Die Frau gestern und morgen

Franz Blei gewidmet

Das, was man die neue Frau nennt, ist ein etwas verwickeltes Wesen; sie besteht mindestens aus einer neuen Frau, einem neuen Mann, einem neuen Kind und einer neuen Gesellschaft. Ich muß gestehen daß ich mir das hätte überlegen sollen, ehe ich die Aufgabe übernahm, über sie zu schreiben; dabei ist es nicht einmal ganz sicher, ob es die neue wirklich gibt oder ob sie sich nur vorübergehend dafür hält. Ich werde also nur einige ausgewählte Fragen berühren können, für die ich besonderes Interesse habe und dazu gehört seit je die veraltete Frau; deutlicher gesagt ist es in diesem besonderen Fall die zuletzt in unserer, der meisten heute lebenden Menschen Mitte veraltete. Sie ist in einer wichtigen Frage konsequenter gewesen als die neue: sie war vom Hals bis zu den Sohlen eingehüllt, während die neue erst teilweise nackt ist.
Man frage einen sechzigjährigen Herrn nach seinen Jugenderinnerungen, so wird er erklären, daß sich heute die Frau weder anziehen, noch ausziehen kann, und es ist etwas Wahres daran, worüber man sich nicht durch die Wiedergabe alter Modebilder täuschen lassen darf, auf denen die Frauen so unverständlich lächerlich aussehen, daß einem die Gegenwart, mit Verlaub zu sagen, als ein Wunder der Neuzeit vorkommt. Das sind Gebilde, aus denen das Leben geflohen ist, Zeitlupenaufnahmen der Liebe, in denen die Form als solche erschreckt, was sie immer tut, wenn sie nicht mehr vom Fluß der Empfindungen umspült wird. Macht man sich jedoch von den gegenwärtigen Vorurteilen los, auch ohne noch sich in die der Vergangenheit zu versetzen, und sieht diese Kleider und Hüte etwa an, wie man es an Barockstatuen gelernt hat, so wird man an ihnen wohl höheren Geschmack vermissen, aber doch eine ungemein große Bewegtheit entdecken. Gerade in ihrer historischen Austrocknung wirken diese gefalteten, gepufften, gerüschten, übereinandergezogenen Kleidermengen als das, was sie sind: eine ungeheuerliche künstliche Vergrößerung der erotischen Oberfläche. Das Kunstwerk, das die Natur macht, indem sie durch das Aus- und Einfalten eines Hautblattes die Formen von Tier und Mensch und die Lockungen der Liebe hervorbringt, ist hier in einer etwas geschmacklosen, aber wirksamen Weise übersteigert worden.
Das Kleid der veralteten Frau hatte (wie übrigens auch ihre Sittsamkeit) die Aufgabe, den eindringlichen Wunsch des Mannes aufzufangen und zu verteilen; es verteilte den so einfachen Strahl dieses Wunsches auf eine große Oberfläche (und moralisch auf hunderte Schwierigkeiten), wie man mit einem einzigen Fluß meilenweites Land bewässert" und nach dem Gesetz, das der Lust und dem Willen unter den menschlichen Kräften eine Ausnahmestellung gibt, da sie an Hindernissen nicht weniger, sondern mehr werden, vervielfachte es das Verlangen, bis zu einem geradezu schon lächerlichen Grad, so daß der Mensch bei Entblößungen, die uns heute vollkommen gleichgültig sind, in erschütternde Abenteuer geriet. Aber man erinnere sich an die entzückenden Liebesgeschichten, die Stendhal in seinen Renaissancenovellen erzählt, um nicht nur darüber zu lächeln; auch ihr Fackelglanz kommt von den außerordentlichen Schwierigkeiten, die es den Liebenden selten und nur verstohlen in nächtlicher Lebensgefahr gestatteten, sich zu umarmen, und das sind Steigerungen, die endgültig zu verlieren wir heute im Begriff sind, wenn sie auch zuletzt nur in einer fast schon sinnlosen Erstarrung vorhanden gewesen sind. Von dieser Sinnlosigkeit möchte ich allerdings noch gerne ein Beispiel wiedererzählen; ich verdanke es einem Mann, den grundlos nervöse Besorgnisse drückten, die sich an die Geschichte seiner Jugend knüpften. Er hatte diese Jugend, die Zeit an der Grenze des Knaben- und Jünglingsalters, in einem Institut verbracht und schilderte mißtrauisch die Art, in der er und seine Genossen, es mochte gegen Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gewesen sein, sich "die Frau" vorstellten. Eine alte Novellenbibliothek, irgendein Novellenschatz oder Schatzkästlein der Weltliteratur bildete die Quelle, aus der sie tranken, und alle Frauen, die darin vorkamen, waren schön, hatten eine dünne Taille, winzig kleine Hände und Füße und sehr langes Haar. Im Charakter waren sie teils stolz, teils sanft, teils heiter, teils schwermütig, aber alle überaus weiblich und am Ende der Geschichte so süß und weich wie Bratäpfel. Sie bildeten die Erwartung der jungen Männer, die noch nicht Gelegenheit hatten, selbst einen Blick ins Leben zu tun, und da zeigte sich etwas Merkwürdiges. Zu diesen