männer ähnliche Charaktereigenschaften zeigen. Daher kommt es, daß sich Frauen durchschnittlich weniger miteinander vertragen als Männer, daß sogar die besten Freundinnen leicht in Streit geraten, handelt es sich um das Ansehen bei einem Manne, um die einnehmendere Persönlichkeit usw. Daher auch die Wahrnehmung, daß, wo immer Frauen sich begegnen, und seien sie sich wildfremd, sie sich in der Regel wie zwei Feinde ansehen. Mit einem einzigen Blick haben sie gegenseitig entdeckt, wo die andere eine unpassende Farbe anwandte oder eine Schleife unrichtig anbrachte oder ein ähnliches Kardinalvergehen beging. In den Blicken, mit denen beide sich begegnen, liegt unwillkürlich das Urteil zu lesen, das die eine über die andere fällt. Es ist, als wollte jede zu der anderen sagen: »Ich verstehe es doch besser als du, mich zu putzen und die Blicke auf mich zu lenken.« Andererseits ist die Frau von Natur impulsiver als der Mann, sie reflektiert weniger als dieser, sie ist selbstloser, naiver, daher ist sie von größerer Leidenschaftlichkeit beherrscht, die sich in der wahrhaft heroischen Aufopferung, mit der sie für ihr Kind eintritt oder für Angehörige sorgt und sie in Krankheitsfällen pflegt, im schönsten Lichte zeigt. In der Furie dagegen findet diese Leidenschaftlichkeit ihren häßlichen Ausdruck. Aber die guten wie die schlimmen Seiten werden in erster Linie durch die soziale Stellung beeinflußt, begünstigt, gehemmt oder umgewandelt. Derselbe Trieb, der unter ungünstigen Verhältnissen als ein Fehler sich darstellt, wird unter günstigen eine Quelle des Glücks für die Person und für andere. Fourier hat das Verdienst, den Nachweis glänzend geführt zu haben, wie ein und dieselben Triebe des Menschen unter verschiedenen Verhältnissen ganz entgegengesetzte Resultate erzeugen.[15] Neben den Einwirkungen einer verkehrten geistigen Erziehung laufen nicht minder wichtige Einwirkungen von verkehrter oder mangelnder physischer Erziehung, in Rücksicht auf den Naturzweck. Alle Ärzte stimmen darin überein, daß die Vorbildung der Frau für ihren Beruf als Mutter und Kindererzieherin fast alles zu wünschen übrig läßt. »Man übt den Soldaten in der Führung seiner Waffe und den Handwerker in der Handhabung seiner Werkzeuge, jedes Amt erfordert seine Studien; selbst der Mönch hat sein Noviziat. Nur die Frau wird für ihre ernsten Mutterpflichten nicht erzogen.«[16] Neun Zehntel der Jungfrauen, die zu heiraten Gelegenheit bekommen, treten mit fast vollkommener Unwissenheit über die Mutterschaft und ihre Pflichten in die Ehe.
Die unverantwortliche Scheu selbst der Mütter, mit der erwachsenen Tochter über die so wichtigen geschlechtlichen Funktionen zu sprechen, läßt sie über ihre Pflichten gegen sich und ihren Gatten in der schwärzesten Unwissenheit. Mit dem Eintritt in die Ehe betritt die Frau in der Regel ein ihr vollkommen fremdes Gebiet; sie hat sich davon ein Phantasiegemälde entworfen, meist aus Romanen der nicht empfehlenswertesten Art, das zu der Wirklichkeit sehr wenig paßt.[17] Die mangelnden Wirtschaftskenntnisse, die, wie noch die Dinge liegen, für die Ehe notwendig sind, wenn auch viele früher als selbstverständlich angesehene Tätigkeiten der Frau abgenommen wurden, geben ebenfalls manchen Anlaß zu Differenzen. Die einen verstehen von der Wirtschaft nichts, weil sie sich zu gut dafür halten, sich darum zu bekümmern, und meinen, das sei Sache der Dienstboten; die anderen, aus den breiten Massen, verhindert der Kampf um die Existenz, sich für den Beruf als Wirtschaftlerinnen auszubilden, sie müssen von früh bis spät in die Werkstatt oder Fabrik. Es zeigt sich immer mehr, daß die Einzelwirtschaft durch die Entwicklung der Verhältnisse ihren Boden verliert und nur durch unsinnige Opfer an Geld und Zeit aufrechterhalten wird.
