- Wir verdanken der modernen Pädagogik die Einsicht, daß alle Lebensstufen - also z.B. Kindheit, Erwachsensein und Greisentum - ihren Sinn und Wert in sich selbst tragen und weder aufeinander bezogen werden müssen, noch voneinander ihren Sinn bekommen können. Man weiß also nun, daß Kinder nicht nur zu klein geratene Erwachsene sind, Greise nicht nur zu alt gewordene Männer. Und wenn der durchschnittliche Erwachsene zumeist nur ein groß gewordenes Kind ist oder ein Stück um Stück absterbender Mensch, so wird niemand behaupten, er bekäme seinen Lebenssinn nur in der Bezogenheit auf seine Kindheit oder sein Greisenalter. Damit ist theoretisch wenigstens eine grundlegende Wandlung eingetreten, die in ihrer Konsequenz dahin führen muß, daß zunächst jede Lebensstufe autonom wird. Daß die Imitation des einen Alters durch das andere aufhört, daß jede Lebensstufe im Gefühl ihrer Eigenwertigkeit, ihrer eignen Gesetzlichkeit ihren vollen Wert erarbeitet. Darüber hinaus aber, daß, wenn jeder Querschnitt durch das Leben einen vollen Wert ergibt, auch das Leben vollwertig sein muß, oder anders gesagt, daß jeder Mensch seinen Sinn, sein Ziel, seinen Zweck, seinen Wert in sich selbst hat, daß er autonom ist, zu seiner Vollendung nicht einen fremden Menschen und einen fremden Zweck nötig hat. Das erst bedeutet die volle Autonomie des Menschen in jedem Alter und die Möglichkeit der Selbstvollendung, der Vollkommenheit in jeder Lage und an jedem Tag.
- Wir wissen, daß die Pädagogik diese Konsequenz nicht gezogen hat und lassen unerörtert, warum sie sie nicht ziehen konnte. Die Autonomie des Menschen muß jedenfalls aus der Autonomie der Lebensstufen folgen, sonst ist das Ganze eine sinnlose Spielerei und eine zwecklose Theorie. Und in der Tat läuft die Arbeit aller einsichtigen Erzieher - die zumeist außerhalb der Pädagogik stehn - darauf hinaus, den Menschen, welcher in Imitationen und Bezogenheiten gelebt hat, auf sich hinzuführen, ihm die Fremdzwecke und Bezogenheiten wegzuräumen. Der Mensch soll gewöhnt werden, zunächst für sich selbst (im Doppelsinn) zu leben, seine in ihm liegenden Aufgaben durchzuführen, ehe er mit andern leben darf und Aufgaben außerhalb von ihm zu lösen bekommt.
- Für jeden Menschen ist die Selbständigkeit nach den jahrtausendealten Bezogenheiten schwer zu erreichen, doppelt schwer aber für die Frau. Man hat ihr immer wieder eingebläut, daß sie ihre Vollendung im Mann und im Kind zu suchen habe, in der Hingabe (!) und in der Fortpflanzung und hat ihr andrerseits gepredigt, daß diese ihre Aufgabe nur durch Selbstaufgabe zu lösen sei. Von diesem Aberglauben an Mann und Kind und die Wohlgefälligkeit des Opfers "seinen Kindern leben" ist die Frau nur sehr schwer zu heilen. Es ist die Ursituation der Abhängigkeit und Bezogenheit, die vorbildliche Verstricktheit. Fällt diese Bezogenheit, müssen die andern hinterdrein fallen. Darum ist die Autonomie und Selbstvollendung der Frau in einer Änderung der Weltlage enthalten. (Aber es ist falsch zu sagen: Aufgabe der Frau ist es, die Weltlage zu ändern.)