Frauen gehörte auf seiten der Männer ein Schnurrbart, den man auf ihre Lippen drücken mußte, und dieser Schnurrbart war nach der Ordnung der Natur etwas, das die jungen Leute immerhin bald erwarten durften; auf diese Weise kamen sie dazu, sich ihn als Vorlust zu wünschen, wie das, glaube ich, heute heißt, und weil er nach dem Novellenschatz blond oder schwarz, weich und lang sein mußte, hatte sich ihn der Erzähler als einen Bart gewünscht, dessen eine Schwinge blond, indes die andere vorsichtigerweise schwarz war, und er wurde auch von einem Mal zum anderen länger; erst war er nur so lang wie der Bart eines Helden, dessen Beschreibung er in einer der Geschichten gelesen hatte, als aber aus einer zweiten Erzählung ein ebenbürtiger Rivale hinzutrat, wurde er so lang wie beide Bärte zusammen und schließlich für alle Fälle so lang wie die Summe aller Schnurrbärte, die es überhaupt gibt, und noch um ein wenig länger. Als das soweit gediehen war, bemerkte der Knabe durch eine glückliche Erkenntnis, daß man sich einen solchen Bart überhaupt nicht mehr wünschen könne, und später schreckte ihn die Erinnerung daran, daß er in eine so merkwürdige Phantasientartung unversehens hatte hineingeraten können. Von diesem Erlebnis beleuchtet, flößte ihm die Frau Furcht ein; die Kleinheit ihrer Füße, der Hände und des Mundes und die Schmalheit der Taille waren, bei starker Betonung aller Partien, die die Physiologie als Fettpolster bezeichnet.

Vor der Phantasie, in denen eine das Herz entleerende Tendenz zu unbegrenzter Verminderung. Die Taille konnte bald nicht mehr schmal genug sein, der ideale Mund hatte die Größe und Rundung eines Stecknadelkopfes, und die Hände wie Füßlein saßen mit der Ohnmacht kleiner Falter am üppigen Kelch des Leibes. In diesem Ideal wohnte zweifellos der Kern eines Wahnverhaltens, und wer ein wenig in der Psychologie Bescheid weiß, wird sich vielleicht an das unersättliche Sicherungsbestreben gemahnt fühlen, das nach der Schule Adlers eines der Merkmale des Neurotikers ist. Aber Krankheit ist dieses Wahnverhalten kaum zu nennen, denn in allem menschlichen Tun tritt, wenn es sich von seinem natürlichen Boden entfernt, wo es neben einer Menge anders- und entgegengerichteter Interessen entstand, ein solches leeres Wachstum auf, eine Entwicklung in der Richtung der Übersteigerung ohne Fülle. Die Mystik verändert sich in asketische Quälerei, die geistige Überlegenheit in Schachspiel, und Freude am Körper oder Kampf verzerrt sich zur Sklaverei des Rekords. Aus dem Augenblick, wo der groteske Schatten dieses eindimensionalen Verhaltens auch auf die Liebe fiel, ist nichts anderes zu schließen, als daß ihre bis dahin gültige Idealform schon in Auflösung war. Es ist seitdem genug über die neue Frau geschrieben worden, um in wenig Worten von dem Übergang zu sprechen. Der gültige Liebesbegriff war bis zur Zeit der Eltern und Großeltern der zwei heute lebenden Generationen durch Jahrhunderte der des Ritters gewesen, der seine Dame sucht und findet; dabei waren im Lauf der Zeit allerdings die schweren Proben der Werke, die er um ihretwillen vollbringen mußte, immer mehr in die Sphäre schlechter Romane gerückt, und außerdem hatte sich das ursprünglich christlich-ritterliche so verteilt, daß auf den Mann mehr die ritterlichen, auf die Frau die christlichen Leistungen entfielen. Mit diesem Liebesbegriff, den es im Leben schließlich kaum noch gab, nach dem sich aber immerhin das Leben richtete, ist es wahrscheinlich nun vorbei. Mit ihm verschwindet die heute fast schon unbegreiflich gewordene Einengung des Liebesalters der Frau auf die kurze Spanne zwischen dem siebzehnten und dem vierunddreißigsten Jahr, die auf einen hochgespannten und überspannten Liebesbegriff zurückweist, der die Suggestion ausstrahlte, daß man ihm nur in der höchsten Blüte genügen könne. Ein ähnliches Hohlwerden mit daraus folgender Übertreibung machte bezeichnenderweise auch die soziale Stellung der Frau mit. Man muß sich vergegenwärtigen, daß ursprünglich der Tätigkeitskreis der Hauswirtschaft genügend groß und vielfältig gewesen ist um einen ganzen Menschen zu brauchen, während schließlich nur noch Kleinlichkeiten davon übriggeblieben waren, die aber immer noch in Verbindung gebracht wurden mit dem längst dafür zu groß gewordenen Begriff der schaltenden Hausfrau, der mächtigen Bundesgenossin des Mannes ist auf diese Weise zuletzt ein etwas lächerliches Hausmütterchen geworden, das albern von seiner Tätigkeit schwätzte. Zwangsläufig war mit diesem Schicksal ein ähnliches im Verhältnis zu den Kindern verbunden.

