Die Beziehungen der beiden Geschlechter haben sich versachlicht? Sind eines Gefühlsüberschwangs entledigt, der männlicherseits "ritterliche Frauenanbetung", weiblicherseits "restlose Hingabe“ hieß? Haben sich gar auf das Physische plus Finanzielle reduziert? Man liest das häufig. Die Gerichtssaalrubriken mit ihren Liebes- und Eifersuchtsmorden widersprechen dem. Man könnte mit dem Einwand begegnen, daß die Wendung zur "Sachlichkeit" sich vielleicht zunächst in der intellektuellen, von der neuen Literatur beeindruckten Oberschicht geltend macht, während das Volk noch in den alten Bahnen schleppt. Wie zur Zeit der Enzyklopädisten wäre überdies die notwendige materielle Volksbasis der Umwälzung auch heute schon in den versachlichten Lebens-Liebesbeziehungen des Proletariats gegeben. So stütze sich (wie 1789) das Wort von oben auf die Not von unten. Doch all das bleibt in der Luft, solange das neue Wort "neue Sachlichkeit" (seiner scheinbaren Nüchternheit zum Trotz) in allen Nuancen schillert. Scheinbar einfach begreift es eine Fülle disparater Strömungen in sich: die Forderung, das private Ich auszuschalten, über den Wichtigkeiten der Massenbedürfnisse und Massennöte die Subtilitäten der eigenen Seele gering, für ein bloßes Spiel zu achten; die Gesinnung, die die Reformation der Welt mit der Umkehr des Ich beginnen wollte, für überlebt zu halten; alle Gesinnung von derartiger Ich- und Herzbetonung als Romantik, als Illusion zu bekämpfen - nur die Tatsachen, nicht aber Deutungen und Sinngebungen und Probleme zu schätzen. Berechtigt Neues ist mit Modischem verfilzt, das nur scheinbar voran, in Wahrheit zurückführt.
Es ist auch nicht einzusehen, warum die verschiedenen Strähnen der "neuen Sachlichkeit" dauernd verkoppelt bleiben sollen. Ein Beispiel: es ist nicht einzusehen, warum "linksgerichtete" Literatur, Dichtung, die menschenunwürdige Not der vom Kapital ausgesaugten Massen als Schande empfindet, gegen die sie alle Kräfte der Menschheit aufpeitscht, warum sich solche Dichtung gerade dem heute diktierten Schema der "kalten" Energie, der Ausschaltung aller Liebes- und Herzenskräfte beugen muß. Hinter ihrer Sachlichkeit könnten unbeschadet aller Sachlichkeit Wärme und Eros fühlbar bleiben, ganz ebenso wie präzisestes Sehen der Wirklichkeit nicht notwendig dazu führen muß, alle Problematik der Welt auf den allzu vereinfachten Lösungsversuch des Materialismus abzuschieben. Die neueste Literatur bekommt mehr und mehr einen harten, kalten männlichen Zug. Ganz ebenso wie die moderne Musik antiromantisch, antisentimental klingt. Von Liebe darf weder geredet noch gesungen werden. Das verträgt sich nicht mit der "Sachlichkeit", dem obersten Postulat der Zeit. Die merkwürdige Schwenkung besteht eigentlich in folgendem: hart und maschinenmäßig formt sich die Zeit seit Beginn des 19. Jahrhunderts, seit damals jedenfalls in immer deutlicherem Ausdruck. Die Dichtung nahm jedoch eine Proteststellung ein, Flaubert erkannte wohl den erbarmungslos nüchternen Mechanismus unserer Epoche, seine Helden aber (die Bovary wie der sentimentale Frederic zerreiben sich, weil sie sich diesem Mechanismus nicht anpassen können. Dies war im wesentlichen durch Dezennien die Grundhaltung des Dichters. Im geheimen blieb er Feind der Zeitentwicklung, Feind des Amerikanismus.