Eine andere Ursache, die für nicht wenige Männer den Ehezweck aufhebt, liegt in der physischen Entwicklung vieler Frauen. Unsere Nahrungs-, Wohn-, Arbeits- und Unterhaltungsweise, kurz die ganze Lebensweise, wirkt vielfach mehr zerstörend als fördernd auf uns ein. Mit Fug und Recht kann man von einem nervösen Zeitalter sprechen; aber die Nervosität geht Hand in Hand mit physischer Degeneration. Anämie (Blutarmut) und Nervosität sind namentlich bei dem weiblichen Geschlecht in ganz enormem Maße verbreitet. Diese werden immer mehr zu einer gesellschaftlichen Kalamität, die, falls sie noch einige Generationen währte, ohne daß es gelingt, unsere gesellschaftliche Organisation auf normalere Entwicklungsbedingungen zu stellen, unser Geschlecht dem Verderben entgegenführte.[18]
Der weibliche Organismus bedarf in Rücksicht auf den Geschlechtszweck ganz besonderer Pflege, namentlich guter Ernährung und in besonderen Perioden auch auskömmlicher Schonung. Beides ist für die sehr große Mehrzahl des weiblichen Geschlechtes nicht vorhanden und unter den heutigen Verhältnissen auch kaum zu schaffen. Auch hat sich die Frau so an die Bedürfnislosigkeit gewöhnt, daß zum Beispiel zahllose Frauen es für eine eheliche Pflicht halten, die guten Bissen dem Manne vorzusetzen und sich selbst mit dürftiger Nahrung zu begnügen. Ebenso werden häufig die Knaben in der Ernährung vor den Mädchen bevorzugt. Der Glaube ist allgemein verbreitet, daß sich die Frau nicht nur mit weniger, sondern auch mit schlechterer Nahrung begnügen könne als der Mann. Daher das traurige Bild, das insbesondere unsere weibliche Jugend dem Sachverständigen bietet.[19] Ein großer Teil unserer jungen Frauen ist körperlich schwach, blutarm, extrem nervös. Die Folgen sind Menstruationsbeschwerden, Krankheiten der Organe, die mit dem Geschlechtszweck in Verbindung stehen, die sich oft bis zur Unfähigkeit oder Lebensgefährlichkeit, Kinder zu gebären oder zu säugen, steigern. »Wenn diese Degeneration unserer Frauen noch weiterhin in derselben Weise wie bisher fortschreiten sollte, so dürfte der Zeitpunkt nicht mehr fern sein, wo es zweifelhaft werden könnte, ob die Kulturmenschen noch länger zu den Säugetieren zu zählen seien oder nicht.«[20] Statt einer gesunden und heiteren Gefährtin, einer fähigen Mutter, einer ihren häuslichen Obliegenheiten nachkommenden Gattin hat der Mann eine kranke, nervöse Frau, bei welcher der Arzt nicht aus dem Hause kommt, die keinen Luftzug und nicht das geringste Geräusch vertragen kann. Wir wollen uns über diesen Gegenstand nicht weiter verbreiten, jeder kann sich das Bild weiter ausmalen; im eigenen Familien- und Bekanntenkreise gibt es Beispiele in Fülle. Erfahrene Ärzte versichern, die größere Hälfte der Ehefrauen, namentlich in den Städten, befinde sich in mehr oder weniger anormalen Zuständen. Nach dem Grade der übel und dem Charakter der Eheleute müssen solche Verbindungen unglückliche sein, und sie geben in der öffentlichen Meinung dem Manne das Recht, sich außereheliche Freiheiten zu erlauben, deren Kenntnis die unglücklichste Stimmung bei der Frau erzeugen müssen.
