1. Die Prinzessin auf dem Meeresgrund - Der Mythos der »femme Engloutie»

»Am Anfang schwebten die Elochim über der Urflut« bzw. »... der Geist Gottes über den Wassern«. Wie immer man nun den Plural Elochim (Sing. El) interpretieren mag und wie stark der biblische Urtext im Laufe der Zeit auch abgeändert, erweitert oder verdichtet worden sein mag — dieser Satz der Genesis (bzw. des I. Buchs Mosis) ist zweifellos der Schlüssel zu allen Erklärungen über den Ursprung der Welt und des Lebens. Die finnsche Kalevala, eine ebenfalls äußerst archaische Dichtung, ein Epos, das jahrhundertelang nur mündlich weitergegeben und daher weniger verstümmelt worden sein dürfte, berichtet von der Jungfrau der Lüfte, die von den Himmeln niederschwebt zu den unendlichen Gefilden des schaumgekrönt brandenden Meeres: »Da gaben ihr der Wind von oben und die Fluten von unten das Leben ein« (1. Gesang), und so wird sie zu Ilmataij der Mutter des Wassers, und gebiert nach sieben in den Ozeanen treibend verbrachten Jahrhunderten das erste menschlichen Wesen, den Barden Viinämoinen. Diese Geschichte erinnert an die Geburt Aphrodites (der »Schaumgeborenen») sowie an den Namen der Fee Morgan(e) (Muirgen), der wahrscheinlich ebenfalls »die aus dem Meer Geborene bedeutet.
Die moderne Wissenschaft hat bekanntlich nachgewiesen, daß alles Leben aus dem Meer hervorgegangen ist. Vor undenkbar langer Zeit, vor Millionen von Jahren, ist in den Tiefen des Meeres irgendetwas Entscheidendes geschehen: dieses »Etwas« war die durch die Einwirkung kosmischer Strahlungen ausgelöste Verbindung verschiedener chemischer Elemente, die unter Bedingungen zustande kam, die äußerst schwer zu erklären sind. Genau hier haben wir es mit dem geheimnisvollen »Geist Gottes« (hebr. rua»h elochim = (wörtl.) »Windhauch des Göttlichen»; Anm.d.Übers.) zu tun, der über der Urflut (hebr. tehom) beziehungsweise den Wassern (hebr. majirn) schwebt.Und diese Wasser werden Mütter. Die Jungfrau Ilmatar wird geschwängert. In allen Traditionen herrscht Einigkeit über die entscheidende Rolle des «Wassers für den Ursprung des Lebens. Macrobius schreibt in seinem Symposium Saturnalia (1,20): »Der Himmel bildet den Kopf und das Meer den Leib des Sarapis.« Seneca stellt in seinen Quaestiones naturales (111,30) die These auf, die Erde schwimme wie ein Schiff auf dem Wasser. Eine japanische Legende berichtet von einem Gott, der den Himmel verlassen will und eines Tages zu seiner Gefährtin sagt: »Irgendwo muß es eine Erde geben, auf der wir uns niederlassen können, laß uns sie suchen gehen unter den Wassern, die tief unter uns tosen.«[1]
Es geht also immer wieder um eine Gottheit oder einen Wind beziehungsweise Geist, der das Meer schwängert. Das Meer wird also als Urmutter betrachtet, sei es aufgrund seiner aquatischen Substanz, sei es aufgrund seines anthropomorphen Symbolgehalts als Jungfrau der Meere, Sirene oder als ein den Blicken entzogen auf dem Meeresgrund herrschendes Wesen. Bei eingehender Betrachtung dieser Quellen erhebt sich zu Recht die Frage, ob dabei die Rolle des Gottes oder Geistes wirklich unentbehrlich ist. Naturwissenschaftlich betrachtet, soll die kosmische Strahlung lediglich die Funktion eines Katalysators gehabt haben. In der Kalevala heißt es, daß die Mutter des Wassers vom Wind geschwängert worden sei; dies deckt sich mit den ältesten Menschheitsvorstellungen aus jener Zeit, als der Mann sich über seine persönliche Rolle bei der Empfängnis noch im Unklaren war und sich mit gewissem Entsetzen vorstellte, der Geburtsvorgang sei etwas ausschließlich Weibliches, woran abgesehen vielleicht von einem schwer zu definierenden Gott oder Geist - niemand anderer Anteil habe. Vom Neotlithikum an haben alle Gesellschaftsformen versucht, dem Mann dabei eine immer entscheidendere Rolle zukommen zu lassen. Die Traditionskreise, die die Erinnerung an vergangene Epochen noch lange konserviert haben, halten jedoch weiter an der westlichen und fast ausschließlichen Bedeutung des weiblichen Anteils fest. Der Glaube an das Meer als universale Matrix Trias heißt »Gebär-Mutter» im mythologischen Sinn) hat die Jahrhunderte überdauert und ist heute nicht nur in der Wissenschaft, sondern in vielen volkstümlichen Überlieferungen noch lebendig. Das tiefe und geheimnisvolle Meer wurde zum Symbol des Weiblichen schlechthin, dessen okkultes und unfaßbares Wesen um so leidenschaftlicher hervorgehoben wurde, je mehr sich die paternalistisch geprägte Gesellschaftsform durchsetzte.
Seitdem wurde das Meer von unheimlichen Wesen bevölkert und birgt ganze Städte, herrliche Paläste und unermeßliche Schätze in seinen Fluten. Doch das Meer ist durch eine Barriere unzähliger Tabus von den Menschen getrennt. Niemand hat das Recht, sie zu überschreiten, das Vordringen in das Meer ist lebensgefährlich. Nur auserwählte und göttliche Naturen können dort leben, nur Helden ohne Furcht und Tadel dürfen unter bestimmten Umständen dieses Wunderland des verlorenen Paradieses betreten.
Denn genau um den Mythos des verlorenen Paradieses geht es hier. Alle alten Mythen vom Garten Eden, vom Goldenen Zeitalter, von der Zeit vor aller Zeiten Anfang und der Vorzeit ganz.allgemein gelangen irgendwann zum Bild der Meerestiefe, sowie zu seinen Substituten aus jüngerer Zeit, zur Grotte und zum Abgrund (bzw. »Höllenschlund»). Die Psychoanalyse hat deutlich gemacht, wie sehr die Vorstellung von Meeren, Höhlen, Abgründen und dunklen Wäldern mit dem archaischen Urbild der Frau als Mutter und Geliebte verbunden ist. Die menschliche Phantasie hat um dieses Thema mit einer derartigen Leidenschaftlichkeit die verschiedensten Geschichten gewoben, sodaß man ihm auf Schritt und Tritt unter den abenteuerlichsten Ausformungen wiederbegegnet, was darauf hindeutet, daß dieses Thema die Menschheit von jeher zutiefst beschäftigt hat.
Wie ich bereits in anderem Zusammenhang ausführlich dagestellt habe, war der Mythos von der versunkenen Stadt der bedeutendste Schöpfungs - und Ursprungsmythos der Kelten.[2] Dieser Mythos findet Gestalt in einer in der ganzen Bretagne wohlbekannten Sage, nämlich in der Sage von der Stadt Ys, wovon mehrere aufschlußreiche Varianten auch in den anderen Ländern mit keltischer Tradition, besonders in Irland und Wales, verbreitet sind. Wir können also diese Sage und ihre beiden Hauptvarianten als Ansatzpunkt nehmen zu einer eingehenden Analyse des Mythos von der femme engloutie, der versunkenen — zu deutsch »tief gesunkenen» — Frau mit allem, was damit immer assoziiert worden sein mag, — in der Sprache der Sagenwelt: der Frau auf dem Meeresgrund.

