Zutrauen zur Zukunft

Anders wird sie sein, das ist gewiß, sehr viel anders, die Frau von morgen, und in ihrer Entwicklung sich wenig darum kümmern, wie die Menschen von gestern und heute sie wünschen und verlangen. Sehr anders wird sie sein, denn sie hat eine ungeheure Entwicklung zu vollenden: die endgültige Befreiung von der männlich einseitigen Moral. Und sie hat noch einige Bastillen zu erkämpfen innerhalb jener grandiosen Revolution der Frau, die in den letzten zwei Jahrzehnten so überwuchtig eingesetzt hat. Vielleicht stehen wir diesem moralischen Kriegsphänomen noch zu nah, um seinen Umfang ganz auswerten zu können, aber ich halte es für möglich, daß eine zukünftige Kultur diese vollkommene Umwertung und Verwandlung der europäischen Frau um 1900 sogar mehr beschäftigen wird, als der Weltkrieg. Jedesfalls: sie ist das erstaunlichste Phänomen sittlicher Umschaltung innerhalb eines einzigen Geschlechts.

Stellen wir nur klar und mit wachen Sinnen zunächst einmal fest, daß kaum jemals seit undenklichen Zeiten und niemals innerhalb der christlichen Zeitrechnung eine derartig sturmhafte und radikale Umformung aller sittlichen und sexuellen Beziehungen zugunsten der Frau sich vollzogen hat als in unserem Lebensalter. Eine solche Welle kann nicht plötzlich innehalten; sie muß fortrollen bis an ihren letzten Strand. Ein Blick in eine illustrierte Zeitung vor fünfzehn, vor zwanzig Jahren, und man schrickt heute schon auf. Wirklich, so gingen Frauen gekleidet, so eingemummt und aufgetürmt, so lächerlich überladen, so mittelalterlich vermauert und verschnürt? Wie etwas Historisches, wirklich nur mehr als ein Kostüm verschollener Zeiten, wie die Reifrock-Frauen, wie die aufgeschraubten elisabethanischen Hofdamen, starren wir jetzt schon im photographischen Bild dieselben Wesen an, mit denen wir selbst noch gesprochen, gelebt und geschlafen haben, und beginnen erst an diesen Bildern zu ahnen, welche unübersehbare Verwandlung wir miterlebt in diesen fünfzehn, in diesen zwanzig Jahren. Aus diesen in Korsette geschnürten, bis zum Hals mit gefälteltem Tuch verschlossenen, mit Röcken und Unterröcken behafteten, aus diesen beinlosen, künstlich bienenhaft taillierten und auch in jeder Regung und Bewegung künstlichen Wesen, aus dieser historischen Frau von vorgestern ist innerhalb einer einzigen raschen Generation die Frau von heute geworden, mit ihrem hellen, offenen Leib, dessen Linie das leichte Kleid nur wie eine Welle klar überfließt, diese Frau, die - bitte nicht zu erschrecken - heute am hellen Tag dem Wind und der Luft und jedem männlichen Blick so aufgetan ist, wie vordem nur in gewissen geschlossenen Häusern die Damen, deren Namen man nicht aussprechen durfte.

Aber weder sie noch wir empfinden diese Freiheit des Körpers, diese Freiheit der Seele heute im mindesten als unsittlich, im Gegenteil: wir verstehen schon nicht mehr die doch so nahe Zeit, wo es einer Frau nicht erlaubt war, vor dem zwanzigsten Jahre etwas zu wissen und nach dem dreißigsten Jahre noch weiter zu begehren. Ein solches Bekenntnis, eine so herrliche Befreiung der Frau zu ihrem eigenen Körper, zu ihrem Blut, zu ihrer Freiheit, zu ihrer Unabhängigkeit, wie sie sieghaft in dieser kurzen Zeitspanne eingesetzt hat, wird nicht haltmachen, weil einige ältliche Geister darüber erschrecken und einige verspätete Moralisten sich entrüsten. Noch ist der Typus, der neue, der europäischen Frau nicht vollkommen erfüllt, noch zeigen sich gewisse Unebenheiten innerhalb der einzelnen Länder, ein stürmischeres Tempo der Verwandlung in den angelsächsischen und germanischen, ein stärkeres Ritardando in Spanien und Italien, aber die Wucht ist unverkennbar, mit der die Welle zu einem neuen den aufgehoben werden zugunsten eines Typus verstärkterer und einheitlicherer Frauenkameradschaft. Das Wort "Frau" wird ein Geschlecht aus allen Ständen und Klassen schwesterlicher zusammenfassen, als unsere europäische Welt dies bis zu unseren Tagen kannte. Denn Kameradschaft, dieses Wort ist schon heute, und wird morgen noch mehr der Sinn aller Beziehungen sein. Kameradschaft, sie wird mehr gelten als familiäre Bindungen, mehr sogar als die erotischen. Nicht mehr wie bislang wird die Frau aus einer Untertänigkeit in die andere fallen, das heißt, aus der Obhut und dem Kommando der Eltern einem Manne als Eigentum zu Obhut und Kommando überstellt werden. Sie wird neben ihrem Manne stehen und nicht mehr unter ihm. Gleich an Bildung, unabhängig durch eigenen Beruf, nicht mehr gehemmt von der Angst vor einer streng bürgerlichen Moral, wird sie aus freiem Willen ein dauerndes oder nicht dauerndes Bündnis mit einem Manne schließen, erstlich, um das schwere Leben unserer Zeit gemeinsam zu bewältigen, zweitens, um dieses schwere Leben sich gemeinsam leichter zu machen, also gemeinsam zu genießen in Sport und Spiel und im geistigen Wettstreit. In einer neuen Freiheit, ich hin dessen gewiß, wird die neue Frau dem Manne von morgen gegenüberstehen und nicht mehr in der vorzeitlichen Haltung eines demütigen Wartens auf Gewähltwerden und Geheiratetsein.