Auch sind manchmal die sehr verschiedenen geschlechtlichen Anforderungen des einen oder anderen Teils Veranlassung zu tiefgehenden Differenzen, ohne daß die so wünschbare Trennung möglich wäre. Hierbei darf nicht verschwiegen werden, daß ein erheblicher Teil der Männer der schuldige Teil ist an den schweren physischen Leiden, von welchen ihre Frauen in der Ehe betroffen werden. Ein erheblicher Teil der Männerwelt leidet infolge von Ausschweifungen an chronischen Geschlechtskrankheiten, die oft, weil sie ihnen keine großen Unbequemlichkeiten verursachen, auf die leichte Achsel genommen werden. Aber im geschlechtlichen Verkehr mit der Frau erzeugen sie bei dieser sehr unangenehme und verhängnisvoll wirkende Unterleibskrankheiten, die alsbald nach der Eheschließung sich einstellen und häufig bis zur Unfähigkeit, zu empfangen oder Kinder zu gebären, sich steigern. Gewöhnlich hat die unglückliche Frau keine Ahnung von der wahren Ursache ihrer Krankheit, die ihr Gemüt bedrückt, ihr das Leben verbittert und den Zweck der Ehe zerstört, und sie macht sich und empfängt Vorwürfe über einen Zustand, den der andere Teil verschuldete. Manches blühende Weib verfällt nach kaum geschlossener Ehe chronischem Siechtum, für das weder sie noch die Angehörigen eine Erklärung haben, denn der Arzt muß schweigen. Wie neuere Untersuchungen ergeben haben, ist dieser Umstand - daß infolge von Gonorrhöe die Samenflüssigkeit des Mannes keine Samenzellen mehr enthält und daher der Mann zeitlebens unfähig ist, Kinder zu zeugen - eine verhältnismäßig häufige Ursache ehelicher Unfruchtbarkeit, im Gegensatz zu der alten bequemen Tradition der Herren der Schöpfung, welche immer bereit sind, die Schuld an dem mangelnden Kindersegen auf die Frau abzuwälzen.[21] Man sieht, es sind eine große Menge Ursachen wirksam, die in der überwiegenden Zahl der Fälle das heutige Eheleben nicht zu dem werden lassen, was es sein soll. Es ist also immerhin eine Anweisung von zweifelhaftem Wert, wenn selbst Gelehrte die Emanzipationsbestrebungen der Frau damit abgetan glauben, daß sie dieselbe auf die Ehe verweisen, die durch unsere sozialen Zustände immer mehr zu einem Zerrbild wird und immer weniger ihrem wahren Zweck entspricht.
Nachbemerkung (Monika Seifert):
An der von Bebel für die bürgerliche Gesellschaft beschriebenen Funktion der Ehe hat sich nichts geändert. Das Recht auf Ehe, das Bebe noch gegenüber den materiellen Verhältnissen besonders für das Proletariat vertreten mußte, hat sich in der Zwischenzeit so weit materialisiert, daß aus finanziellen Gründen niemand auf eine Ehe verzichtet. (Anm. Seifert: Was umgekehrt nicht heißt, daß gerade Frauen, weil sie glauben, die materiellen Folgen einer Scheidung nicht durchstehen zu können, auf Trennung verzichten).
In der Zwischenzeit hat sich vielmehr die Zwangsvorstellung, auf jeden Fall verheiratet sein zu müssen, herausgebildet. Schon 14jährige, nach ihren Lebensplänen befragt, haben die Eheschließung zu einem ihnen bereits klaren Zeitpunkt eingeplant. (Anm. Seifert: Vgl. Wie stelle ich mir meine Zukunft vor? in Frankfurter Rundschau, Nr. 34 vom 9. 2. 1974).
