Machen wir uns nichts vor

Sehr Verehrte und Liebe,

was soll ich Ihnen nun schreiben?

Wir haben uns gestern abend kennengelernt und in einem Gespräch von schöner Unbefangenheit den Versuch gemacht, einander unsere möglichen und wahrscheinlichen nächsten Beziehungen vorauszusagen. Das mag leichtfertig erscheinen. Jedenfalls war es resolut und sollte ehrlich sein. Übrigens werden Sie so wenig wie ich selbst morgen noch zu beantworten wagen, ob solche Unterhaltung irgendeinen tieferen Sinn haben kann. Aber einiges davon ist bei mir hängengeblieben. Vor allem die Erinnerung an jene Fragen, um deren Beantwortung wir uns mit mehr oder weniger Grazie und Geschick herumgedrückt haben. Wir halten je heute alle eine gewisse Hemmungslosigkeit im Aussagen für fruchtbar und natürlich. Faktisch aber dient diese herausfordernde Offenheit vielleicht vor allem dazu, jene Dinge wichtiger und aufregender erscheinen zu lassen, über die sich trotz allen Bemühungen - doch nicht ganz so klar und eindeutig reden läßt. Diese standen, so kommt es mir vor, auch bei unserem Abschied gestern zwischen uns. Und es ist mir sehr fraglich, ob diese lauernde Ungewißheit so sehr verschieden war von jenem sehnenden Ungenügen, mit dem sich vor zwanzig oder vierzig Jahren - wie es heißt Mann und Frau nach einer ersten Begegnung getrennt haben mögen. Es ist immer noch nichts mit den klar ablesbaren Fahrplänen und Marschrouten.

Wir spekulieren doch immer wieder mit dem abenteuerlichen Aufbruch ins Ungewisse, von Stunde zu Stunde. Aber wir wissen jedenfalls um den Zwiespalt zwischen Absicht und Ereignis. Und machen es uns immer schwerer. Daher die heimliche Unzufriedenheit gerade in den Augenblicken, die für glücklich und erfüllt gelten. Daher aber auch die unaufhörliche Suche nach Änderung, die Erwartung von Neuem, die muntere Prophetie, hinter der sich soviel Ängstlichkeit versteckt. Erinnern Sie sich, bitte, wie wir beide fortwährend versuchten, unsere kleinen Zweifel und Wünsche auf einen großen Hintergrund von Zeit und Bedeutsamkeit zu projizieren. Auf diese Art wollten wir über das infame Zögern wegkommen, das uns so widerwärtig alle Impulse des wachen Wollens und Empfindens durchkreuzt und zerstört. Weil wir nichts miteinander anzufangen wußten, tätigten wir umfangreiche Gespräche über die zukünftige Entwicklung der menschlichen Erotik im allgemeinen. Um mir eine Äußerung über meine Absichten Ihnen gegenüber zu erleichtern, fragten Sie mich nach dem Bilde, das ich mir von der "Frau von morgen" machte. Sie versuchten, allerlei Wertsetzungen aus mir herauszulocken, um ein indirektes doch persönliches Urteil zu provozieren.