Dadurch wird und muß auch eine vollkommene Verwandlung im Erotischen geschehen, ein Übergang aus der Passivität der Frau in der Erotik, aus dem Warten auf das Gewähltwerden, zu freier Wahl, vielleicht sogar zu einer zeitweiligen Aktivität. Weil sie nicht mehr unerfahren sein wird wie die gestrigen, denen die Familie noch den Gatten wählte, wird sie selbst ihre Wahl treffen, und eine neue bessere Freiheit im Sinne der Kameradschaft in den Beziehungen zwischen Mann und Frau muß beginnen. Diese Umformung, wer kann sie verkennen? Auch der sie mißbilligt, vermag nicht zu leugnen, daß die Frau im Erotischen selbständiger, klüger und aktiver, daß sie freier mit jedem Tage wird, und diese ungehemmte Freiwahl der Frau wird vielleicht noch eine unerhörte Beschleunigung erfahren, wenn es gelingt, die beiden einzigen Momente zu unterdrücken, die heute die Frau in ihrer sexuellen Freiheit und Freiwahl noch hemmt: die Angst vor den Geschlechtskrankheiten und die Furcht vor unerwünschter Schwangerschaft. Erreicht es die medizinische Wissenschaft, die ja heute an Wundern sich von Monat zu Monat überbietet, eine organisch nicht störende, nicht allzu kostspielige Verhütung oder Unterbrechung der Schwangerschaft herbeizuführen, gelingt es ferner, durch Vorbeugung oder eine rapide Heilung die Geschlechtskrankheiten zu beseitigen, diesen grauenhaften Schatten, der seit hunderten Jahren den Eros unserer Welt verdüstert, dann erst wäre bei der Liebeswahl das Risiko, der Gefahreneinsatz bei der Frau mit dein Manne vollkommen gleich. Dann erst entstünde eine vollkommene Parität in der Geschlechtsbeziehung und der Geschlechtswahl bei Mann und Frau. Unterschätzen wir diese Momente nicht: sie sind die gewichtigsten, sie sind die letzten Hemmungen, die heute noch der völligen erotischen Kameradschaft und Brüderschaft zwischen Mann und Frau entgegenstehen, und ihre Beseitigung würde die erotische Umformung des Typus Frau in einer Weise beeinflussen, die wir uns heute noch gar nicht ausdenken können. Wenn dieser Angstkomplex und Widerstand, der heute zu 90 Prozent das Gefühlsleben der Frau und vielleicht nur zu 10 Prozent jenes des Mannes bedrückt, durch die Wissenschaft weggeräumt werden kann (und das mag morgen und übermorgen geschehen), dann wird alles das, was wir sexuelle Not nennen, mit einem Male entspannt und entlastet sein. Eine ungeheure Leichtigkeit im Eros wird in unsere Welt treten, alles Verhaltene und Verhüllte, alles Unfreie und Verbotene in den Beziehungen zwischen Mann und Frau wird endgültig beseitigt sein. Aber wird, ich höre die Frage, eine dermaßen rapide, innerhalb eines einzigen Geschlechts einbrechende Freiheit, wird sie nicht eine ungeheure Zügellosigkeit zur Folge haben, eine vollkommene Sexualisierung und Erotisierung der Frau? Wird dieses Forträumen der letzten Hemmungen sie nicht zu einer maßlosen Leichtfertigkeit treiben, zu einer tollen und versucherischen Selbstverschwenderei? Durchaus nicht. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß, wenn es der Wissenschaft gelingt, die Geschlechtskrankheiten und den Empfängniszwang auszuschalten, zuerst eine kurze, stoßhafte Welle der Sexualität über unsere Welt hinweggeht (ähnlich wie die Tanzwelle nach dem Krieg), gleichsam ein Lustschrei nach einer langen Umschlingung von Angst und Gefährdung. Aber das wird nicht lange dauern, denn Reizungen zehren sich bekanntlich auf an Überdruß und Übermaß. Ich glaube, die Frau von morgen, die in ihrer Sexualität freie Frau, wird viel mehr der Amazone gleichen als der Bacchantin, mehr einen Lebenskampf suchen als bloß die Lebenslust, sie wird nicht mehr die Dienerin, die Sklavin, sondern die Herrin ihres eigenen Eros sein wollen. Denn eine neue Freiheit erzeugt immer organisch ihr Gegenventil, eine neue Verantwortlichkeit.
