Der Geschlechtstrieb
In der bürgerlichen Welt rangiert die Frau an zweiter Stelle. Erst kommt der Mann, dann sie. Es besteht also fast das umgekehrte Verhältnis wie im Zeitalter der Mutterfolge. Die Entwicklung vom primitiven Kommunismus zur Herrschaft des Privateigentums hat in erster Linie diese Umwandlung herbeigeführt.[1] Plato dankte den Göttern für acht Wohltaten, die sie ihm erwiesen hätten. Als die erste Wohltat betrachtete er, daß sie ihn als Freien und nicht als Sklaven geboren sein ließen, aber die zweite war, daß er als Mann und nicht als Frau geboren wurde. Ein ähnlicher Gedanke spricht sich im Morgengebet der Judenmänner aus. Diese beten: »Gelobt seist du Gott unser Herr und Herr aller Welt, der mich nicht zu einem Weibe gemacht hat.«
Dagegen beten die Judenfrauen an der entsprechenden Stelle: »... der mich nach seinem Willen geschaffen hat.«
Der Gegensatz in der Stellung der Geschlechter kann nicht schärfer zum Ausdruck kommen, als es im Ausspruch Platos und im Gebet der Juden geschieht. Der Mann ist der eigentliche Mensch nach zahlreichen Stellen in der Bibel, wie nach der englischen und französischen Sprache, in der für Mann und Mensch das gleiche Wort vorhanden ist. Auch wenn wir vom Volke sprechen, denken wir in der Regel nur an die Männer. Die Frau ist eine vernachlässigte Größe und auf alle Fälle der Mann ihr Gebieter. Das findet die Männerwelt in der Ordnung, und die Mehrheit der Frauenwelt nimmt es bis jetzt als unabweisbare Schickung hin. In dieser Auffassung widerspiegelt sich die Lage des weiblichen Geschlechts. Ganz unabhängig von der Frage, ob die Frau als Proletarierin unterdrückt ist, sie ist es in der Welt des Privateigentums als Geschlechtswesen. Eine Menge Hemmnisse und Hindernisse, die der Mann nicht kennt, bestehen für sie auf Schritt und Tritt.
Vieles, was dem Mann erlaubt ist, ist ihr untersagt; eine Menge gesellschaftlicher Rechte und Freiheiten, die jener genießt, sind, wenn von ihr ausgeübt, ein Fehler oder ein Verbrechen. Sie leidet als soziales und als Geschlechtswesen. Es ist schwer zu sagen, in welcher von beiden Beziehungen sie am meisten leidet, und daher ist der Wunsch vieler Frauen begreiflich, daß sie möchten als Mann und nicht als Weib geboren worden sein. Unter allen Naturtrieben, die der Mensch besitzt, ist nächst dem Trieb zu essen, um zu leben, der Geschlechtstrieb der stärkste. Der Trieb, die Gattung fortzupflanzen, ist der potenzierteste Ausdruck des »Willens zum Leben«. Dieser Trieb ist jedem normal entwickelten Menschen tief eingepflanzt, und nach erlangter Reife ist die Befriedigung desselben eine wesentliche Bedingung für seine physische und geistige Gesundheit. Luther hat recht, wenn er sagt: »Wer nun dem Naturtrieb wehren will und nicht lassen gehen, wie Natur will und muß, was tut er anders, denn er will wehren, daß Natur nicht Natur sei, daß Feuer nicht brenne, Wasser nicht netze, der Mensch nicht esse, noch trinke, noch schlafe.« Diese Worte sollte man in Stein über die Türen unserer Kirchen meißeln, in welchen so eifrig gegen das »sündhafte Fleisch« gepredigt wird. Treffender kann kein Arzt und Physiologe die Notwendigkeit der Befriedigung des Liebesbedürfnisses im Menschen bezeichnen. Es ist ein Gebot des Menschen gegen sich selbst, das er erfüllen muß, will er in normaler und gesunder Weise sich entwickeln, daß er kein Glied seines Körpers in der Übung vernachlässigt und keinem natürlichen Trieb seine normale Befriedigung versagt. Jedes Glied soll die Funktionen, für die es von Natur bestimmt ist, erfüllen, bei Strafe der Schädigung des Organismus.