Die Sage von Ker-Ys (Bretagne):

Grandion, der König von Comoualle, hat für seine Tochter Dahud (oder Ahes) eine prächtige Stadt, Ker-Ys (= die »Stadt der Tiefe») erbauen lassen und durch Deiche und Schleusentore, deren Schlüssel er eifersüchtig hütet, gegen das Meer geschützt. Die Einwohner der Stadt führen ein Leben in Saus und Braus, und auch die sich dem Christentum widersetzende und reichlich nymphoman veranlagte ToeMex des Königs nimmt an diesem orgiastischen Treiben munter teil, bis die Stadt schließlich »wegen der Sündhaftigkeit ihrer Einwohner eines Tages von den über die geborstenen Deiche hereinbrechenden Fluten des Meeres mit Mann und Maus verschlungen wurde: einzig der König konnte, obwohl auch er zu dieser Zeit in der Stadt weilte, durch ein Wunder gerettet werden. Dies verdankte er dem Hl. Gwennole.«[3] Dieser Hl. Gwennole, der Gründer der Abtei von Landevennec, hatte nämlich den König rechtzeitig vor dem nahenden Strafgericht gewarnt. Grandion schwingt sich auf sein Pferd und flieht. Seine Tochter, die ihm den Schlüssel der Schleusentore entwendet hatte, um ihn einem ihrer Liebhaber zu geben, eilt ihm nach und schwingt sich zu ihm in den Sattel. Das Pferd droht zu versinken. So »hätte die Prinzessin Dahud, die lasterhafte Tochter des guten Königs (...) beinahe dessen Untergang verursacht. Dies geschah an einem Ort, der noch heute den Namen Toul-Dahud (= Pouldavid) oder Toul-Al»huez (d.h. »Dahud-Schleuse« bzw. »Schleuse der Schlüssel«) trägt, damit auch in geschichtlicher Zeit die Erinnerung daran wachbleibt, daß sie ihrem Vater einst den Schlüssel entwendet hatte, den er als Symbol seiner Königswürde um den Hals trug«.[4] Aber der Hl. Gwennole berührt Dahud noch rechtzeitig mit seinem Priesterstab, woraufhin sie in den Fluten versinkt. Seit dieser Zeit begegnen Fischer noch manchmal der Königstochter, die nun unter dem Meer lebt und in einem Schwarm großer Fische umherzieht. Bei ruhiger See können sie angeblich auch die Stadt Ys mit ihren Mauern, Palästen und Kirchen erkennen und das traurige Geläut ihrer Glocken hören. Zu gewissen Zeiten öffnet sich die Stadt den Menschen, und wenn es jemandem gelänge, einem der Bewohner von Ys etwas abzukaufen, dann würde sie wieder auftauchen. Und »wenn der Tag der Auferstehung für KerYs gekommen ist, wird der Erste, der die Turmspitze der Kirche erblickt und den Klang ihrer Glocken vernimmt, König der Stadt und all ihrer Ländereien«.[5]

