Ehe als Beruf
»Ehe und Familie sind die Grundlagen des Staates; wer daher Ehe und Familie angreift, greift die Gesellschaft und den Staat an und untergräbt beide«, rufen die Verteidiger der heutigen Ordnung. Die monogamische Ehe ist, wie zur Genüge bewiesen wurde, Ausfluß der bürgerlichen Erwerbs- und Eigentumsordnung, sie bildet also unbestreitbar eine der wichtigsten Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, ob sie aber den natürlichen Bedürfnissen und einer gesunden Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entspricht, ist eine andere Frage. Wir werden zeigen, daß diese auf den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen beruhende Ehe mehr oder weniger Zwangsehe ist, die viele Übelstände aufweist und vielfach ihren Zweck nur unvollkommen oder gar nicht erreicht. Wir werden ferner zeigen, daß sie eine soziale Einrichtung ist, die für Millionen unerreichbar bleibt und keineswegs jene auf freier Liebeswahl beruhende Ehe ist, die, wie ihre Lobredner behaupten, allein dem Naturzweck entspricht.
Mit Bezug auf die heutige Ehe ruft John Stuart Mill: »Die Ehe ist die einzige wirkliche Leibeigenschaft, welche das Gesetz kennt.«
Nach der Auffassung Kants bilden Mann und Frau erst den ganzen Menschen. Auf der normalen Verbindung der Geschlechter beruht die gesunde Entwicklung des Menschengeschlechtes. Die Befriedigung des Geschlechtstriebs ist eine Notwendigkeit für die gesunde physische und geistige Entwicklung des Mannes wie der Frau. Aber der Mensch ist kein Tier, und so genügt ihm für die höhere Befriedigung seines ungestümsten Triebes bloß physische Stillung nicht, er verlangt auch geistige Anziehungskraft und Übereinstimmung mit dem Wesen, mit dem er eine Verbindung eingeht. Sind diese nicht vorhanden, so vollzieht sich die geschlechtliche Vermischung rein mechanisch, und sie ist alsdann eine unsittliche. Der höherstehende Mensch verlangt, daß die beiderseitige Anziehungskraft auch über die Vollziehung des Geschlechtsaktes hinaus dauere und seine veredelnde Wirkung auf das aus der beiderseitigen Verbindung entsprießende Lebewesen ausdehne.[5] Die Tatsache, daß solche Ansprüche in der heutigen Gesellschaft an unzählige Ehen nicht gestellt werden können, veranlaßte auch Varnhagen v. Ense zu schreiben: »Was wir in dieser Art vor Augen hatten, sowohl von geschlossenen als von noch zu schließenden Ehen, war nicht gemacht, uns von solcher Verbindung einen guten Begriff zu geben; im Gegenteil, die ganze Einrichtung, der nur Liebe und Achtung zugrunde liegen sollte und die wir in allen diesen Beispielen eher auf alles andere gegründet sahen, wurde uns gemein und verächtlich, und wir stimmten schreiend in den Spruch von Friedrich Schlegel ein, den wir in den Fragmenten des >Athenäums< lasen: Fast alle Ehen sind Konkubinate, Ehen an der linken Hand oder vielmehr provisorische Versuche und entfernte Annäherungen zu einer wirklichen Ehe, deren eigentliches Wesen nach allen geistigen und weltlichen Rechten darin besteht, daß mehrere Personen nur eine werden sollen.«[6]
Das ist ganz im Sinne Kants gedacht. Die Freude an der Nachkommenschaft und die Verpflichtung gegen diese machen das Liebesverhältnis zweier Menschen zu einem länger dauernden. Ein Paar, das in ein Eheverhältnis treten will, soll sich also darüber klar sein, ob sich die beiderseitigen Eigenschaften zu einer solchen Verbindung eignen. Die Antwort müßte aber auch unbeeinflußt erfolgen können. Das kann aber nur geschehen durch die Fernhaltung jedes anderen Interesses, das mit dem eigentlichen Zwecke der Verbindung, Befriedigung des Naturtriebs und Fortpflanzung des eigenen Wesens in der Fortpflanzung der Rasse, nichts zu tun hat und durch ein Maß von Einsicht, das die blinde Leidenschaft zügelt. Da jedoch diese Bedingungen in der gegenwärtigen Gesellschaft in ungemein zahlreichen Fällen nicht vorhanden sind, so ergibt sich, daß die heutige Ehe vielfach entfernt ist, ihren wahren Zweck zu erfüllen, und daß es daher nicht gerechtfertigt ist, sie als eine ideale Institution anzusehen.