Gestern und heute war die Frau nur verantwortlich der allgemeinen Moral, die ihr Tun und Lassen in genauen Paragraphen vorschrieb; es war genau das Schickliche vom Unschicklichen, das Erlaubte vom Unerlaubten abgezirkt. Die neue Frau, die von morgen, wird nur mehr sich selbst verantwortlich sein in ihrer Wahl und Entscheidung. Dadurch wird sich die neue Erotik, gerade weil sie viel weniger Elemente an Verbotenem und Versagtem enthält, weil sie von innen bezähmt ist und nicht von außen, wesentlich ehrlicher, ungezwungener ereignen, vor allem gleichgewichtiger, kameradschaftlicher. Sie wird der neuen Frau durchaus keine Tollwut der Geschlechtlichkeit geben, sondern eine neue Sicherheit des Sichgebens und sogar Sichnehmens, eine Sicherheit von innen her aus dem Bewußtsein ihres Rechts, ihres ehrlich erarbeiteten Lebensanspruchs, ihrer menschlichen wie beruflichen Leistung. So sehe ich die neue Frau wesentlich heller, heiterer, leichter und unbedrückter als jene der Vergangenheit, sie wird eine Gnade und Gabe kennen, die allen früheren Geschlechtern fremd war- Unbefangenheit. Unbefangenheit, weil sie nicht mehr gefangen ist, weil ihr ein klares Wollen und ehrliches Verweigern erlaubt sein wird statt eines künstlichen Katze-und-Maus-Spiels, und darum eine neue Helligkeit. Vielleicht wird, ich leugne es nicht, durch diese Helligkeiten und Klarheiten etwas verlorengehen, was frühere Geschlechter in der Erotik liebten: die Spannung des Verhaltenen, des Geheimnisvollen und Gefährlichen. Vielleicht wird die Frau von morgen nicht mehr ahnen, was für festliche Entdeckung des eigenen Leibes den Früheren geschah, wenn sie aus ihren künstlichen Verhüllungen, denen der Kleider und denen der Sitte, hervorbrachen in eine vollkommene Hingabe. Vielleicht wird auch jene kostbare Traumsubstanz, jene innere Gefühlsekstase, welche sich früher bei den Frauen gerade durch die geistfremde Tätigkeit oder durch ihre Abgesperrtheit von aktiver Anteilnahme am Leben so wunderbar entwickeln konnte, etwas Seltenes werden bei der im Bürodienst tagsüber eingespannten, bei der im geistigen Wettstreit überlasteten Frau. Aber keine Sorge - sie wird für die verlorenen Spannungen sich und uns schon neue entdecken, denn sie wäre nicht Frau, wenn sie nicht aus tiefstem Instinkt immer wieder ihren Leib und ihre Seele in Spiel und Spannung verwandeln würde - freilich auf einer immer höheren Fläche des immer geistigeren Spiels, einer immer seelisch wissender gewordenen Lust. Und die einzige Gefahr, die ich in dem neuen Typus der Frau von morgen sehe, ist die gleiche, die den Mann von heute und morgen trifft, wenigstens bei uns in Deutschland und am Kontinent: daß um der materiellen Unabhängigkeit und der sexuellen Freiheit willen die Frau zu viel von ihrer Freiheit verkauft, daß sie, kaum von der einen Hörigkeit befreit, nun aus Mannessklavin und Haushaltssklavin eine Bürosklavin werden könnte, daß sie - ebenso wie die Männer - zu viel und zu intensiv arbeite, daß also von dieser köstlichsten Substanz der Welt Frau, daß gerade von der Jugend, von den jungen Frauen, das Beste und Blühendste in einer übertriebenen und überhitzten Verdienerei abgehetzt und abgeschunden. werde. So sehr der Beruf die Frau vergeistigt, so sehr die Arbeit sie befreit hat, so sehr könnte überarbeit sie wieder ihrer seelischen und sittlichen Errungenschaften berauben, weil sie eine Vergröberung des Genießens, eine Verhastung des Erotischen mit sich bringt und gerade dem widerspricht, was wir am meisten von der Frau wollen: daß sie Entlastung und Leichtigkeit in unsere allzu schwere Welt bringe und unsere eigene Leistung durch ihre aufschwingende und anspornende Gegenwart verstärke. Aber keine Sorge darum, denn jede Generation schafft sich aus ihren neuen und individuellen Gefahren auch die Kraft, sie zu bekämpfen.

Und der Kampf der neuen, den Männern gleichgestellten Frau wird nicht mehr wie jener der letzten Generation um Frauenrechte, sondern ganz kameradschaftlich dem unsern um Menschenrechte gehen. Und gerade weil die Frau solange entrechtet und unterdrückt gewesen war, jahrzehntelang, jahrhundertelang, sollte sie und wird sie hoffentlich die Vorkämpferin gegen jede Form der Unterdrückung und Einschränkung auf Erden, der beste Anwalt für jede Bewegung zur moralischen Freiheit sein.

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