Die Sage von Maes Gwyddneu (Wales):

»Seithynin Veddw (= der »Trunkenbold») ließ einst in betrunkenem Zustand Cantrelr Gwaelod. (= das »Land der Untiefe») vom Meer überfluten; alle Besit-» zungen und Häuser des Landes wuiden vernichtet, wo einst sechzehn befestigte Städte blühten ... Cantre»r Gwaelod gehörte zum Landbesitz des Gwyddneu Garanhir«.[6] Seithynin hatte nämlich ein junges Mädchen, welches Hüterin einer Zauberquelle war, geschändet. Diese Quelle war daraufhin übergelaufen und führte zuFFlutkatasfrophe inf Lande des Gwyddneu.[7]

Die Überschwemmung des LougNeagh (Nord-Irlandj:

Der König Ecca hatte in einer Tiefebene, in deren Mitte sich ein von dicken Mauern umgebener Zauberbrunnen befand, eine Burg und Wohnsiedlungen erbauen lassen. »Und er erwählte eine Frau zur Hüterin dieses Brunnens und gab ihr den strengen Befehl, die Tür immer vorj»edermarm verschiosserrzu-halten und nur die Bediensteten der Burg einzulassen, die kommen, um Wasser zu holen«.8 Obwohl prophezeit worden war, der Ort würde überschwemmt werden, »vergaß die Frau, die den Brunnen stets bewacht halten sollte, bei einer bestimmten Gelegenheit, die Tür zu verschließen. Im gleichen Augenblick ergoß sich das Wasser über die Ebene und füllte sie zu einem großen See. Ecca, seine gesamte Famüie und all seine Mannen ertranken, nur seine Tochter Libane_wiirde_gfiiettet...»» (ibid.). Diese Libane, bei der es sich« währschefhlicR um die Brunnenhüterin handelte, kam nicht wie alle Anderen in den Fluten um, sondern »überlebte zusammen mit ihrem kleinen Hund ein volles Jahr lang in ihrer Kammer auf-dem Grunde! des »Sees« (ibid.)7 Schließlich beginnt sie, sich zu langweilen, und so wünscht sie sich, in einen Fisch verwandelt zu werden. Als sie den Wunsch aussprach, »nahm sie die Gestalt eines Lachses an; nur ihr Gesicht und ihre Brüste blieben unverwandelt« (ibid.). So lebte sie 300 Jahre, bis sie vom Hl. Congall aus dem See gefischt und auf den Namen Muirgen (»die aus dem Meer Geborene»!) getauft wurde