Die Gesetze der physischen Entwicklung des Menschen müssen ebenso studiert und befolgt werden wie die der geistigen Entwicklung. Die geistige Tätigkeit des Menschen hängt von der physiologischen Beschaffenheit seiner Organe ab. Die volle Gesundheit beider hängt auf das innigste zusammen. Eine Störung in dem einen muß auch störend auf den anderen Teil wirken. Die sogenannten tierischen Bedürfnisse nehmen keine andere Stufe ein als die sogenannten geistigen. Die einen und die anderen sind Wirkung desselben Organismus und sind die einen von den anderen beeinflußt. Das gilt für den Mann wie für die Frau. Daraus folgt, daß die Kenntnis der Eigenschaften der Geschlechtsorgane ebenso notwendig ist wie die aller anderen Organe und der Mensch ihrer Pflege die gleiche Sorge angedeihen lassen muß. Er muß wissen, daß Organe und Triebe, die jedem Menschen eingepflanzt sind und einen sehr wesentlichen Teil seiner Natur ausmachen, ja in gewissen Lebensperioden ihn vollständig beherrschen, nicht Gegenstand der Geheimnistuerei, falscher Scham und kompletter Unwissenheit sein dürfen. Daraus folgt weiter, daß Kenntnis der Physiologie und Anatomie der verschiedenen Organe und ihrer Funktionen bei Männern und Frauen ebenso verbreitet sein sollte als irgendein anderer Zweig menschlichen Wissens. Ausgestattet mit einer genauen Kenntnis seiner physischen Natur, wird der Mensch viele Lebensverhältnisse mit anderen Augen ansehen.
Es würde die Beseitigung von Übelständen sich von selbst aufdrängen, an denen gegenwärtig die Gesellschaft schweigend in heiliger Scheu vorübergeht, die aber fast in jeder Familie sich Beachtung erzwingen. In allen sonstigen Dingen gilt Wissen für eine Tugend, als das erstrebenswerteste, menschlich schönste Ziel, aber nur nicht Wissen in den Dingen, die mit dem Wesen und der Gesundheit unseres eigenen Ichs und mit der Grundlage aller gesellschaftlichen Entwicklung in engster Beziehung stehen. Kant sagt: »Mann und Frau bilden erst zusammen den vollen und ganzen Menschen, ein Geschlecht ergänzt das andere.«
Schopenhauer erklärt: »Der Geschlechtstrieb ist die vollkommenste Äußerung des Willens zum Leben, mithin Konzentration allen Wollens ... Die Bejahung des Willens zum Leben konzentriert sich im Zeugungsakt, und dieser ist ihr entschiedenster Ausdruck.«
Und lange vor diesen äußerte Buddha: »Der Geschlechtstrieb ist schärfer als der Haken, womit man wilde Elefanten zähmt; er ist heißer als Flammen, er ist wie ein Pfeil, der in den Geist des Menschen getrieben wird.«
Bei solcher Intensität des Geschlechtstriebs darf es nicht verwundern, daß geschlechtliche Enthaltsamkeit im reifen Alter nicht selten bei dem einen wie bei dem anderen Geschlecht derart auf das Nervenleben und den ganzen Organismus einwirkt, daß sie zu schweren Störungen und Verirrungen, unter Umständen zu Wahnsinn und zum Selbstmord führt. Allerdings macht sich der Geschlechtstrieb nicht bei allen Naturen gleich heftig geltend: Es kann auch viel zu seiner Zügelung geschehen durch Erziehung und Selbstbeherrschung, namentlich durch Vermeidung des Anreizes dazu infolge von entsprechender Unterhaltung, Lektüre, Alkoholismus und dergleichen. Im allgemeinen soll der Reiz sich weniger bei Frauen als bei Männern bemerkbar machen, ja sogar manchmal bei Frauen ein gewisser Widerwille gegen den Geschlechtsakt bestehen. Aber das ist eine kleine Minderzahl, bei der physiologische und psychologische Anlagen diesen Zustand herbeiführen. Man darf also sagen, daß in dem Maße, wie die Triebe und Lebensäußerungen bei den Geschlechtern sich ausprägen, sowohl in organischer als in seelischer