Charisma und Auftrag
Wer fühlt sich nicht zu den großen Gestalten der christlichen Tradition hingezogen? Aber indem man sie groß findet und ihnen im literarischen Sinne Bewunderung und Anerkennung zollt, geschieht eigentlich noch nichts. Im Gegenteil, man schafft damit sogar die Möglichkeit, daß jenes Ereignis profaniert wird, aus dem jede dieser Gestalten lebt.
Konkret gesprochen: Auch für viele nicht mehr christliche Menschen gelten etwa die Madonnen des Lukas Cranach als höchster Ausdruck menschlicher Liebe und Hingabe, und zwar unter der Voraussetzung einer heute geschichtlich überholten, eben der religiösen Bewußtseinslage der Menschheit. Oder man versucht die Stätten Luthers und Elisabeths von Thüringen mit dem Hinweis gelten zu lassen, daß dies die Persönlichkeiten seien, welche die Menschheit, zwar noch auf der Grundlage des Religiösen, so doch immerhin der heutigen aufgeklärten Weltanschauung nähergebracht haben. Ein solches Verhältnis zu den Gestalten der christlichen Tradition verliert sich in bloßen Humanismus.
Hier scheiden sich die Geister, und man muß erkennen, daß die so betrachteten christlichen Gestalten nichts mehr sind; denn sie sind ihrer Spiritualität beraubt. Sicher ist es wahr, daß jede von ihnen auch zugleich eine »soziale Revolution« bedeutet hat, jedoch in einem ganz anderen Sinne.
In diesem Buch ist von Frauengestalten die Rede. Man könnte meinen, es solle wie in der älteren Hagiographie an einer Reihe von Frauen, die aus der Anonymität des gewöhnlichen Frauenlebens herausragen, für alle anderen das Vorbildhafte erarbeitet werden. Die Dinge liegen jedoch etwas anders. Es geht uns vor allem — und das klingt vielleicht ein wenig anspruchsvoll — um das Wirken Gottes im Erfahrungsbereich der Frau.
Dazu müssen auch die verschiedenen Lebensformen der Frau beschrieben werden, wie sie im Laufe der Geschichte zum Vorschein gekommen sind. Wir können es in diesem Rahmen nur für unseren westlichen Kulturkreis versuchen, vom Alten und Neuen Testament über die christlich-abendländische Kulturentwicklung bis zur unmittelbaren Gegenwart. Dabei sollen jedoch nicht die außerchristlichen Möglichkeiten der Gotteserfahrung bestritten werden.
Diese geschichtlich sich entfaltenden, doch immer irgendwie gleichbleibenden Lebensformen ebnen das Einmalige der Ausnahmesituation wieder ein in das allgemein menschliche Dasein. Sie lassen die jeweilige Gestalt in einem weiteren Umkreis erkennen. Die Einsamkeit heilsgeschichtlicher Verantwortung, dichterischer und theologischer Weltdeutung bleibt, aber das irdische Gefüge ist darum nicht aufgehoben. Nur weil zur normalen Lebensform zurückgefunden wird, sosehr sie auch transzendiert sein muß, können von diesen Frauengestalten neue Impulse ausgehen und die Lebensformen selbst weitergebracht werden im Hinblick auf die endgültige Vollendung.
Dieses Buch betrachtet verschiedene Frauengestalten mit ziemlich weitem geschichtlichem Abstand voneinander. Es geschieht unter dem Gesichtspunkt des Auftrags. Auftrag aber ist Charisma, Im Grunde handelt es sich dabei um die alte Frage nach dem Zusammenwirken von schöpferischer Eigentätigkeit des Menschen und der übergreifenden Kraft des Geistes Gottes.
Charismen sind Geistesgaben für die jetzige Weltzeit, soziale Gaben und Begabungen für das irdische Miteinander, spontane Fähigkeiten, in anderen die Spiritualität zu wecken. Das Neue Testament nennt vor allem die Gabe der Sprachen, die dadurch zum Charisma wird, daß sie die Menschen prophetisch ergreift, auf-erbaut und zu Werken des Friedens mahnt.
Die mittelalterliche Theologie hat die im Neuen Testament beschriebenen Charismen unter die gratiae gratis datae (Auftragsgnaden) eingereiht, und nicht unter die gratia gratum fadens (Heiligungsgnade). Daran ist weniger der negative Aspekt von Bedeutung, daß man ein Charisma empfangen könne, auch wenn man nicht im »Stande der Gnade« sei, sondern der positive: Durch das Charisma fühlt man sich zu etwas angetrieben, das mehr ist als man selbst; man weiß sich zu einem Auftrag verpflichtet, dessen Zielsetzung einem vielleicht nicht von Anfang an klar ist, den man vielmehr erst im Laufe des Weges immer deutlicher erkennt. Die besondere Geistesgale bewirkt, daß der Mensch etwas tun kann, das er selbst mit allem, was er ist und hat, wohl irgendwie zu decken vermag, das aber doch über ihn hinausreicht.