Damit hätten wir bereits eine Fülle von Material für unsere Überlegungen. In diesen drei Varianten ein und derselben Sage dominiert deutlich ein Element: die Rolle der Frau, gewissermaßen als Hüterin des Wassers, die durch Unachtsamkeit oder eigenes Verschulden verantwortlich wird für die Überschwemmung einer Stadt oder eines ganzen Landes. Die Sage der Stadt Ys ist natürlich eine bereits stark christianisierte Ausformung des Stoffes; deutlich erkennt man darin Spuren des Konfliktes, der gegen Ende des V Jahrhunderts (der angeblichen Zeit des Untergangs der Stadt Ys) Heidentum und Christentum konfrontierte. Dahud/ Ahes lehnt das Christentum noch ab, ihr Vater hat es bereits angenommen. Sie ist also die Sünderin und ist als lasterhafte Person dem Abgrund der Hölle geweiht, während Gradion durch die Hilfe des Hl. Gwennole, der die neue religiöse Ordnung symbolisiert, gerettet wird. Aber die heidnischen Traditionen lassen sich so leicht nicht entwurzeln: die Stadt Ys lebt auf dem Grunde der Fluten weiter fort, — und mit ihr Dahud/Ahes. Und so werden eines Tages die Stadt Ys und die Prinzessin Dahud/Ahes wieder auferstehen umd mit ihnen auch die alten heidnischen Götter, die vom Christentum verdrängt worden waren. Damit sind natürlich die von der neuen Doktrin verdrängten und unterdrückten keltischen Denkstrukturen gemeint. Bereits aufgrund dieses Aspekts kommt der Sage große Bedeutung zu.
Wer ist eigentlich diese Dahud/Ahes? Es lohnt sich, der Frage nachzugehen, denn diese Prinzessin ist die Hauptfigur des Dramas. Die Herkunft des Namens ist leicht zu erschließen: er stammt von einem alten Wort dago-soitis ab, was soviel wie »gute Hexe« bedeutet. Diese Etymologie deckt sich völlig mit dem heidnischen Charakter der Figur und ihrer hartnäckigen Opposition gegen das Christentum. Andererseits ist sie wirklich eine »Hexe» — sie besitzt magische-Kräfte —, und solche magischen Kräfte sind bekanntlich in der volkstümlichen Überlieferung weiterlebende degenerierte Formen oder Reminiszenzen von Eigenschaften, die man Gottheiten zuschrieb. Dahud hörinte also eine alte bretonische Göttin aus der Gegend der Pointe du Raz gewesen sein, die in der Gestalt einer »guten Hexe« in der Erinnerung der Menschen weiterlebt.
Fast unerklärlich erscheint es dagegen zunächst, wie es zu der Verwechslung von Ahud und Ahes gekommen war. Bei der Analyse des Textes von Albert Le Grand kann man jedoch zu folgender Hypothese gelangen: der Ort nämlich, an dem die Königstochter in den Fluten versank, heißt Toul-Alc»huez, das heißt »Schleuse der Schlüssel», »Schlüssel-Öffnung». Bei dem Schlüssel handelt es sich natürlich um den Schlüssel, den Dahud ihrem Vater geraubt hatte und der in manchen Versionen die Schleusen zur Stadt öffnete. Der Schlüssel symbolisiert im Grunde also das Königtum. Nun gibt es aber eine enge Analogie zwischen der Aussprache von Alc»huez und der von Ahes.[9] Zu einer identischen Aussprache konnte schließlich die Tatsache geführt haben, daß Cornouaille und besonders die Gegend, in der sich der Sage nach die Stadt Ys befunden haben soll, von zahlreichen Römerstraßen durchzogen war; diese römischen Straßen wurden damals »chemins d»Ahes« genannt.[10]
Der bretonische Volksglaube kennt nämlich eine geheimnisvolle Gestalt namens Ahes oder Ohes, die angeblich der Stadt Carhaix (Ker Ahes) den Namen gegeben hat; mit ihr steht mit Sicherheit die Bezeichnung der die Bretagne durchziehenden Straßen in engem Zusammenhang. Natürlich ist die etymologische Deutung des Namens von Carhaix als Ker-Ahes höchst verführerisch, und doch muß diese Deutung, obwohl sehr alt und im Volksglauben tief verwurzelt, als äußerst zweifelhaft angesehen werden. Ein Blick auf die Landkarte der bretonischen Halbinsel und die günstige zentrale Lage der Stadt können uns eine schlüssige Erklärung für den Namen Carhaix und sein Verhältnis zum Namen Ahes liefern. Diese Stadt, in der Antike das Vorgium der gallischen Osismii, ist Knotenpunkt wichtiger Straßen, die alle südlichen, nördlichen und östlichen Regionen der Halbinsel verkehrstechnisch miteinander verbinden.[11] Diesen modernen Straßen liegt ein sternförmiges Straßennetz aus römischer Zeit zugrunde, welches die Stadt schon damals zu einem Handelszentrum und einem strategisch wichtigen Stützpunkt machte: sämtliche Straßen, die für Fuhrwerke (lat. carri; frz. char) passierbar waren, führten über beziehungsweise nach Carhaix. Diese Feststellung ist von Wichtigkeit, denn wir können so mit Pol Quentel zu der Annahme gelangen, daß Carhaix nicht ein auf her basierender Name keltischen Ursprungs, sondern lateinischen Ursprungs ist: in diesem Falle könnte er aus carri accessus (= »Wagenzufahrt», »Fahrweg») entstanden sein. Diese etymologische Deutung hat einen zweifachen Vorteil: sie ist phonetisch schlüssig und stimmt zudem mit den geographischen Gegebenheiten verblüffend überein. Das Wort accessus wäre also die ursprüngliche Form zu Ahes, und der Name dieser rätselhaften Gestalt wäre somit nichts anderes als die Bezeichnung einer Straße, die für eine Bevölkerung unverständlich geworden war, die nach der Brit(ton)isierung des Landes nicht mehr lateinisch sprach; folglich wurde daraus allmählich eine Art von mythischer Gestalt. Damit wollen wir allerdings nicht ausschließen, daß dieser Name (und seine mögliche lateinische Herkunft) nicht auch eine Bezeichnung für etwas noch Älteres sein könnte, vielleicht sogar für die gleiche Gottheit wie Dahud.
Es gibt ein Volkslied, das im XIX. Jahrhundert von dem Volksliedersammler Kerambrum aufgezeichnet wurde und sich in der berühmten Sammlung Penguern in der Pariser Bibliotheque Nationale befindet, eine Sammlung, die übrigens noch weitgehend unveröffentlicht ist und kostbare Dokumente enthält.[12] Dieses Lied handelt von Croac’h Ahes (= der »Alten» bzw. »Hexe» Ahes). Hier einige charakteristische Strophen daraus:[13]