Ausbildung und in Form und Charakter zum Ausdruck kommen, um so vollkommener ist der Mensch, sei er Mann oder Frau. Jedes Geschlecht ist zur höchsten Vollendung seiner selbst gekommen. »Bei dem sittlichen Menschen«, sagt Klencke in seiner Schrift »Das Weib als Gattin«, »ist allerdings der Zwang des Gattungslebens unter die Leitung des von der Vernunft diktierten sittlichen Prinzips gestellt, aber es wäre selbst der höchstmöglichen Freiheit nicht möglich, die zwingende Mahnung der Gattungserhaltung, welche die Natur in den normalen organischen Ausdruck beider Geschlechter legte, gänzlich zum Schweigen zu bringen, und wo gesunde männliche oder weibliche Individuen dieser Pflicht gegen die Natur zeitlebens nicht nachkommen, da war es nicht der freie Entschluß des Widerstandes, auch wo er als solcher ausgegeben oder in Selbsttäuschung als Willensfreiheit bezeichnet werden sollte, sondern die Folge sozialer Hemmungen und Folgerungen, die das Naturrecht schmälerten und die Organe verwelken ließen, aber auch dem Gesamtorganismus den Typus der Verkümmerung, des geschlechtlichen Gegensatzes, sowohl in der Erscheinung als im Charakter aufdrücken und durch Nervenverstimmung krankhafte Richtungen und Zustände des Gemüts und Körpers hervorrufen.
Der Mann wird weibisch, das Weib männlich in Gestalt und Charakter, weil der Geschlechtsgegensatz nicht zur Verwirklichung ini Naturplan gelangte, der Mensch einseitig blieb und nicht zur Ergänzung seiner selbst, nicht zum vollen Höhepunkt seines Daseins kam.« Und Dr. Elisabeth Blackwell sagt in ihrer Schrift »The moral education of the young in relation to sex«: »Der Geschlechtstrieb existiert als eine unerläßliche Bedingung des Lebens und der Begründung der Gesellschaft. Er ist die stärkste Kraft in der menschlichen Natur ... Unentwickelt, kein Gegenstand der Gedanken, aber nichtsdestoweniger das Zentralfeuer des Lebens, ist dieser unvermeidliche Trieb der natürliche Hüter vor jeder Möglichkeit der Vernichtung.«[2] Der praktische Luther kommt gleich mit positiven Ratschlägen. Er empfiehlt: »Wer sich nicht findet geschickt zur Keuschheit, der tue beyzeiten dazu, daß er etwas schaffe und zu arbeiten habe, und wage es danach in Gottes Namen und greife zur Ehe. Ein Knabe aufs längste, wenn er zwanzig; ein Mägdlein, wenn's fünfzehn oder achtzehn Jahre ist, so sind sie noch gesund und geschickt und lassen Gott sorgen, wie sie mit ihren Kindern ernährt werden. Gott macht Kinder, der wird sie wohl auch ernähren.«[3]
Die Befolgung der guten Ratschläge Luthers ist leider bei unseren sozialen Verhältnissen unmöglich, und von dem Gottvertrauen auf die Ernährung der Kinder will weder der christliche Staat noch die christliche Gesellschaft etwas wissen. Die Wissenschaft stimmt also mit den Ansichten der Philosophen und mit dem gesunden Menschenverstand Luthers überein, woraus folgt, daß der Mensch in normaler Weise Triebe soll befriedigen können, die mit seinem innersten Sein aufs innigste verknüpft, ja das Sein selbst sind. Wird ihm dieses durch die gesellschaftlichen Einrichtungen oder Vorurteile unmöglich gemacht, so wird er in der Entwicklung seines Wesens gehemmt. Was die Folgen davon sind, darüber wissen unsere Ärzte, die Spitäler, Irrenhäuser und Gefängnisse zu erzählen, von den Tausenden zerstörter Familienleben zu schweigen. In einer in Leipzig erschienenen Schrift äußert zwar der Verfasser: »Der Geschlechtstrieb ist weder moralisch noch unmoralisch, er ist eben nur natürlich wie Hunger und Durst, und die Natur weiß nichts von Moral«[4] aber von der Anerkennung dieses Satzes ist die Gesellschaft weit entfernt.