Die Gründe für die Vorstellung, daß man sich sein Leben nur als verheirateter Mensch vorstellen kann und auch entsprechend handelt, sind sicher vielfältig. Für unseren Zusammenhang erscheint mir die Auseinandersetzung mit der Erwartung, daß sich in der Ehe die Kälte der übrigen menschlichen Beziehungen nicht fortsetzt, besonders wichtig. Diese Erwartungen richten sich ja ganz besonders an die Frauen. Angesichts von gesellschaftlich notwendigen Verhaltensweisen wie Konkurrenzverhalten, Durchsetzungsvermögen und Leistungsmotivation sollen sie als Ausgleich Wärme und Geborgenheit ausstrahlen. Die gesellschaftlich üblichen Verhaltensweisen lassen sich aber aus den Beziehungen der Familienmitglieder nicht heraushalten, und so werden die Erwartungen ständig enttäuscht. Dennoch bleibt die Hoffnung, in den privaten Beziehungen für die unbefriedigenden gesellschaftlichen entschädigt zu werden, lebendig, was sich deutlich daran zeigt, daß z. B. eben Geschiedene nichts Eiligeres zu tun haben, als die nächste Ehe einzugehen. (* Anm. Seifert: 70% aller geschiedenen Frauen (unter 27 Jahren 90% und 84% aller geschiedenen Männer (unter 40: 90%) heiraten wieder. Zit. nach Der Spiegel, Nr. 9, 1974, S. 125.)
Scheitert eine Beziehung, wird das als individuelles Versagen der Beteiligten begriffen und nicht den gesellschaftlichen Verhältnissen angelastet.Alternativen zur bürgerlichen Ehe
Viele, die diesen Zusammenhang durchschauen, meinen, die Lösung des Konflikts läge darin, der Institution Ehe andere - wie Kommunen oder Großfamilien - entgegenzusetzen, um so die Beziehungen von Zwängen zu befreien und ihnen das zu ermöglichen, was Bebel vorschwebt: Freiwilligkeit.
Offen bleibt die Frage, inwieweit wir subjektiv überhaupt in der Lage sind, den objektiven Verhältnissen entgegengesetzte Verhaltensweisen zu entwickeln und dauerhaft zu praktizieren. Weil man diese Unsicherheit wohl erkennt, legt man den Schwerpunkt gerade auf neue Organisationsformen, um so eine bessere Basis für psychischen Widerstand gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse zu haben. Dieses Konzept hat meines Erachtens den Mangel, daß es, obwohl die Bedingungen von Freiwilligkeit nicht genügend geklärt sind, bereits ihre Organisationsform bestimmt.
Freiwilligkeit würde neben den schon von Bebel beschriebenen materiellen Bedingungen ein Selbstverständnis voraussetzen: daß man liebesfähig und liebenswert ist. Nur dann bräuchten Menschen sich nicht aus Angst aneinander zu ketten. Verhindern kann diese Angst nur eine Erziehung, die die Eigenständigkeit des Kindes ernst nimmt und keine Verdrängung von Konflikten in Beziehungen verlangt. Für uns, die wir die Ängste schon haben und nicht mit ihnen leben wollen, ist ihre Oberwindung ein mühsamer Prozeß, der von Mißerfolgen begleitet ist. Die richtige Überlegung, daß wir die Ängste nur mit solidarischer Hilfe überwinden können, ist die Begründung für Wohngemeinschaften usw., denen aber dann oft dasselbe Ende beschieden ist wie den herkömmlichen Ehen, weil sich in ihnen die alten Zwänge gegen den Willen der Beteiligten reproduzieren. Ein Fehler dieser Art von Befreiungsversuche liegt m. E. darin, daß man von einer totalen Beziehung in die andere flüchtet, weil man z. B. Angst hat, allein zu sein. Ich frage mich, ob die Ängste, die einen an nicht mehr befriedigenden Beziehungen festhalten lassen, nicht in Zusammenschlüssen, die nicht den Anspruch haben, den gesamten privaten Lebenszusammenhang abzudecken, besser überwunden werden können. Frauengruppen könnten z. B. eine solche Aufgabe übernehmen. Ich könnte mir denken, daß solche Gruppen, an die man selbst auch nicht totale Ansprüche stellt, einem eher gestatten, angstfrei langsam seine Bedürfnisse zu erkennen, um von daher dann den Versuch zu machen, sie auch zu realisieren. Neue Formen des Zusammenlebens hätten dann vielleicht mehr Chancen.