Die Problematik des Kindes oder wie man gerne heute es nennt, das Problem der Generationen, liegt ja wahrscheinlich nicht dort, wo man es gewöhnlich sucht, in der zeitgemäßen Frühreife und dem mit ihr verbundenen frühen Unabhängigkeitsbedürfnis der Kinder oder in irgendeiner Wellenbewegung der Kultur, die Eltern und Kinder als Generationen gegeneinander aufbringt, sondern wohl ganz einfach in der Tatsache, daß heute höchstens Geld und Besitz vererbt werden, wogegen das früher beinahe mit dem ganzen Zuschnitt des Lebens geschah. Man könnte geradezu sagen, daß das Problem der Generationen eng mit dem Übergang vom eigenen, die Geschlechter überdauernden, Rang und Reichtum darstellenden Haus, das seine Bewohner prägte, zur Nomadenmietswohnung der Großstädte zusammenhängt. Damit war aber zugleich die Mutterschaft angegriffen, die der Frau Würde und auch Entschädigung für das frühe Opfer ihrer Jugendlichkeit gegeben hatte. Ihr fehlte jetzt das Gerüst, so daß nur der rein seelische Herrschaftsanspruch übrigblieb; mag ein solcher aber noch so durchgeistigt verwirklicht werden, das Ruhige und Selbstverständliche des Ungeistig-Materiellen ist ihm nicht zu eigen, und Enttäuschungen in dem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern werden schon dadurch unvermeidlich, daß dieses Verhältnis viel zu sehr mit Gefühlsanteil überladen ist. Die Beschränkung der Kinderzahl wirkt in der gleichen Richtung, das Verhältnis zwischen den Gatten und zwischen Eltern und Kindern, das an äußerer Geräumigkeit verloren hat, mit moralischen Ansprüchen zu überlasten. Andererseits ist die Abnahme der Fruchtbarkeit aber unmittelbar eine Folge der geänderten Wirtschafts- und Lebenszustände selbst, so daß man an diesem Beispiel sehr deutlich sieht, wie Antriebe der Entwicklung von ganz verschiedenem Ursprung einander ergänzen. Mit dieser Bedeutung ließe sich noch vieles anführen: die unhaltbare rechtliche Stellung der Frau, die Frauenarbeit der Einfluß, den die Bedürfnisse der früher niederen Stände heute auf die Gestaltung der Sitte nehmen das allgemeine Streben nach elastischeren Moralbegriffen, die Abwendung vom Individualismus und zu guter Letzt wieder die Liebe höchst selbst die nach den Höhepunkten im 18. Jahrhundert und in der Romantik in die Hände entgeistigter Roman- und Dramenschreiber gefallen ist. In dem weitläufigen Ineinandergreifen so vieler Einzelheiten liegt eine Gewähr dafür, daß die inzwischen eingetretenen Veränderungen nicht bloß eine Oszillation sind, sondern eine dauernde Abwendung vom Gewesenen bedeuten; aber wohin sie führen, bei solcher Verwicklung vorhersagen zu wollen, würde den Eifer eines Propheten erfordern. Uns allen ist die Flut der Schriften, Reden, Parteibildungen und Einzelaktionen ungefähr bekannt, aus denen im Lauf eines Menschenlebens das hervorgegangen ist, was man die neue Frau oder die neue Stellung der Frau nennt. Aber das Allerbezeichnendste ist es wohl doch, daß es schließlich anders gekommen ist.