Wie viele Ehen von ganz anderen Anschauungen aus als den dargelegten geschlossen werden, läßt sich nicht beweisen. Die Beteiligten sind interessiert, ihre Ehe vor der Welt anders erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit ist. Es besteht hier ein Zustand der Heuchelei, wie ihn keine frühere Gesellschaftsperiode in ähnlichem Maße kannte. Und der Staat, der politische Repräsentant dieser Gesellschaft, hat kein Interesse, Untersuchungen anzustellen, deren Resultat die Gesellschaft in ein bedenkliches Licht setzte. Die Maximen, die der Staat selbst in bezug auf die Verehelichung seiner Beamten und Diener verfolgt, vertragen einen Maßstab nicht, wie er der Ehe zugrunde liegen soll.* (* Offiziere brauchten z. B. eine Heiratsgenehmigung, die nur beim Nachweis materieller Sicherungen gegeben wurde, da das Gehalt eines Leutnants nicht zu einer standesgemäßen Lebensführung ausreichte. (M.S.)
(...)
Die Ehe soll eine Verbindung sein, die zwei Menschen aus gegenseitiger Liebe eingehen, um ihren Naturzweck zu erreichen. Dieses Motiv ist aber gegenwärtig in den seltensten Fällen rein vorhanden. Die große Mehrzahl der Frauen sieht die Ehe als eine Versorgungsanstalt an, in die sie um jeden Preis eintreten muß. Umgekehrt betrachtet ein großer Teil der Männerwelt die Ehe vom reinen Geschäftsstandpunkt aus und erwägt und berechnet aus materiellen Gesichtspunkten die Vorteile und Nachteile derselben. Und selbst in die Ehen, für die niedrige und egoistische Motive nicht maßgebend waren, bringt die rauhe Wirklichkeit so viel Störendes und Auflösendes, daß nur in seltenen Fällen die Hoffnungen erfüllt werden, welche die Eheschließe,-iden in ihrem Enthusiasmus erwarteten. Das ist natürlich. Soll die Ehe beiden Gatten ein befriedigendes Zusammenleben gewähren, so erfordert sie neben der gegenseitigen Liebe und Achtung die Sicherung der materiellen Existenz, das Vorhandensein desjenigen Maßes von Lebensnotwendigkeiten und Annehmlichkeiten, das sie glauben, für sich und ihre Kinder notwendig zu haben.
Die schwere Sorge, der harte Kampf um das Dasein sind der erste Nagel zum Sarg ehelicher Zufriedenheit und ehelichen Glückes. Die Sorge wird aber um so größer, je fruchtbarer sich die eheliche Gemeinschaft erweist, also in je höherem Grade sie ihren Zweck erfüllt. Der Bauer zum Beispiel ist vergnügt über jedes Kalb, das seine Kuh ihm bringt, er zählt mit Behagen die Zahl der jungen, die ein Mutterschwein ihm wirft, und mit Befriedigung berichtet er das Ergebnis seinen Nachbarn; aber er blickt düster, wenn seine Frau ihm zu der Zahl seiner Sprößlinge, die er glaubt ohne schwere Sorgen erziehen zu können - und groß darf sie nicht sein, einen neuen Zuwachs schenkt, um so düsterer, wenn das Neugeborene das Unglück hat, ein Mädchen zu sein.
(...)