»Sie kommt, die alt» Ahes, in unser Land,
schleppt große Steine auf die Straßen,
große und auch kleine,
auf die große Straße mitten durch die Heide.
Und der alte Mann saß auf dem Mene-Bre und sprach:
»Lieber leid» ich Hungersnot und Pest
als die Alt» Ahes so nah bei uns;
Lieber leid» ich Krieg und Tod
als die Alt» Ahes in unserm Heimatland.
Da ist sie schon, die Alt» Ahes, dort hinten in der Heide
und sie kommt nicht allein,
mit ihr sind die Steuereintreiber
um in eurem Hof die Scheuer leerzufegen (...)
Wo sie vorbeikommen, seh ich keine Menschenseele mehr
seh niemand mehr ackern auf dem Feld
seh nur noch große Bäume
wachsen aus der nackten Erd» (...)«

Wieviele Zweifel man auch an der Zuverlässigkeit von Kerambrum haben mag, der bei der Abfassung seiner Volksliedsammlung der Phantasie reichlich freien Raum ließ, so gibt es doch keinen Grund, an der Authentizität zumindest des hier zitierten Liedes zu zweifeln. Sein Sinn ist vollkommen klar und reflektierLdie Realität des XVIII. Jahrhunderts, das heißt einer Epoche, in der in der Bretagne regej.SjraßenMu_Mtrieben wurde: das Lied singt den Protest gegen die zusätzlichen Fronarbeiten und Steuerlasten;_die der Bau dieser Straßen mit sich brachte. Interessant ist jedenfalls, daß dazu die Sage von der Ahes wieder aufgenommen wurde, die nun als raffgierige Alte, als grausame Hexe_erscheint, die kein Erbarmen mit der armen Bevölkerung kennt, und daß diese nun mit dem Straßenbau in Zusammenhang gebracht wird.
Eine Gestalt namens Ohes oder Oes wird auch in einem eigenartigen Chanson de geste (Heldenepos) aus dem XIII. Jahrhundert, dem Chanson d'Aquin erwähnt, und zwar in Beziehung zu einer Römerstraße, die von Condate (Rennes) über Merdrignac und Carhaix nach Aber Wrac'h beziehungsweise zur Bucht von Douarnenez führt. Diese wenig bekannte Dichtung, die manchen Eigennamen zufolge auf eine in bretonischer Sprache abgefaßte Quelle zurückgehen dürfte, handelt von einem in der Bretagne geführten Krieg zwischen Karl dem Großen und dem »Sarazenen» Aquin, einer Personifizierung des druidischen Heidentums. Karl der Große wird von einer Reihe bretonischer Fürsten unterstützt, unter anderem von Hoel de Carhaix, der ihm einmal vom Bau eines »Schienenweges« (d.h. einer Römerstraße) erzählt. Die Frau eines gewissen Oes, »gar weise und von großer Schönheit«, beschließt, »eine große Straße nach der Stadt Paris zu bauen, denn bei ihr gab es nichts als Land, von Wald bedeckt. In Quarehes, ihr sollt die Wahrheit hören, wurde der Weg gegründet und begonnen«. Diese Frau ist übrigens die Tochter von Corsolt, »der mehr als dreihundert Jahre alt wurde«. Und dieser Corsolt, der »sarazenische« Held eines Chanson de geste von der Krönung des Louis (in dem er von Guillaume d'Orange getötet wird), ist ein Riese, der dem Gallierstamm der Curiosolites den Namen gab, die in dem Gebiet zwischen der Rance und der Riviere de Morlaix beheimatet waren; diese Gegend, deren Hauptstadt Corseul (Nähe Dinan) ist, heißt in der Peutinger-Karte noch Fanum Martis. Das genannte bewaldete Land ist nichts anderes als jener immense Wald, der das gesamte Zentrum der Bretagne bedeckte und in der Folge der berühmte Jagdwald Broceliande der Artusromane werden sollte.[14]
Nun ist Oes hier aber eine männliche Figur. Er wird sogar ..der bärtige, alte Oes« genannt. In welcher Beziehung könnte er zu der verwirrenden Ahes-Gestalt aus der Sage von Ys stehen? Möglicherweise war sie seine Frau, auf die infolge einer Verwechslung sein Name übertragen wurde. Übrigens wurden die »chemins d'Ahes« auch mit alten, häufig von Wasserlachen überschwemmten Feldwegen in Zusammenhang gebracht, die in der Bretagne häufig anzutreffen sind[15] und die vor allem in den frankophonen Gegenden Noees oder Nouees genannt werden. Aus einer chronologischen Durchsicht aller notariellen Urkunden und Aufzeichnungen der Katasterämter läßt sich die Entwicklung dieses Namens zurückverfolgen, die in etwa so ausgesehen haben könnte:
Noees, chemin Noes, chemin Oe, chemin de la femme Oes, chemin de la femme a Ohesle viel barbe. Und nun ließe sich der Ohes mit Esus oder Teutates vergleichen, jedoch mit aller bei einer solch kühnen Hypothese gebotenen Vorsicht.[16] So überraschend diese Ableitung auch klingen mag, sie scheint dennoch allzu abwegig nicht zu sein, wenn man bedenkt, daß es in der Umgebung von Montpellier ebenfalls Römerstraßen gibt, die dort »chemins de la Monnaie« (benannt nach der Juno moneta) heißen, oder in der Gegend von Bordeaux, wo sie nach einer Heldin, auf die wir noch zu sprechen kommen, »chemins de Brunissen« genannt werden. In Poitou nennt man sie, was bereits gewöhnlicher ist, »chemins de Melusine« (aus Mala lucina, d.h. Juno), und in der Ile-de-France sowie in Ostfrankreich »chemins« oder »chaussees Brunhaut« (aufgrund einer Verwechslung der römischen Juno mit der germanischenBrunhilt.) Die Römerstraßen standen also offenbar unter dem Patronat einer Göttin, und zwar nicht irgendeiner x-beliebigen, denn es handelt sich dabei immerhin um Juno, die Gemahlin des Göttervaters Jupiter, oder um andere ihr entsprechende Gottheiten.