Der Krieg ist es gewesen, der den Massen der Frauen die Scheu vor den Mannesidealen und dabei auch vor dem Ideal der Frau genommen hat, und die entscheidende Schlacht ist nicht von den Vorkämpferinnen der Emanzipation, sondern am Ende von den Schneidern geschlagen worden. Die Frau hat sich auch nicht in der Weise freigemacht, daß sie dem Manne Tätigkeitsgebiete abnahm, wie es früher den Anschein hatte, sondern ihre entscheidenden Taten waren, daß sie sich seiner Vergnügungen bemächtigte und daß sie sich auskleidete. Erst in dieser Phase ist die neue Frau aus dem Ausnahmezustand der Literatur und aus der Separation der Lebensreformerei vor die Augen des Volks getreten und rasch zur Wirklichkeit geworden; ein Werdegang einer Revolution, der ein wenig zur Vorsicht mahnt. Betrachtet man mit dieser Vorsicht und jener ewigen Sympathie, auf die ein Mensch Anspruch hat, der sich vor einem Mäuslein fürchtet und dennoch die Welt umstürzen muß, den Zustand, wie er augenblicklich ist, so darf man ungefähr das Folgende von ihm sagen: Die Frau ist es müde geworden, das Ideal des Mannes zu sein, der zur Idealisierung nicht mehr die rechte Kraft hat, und hat es übernommen, sich als ihr eigenes Wunschbild auszudenken. Die Schwüle älterer Männer kommt ihr selbst komisch vor, und darin liegt eine große Reinigung der Atmosphäre. Sie will überhaupt kein Ideal mehr sein, sondern Ideale machen, zu ihrer Bildung beitragen, wie die Männer es tun; wenn auch vorläufig noch ohne besonderen Erfolg. Sie ist noch ein wenig mädchenhaft unsicher bei ihrem neuen Tun; sie studiert im Durchschnitt bis zur Mitte des Gymnasiums oder der Universität und bevölkert die unkontrollierbaren Berufe; sie wendet sich vorläufig an die Knabeninstinkte des Mannes, ist bubenhaft mager kameradschaftlich, sportlich spröd und kindisch vor den unzähligen angekleideten Menschen, die in einem Theater sitzen, an Schaufenstern vorbeigehen oder Zeitschriften ansehen, zieht sie sich splitternackt aus, vor den wenigen, mit denen sie in einem Bad zusammenkommt, legt sie aber immerhin einige Stückchen Stoff auf sich, ja deren Umfang ist neuerdings sogar wieder im Wachsen. das sind noch Störungen der Folgerichtigkeit, aber sie werden keine Rolle spielen. Wichtiger ist, daß das Verhältnis zu den Kindern sich in der Hauptsache vorläufig noch auf deren Verhütung beschränkt. Die neue Frau ist etwas eiliger in Erscheinung getreten als die neue Mutter. Aber es scheint, daß die äußerst reizvolle Nüchternheit, die immer der Frau eigen war, wo sie sich natürlich und nicht nach Einbildungen des Mannes gab (denn zarte Wesen sind oft zu ihrer Schonung ein wenig nüchtern und überlassen die Donquichotterien den mit festeren Knochen Ausgestatteten), sich auch in einer rationalisierten Kinderbehandlung äußern wird, und die Kinder werden sich dabei sehr wohl fühlen.
Dieser Wirklichkeitssinn einer Gattung Mensch, die durch Jahrhunderte dazu verurteilt war, das Ideal eines anderen zu spielen, ist vielleicht heute in dieser Frage das wichtigste. Ich stehe nicht auf seiten derer, die über die Nüchternheit der jungen Frauen klagen. Der menschliche Körper ist auf die Dauer außerstande, sich nur als Empfänger von Sinnesreizungen zu fühlen, er geht immer dazu über, Darsteller, Schauspieler seiner selbst zu sein, in allen Verhältnissen, in die er gerät; so verbindet sich auch immer der Naturtrieb in ihm mit einem bestimmten System von Vorstellungen und Gefühlen, und diese Ideologisierung ist in den Jahrhunderten wie ein Strahl, der steigt und sinkt. Heute ist er in der Nähe seines tiefsten Punktes, fast eingeschluckt; aber er wird ohne Zweifel in einer neuen Verbindung wieder aufsteigen. Es sind unzählige und ganz verschiedene Möglichkeiten dafür gegeben, und die Zukunft verdeckt sie wirklich nur wie ein Schleier, nicht wie eine mit Vorurteilen bestückte Ringmauer.

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