Natürlich wußten wir beide Bescheid, also kam nicht allzuviel dabei heraus. Aber so verlaufen ja solche Gespräche meistens. Schließlich legten wir, gute Eltern, unser liebes Gesprächs-Kindchen ins breite Bett einer phlegmatisch-weichen Skepsis schlafen. Den Mut zu einem mehr oder weniger sentimentalen Schlaflied, nach dem es uns beide gelüstete, brachten wir nicht auf. Die Fragen blieben unbeantwortet. Ich für mein Teil redete mich auf einen Brief heraus, den ich von unterwegs schreiben wollte. Wie leicht werden in eroticis aus Ausreden Fakten: Nun tue ich das wirklich. Gleich heute früh, hastig, ohne lange Überlegungen, ehe ich mich im Nebel meiner eigenen, reichlich ungeklärten Vorstellungen verliere. Ein einziger Satz enthielte alles, was zu sagen wäre: Wir Männer sind unzufrieden, weil wir zugleich durch ein Zuviel übersättigt und durch ein Zuwenig ungeduldig sind. Das klingt nach blasser Phrase und enthält doch den Extrakt unserer Stellung zur Frau. Ganz genau so unpräzise und allgemein würden unsere Wünsche für die kommende Frau aussehen, wenn wir nämlich überhaupt welche hätten. Darüber will ich ja mit Ihnen reden. Ungenauigkeit und Unentschiedenheit sind das Kennzeichen aller menschlichen Beziehungen in dieser Zeit. Bei der Stellung der Männer zu den Frauen im allgemeinen kommt das zum Beispiel so zustande: Überall im alltäglichen Dasein stoßen wir fortwährend auf die Frau. Sie bewegt sich mit Selbstverständlichkeit in allen Berufen, Ämtern, Büros, Cafes, Straßen, Parlamenten und Theatern. Sie hantiert sachlich, sie arbeitet, sie genießt wie wir. Alle diese Konkurrentinnen, Kameradinnen, Kolleginnen scheinbar geschlechtslose Wesen. Dennoch wirken sie in jedem Augenblick als Frauen auf uns, ob wir das nun zugeben mögen oder nicht. Es gibt immerfort kleine Erregungen, die freilich durch ihre Häufigkeit kaum noch auffallen. Aber ein allgemeiner Reizzustand besteht, ohne Zweifel. Es ist eine Art Vergiftung in kleinsten Dosen, an die man sich gewöhnt, die abstumpfend wirkt. Erst in einer Stunde bewußter, offener erotischer Spannung spüren wir die Lauheit. Ich weiß nicht, ob es irgendeinen Sinn hat, das zu beklagen.

Ich weiß auch nicht, ob überhaupt jemand wünscht, daß es anders würde. Ich selbst habe diesen Wunsch kaum je gehabt. Man kann ja so vieles mit dem wachen Gehirn registrieren und läßt dann die Nerven doch immer wieder laufen, wie sie mögen. (übrigens ist ein heute allgemein ein üblicher Ausweg wohl doch der einer gedachten oder faktischen Ausschweifung; das bedeutet natürlich nur eine Vergrößerung der Dosis, an die man sich alsbald wieder gewöhnt.) Bestehen bleibt die allgemein veränderte, spannungsarme, lässige Haltung zwischen den Geschlechtern als eines der deutlichsten Merkmale dieser Jahre. Wenn Sie mich nach einer Änderung fragen (die ich also, wie gesagt, kaum je wünschen würde), so müßte ich antworten: Ich weiß keine. Natürlich ist dies ein in all seiner Nutzlosigkeit eminent verlockendes Thema. Aber was kommt dabei heraus? Schließlich wollen wir auch nicht vergessen, daß keiner von uns hierüber sozusagen objektiv und mit dem Anschein allgemeiner Gültigkeit sprechen kann, ohne zu heucheln. Es kommt da alles aus ganz persönlichen, engen Erfahrungen her. Und wenn es als eine mindere Angewohnheit des Schriftstellers verpönt ist, mit der ersten Person des persönlichen Fürworts zu operieren, so bildet dieses Thema ganz gewiß eine Ausnahme. Ohne energisches und offenes Ich-Sagen kommt man überhaupt zu keiner Grundlage. Ich habe mich bis heute niemals entschließen können, gegenüber den erotischen Prophetien einen eigenen und entschiedenen Standpunkt einzunehmen. Von allen den laut ausgerufenen und grell plakatierten Nöten habe ich natürlich mein Teil erlebt und zu mehreren Malen auch darunter gelitten, mich wohl auch damit wichtig gemacht. Aber - daran geglaubt, wirklich ganz innen und mit ganzer Seele daran geglaubt als an ein Schicksalsgefüge und unentrinnbares Verhängnis - nein, das habe ich noch nie.