- Der Aberglaube an Mann und Kind (und Geschlecht) beschattet noch heute das Leben der meisten Frauen und läßt es nicht ausreifen. Der Aberglaube sowohl, daß nur durch Mann und Kind ihr Leben vollendet werden könne, als auch der, daß es schon genüge, Mann und Kinder zu haben, um reif zu werden, daß in der Ehe oder sonst einer Geschlechtervereinigung eine Reife "von selbst" nachgeholt wird, die vor der Ehe nicht bestanden hat. Tatsächlich aber ist es so, daß, wer nicht reif in die Ehe eintritt, darin untergeht, wer nicht vorher bei sich war, auch nachher nur sehr schwer zu sich kommen kann. Die Frauen, die in die Ehe hineingehn, um sich zu vollenden, müssen enttäuscht werden. Denn weder aus dem Männlichen, noch aus dem Kindlichen, weder aus dem Geschlecht, noch aus der Kinderaufzucht kommt die Vollendung der Frau, sondern allein aus ihr selbst. Sie müssen aber auch enttäuschen, denn weder mit dem Geschlechtlichen, noch mit der Kindererziehung ist der Beitrag zu einer guten Ehe bezahlt, sondern nur mit etwas spezifisch Weiblichem, das wir zunächst nicht benennen wollen.
- Der Kampf um die Selbstvollendung der Frau wurde gestern unter dem Schlagwort der Emanzipation mit dem Ziel der äußeren Unabhängigkeit geführt. Die Ergebnisse sind: Verschärfung des Lagebewußtseins, bessere Orientierung im Weltraum, größere Möglichkeiten ökonomischer Selbstständigkeit und - wenigstens in weiten Kreisen Befreiung von der Mannsforderung der Virginität. Jede Frau kann heute wissen, wo sie steht. Sie kann und soll so weit vom Geldbeutel des Mannes unabhängig sein, daß sie nicht aus Geldgründen bleibt, wenn sie gehn sollte und sie hat die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse und Eigenarten in sexueller Hinsicht kennenzulernen, ohne durch dieses Kennenlernen ihr ganzes Leben aufs Spiel zu setzen und ihre bürgerlichen Aussichten zu riskieren. Das alles ist gut. Es ist ferner bewiesen, daß die Frau ohne Schaden vieles arbeiten kann, was früher allein der Mann arbeitete und es wird sich erweisen, daß manches von den Frauen sogar besser gearbeitet wird. Aber in diesem allem bleibt die Bezogenheit auf den Mann, bleibt Vergleich, Kampf, Konkurrenz mit dem Mann und damit die Anerkennung einer rein männlichen Außenwelt sowie die Angleichung an sie. Damit ist uns aber nicht gedient.
- Damit wäre uns gedient, wenn wir diese männliche Wirklichkeit lebenswert fänden. Dann würden wir den Kräftezustrom durch die weibliche Angleichung begrüßen. Da wir aber unsere Wirklichkeit lebensgefährlich und lebensfeindlich finden, sehn wir sie nicht gern verstärkt oder anerkannt. Statt der Angleichung an die männliche Wirklichkeit wäre den Frauen die Stabilisierung der weiblichen Wirklichkeit nötig. Wir sehn auch keine andere Möglichkeit, das Gleichgewicht der Welt wiederherzustellen und zu halten. Diese weibliche Wirklichkeit entzieht sich nun der Wortbeschreibung. Nennt man sie magisch-mystisch, so wird darunter ein Hokuspokus verstanden, nennt man sie materiell-spirituell im Gegensatz zur unmittelbar zweckhaften Intellektualität des Mannes, so glaubt man, es sei eine seelisch-sinnliche Angelegenheit im Gegensatz zum männlichen Geist. Am klarsten wird weibliche Wirklichkeit durch ein physikalisches Bild: männliche Wirklichkeit wäre zentrifugal, weibliche zentripetal. Männlich ist darum die Ersetzung des Lebendigen durch irgendwelche peripheren Lebensinhalte (Familie, Staat, Beruf), weiblich wäre der Versuch, von der Peripherie der Lebensinhalte wieder zum Zentrum des Lebendigen zurückzukehren (daß dieses physikalische Bild ein körperlich-reales Gegenbild hat, braucht nur erwähnt und nicht ausgeführt zu werden). Man begreift von hier aus ohne weiteres, warum die Frau so leicht in ihren weiblichen Aufgaben versagt, wenn sie einen bürgerlichen Beruf männlich-wichtig nimmt (was nichts gegen Frauenberufe sagen soll, sondern nur gegen das männliche Wichtignehmen der Berufe). Man begreift auch, daß die nicht selbstsichere, die nicht autonome Frau, die "im Mann die Erfüllung sieht", leicht durch die Sexualität an die männliche Peripherie geschwemmt wird und dann als Kraftquelle ausschaltet.