(...)
Nachbemerkung (Monika Seifert):
Auf keinem Gebiet herrscht unter Sozialisten soviel Verwirrung wie in der Einschätzung, welche Rolle der Kampf für Befreiung der Sexualität für die Bewegung zu spielen hat. Im Namen des Sozialismus gibt und gab es Libertinage und moralinsaure Prüderie. Diese widersprüchlichen Reaktionen hatte Bebel nicht vorhergesehen, als er forderte, Sexualität als etwas Natürliches wie Hunger und Durst anzuerkennen. Obwohl die Gesellschaft heute weniger weit davon entfernt ist, Sexualität (besonders auch die der Frau) als etwas Natürliches anzuerkennen, ist sie immer noch von moralischen Vorstellungen und widersprüchlichen Gefühlen besetzt. Das zeigt sich z. B. daran, daß:
- kindliche Sexualität tabuiert ist
- Homosexualität emotionsgeladen abgelehnt wird
und- Schwangerschaftsunterbrechung auf Wunsch der Frau auf fast unüberwindliche Widerstände stieß.
Bebels Ansatz, im Kampf gegen die gesellschaftliche Unterdrückung der Sexualität mit deren Natürlichkeit zu argumentieren, läßt zwei wichtige Faktoren außer acht, die der bloßen Aufklärung über den wahren Charakter des Geschlechtstriebes entgegenstehen. Zum einen geht er davon aus, daß es natürliche Sexualität gibt. Der Trieb hat seine Wurzeln zwar im Biologischen, Äußerungsformen und Befriedigung sind aber immer durch gesellschaftliche Normen bestimmt, wie das auch für Hunger und Durst gilt.* (Anm. Seifert: * Daß es kein bloßes natürliches Bedürfnis gibt, soll an dem häufig zitierten Hunger und Durst verdeutlicht werden. Hunger und Durst lassen sich auf verschiedene Arten befriedigen. Uns versucht man im Moment, gestützt auf wissenschaftliche Untersuchungen, klarzumachen, daß fünf kleine Mahlzeiten das Gesündeste seien, da sie den Körper am wenigsten belasten. Das heißt, daß man den ganzen Tag voll arbeitsfähig ist, weil man nicht so viel auf einmal zu verdauen hat.