Solcher Geistbesitz wird vom Menschen als eine Kraft erfahren, an der man teilhat, die aber doch niemals so zur menschlichen Immanenz werden kann wie etwa die eigene Intellektualität oder Willenshaltung. Dies ist auch der eigentliche Grund dafür, warum sich eine rein humanistische Heraushebung jener Gestalten verbietet, die unter einem solchen Auftrag stehen. Ihre in einem spirituellen Sinne soziale Gabe ordnet sich von selbst wieder in den allgemeinen Rahmen des Menschenlebens ein, wofür sie gegeben wurde.
Es gehört zur Geistverheißung Jesu, daß das Charisma bis zum Ende der Zeiten eine Wirklichkeit bleibt und keineswegs nur für die ersten christlichen Generationen geschenkt war.
Die charismatischen Begabungen bleiben nicht verborgen. Sie werden von den anderen Menschen wahrgenommen als das Tröstende, Erhebende, Klärende, Weiterführende und Überwindende alles Unzulänglichen. Nicht bloß außerhalb, sondern auch in den rechtlichen Strukturen, nicht bloß mit einem innerkirchlichen Sinnbezug, sondern auch über die Kirche hinaus in die Menschheit können sich die Geistesgaben für diese Weltzeit wirksam erweisen. Im Sinne des Charisma hat es auch noch nie eine Beschränkung der Frau gegeben, sondern nur im rechtlich-institutionellen Sinne. Diese charismatische »Freiheit der Frau«, deren treffendstes Beispiel wohl die Tat der Katharina von Siena ist, gab ihr in jenen früheren Geschichtsepochen eine Stellung, die für sich sprach und deshalb jedem Gedanken an eine Konkurrenz zum Mann enthoben war.
Heute gibt es eine Vergleichbarkeit der Situation von Mann und Frau aufgrund der neuen soziologischen und staatsbürgerlichen Verhältnisse. Aber dennoch bleibt bestehen, daß auch die modernen Strukturen und Lebensformen beim Mann wie bei der Frau den Raum für das Auftragsbewußtsein freigeben. Das Charisma kann in unserer bewußter gewordenen Zeit auch an den Bildungsstand und die berufliche Stellung des einzelnen anknüpfen, so wie es zu früheren Zeiten alle diese Vorgegebenheiten, ersetzte. Jedenfalls muß nicht etwa durch die Frauenbewegung und ihre erreichten Ziele der rechtlichen Gleichstellung jenes Charismatische verlorengehen, das der Frau früher ihre besonderen Möglichkeiten verlieh, ebenso wie auch« ihr menschliches Geheimnis deshalb nicht aufgelöst wird.
Wenn man zudem noch an die Selbstverständlichkeit denkt, mit der Paulus im 1. Korintherbrief über die charismatischen Gaben spricht, so fühlt man sich ermutigt, auch heute mit ihnen zu rechnen. Nicht das Außergewöhnliche und das Herausragen einzelner, sondern das Ergriffensein vieler ist der Sinn der charismatischen Gaben.
Deshalb ist auch in religiös-geistlicher Hinsicht ein unbedingter Aufstiegswille immer verdächtig, denn es geht ja nicht nur um das eigene Fortkommen, sondern um die Erfüllung eines Auftrags kraft der Mitmenschlichkeit. Gerade diejenigen, von denen die religiös-geistlichen Impulse ausgehen, verstellen sich als normale Durchschnittschristen, und je mehr sie es tun, desto stärker verlebendigen sie das Ganze. So war es auch bei der von Papst Johannes gelebten Brüderlichkeit zu allen Menschen guten Willens.
Da nun der charismatische Auftrag über die verschiedenen Stände und den Unterschied von Mann und Frau zunächst einmal hinweggeht, hätte es nahegelegen, in diesem Buche sowohl auf männliche wie weibliche Gestalten einzugehen. Aber da die jeweilige menschliche Person von diesem Auftrag selbst zuinnerst betroffen und umgestaltet wird, haben wir uns darauf beschränkt, die spirituellen Entfaltungsmöglichkeiten weiblichen Personseins zu beschreiben. Dies gibt uns zugleich die Voraussetzung zu einer systematischen Schlußbetrachtung, welche sich um ein zeitgemäßes christliches Menschenbild bemüht.