- Das Weibliche - das erscheint uns wichtig - ist etwas an sich und für sich, ein Element, das in seiner reinen Form zum Lebensaufbau und Weltaufbau nötig ist. Ein Element, das bisher im wesentlichen nur indirekt durch Mann und Kind hindurch gewirkt hat und selten direkt: durch die weibliche Tat etwa oder das weibliche Beispiel. Darüber, daß wir das weibliche Element sowohl im Weltaufbau als auch in der Weltordnung brauchen, kann nach soviel verfehlten männlichen Regierungs- und Ordnungsversuchen kein Zweifel mehr sein. Zweckhaft nämlich im männlichen Sinn, zu bestimmten Zielen und nach bestimmten Rezepten will das Leben nicht geordnet sein. Das hat sich tausendmal gezeigt und wird sich immer wieder zeigen. Nicht nach Zielen und Zwecken kann das Leben gelebt werden, nicht von der Peripherie und vom Objekt her, sondern allein vom Zentrum, vom Lebensträger, vom Subjekt her. Je mehr darum im Augenblick die zentripetalen Tendenzen des Weiblichen an Kraft gewinnen, je mehr sie in die Lebensführung eingreifen, um so kräftiger wird das allgemeine Lebensgefühl zum Vorschein kommen, um so konkreter, blutvoller und selbstverständlicher muß das Leben werden. Um so schneller kann der Mensch wieder das Leben selbst leben, dem er durch eine seltsame und schwer begreifliche Einseitigkeit entfremdet ist.
- Wohlgemerkt: es wird nicht behauptet, daß ein Eingriff der heutigen Frauen in die heutigen Weltverhältnisse grundlegende Veränderungen bewirken würde. Wir sind im Gegenteil der Meinung, daß diese Frauen, gewöhnt die schlechten Eigenschaften der Männer zu imitieren, nur das Unheil vergrößern und die schlechten Methoden vergröbern würden. Behauptet wird, daß aus der Erkenntnis oder (besser) dem Erlebnis der weiblichen Autonomie für die Frauen sich das neue (uralte) Gefühl ihres besonderen Eigenwertes ergeben muß, aus dem Gefühl des Eigenwertes die vollkommene Form und aus der vollkommenen Form das vollkommene Leben mit den Wirkungen nach innen (auf sie selber) und nach außen (auf die Welt). Stärkster Gegner der weiblichen Entwicklung ist nicht der Mann und die männliche verdrehte Meinung über die Frau, stärkster Gegner ist das weibliche Minderwertigkeitsgefühl, das Gefühl, an sich nichts zu sein, sondern erst durch Mann und Kind. Ein Gefühl, das die Frau treibt, sich zu erfüllen, ehe das Gefäß geformt ist. Neunzig von hundert Frauen werden nicht durch die Sinnlichkeit zu verfrühten sexuellen Bindungen und Verbindungen getrieben, sondern durch die Angst, halb fertig zu bleiben und nie fertig zu werden. Diese Angst ist schuld, daß viele Frauen die Kindheit nicht zu Ende erleben und die Jungmädchenzeit - auch eine autonome Lebensstufe mit eignem Sinn und eignem Wert - ganz überschlagen. Sie können das später nicht nachholen, aber sie versuchen es und bleiben ihr Leben lang kindisch und kleinmädchenhaft. (Denn das Ungelebte des Menschen erfordert sein Recht und bekommt es, wenn auch nur in der Verzerrung und in der Karikatur.) Von diesen Frauen also ist natürlich nichts zu hoffen, sondern lediglich von den Frauen, die im Bewußtsein ihrer Eigenwertigkeit aus dem zentralen Lebensgefühl heraus nach