Zu fragen ist, in wessen Interesse solche Theorien propagiert werden, die uns um den Genuß einer kompletten Mahlzeit bringen sollen und uns dem Produktionsprozeß bis in unsere Physiologie anzupassen versuchen, statt die Arbeit so zu organisieren, daß sie die lustvolle Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zuläßt.) Zum anderen verkennt er die Rolle der widersprüchlichen Gefühle, die in unserer Gesellschaft die Einstellung zur Sexualität bestimmen. Sie haben einen viel größeren Einfluß als intellektuelle Einsichten und verhindern diese oft. Am deutlichsten wird dies an der Diskussion um den § 218, für dessen Beibehaltung es redlicherweise keine Argumente gibt, aber starke Gefühle, die sich in Argumente kleiden. Eine materialistische Analyse müßte diese beiden Momente mit reflektieren und darüber hinaus prüfen, inwieweit Frauen immer noch anderen »Gesetzen« unterliegen als Männer.Repressive Sexualmoral und Unterdrückung der Frauen
Die soziale Abhängigkeit der Frauen von den Männern besteht seit Jahrtausenden, während sexuelle Normen sich häufig verändert haben. Es scheint mir daher falsch, die sexuelle und soziale Unterdrückung der Frauen als identisch zu sehen; es verleitet zu der irrigen Annahme, mit der sexuellen Befreiung wären die Frauen auch gesellschaftlich befreit. Diese Vorstellung beruht auf dem Mißverständnis, sexuelle Revolution sei die Revolution schlechthin. Dabei vertrat W. Reich die Ansicht, daß es auch einer sexuellen Revolution bedürfe, wenn die Revolution nicht in Autoritarismus und Bürokratismus erstarren solle. Er weist das sehr folgerichtig an der russischen Revolution nach.* (Anm. Seifert: W. Reich: Die sexuelle Revolution. Ffm. 1969. S. 189 ff.)
Reich stützt sich dabei auf die These, die Unterdrückung der kindlichen Sexualität führe dazu, daß die Erwachsenen autoritätsgläubige Untertanen werden. (Anm. Seifert: Die Präformierung für die im Kapitalismus notwendige Anpassung an Zwänge, die den eigenen Bedürfnissen entgegenstehen, geschieht in den ersten Lebensjahren besonders durch die Unterdrückung der kindlichen Sexualität. Wobei Sexualität im Sinne der Psychoanalyse benützt wird, die alle körperlich erzeugte Lust zur Sexualität rechnet. D.h., zur Sexualität gehört auch das Saugen an der Brust, das sowohl den Hunger des Kindes stillt als auch Lust erzeugt. Solange das Lustempfinden durch die Nahrungsaufp.ahme miterzeugt wird, kann es nicht völlig unterbunden, aber eingeschränkt werden, indem man dem Kind Brust oder Flasche nur so lange läßt, wie das zur Ernährung unbedingt notwendig ist. Wenn das Kind nur noch nuckein will, hat man entweder keine Zeit mehr, oder man meint, es schadet dem Kind, weil es davon Blähungen bekäme. Kindliche Sexualität, im engeren Sinn, hat noch keine andere Funktion als Lust zu erzeugen und kann daher vollkommen unterdrückt werden. Die Funktion dieser Unterdrückung ist dem Kind eindeutig klarzumachen: Nicht es selbst, sondern Stärkere, denen es ausgeliefert ist, bestimmen Über seine Triebe und seinen Körper. Die Verbreitung von physischen Züchtigungen läßt sich damit erklären. Da die Eltern, die das Kind strafen und einengen, gleichzeitig die wichtigsten Liebesobjekte sind und sie allein Sicherheit gewähren, kann das Kind seine Wut, die sie in ihm erzeugen, nicht gegen sie kehren, weil das bestraft wird. So bleibt nur, die Wut zu verdrängen. Im Unbewußten lebt sie aber weiter und sucht sich Auswege, die in Schwächeren gefunden werden, an denen dann aller Haß und alle Wut entladen werden. So entsteht der für den Kapitalismus notwendige Charakterzug der Unterwerfung unter einen fremden Willen (ein den Bedürfnissen entgegengesetzes Prinzip) und mangelnde Vertretung der eigenen Interessen.)