Folgt man dieser Deutungshypothese, so wäre Ahes die Verkörperung einer keltischen Göttin, die die Gemahlin eines bedeutenden Gottes ist, sei es nun Teutates, Esus, Dagda, Mananann, Gwyddyon oder gar Artus selbst. Wir geben jedoch dem irischen Gott »Curoi Mac Daere« den Vorzug, dessen Gemahlin Blathnait durch ihre verräterische Liebe zu dem Helden Cuchulainn die Ursache dafür wird, daß die Burg ihres Gemahls versinkt und in die Tiefe gerissen wird.[17]
Auf jeden Fall steht eines fest: Dahud/Ahes ist ein übernatürliches, quasi-göttliches Wesen. Wie wir angedeutet haben, repräsentiert sie das Heidentum gegenüber dem Christentum. Sie repräsentiert aber auch die Revolte gegen die männliche Autorität; Dahud/Ahes raubt ihrem Vater den Schlüssel, der die Königsherrschaft symbolisiert. Der ganzen Tragweite dieser Tat wird man sich erst dann bewußt, wenn man auch beachtet, daß sie ein »zügelloses» Leben geführt hat, ein Leben, das im Widerspruch zu den Lehren der christlichen Kirche steht, die durch den Hl. Gwennole, dem Symbol der männlichen Autorität, repräsentiert ist. Ähnliches gilt auch für das Mädchen, das sich dem betrunkenen König Seithynin verweigert und dabei vergißt, den Brunnen zu bewachen.[18] Durch sein Aufbegehren gegen die vom König mißbrauchte Autorität führt es etwas herbei, das wir in dieser Phase unserer Untersuchung weiterhin als »Überschwemmungskatastrophe» bezeichnen müssen. Libane, die Tochter des Königs Ecca, hält sich ebenfalls nicht an die Befehle des Königs. Ihr Ungehorsam führt zur Überflutung der Stadt, aber auch Libane lebt wie Dahud/Ahes unter Wasser weiter.
Dieses »unterseeische» Weiterleben ist für das Verständnis des Mythos und dessen, was sich wirklich dahinter verbirgt, von größter Wichtigkeit. Zunächst handelt es sich — aus psychoanalytischer Sicht — um Fälle von Verdrängung. Da die Revolte gegen die männliche Autorität mißlungen ist, verlagert sie sich ins Unbewußte. Eines Tages aber wird sie wieder auftauchen und der Erste, der sich dieses Wiederauftauchen zunutze zu machen versteht, wird »Herr über das Land«, mit anderen Worten: er wird die Revolte bis zum endgültigen Erfolg weiterführen. Es ist jedoch relativ schwierig, Erinnerungen an so weit Zurückliegendes aus den Tiefen des Unbewußten wieder hervorzuholen. Nur bei bestimmten Gelegenheiten wird dies möglich, etwa bei bestimmten Festen, an denen die versunkene Stadt wieder sichtbar wird und es einem Furchtlosen möglicherweise gelingt, bis in das Allerheiligste der Zitadelle vorzudringen. Schließlich ist das, was verdrängt werden mußte, etwas Verbotenes. Und das gehört dem Reich des Teufels an.
Die Hölle steht nämlich — wie die Etymologie der betreffenden Wörter in den romanischen Sprachen dafür (frz.: enfer und ital. inferno aus lat. inferna) deutlich machen — für alles, was unten ist. (Der Begriff Unterwelt, der dies treffend wiedergibt, fällt heute hauptsächlich im Kontext der Verbrechensbekämpfung, wo er — wie einst das Wort Hölle im Kontext der christlichen Sündenbekämpfung —  weit mehr Furcht und Schrecken auslöst als im Bereich einzelner griechischer Sagen des klassischen Altertums«; Anm. d. Hrsg.).
Die Etymologie des deutschen Wortes Hölle (entstanden aus mhd. heln = »verbergen») akzentuiert mehr den Aspekt des Verborgenen, Heimlichen. In diesem Sinne ist also die versunkene Stadt Ys das Unten, die Unterwelt, die Hölle. Und die Herrscherin über diese Stadt der Tiefe, die Frau, die es gewagt hat, sich gegen die Autorität des Königs (lies: Gottes) aufzulehnen und die vom König dadurch bestraft wurde, daß er sie hat »tief sinken» lassen (vgl. den Sturz Satans in den Abgrund der Finsternis in Victor Hugos herrlicher Dichtung »la fin de Satan«), diese Frau kann nur eine böse Frau sein, eine lasterhafte »Person», eine Mala Lucina, eine Göttin der Finsternis, vergleichbar mit Hekate, die nächtlich über die Wegkreuzungen herrscht - und warum nicht gleich Lilith, das Weib des Teufels. Ist sie aber nicht auch das Bild jener Göttin der Urreligionen, die vor der Entstehung der patriarchalischen Gesellschaften verehrt wurde, jene Magna Mater, deren Bild immer wieder auftaucht und die sich nur schüchtern zeigt, gelegentlich sogar in Gestalt einer Schwarzen Madonna, mit anderen Worten, der Jungfrau Maria?
Die göttliche Frau ist nämlich keineswegs immer versunken und in den Tiefen des Meeres verborgen. Die keltischen Sagen und Legenden enthalten zahllose Beispiele von Prinzessinnen, die in Schlössern, Höhlen (Grotten) oder auf verwunschenen abgelegenen Inseln gefangengehalten werden.[19] Manche von ihnen sind sehr bekannt, andere weniger. Diese Erzählungen wurden meistens nur als Märchen, als Geschichte von Abenteuern, Heldentaten und unerklärbaren Mysterien gelesen. Sieht man aber genauer hin, so tritt ihr Gehalt gestochen scharf zutage, und es stellt sich heraus, daß sie immer in irgendeinem Bezug zur Sage von der Stadt Ys oder einer ihrer Varianten stehen. Daher ist es angebracht, einige davon näher zu untersuchen:

Die Geschichte von Guengualc»h (Bretagne):

Eines Tages wandern einige junge Männer, von ihren Studien heimkehrend, durch das Tal Treguier an einem Fluß entlang. Einer von ihnen - »wegen seiner Schönheit Guengual'h (= »weißer Falke») genannt« - verliert plötzlich die Sprache. Seine Gefährten reden ihn an: keine Antwort. Sie wenden sich nach ihm um, aber niemand ist mehr zu sehen. Vergeblich suchen sie das Ufer ab und wenden sich schließlich verzweifelt im Gebet an den Hl. Tugdal »und siehe, da taucht auch schon der junge Mann vor ihnen aus den Fluten auf, sein rechtes Bein hängt noch in einem seidenen Gürtel«. Er erzählt, daß er von »Meerfrauen« zu den Felsabgründen unter dem Meer entführt und von einem ehrwürdigen Greis (dem Hl.Tugdal) wieder befreit worden sei. »Als sie des erhabenen Gottesmannes ansichtig wurden, ergriffen die Nymphen die Flucht, — eine jedoch vergaß, ihn von der Fessel ihres seidenen Gürtels zu befreien«. Alle danken dem Hl. Tugdal für die Befreiung des Guengual'h, der »einen Augenblick vom Dämon geblendet worden war«. Guengual'h »legte die Beichte ab und empfing die Heilige Kommunion. Auf den Tag genau ein Jahr, nachdem der Dämon ihn in seinen Bann gezogen hatte, kehrte er dieser Welt für immer den Rücken«.[20]

Der fromme Legendendichter, der diese mündlich tradierte Heiligenvita aufgezeichnet hatte, war sich kaum dessen bewußt, wie wenig erbaulich diese Geschichte im Grunde ist. Wenn Guengual'h nach einem Jahr diese Welt verläßt, so doch deshalb, weil er mit der Meerfrau, die ihm als Gedächtnisstütze ihren Gürtel um das rechte Bein gewunden hatte, ein neues Stelldichein hat. Diese Legende muß in den keltischen Ländern im XI. und XII. Jahrhundert relativ gut bekannt gewesen sein, da man sie nahezu vollständig in einem druidischen Kontext in einer gälisch abgefaßten irischen Handschrift aus dem Jahre 1200 wiederfindet.