Ob aus Vorsicht, aus Beherrschung, aus mangelnder Anlage, aus Oberflächlichkeit oder aus Gewissenhaftigkeit? Ich will versuchen, das etwas näher zu erklären. Eine der lächerlichsten Verkehrtheiten auf Erden ist die, daß die Menschen das, was ihnen zu wissen not täte, schon zu wissen vermeinen. Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern er steht in einem vor hundertundsieben Jahren erschienenen Buch. Einem Buch, das ich, darin bedenkenlos altmodisch, in Fällen wie dem unseren gern zur Hand nehme, um darin wenn auch nicht Hilfe, so gewiß Trost der allgemeinen menschlichen Unzulänglichkeit zu suchen, etwa wie ein Gewohnheitsgläubiger die Bibel sticht. Es ist "De l'amour" von Stendhal, von einem selbstbewußten Manne also, der wußte, daß seine Bücher erst um 1900 gelesen werden würden. Wie außerordentlich trostreich für uns daß auch er eigentlich über die Erotik von heute und über die Frau von morgen, weiß der Teufel, nichts zu sagen hat als eine Fülle kluger Apercus. Was also sollte man von den Schriftstellern, die nach ihm kamen, und gar von den heutigen erwarten, die sich allesamt in der gleichen Lage befinden mögen, wie ich selbst? Nur sagen sie es nicht. Und auch ich sage es nicht alle Tage so, wie ich's Ihnen heute offen zuzugeben wage. Es ist dies ein durchaus individuelles, "egoistisches Problem. Über die Frau von morgen reden, heißt die Bedürfnisse der eigenen Erotik preisgeben. Soziologische Bedenken sind nichts als ein wehendes Mäntelchen um die nackte Gestalt des verlangenden Ich. Immer ist uns die Frau als Staatsbürgerin, als Politikerin, als berufstätige Konkurrentin erst einmal: Die Frau. Und dann kommt alles andere. Machen wir uns nichts vor. Es bewegt sich also da jegliche versuchsweise Prophetie auf einem höchst anfechtbaren Boden. Sie unternimmt es, Wunschbilder des Individuums einzuschmelzen in angeblich allgemeingültige, neuartige Theorien. Das kann schwerlich gut abgehen. Freilich ist dies eine Zeit, die alles Unklare und Vorläufige in gefährlicher Weise bevorzugt. Also wird diese Prophetie unter dem Anschein des Mutes und der Unvoreingenommenheit überall mit Lust und Lärm betrieben. Deutlichkeit und ein klarer Entschluß werden nicht verlangt. So formulieren sich leichthin prachtvolle Gesetze und Voraussagen, es werden sogar Statistiken aufgemacht und die Spalten der Tageszeitungen, eine ganze Anzahl erfolgreicher Bücher sind der Findung solcher Pseudo-Ergebnisse gewidmet. Es prasseln Axiome: Die Frau vermännliche sich, sie sei im Begriff, hermaphroditisch zu werden, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern seien überhaupt im Verschwinden. Und schließlich sei es mit der Liebe überhaupt nicht mehr weit her (eine allzu banale Wahrheit des Tages, als daß sie auf lange hinaus gültig bleiben kann).

Alle solche Weisheiten sind in feinen Luxuspackungen wie auch in billiger Lösung auf Flaschen gezogen täglich frei Haus erhältlich. (Auch ich selbst habe, ich will nicht heucheln, schon manches davon genossen und verdaut.) Nun ist es ja heute kein Geheimnis weniger Pessimisten mehr, wie unheimlich und vor allem wie unbequem es auf der Welt zugeht. Den Menschen der großen Städte verläßt dieses Bewußtsein keinen Augenblick mehr. Er mag sich mit großen Glücks- und Fortschrittsphrasen weilchenlang darüber weglügen, im Grunde ist er unsicher und wird's immer mehr. Um die müder werdende Seele anzufeuern, muß er immer neue Emotionen erfinden. Dazu eignet sieh nun gerade das Gebiet, von dem wir reden, vortrefflich. Oft steht die arme Seele schon ganz still. Der Gefühlsmotor, diese alte Kiste, verträgt keine hohen Touren mehr. Und vom steten Langsamfahren wird das Material erst recht mitgenommen. Mit letzter Kraft strebt man dann nach irgend so einem lieblichen Ort, dessen sanfte, erholsame Lüftchen durch verbreitete Reklamen angepriesen werden. Zwar glaubt ihnen niemand, aber alle richten sich danach, wie das so im Wesen der Reklame liegt. Wenn wir soviel von unseren Hoffnungen reden, heißt das noch lange nicht, daß wir wirklich hoffen. Wir warten höchstens ab. Es geht ja ganz gut, denn die allgemeine Befähigung zur Wurschtigkeit hat sehr zugenommen. Ich nehme mich davon in keiner Weise aus. Ganz genau gesagt, habe ich selbst ja auch keinerlei Wünsche. Die Anarchie des heutigen Gesellschaftszustandes erlaubt mir die Erfüllung jedes Verlangens oder macht mir zumindest die Vorstellung der Erfüllbarkeit so leicht, daß ich sie mir ohne logische Fehler jederzeit in Herz und Hirn applizieren kann. So verlieren Herz und Hirn schnell ihre Lust und ihre Spannung. Jedes höhere, sozusagen ethische Bewußtsein, jegliche Verantwortung gegen den Lauf der Welt muß dazu freilich ausgeschaltet werden. Aber die Methoden dafür lernen wir ja von unserem sechsten bis zwanzigsten Lebensjahr ganz gründlich. Für diese allgemeine Situation ist also die Erotik ein aufschlußreicher Spezialfall. Ein Manometer der sinkenden Spannung zwischen Wollen und Sein, zwischen Wunsch und Vermögen. Wo diese Spannungen fehlen, kann es aber keine Sehnsucht, keine Maßstäbe, keine Ideale mehr geben, nicht wahr? Was heute unter diesem ehrwürdigen Namen verkauft, verschenkt, aufgedrängt wird, das sind Interessen, Notwendigkeiten, Gewohnheiten. Alles natürlich von den Lizenzinhabern hochkünstlerisch verpackt und nach den in den einzelnen Ländern üblichen Handelsgrundsätzen vertrieben. Solcher Bedeutungswandel kommt uns gar nicht mehr sonderbar vor. In der Politik, der Wirtschaft, Wissenschaft, in den Künsten haben wir uns daran gewöhnt.