Die bürgerliche Sexualmoral ist für ihn der Hebel, über den Menschen ausbeutbar gemacht werden. Sie entstand mit dem Kapitalismus und entwickelte sich bis zur Prüderie des 19. Jahrhunderts. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die durch die kapitalistische Produktionsweise nicht aufgehoben wurde, erzwang, daß auch die Formen der sexuellen Unterdrückung geschlechtsspezifisch sind. Für die Männer bedeutet es Funktionalisierung und Unterwerfung von Körper und Psyche unter den Arbeitsprozeß; im Proletariat direkte Anpassung an die Maschine - der Mensch, sein Körper, als Anhängsel der Maschine -, im Bürgertum Anpassung an Leistungs- und Profitzwang. »Der Körper wurde von einem Lustorgan zu einem Leistungsorgan umgeformt. So entwickelte das Bürgertum eine Leistungsmoral, die das lustvolle Erleben von Sexus und Eros unmöglich macht.«* (* Anm. Seifert: J. van Ussel: Sexualunterdrückung. Hamburg 1970, S. 39.)
Während die Unterwerfung der Männer permanent durch die objektiven Zwänge der kapitalistischen Produktionsweise aufrechterhalten wird, unterliegen die Frauen diesen Zwängen aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung seltener oder nur teilweise. Um so wichtiger ist es bei ihnen, die Unterdrückung ihrer Körperlichkeit durch Verinnerlichung der Sexualmoral zu garantieren. Sonst wären sie ja eine permanente erotische Bedrohung für die Männer, und damit für deren Leistungsfähigkeit.* (Anm. Seifert: Daran mag es liegen, daß seit der Liberalisierung der Sexualmoral sexuelle Oberforderung der Männer als bedrohliche Folge besonders in den USA ernsthaft diskutiert wird.)Männliche Vorherrschaft und sexuelle Emanzipation
Damit ist nicht gesagt, daß durch die Unterdrückung von Sexualität nicht immer noch männliche Vorherrschaft durchgesetzt wird. Wo dies noch in individuellen Beziehungen eine Rolle spielt, ist solch männliches Verhalten keineswegs mehr gesellschaftlich sanktioniert, während das Durchsetzen herrschender Prinzipien, die eben männliche sind, immer noch auch auf diesem Weg geschieht. Diese Prinzipien garantieren Männern auf gewissen Gebieten, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit, Vorteile.* (Anm. Seifert: Vgl. dazu die Nachbemerkungen zur Frauenerwerbsarbeit S. 185ff. und Politischer Gleichberechtigung S. 215 ff. dieses Buches).
Zu fragen ist, ob das auch für die Sexualität gilt, Männer also auch auf diesem Gebiet patriarchalische Interessen zu verteidigen haben, wenn sie bestimmten Rollenerwartungen genügen, oder ob sie dann bloße Agenten fremder Interessen sind. Geht man davon aus, daß Sexualität im Interesse einer an Profit und nicht an den menschlichen Bedürfnissen orientierten Wirtschaft unterdrückt werden muß, dann müssen auch beide Geschlechter von der Unterdrückung betroffen sein, da Sexualität ja beständig auf Beziehung zwischen den Geschlechtern angewiesen ist. Frauen sexuell zu unterdrücken, um männliche Vorherrschaft aufrechtzuerhalten, ergibt sich aus den gesellschaftlichen Strukturen selbst nicht notwendig - wie das z. B. auf dem Arbeitsmarkt der Fall ist, wo völlige Gleichberechtigung bei sonst unveränderten Strukturen einen Teil der Männer arbeitslos machen würde. Das Verhältnis der Männer und Frauen zueinander ist durch folgende Aspekte bestimmt: Die gesellschaftlichen Verhältnisse zwingen die Männer, wie bereits weiter oben beschrieben, sich im Dienste der kapitalistischen Produktion zu funktionalisieren, was auf ihr Sexualverhalten zurückschlägt: Ihre Sexualität funktioniert, entbehrt aber der extrafunktionalen Beigaben. Gefühle, Zärtlichkeit und Sinnlichkeit können sich gegen Anpassung an Maschinen und Leistungsprinzip nur schwer erhalten. Diese Beigaben können Frauen, die immer noch auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter hin erzogen werden, eher erhalten. Kinder und Männer würden auch psychisch verelenden, wenn die Frauen nicht zu nicht-zielbestimmten Handlungen fähig wären. So sehr die Frauen durch den Zwang, die Sexualmoral zu verinnerlichen, ihrem Körper als Sexualobjekt im engeren Sinn entfremdet sind, so sind sie in den meisten Fällen doch in der Lage, eine gewisse Wärme und Geborgenheit zu geben.