Das Problem taucht auf: Haben die neuen Dichter submittiert, haben sie ihren Kampf im Namen des Geistes aufgegeben, hat die nüchterne Zeit jetzt endgültig über alle Proteste weg gesiegt? Liebe, Liebessehnsucht galt ehedem als Einblick in den tieferen Sinn des Daseins, Leidenschaft einer Frau und für eine Frau erhellte zauberhaft jene Zusammenhänge, die sich in den bloß egoistischen Beziehungen zwischen Menschen des Alltags den stumpferen Sinnen entziehen. (Was hier von Liebe gesagt wird, gilt von jeder über den Alltag hinausschlagenden adeligen Herzenswallung.) - Die junge Generation hat aus dem Krieg ein sehr berechtigtes Mißtrauen gegen alles, was Herzenswallung ist, mitgebracht. Hinter wie vielem, was edle Leidenschaft schien, hinter wie schönen Farben von Patriotismus, Ver sacrum, nationalem und erotischem Aufschwung lag nichts als Phrase, lag Ärgeres als Phrase: niedrigstes Interesse von Kriegsverdienern, politisierenden Kapitalisten! Da ist es zunächst höchst richtig und gesund, wenn eine Generation von Desillusionierten heraufwächst. Wenn man mit Remarque und Glaeser erlebt hat, wie alles sich auf den einfachen Nenner der Todesangst und eines Gänsebratens bringen läßt, wenn man solche Not und nie zu vergessende Erniedrigung der Menschenkreatur erlebt hat, dann hat man das gute Recht, alles für Schwindel zu halten - mit einziger Ausnahme des Triebes, derartige Greuelzeiten in Hinkunft von der Menschheit abzuwehren.
In dieser auf elementare Defensive vereinfachten Situation hat in der Tat Liebe und Frau und Herz und Seele nichts zu suchen. Diese Jugend verteidigt sich nur; Erlebnisse des Herzens waren stets Eroberungszüge in unbekanntes Land - im Sinn der heutigen Autoren also Luxus, Distraktion von wesentlicherem Ziel. Die jungen Autoren sehen nur den Alltag, das Dokument, die Photographie, Reportage, Sachlichkeit, über die hinaus es nichts zu erobern, hinter der es keinen Sinn zu erschließen gibt. Religiöse Deutung irgendwelcher Art erschiene ihnen als Illusion. (Dies der deutliche Abstand der "neuen Sachlichkeit" vom älteren Realismus, etwa dem Gerhart Hauptmanns.) Die modernen Autoren haben vor nichts so sehr Angst wie vor Illusionen. Durch Illusionen wurden wir in den Krieg hineingezerrt. Den Alltag nicht etwa bejahen, ihn in seiner ganzen Scheußlichkeit, Chaotik, Unmoral sehen - das erscheint als Gesetz. Vom Alltag, der als das einzig Wirkliche betrachtet wird, hinter dem es nichts Wirklicheres, Gütigeres, Liebenderes (Frauenhafteres) gibt, kann man sich nur durch Witz und Ironie distanzieren. Demgemäß wird Ironie zum einzigen Kunstmittel der jüngsten Generation. In der Dichtung wie in der Musik.