Aber - Erotik ohne Spannungen, erotische Spannung ohne Ideale? Das ist immer noch eine effektive Unmöglichkeit, von keiner noch so gloriosen Technik und Taktik zu verdunkeln. Da es aber Erotik natürlich immer noch und immer weiter gibt, hält sie sich an die Ideale von ehemals. Dadurch wird das Durcheinander weiter verwirrt. Nichts mehr ist deutlich und beschreibbar, außer dem einen: Daß es kein allgemeingültiges Bild der erotischen Form mehr gibt, daß man also von Hoffnungen oder Idealen hier nicht einmal zum Schein reden darf. Dieser Verzicht klingt nicht sehr erhebend. Wir haben uns ja damit abgefunden, daß die Kraft der politischen oder künstlerischen Ideale nicht mehr sehr weit reicht. Aber nun einfach das Bestehen eines allgemeinen Bedürfnisses nach neuer Lebendigmachung der eingeschlafenen Erotik zu leugnen, erscheint Ihnen, sehr Verehrte, vielleicht unnötig hart. Und doch ist es so. Gerade die Menschen, deren politisches Ideal noch am längsten heiß geblieben ist, um nun ebenfalls zum Schemen zu erstarren, gerade das revolutionäre Proletariat gibt uns den Beweis für die hoffnungslose erotische Resignation der westeuropäischen Menschheit. In zwanzig Jahren erlebte ich nirgends eine solche Unlust, erotische Probleme zu sehen und zu lösen, ein solches Unvermögen, erotische Spannungen zu halten, wie gerade bei den orthodoxesten Kommunisten. Der ausposaunte Zukunftswille dieser Menschen ist mehr und mehr aufs Abstrakte gerichtet, und wer sich mit Dingen wie der Erotik abgibt, wie etwa die Kollontai, gilt heute schon dadurch als halber Renegat und Bourgeois. Wie gering ist im Grunde der Unterschied zwischen der "Dame" - die sich ihrer gehemmten Erotik rühmt - und der die sich beleidigt fühlen würde, bezweifelte man ihre Fähigkeit zur selbstverständlichen so nebensächlicher Individualkonflikte. Ich unter deutschen Kommunisten, und Arbeitern. Es war immer wieder erschütternd, wie diese harten, heißen, offenen Menschen verschlossen, lau und weichlich wurden, wie ihr Schwung und ihre Zuversicht starben, wenn dies eine, verruchte, unumgängliche Thema zur Debatte stand. Es gab vor zehn Jahren in Rußland einige Versuche, aufzuräumen und klar zu reden. Aber längst verfielen sie auch da drüben wieder ins Stammeln und Verschweigen. Die offizielle Sexualpolitik der Sowjets zeigt nun eine beinahe reaktionäre Tendenz, gemessen an den glühenden Gedanken und Wünschen, die vor wenigen Jahren alle auf neue "Wege der Liebe" führen wollten. Übriggeblieben ist nur die eine, freilich großartige und sehr menschenwürdige Neuordnung der Mutterschaftsverhältnisse und die offizielle Befreiung von der Zwangsschwangerschaft. Aber das sollte oder könnte jedenfalls sich sogar in hochkapitalistischen Ländern im Laufe der nächsten Generation ganz ähnlich regeln; und heimlich versucht ja die Arbeiterin bei der Kräuterfrau und beim Kurpfuscher längst dahin zu kommen, wohin die bürgerliche Frau sich durch ihren Vertrauensarzt bringen läßt.