Sozialisten argumentieren heute, daß nur der öffentliche Kampf für den Sozialismus relevant, das Bemühen um veränderte private Beziehungen nichts als Ablenkung von dieser Aufgabe sei und daher unpolitische Zeitverschwendung. Dabei wird unterstellt, daß private Kommunikationsformen in keinem Zusammenhang mit den politischen Verhaltensweisen und Zielen stehen. Daß ein patriarchalischer Ehemann als politischer Kämpfer keinen wirklichen Kampf für die Emanzipation der Frauen führen kann, versteht sich wohl von selbst. Insofern führt sich diese Argumentation für alle diejenigen ad absurdum, die keinen patriarchalischen Sozialismus wollen.* (* Vgl. dazu auch das Kapitel um die politische Gleichberechtigung und die dazugehörige Nachbemerkung)Die Einstellung der Arbeiterklasse zu Ehe und Frauenbefreiung
Das sich in den bürgerlichen Mittelschichten verbreitende Unbehagen an der traditionellen Ehe und Familie hat bisher die Arbeiterklasse nicht erfaßt. Hier wird an der Institution festgehalten und in ihr auf der traditionellen Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau bestanden. Das Proletariat hat eine gewisse materielle Sicherheit - früher ein bürgerliches Privileg -, die eine Ehe überhaupt erst ermöglicht, so spät erreicht, daß man diese nicht schon wieder in Frage stellen kann. Sozialisten bürgerlicher Herkunft können sich nicht klar genug machen, wie das Elend, in dem die Arbeiter lebten, die Ehen der Eltern und Großeltern der heutigen jungen Arbeiter beeinträchtigt hat. Diese Erfahrungen haben sich tief ins Bewußtsein der Arbeiterklasse eingegraben. Befreiung der Frauen heißt für sie, die Frau braucht nicht zu arbeiten, man kann es sich leisten, daß sie zu Hause bleibt.* (* Vgl. dazu Nachbemerkung zur Frauenerwerbsarbeit, S. 183 ff.)
Die Hoffnung Bebels, daß die Ehen des Proletariats aufgrund dieses Elends Kampfgemeinschaften gegen die Unterdrückung würden, hat sich, jedenfalls in einem gesellschaftlich relevanten Ausmaß, nicht erfüllt. Patriarchalische Strukturen haben sich aufgrund der ökonomischen Bedingungen in den Ehen der Arbeiter ungebrochen erhalten. Sie werden auch von den Frauen selbst noch als Errungenschaft empfunden.* (*Für Arbeiterinnen ist die einzige Hoffnung, der Fabrik zu entrinnen, die Ehe. Dieses Interesse trifft sich mit dem Bedürfnis der Arbeiter, es sich leisten zu können, die Frau nicht arbeiten gehen zu lassen.)
Eine Strategie für die Emanzipation der Frauen kann in der Arbeiterklasse also nicht vom subjektiven Unbehagen z. B. an Hausfrauenrolle und Ehe ausgehen. Die Frauen der Arbeiterklasse empfinden Berufstätigkeit als Mittel zum Zweck,* (* Nur geschiedene Arbeiterinnen entwickeln eine Identifikation mit ihrer Berufstätigkeit. Vgl. dazu Gisela Burbach: Apathie bei Arbeiterinnen. Unveröffentlichte Dipl.-Arbeit. Ffm. 1964.) ihr Interesse gilt der Familie, deren Lebensmöglichkeiten und -Chancen. In diesem Bereich liegen die Mißstände auf der Hand. Die Wohnungen sind zu klein, die Möglichkeiten für Kinder gering, Kindergärten und Schulen überfüllt, die Gesundheitsfürsorge unzureichend, die Erholungsmöglichkeiten zu gering, usw. usw.; aber auch bereits bestehende gesellschaftliche Organisationen wie z. B. die gewerkschaftlichen Wohnungsbaugenossenschaften und die Allgemeinen Ortskrankenkassen haben sich längst zu verselbständigten Bürokratien entwickelt und hätten es nötig, daß ihnen der Wille ihrer Auftraggeber (nicht deren angeblicher Repräsentanten) deutlich gemacht würde. Damit soll gesagt sein, daß es jenseits vom Problematisieren der eigenen Rolle, jenseits von Berufstätigkeit und proletarischer Ehe als Kampfgemeinschaft Ansätze zu Praxis für Frauen gibt, durch die gesellschaftliche und individuelle Emanzipation vorangetrieben werden könnte, ohne daß Ehe und Familie gleich in Frage gestellt werden müßten.
(...)