Die drei großen Erfolge der letzten Berliner Theatersaison zeigen genau in diese Richtung: "Dreigroschenoper", "Verbrecher", "Rivalen". Von der "Ausschaltung der Liebe" kann man keinen deutlicheren Begriff bekommen, als wenn man im "Theater in der Königgrätzer Straße" das amerikanische Kriegsstück in der Bearbeitung Zuckmayers über sich hinwegexplodieren läßt. Zwei Männer streiten in der Etappe um die Schenkwirtstochter. Geht der eine an die Front, gehört sie dem andern. Sind beide da, prügeln sie sich um sie. Die Frau als Gebrauchsgegenstand, als ein Stück Wärme und Lust, ohne den geringsten Schein innerer Bindung. Wie wertlos sie im Grunde den beiden Männern ist, zeigt die Schlußszene. Beide müssen an die Front, in demselben Augenblick ist ihnen die Frau ein Dreck, sie sehen sie gar nicht mehr, der Appell der Kameradschaftlichkeit siegt über alle Rivalität, Schulter an Schulter marschieren die beiden Männer eben, wieder zu Männern geworden, in den Schützengraben. Zwar sind im Akt zuvor alle Schrecken des Schützengrabens mit Piscatorscher Eindringlichkeit gezeigt worden. Man hört Granaten heranpfeifen, Schallplatte und Megaphon, Lärmmusik aller Art überfällt dein Hirn, rhythmisch gegliederte Angst strebt Höhepunkten zu, die man kaum für physisch erträglich hält, das Ineinandergreifen der Schreckensszenen steigert sich, Geschoßwind heult, die Deckungen flattern, die Latten biegen sich, rechts stürzt ein Unterstand ein, in der Mitte wimmert ein Sterbender, selbst der Kommandant schreit "Nie wieder Krieg", das alles ist von heilsamster Tendenz der Abschreckung. Rein sinnlich erlebt, wirkt es so. Der Idee nach aber, die schließlich das längerhin Wirksame bleibt... was erleben wir der Idee nach? Gar nichts. Zwei außerordentlich männliche Offiziere, die sich um ein Weibsstück raufen; männlich, falls man unter "Männlich" Fluchen, Saufen, Kartenspielen, Fressen, Puffen, Stoßen, Boxen, Ohrfeigenausteilen versteht. Und ein Schimmer von Sympathie ruht auf den beiden ja doch erst, sobald sie die Frau um der Front willen aufgeben. Klingt aber nicht in diesem Moment (die Gegensätze berühren sich) eine alte, höchst verderblich idealistische Rattenfängerweise herein, so etwa - ganz von ferne her: im Felde, da ist der Mann noch was wert ... frischauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!" Und das ist es, weshalb ich diese Bemerkungen schreibe.
Der Stil der Sachlichkeit, der Herzlosigkeit hat seine Gefahrenzone erreicht. Er steht im Begriff, umzukippen, das Gegenteil von dem zu erzielen, was er angestrebt hat. Er steuert, allen Illusionen ausgewichen, einer neuen und viel schlimmeren Illusion zu: der Apotheose des rüden, ordinären, rein animalischen Menschen. Das Herz und die Sehnsucht hat man ausgeschaltet. Was bleibt übrig: Animal! ("Dreigroschenoper" und "Verbrecher" weisen, wenn auch nicht so kraß, auf das gleiche Endziel hin.) Nun wäre ernstlich die Frage aufzuwerfen: wer hat die ärgere Schuld am Krieg, jener Menschentyp, der seine gemeine Gesinnung hinter gleißenden Illusionsphrasen von Gemeinschaft, neuer Zeit, Vaterlandsliebe (im Stil des alten romantischen Idealismus) verbarg und heute noch (teilweise auch vor sich selbst) verbirgt oder jene frischfröhlichen Gesellen nach Art der Zuckmeyerschen Rivalen, die unter Ausstoßung herzhafter Dialektscherze Revolver zücken und ein Menschenopfer für das wohlfeilste aller Argumente halten? Man kann es auch so formulieren: Ist der Krieg wirklich infolge eines Zuviel an Herz und Liebe entstanden, so daß man den Heranwachsenden diese romantischen Utensilien gewaltsam aus dem Kopf treiben muß, - wäre nicht vielmehr durch echte Liebe und Verbundenheit, deren Karikaturen allerdings im Nationalismusrausch aufs gefährlichste kriegsfördernd wirkten, all die Scheußlichkeit nackter Interessenkämpfe, die man als Kampf um höhere Güter der Menschheit aufputzte, einzudämmen gewesen? Der überzeugte Ironiker von heute wird einwenden, daß es