Doch wie es um die Erotik der nächsten Generation stehen wird, wie die Frau von morgen aussehen soll, das wissen Moskauer Kommissare genau so wenig wie Snobs vom Kurfürstendamm, Schweizer Oberlehrer oder Londoner Ladenschwengel. Sie haben allzumal keine Wunschbilder mehr, keine Sehnsucht, keine Ideale. Sie machen höchstens Moden mit. Und wenn die Namen dieser Moden noch so schön und frei klingen: Kameradschaftsehe, Probeehe, Ehe zu dritt, Koedukation, was weiß ich, mit allen diesen Stelzen wird der einzelne in seiner Hilflosigkeit nicht weiter kommen. Die Angst vor Radikalismen ist genau so groß wie das Unvermögen zu starken Wünschen. Inzwischen ist das einzige erotische Ergebnis der sogenannten Emanzipation eminent negativ gewesen: Die Unsicherheit des Mannes gegenüber der Frau ist nachgerade unerträglich geworden. Wenn heute ein Mann mit einer Frau zusammenkommt, hat er keine Vorstellung, wohin ihn dies Zusammensein führen wird. Selbst eine klare und heftige sexuelle Begierde vorausgesetzt, weiß er nicht, wie weit seine eigene Spannkraft reicht, ob zu flüchtigster Erregung oder dauernder Fesselung. Noch viel weniger ahnt er von der Partnerin. Er ist überhaupt nicht in der Lage, ihre Kraft, ihre Lust abzuschätzen, trotzdem und weil ihnen beiden ja alles zu sagen erlaubt ist. Vom schlichtesten Sichgewähren über komplizierte Spiele bis zum unerwarteten, kältesten Sichabwenden ist alles im Augenblick möglich. Ich nehme an, daß es damit in früheren Generationen anders war, als noch die nun morsch gewordenen Barrieren um die Frau errichtet waren, deren meßbare Höhe und Stärke für den Mann einen Maßstab der eigenen Kraft wie der Chancen bedeuteten. Da es heute für den allenfalls im Manne wirkenden Strom keine rechten Widerstände mehr gibt, verschwendet er sich ins Zufällige. Nun könnte es ja, werden Sie vielleicht einwenden, zu einem Wunsch des Mannes werden, daß die Frau in naher Zukunft solche Widerstände noch einmal neu schaffen möge, um die fehlende Spannung des Mannes wieder zu erregen. Aber ganz abgesehen davon, daß es nicht so aussieht, als ob die Frauen selbst die etwas reaktionäre Entschlußkraft zu solchen Beschlüssen aufbringen könnten-. glauben Sie, daß der Mann von heute, dies schläfrige Tierchen, das sich zufälligen Erfolgen entgegentreiben läßt, das mit dem Gehirn rasch fasziniert und mit den Nerven rascher noch gelangweilt ist, das keine Abenteuer mehr nötig hat, dem alles so bequem gemacht ist, daß der sich eine solche Erschwerung wünschen könnte? Dazu ist die, wie Stendhal sagt, "tödliche Froschblütigkeit" denn doch viel zu allgemein geworden.

Also noch einmal rundheraus gesagt: Der Mann von heute hat keine Wünsche für die Frau von morgen. Deshalb wird es schwer sein, daß es überhaupt eine Frau von morgen gibt, die sich wesentlich von der heutigen Frau unterscheidet. Die Unzufriedenheit des Mannes richtet sich höchstens noch auf praktische Organisationsfragen, etwa auf eine Änderung des durchlöcherten und mißbrauchten Scheidungsrechtes oder dergleichen. Auch mag das Problem des Kindes gestellt und gelöst werden, wie immer, das hat ja mit der Erotik des Mannes von jeher wenig zu tun gehabt. Vielleicht werden wir uns den automatischen Malthusianismus der großen Städte bewußt machen und daraus irgendwelche Konsequenzen zu ziehen suchen. Ob aber auf diesem Umweg der Mann ein neues Wunschbild der Frau entwickeln kann, scheint mir zumindest sehr zweifelhaft. Sie soll seinetwegen so bleiben, wie er sie hier und da so oder so zufällig heute antrifft. Sie könnten mir noch einwenden, daß ja die Zeitungen doch erfüllt seien von erotischen Tragödien daß auch viele Ihrer Bekannten fortwährend von tiefen und schweren erotischen Problemen sprächen. Ach, das alles zeugt ja gerade für meine skeptische Meinung. Eben auf dem Gebiet der allergeringsten Spannung suchen sich die schwächlichen und doch so gern schwierigen Naturen (suchte auch ich oft wir, Liebe und sehr Verehrte, wenn ich mit der Arbeit oder der politischen Überzeugung oder sonstwo nicht weiter kam) ihr Konfliktchen, ihr Ventil. Sie reden sich heraus auf Nöte, die sie gar nicht quälen, deren Konstruktion aber viel Aufmerksamkeit und Nerven fordert, was die Eitelkeit befriedigt. Über alledem ist die seelische Impotenz viel weiter fortgeschritten als die aufgeregten Head-lines über Eifersuchtsmorde vortäuschen. Wonach sollten wir uns noch richten? Es gibt noch nichts Neues. Und über das Alte lächeln wir.