allen Seiten strahlend leben und handeln. Von ihnen wird die uralte Weisheit neu ausgehn, daß der Sinn des Lebens im Leben selbst steckt, das Ziel des Menschen im Menschen selbst (nämlich in der Herausstellung seiner vollkommenen Form), daß jeder Mensch autonom ist und zu jeder Stunde und in jeder Lage fertig und vollendet sein kann. Die Frau muß diese Weisheit oder Wahrheit vorleben. Der Mann kann es im Augenblick nicht. Er ist zu sehr in seine peripheren Weltordnungsbemühungen verstrickt. Er hat "keine Zeit", den Menschen auf den Menschen zurückzuführen. Die Frau aber, die gerade aus den tausend Enttäuschungen des Mann-Ehe-Kind-Kreises zu sich selbst zurückzukehren beginnt, die Frau, die sich selbst zu begreifen beginnt, die autonome Frau hat den Anstoß.
- Zum Schluß wird es nötig sein, zu betonen, daß hier weder gemeint ist, die Frau könne von nun an allein die Welt in ihrer Bahn lenken und das Leben dazu, noch auch das Weibliche sei an sich zur Weltordnung geeigneter als das Männliche oder es sei lebensnaher oder lebensreifer. Die vollkommene Form, ob männlich oder weiblich, ist immer lebensnah und lebensreif - und wirklich gelebt werden, wirklich regiert werden kann erst dann, wenn es Frauen und Männer gibt, die ihre vollkommene Form entwickelt haben. Bis das erreicht ist, wird bald der Mann und bald die Frau den Anstoß geben müssen. Wie weit sich schließlich das vollkommene Männliche und vollkommene Weibliche unterscheiden werden, das wissen wir nicht und wir mögen uns auch nicht den Kopf darüber zerbrechen. Augenblicklich scheinen uns die meisten Unterschiede sekundär und Folgen falscher, d.h. den Anlagen nicht entsprechender Handlungen und Haltungen, und jedenfalls ist jedem in jedem Augenblick die gleiche Aufgabe gestellt: sich vollkommen zu entfalten. Endlich noch eines: natürlich sind für die Frau Mann und Kind wichtig. Natürlich wird durch die erfüllte Geschlechtlichkeit das Leben reicher. Das aber ist gerade keine Besonderheit der Frau, und ein Mann ohne Frau und Kind ist auch ärmer als ein Mann mit Frau und Kind, ohne daß ihn jemand für verkrüppelt halten wird oder unfähig, ein Leben autonom zu erfüllen. Die stärkere Abhängigkeit der Frau vom Geschlechtlichen ist eine soziale Tatsache und keine menschlich notwendige. Es ist nicht einzusehn, warum der Gebärapparat eine stärkere Geschlechtsverbundenheit bedingt als der Zeugungsapparat.
Wichtig aber für Mann und Frau wäre, wenn jeder autonom bei sich Ordnung schaffte, wenn jeder schon in sich fertig und vollendet wäre, bevor er sich mit seinem Partner zusammentut und sich "ergänzt". Das würde natürlich voraussetzen, daß wir uns schneller erzögen und schneller entwickelten, daß wir schon in sehr jungen Jahren zu der uns zustehenden Form kämen. Das wäre ja aber wohl nur gut, und wenn dann wirklich zwei autonome Menschen zusammenkommen werden, so mag es wohl noch Reibung und Feuer geben, aber nicht mehr den heutigen albernen und aufreibenden Geschlechterkampf um die Herrschaft und die Unterwerfung. Denn für den autonomen Menschen sind Herrschaft und Unterwerfung blasse und überflüssige Begriffe aus barbarischen Zeiten.