diese echte Liebe und Menschlichkeit, daß es die Frau, nach der man sich sehnt, in Wahrheit eben nicht gibt, daß sie romantische Illusion und als solche auszurotten ist, - daß der Dichter nur die grauenvoll lieblose Wirklichkeit zu zeigen hat. Ich werde nicht mit einer Analogie des alten Bonmots antworten: Wenn es keinen Gott gäbe, so müßte man einen erfinden. Dieser gerühmte Satz ist mir nie sehr weise erschienen. Denn ein erfundener Gott ist keiner. Ich werde vielmehr dem Ironiker antworten: Seien Sie zynisch, soviel Ihnen behagt, aber seien Sie dabei nicht so sicher! Lassen Sie "Liebe". Zumindest als Problem offen. Mehr als ein schmerzliches, immer wieder schmerzlich erlebtes Problem ist sie ja auch mir nicht. Die Problemlosigkeit ist es recht eigentlich, die ich an den "sachlichen" Autoren auszusetzen habe; nicht die Sachlichkeit, nicht die Wahrheitsliebe, die mir, einem Schüler Flauberts, als Methode und Substanz der Kunst lieb sein müssen. Was bei dieser Problemlosigkeit herauskommen muß, das zeigt gerade der Fall der "Rivalen" mit erschreckender Eindeutigkeit. Man zeichnet die Kriegsrüpel objektiv, man zeichnet den Krieg sogar als das unmenschliche Grauen, das er ist, aber in dieser bewußt unmenschlichen, herzausschaltenden Darstellung erscheint mit einem dämonischen Ruck ganz zuletzt, den Autoren gewiß selbst unwillkommen und unheimlich, der Krieg als so etwas wie das verrucht angepriesene "reinigende Stahlbad". Man hat die Romantik jeglicher (auch der tief berechtigten) Observanz so lange bekämpft, bis man vom äußersten Gegenpol ihrer bösesten Spielart zutaumelt. Wer andern eine Ideologie gräbt, fällt selbst hinein.
Zynischer als Wedekind sie sah, kann man die Welt nicht sehen. Dennoch - was war das Reinigende dieser dunklen Flamme? Er zerfetzte Illusionen, bürgerliche Gegebenheiten, er tat es aber im Namen eines höheren unbürgerlichen Auftrags, über den Clownerien von Hidalla und Sonnenspektrum schwebt die Idee biologischer Höherzüchtung der Menschenrasse, über Lulu die Idee der Frau als Elementarwesen, über allem das Paradies der reinen unversetzten Sinnlichkeit. Er ist nicht weniger sachlich als die Jüngsten, aber er ist nie ohne Problem, nie unkompliziert. Vereinfachung rächt sich an den Jüngsten, indem sie sie genau da landen läßt, wo sie nicht hinwollten: in Brutalität, die eben als letzte Vereinfachung, Verarmung des Menschlichen übrig bleibt. Man könnte überdies in dieser allgemein propagierten Herzlosigkeit genau so eine Kriegsfolge sehen wie in dem allgemeinen europäischen Dalles aller Staaten. Man hat während des Krieges wie ein leichtsinniger Kridatar alles verschleudert: Werte des Materials wie des Herzens, man hat in jeder Hinsicht über seine Verhältnisse gelebt.
Die Regelung der Schulden und Reparationen wird allmählich von den Politikern gefunden, das Defizit der Herzen wird man gleichfalls hereinbringen müssen. Man wird wieder lieben. Soweit in der "neuen Sachlichkeit" die Zerstörung falscher Gloire mit enthalten ist, soll sie ihre Funktion allergründlichst erfüllen. Denn in dieser Hinsicht ist sie neuer Aufschwung und wirklicher Anfang, richtiger Protest der Jungen gegen die Kriegsmacher und Zwingherren, die noch heute am Ruder sind, Aufschrei und letzte Hoffnung der Menschlichkeit. Wenn aber mit "Sachlichkeit": Amerikanisierung, Ausschaltung des Herzens, des Problems, der Liebe gemeint ist, dann ist sie ja nicht Protest gegen Krieg, sondern seine Folge und Fortsetzung und letzten Endes (siehe "Rivalen") sogar seine Gutheißung.
Die Frau von morgen wird instinktvoll und klug die guten von den bösen Komponenten der "neuen Sachlichkeit" zu scheiden haben. Darin sehe ich ihre Bedeutung nicht bloß für den Mann und den männlichen Geist, der sich momentan mit seiner "männlichen Dichtung" in eine Sackgasse verrannt hat, sondern für die gesamte soziale Entwicklung zu einer wirklichen, nicht auf Ausbeutung beruhenden Gesellschaft und Staatengemeinschaft.