Der Mechanismus der gesellschaftlichen Unterdrückung liegt bei den Frauen darin, daß sie aufgrund ihrer mangelnden Identität (Anm. Seifert: Vgl. dazu Nachbemerkung zu Frauenarbeit S. 184) sich ihrer wirklichen Bedürfnisse und ihres eigenen Körpers nur sehr schwer bewußt werden können. Vielmehr warten sie passiv darauf, daß sie auf Bedürfnisse anderer reagieren können. Daher hängt auch die Wertschätzung ihrer eigenen Person - ihres eigenen Körpers von der Wertung durch andere ab. Frauen müssen von klein an lernen, sich nicht mit den eigenen Augen, sondern mit den Augen der Männer schlimmer: des eigenen Mannes - zu sehen und ihren Wert daher zu beziehen. Hierin liegt der Ansatz, daß immer von der männlichen Unterdrückung weiblicher Sexualität ausgegangen wird. Mir scheint das eine oberflächliche Betrachtung zu sein, weil die Anpassung der Frauen an die Männer dieselbe Funktion hat wie deren Anpassung an Maschine und Leistungsprinzip. In der Beziehung selbst halte ich beide Partner für gleich unterdrückt, wenn auch mit anderen Mechanismen.* (Anm. Seifert: Das heißt nicht, daß bei einer gesellschaftlichen lnstitutionatisierung dieser Partnerbeziehungen, z. B. durch Ehe, nicht wieder patriarchalische Mechanismen wirken).
Eine Strategie, die meint, daß individuelle Emanzipation der Frauen in den sexuellen Beziehungen zu beginnen habe, ist angesichts der Situation fragwürdig, wenn nicht sogar falsch. Wenn mangelndes Selbstbewußtsein die Ursache auch von mangelnder sexueller Eigenständigkeit der Frau ist, dann gewinnt sie diese nicht damit, daß sie sich gegen einen Gleichschwachen durchsetzt. Sich als Schwacher Schwachen gegenüber als stärker zu erweisen, ergibt kein Selbstbewußtsein. Frauen könnten vielleicht eher durch Bewußtmachen der Schwäche auch den Männern gestatten, nicht mehr nur stark sein zu müssen.Die sozialistische Bewegung und die Sexualität
Wenn wir noch einmal auf die Ausgangsfrage zurückkommen, weichen Stellenwert der Kampf für sexuelle Emanzipation innerhalb der sozialistischen Bewegung spielen soll, könnte zusammengefaßt gesagt werden, daß die Liberalisierung der Sexualmoral zwar zu freizügigerem Sexualverhalten geführt hat, aber aufgrund der unveränderten gesellschaftlichen Verhältnisse Körper und Psyche der Menschen weiter auf bestimmte restringierte Verhaltensweisen festgelegt sind.* (* Anm. Seifert: Die Gesellschaft gesteht heute z. B. beiden Geschlechtern bereits in der Pubertät eine Phase des Probierens - auch auf sexuellem Gebiet - zu. Wie alle Befragungen zeigen, begreifen die Jugendlichen diese Phase selbst als Übergang zu einer monogamen, lebenslänglichen Ehe, in der die Treue eine übergeordnete Rolle, spielt. D. h., die Sexualität des Jugendlichen zulassen, bedeutet noch lange nicht, sie nicht doch zu kanalisieren).