Die Tafeln sind zerbrochen, auf denen die großen Ideale der alten Liebe verzeichnet waren: Treue und Keuschheit. Wir spielen mit den Resten, wie müde Kinder am Abend, wenn sie ihre Spielzeuge schon zerbrochen haben. Auch sie machen sich keine Gedanken, womit sie morgen spielen werden; sie merken nur, es wird langweilig. Und fangen an zu jammern. Inzwischen gibt es Revolutionärinnen und Reaktionärinnen, Millionärinnen und Lehrerinnen, Redakteurinnen und Sportsfrauen. Die sozialen, nationalen, ökonomischen Fronten gehen quer durch die Geschlechter; sie verschütten mit ihrem ungeheuren Abfall immer mehr den Riß zwischen Mann und Frau. Wir haben es nicht mehr nötig zu springen; aber einen festen gemeinsamen Boden gibt es deshalb noch lange nicht. Nur weiß keiner, wohin er treten soll. Damit ist die Frage nach dem Morgen natürlich nicht erledigt. Sie wird immer wieder gestellt werden. Sie ist ja keine inhaltlose Spielerei, sie ist es nur heute. Sie wird wieder ernst werden, einen Inhalt bekommen. Nur ganz bestimmt nicht vom Erotischen her. Die Änderung der Menschen, sei sie nun revolutionär oder reformerisch, wird nicht auf diesem Gebiet beginnen. Die Erotik wird den sozialen Erscheinungen nachhinken, die in den nächsten Jahrzehnten unsere schlafende Welt immer wieder von neuem aufreißen werden. Es hat gar keinen Zweck, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie das aussehen könnte. Genug, daß wir von uns selbst und von unserer heutigen Erotik nicht viel halten. Unser Wunsch kann nicht mehr sein, als - wieder wünschen zu können. Eines Tages wird die Welt um soviel geändert sein, daß sie fähig ist, wieder echte, heiße Sehnsucht zu fühlen und sich dadurch treiben zu lassen.

Eine Form der Revolution, sei es welche nun immer wird dem Zufälligen, Anarchischen der heutigen Gefühlsmasse einen Sinn und eine Richtung geben. Mit viel Aufgeregtheit und Stumpfheit, Ärger und Mattheit und mit ein bißchen lässiger Güte werden wir bis dahin kommen. Sexualforscher sollten ihre Tatkraft, wenn sie echt ist, anderen Gebieten zuwenden. Die Straßen unserer Gesellschaft sind zerfallen, kein Plan hilft uns, jeder sucht sich von Ecke zu Ecke durch. Aber er darf seine Sprünge nicht ausrufen als Marschroute für alle. Ich vertraue inzwischen, schamlos und ohne Nachdenken, dem einzelnen Zufall. Der hat mich zum Beispiel mit Ihnen, sehr Verehrte, zusammengebracht und sofort wieder auseinandergeführt. Ich will das nicht einmal für sehr typisch halten. Aber seien Sie ehrlich: Sie sind es ja gewohnt, wie ich, und machen sich im Grunde keine Gedanken und keinen Schmerz darüber. Und da wollen wir der Welt vorschreiben, wie sie's mit der Erotik halten soll?
Lassen Sie es sich wohl ergehen, wenn Sie sich genug an mir geärgert haben. Ihnen so herzlich wie möglich zugetan
Axel Eggebrecht.

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