Die Liberalisierung hat nicht dazu geführt, daß aus dem »Leistungsorgan« wieder ein »Lustorgan« werden konnte.
Andererseits sind Erwartung und Anspruch an Lusterfüllung viel höher geworden, ohne daß die Menschen in der Lage wären, ihre Hoffnungen zu realisieren. Dieses Auseinanderklaffen von Wunsch und Realität ist nicht mehr unbewußt; so können auch die ambivalenten Gefühle* (*Anm. Seifert: Die Erziehung, die alles Sexuelle tabuisierte, mußte auch dafür sorgen, daß dieser Vorgang verdrängt und damit nicht mehr bewußt war. Die mit der Verdrängung einhergehenden Gefühle (vgl. Fußnote S. 130 ff.) Liebe und Haß unterlagen ebenfalls der Verdrängung) nicht mehr so leicht verdrängt werden. Die in den Beziehungen entstehenden Enttäuschungen werden als individuelles Versagen begriffen und sind ein dauernder Zündstoff. Eine Bewegung, der die Veränderung der Produktionsverhältnisse nur Voraussetzung für eine veränderte Lebenspraxis ist, müßte diese privaten Konflikte aufgreifen, denn an ihnen wird erfahrbar, wie die herrschenden Verhältnisse bis ins Intimleben deformierend wirken. Solche Aufklärung könnte ein Potential an Sensibilität - verstanden als Fähigkeit, die gesellschaftlichen Mißverhältnisse intellektuell und gefühlsmäßig zu begreifen - schaffen, das erst ermöglicht, den Anspruch nach veränderter Lebenspraxis inhaltlich zu füllen. Einer Praxis, die auch private Probleme als politisch begreift, steht entgegen:
- daß Sensibilisierung und damit verbundenes Leiden (weil die psychischen Deformationen ja nicht so leicht aufhebbar sind) selbst wieder Ängste erzeugt, die einzelne und Organisationen dazu verleitet, feste Verhaltensregeln - linke Promiskuität oder linke Monogamie - zu propagieren;
- daß schwer zugegeben werden kann, daß die Mühe, die man sich gibt, um z. B. Beziehungen zu verbessern, im Moment nicht von vollem Erfolg gekrönt sein kann, daß man also mit »offenen Wunden« leben muß;
- die Angst, Gefühle auch als politisches Problem zu begreifen, was zur Aufrechterhaltung der alten Trennung von Privatem und Öffentlichem zwingt;
- die Meinung, die Arbeit an den privaten Beziehungen würde die Mitglieder von der relevanten öffentlichen Arbeit abhalten;
- daß nicht eingesehen wird, daß nicht bearbeitete private Probleme auf öffentliche politische Arbeit wirken können: einmal, daß man nicht genügend Energie frei hat, um überhaupt politisch arbeiten zu können, oder aber unbewußt die privaten (Nicht)Konfliktlösungen, wie Dominanz des einen Partners über den anderen, Verleugnen, Verdrängen oder Herunterspielen, auch auf öffentliche Konflikte anwendet oder daß man Erwartungen, die in privaten Beziehungen nicht erfüllt werden, an die Organisation stellt und dann z. B. aus Angst vor Liebesverlust einen abweichenden Standpunkt oder eine unpopuläre Idee nicht vertritt;
- die Angst, daß Schwierigkeiten entstünden, wenn man die in den vorgenannten Punkten enthaltenen Probleme aufnähme, daß die Anhänger resignieren würden.
Mit einer Bewegung, die es verstehen würde, private Probleme nicht abzuwürgen, sondern anzugehen, könnten sich Kräfte - wie Sensibilität und Phantasie - verbinden, die sonst immer in den eigenen vier Wänden eingeschlossen bleiben. Die Anhänger müßten dann keineswegs resignieren, sondern könnten diese Kräfte nutzen, die Ursachen individuellen Leids kollektiv zu überwinden.