Die Geschichte von Condle dem Roten (Irland):

Condle, der Sohn des Königs Conn, dem Helden der hundert Schlachten, sieht plötzlich die Gestalt einer in herrlichste Gewänder gehüllten Frau vor sich, die nur er sehen, seine Gefährten aber lediglich hören können. Des Königs Druide spricht eine Beschwörungsformel, die die Frau wieder hinwegbannt. Aber Condle ist nun einen vollen Monat lang untröstlich, er redet kein Wort, rührt keine Speise an außer einem Apfel, den die bezaubernde Frau ihm gereicht hatte. Die Frau erscheint ihm ein zweites Mal und fordert ihn auf, ihr zu folgen in das »Land der Verheißung, wo nur Frauen wohnen«, in die wunderliche Welt des sidh, (was »Feenhügel», »unterirdische Welt» oder »Reich jenseits des Meeres» bedeutet). Die Macht des Druiden versagt diesmal. Condle verläßt Vater und Gefährten und entschwindet auf dem »gläsernen Schiff der Fee. Von dieser Stunde an ward er nie mehr gesehn.

In jeder Fassung der zugrundeliegenden Legende steht die Religion, sei es die christliche oder die druidische, in scharfer Opposition zu der wunderlichen Frau, die gekommen ist, sich den Auserwählten abzuholen. Zweierlei fällt dabei auf: einerseits ist ihre Wahl unwiderruflich. Andererseits stellt sie die Reminiszenz einer älteren Epoche dar, in der das weibliche Geschlecht noch über magische Kräfte verfügte, die ihm selbst in der keltischen Gesellschaft längst verloren gegangen waren. Wie in der Legende von Ker-Ys geht es hier um die Auflehnung gegen die männliche Autorität. Und so ist die Frau in der christlichen Version von Guengual'h ein Objekt der Sünde und in der entsprechenden druidischen von Condle ein Objekt der Verfluchung, in beiden Fällen verbannt man sie in die von dem klaren Bewußtsein am weitesten entfernt gelegenen Gefilde, nämlich auf den Meeresgrund oder auf eine abgelegene Insel in der unendlichen Weite des Ozeans, auf jeden Fall weit jenseits des Horizonts. Trotz ihrer Verbannung konnte sich die Frau jedoch ihre Kraft der Verführung und wunderbare Schönheit erhalten: nach wie vor zieht sie die Männer in ihren Bann. So entsteht allmählich der Mythos der geliebten Hexe, der femme fatale, der einerseits zu den Scheiterhaufen des Mittelalters und der Renaissance, andererseits zu der ins Alptraumhafte gesteigerten kommerziellen Ausschlachtung des Vamp-Motivs in Kunst und Kino führte.
Es muß betont werden, daß die Geschichte von Condle keineswegs ein Einzelfall ist. Zahlreiche Volksweisen aus Irland und von den Hebriden handeln von dem Versuch einer Fee, den Erwählten in ihr Zauber-Reich hinüberzulocken. Dies ist nichts anderes als der griechische Mythos und die darauf basierende Sage von den Sirenen und natürlich von Odysseus (der seinen Männern gegen diese Anfechtung die Ohren verstopft und sich selbst am Mast seines Schiffes festbinden läßt). Odysseus ist der typische Repräsentant der indoeuropäisch-patriarchalischen Gesellschaft, wie sie heute noch besteht: der Mann (das »Männchen») fühlt sich instinktiv von der Frau (dem »Weibchen») angezogen, er weiß aber aus Erfahrung, daß er trotz seines Stolzes und trotz seiner Potenz im Liebesakt der Unterlegene sein wird; für ihn bedeutet er tatsächlich fast einen »kleinen Tod«, wie es treffend heißt, da der Orgasmus für einen Augenblick seine Kräfte in Nichts auflöst; die Frau hingegen triumphiert und geht als Siegerin, durch den Akt gestärkt, wie neugeboren daraus hervor. Diese Diskrepanz zwischen den beiden Formen sinnlichen Erlebens kann der Mann nicht ertragen.

»Die beinahe universelle Angst der Männer, in den Bann einer Frau zu geraten und die Faszination, die diese Abhängigkeit gleichzeitig auf sie ausübt, ist ein Beweis für die oftmals dämonische Macht der Frau über den Mann. Die Abschätzigkeit vieler Männer den Frauen gegenüber zeugt von dem unbewußten Versuch, eine für sie nachteilige Situation zu beherrschen«.[21]

Dieser Prozeß der Erniedrigung und Verstoßung der Frau in verbotene Bereiche unter einem gewaltigen Aufwand an moralisierender Argumentation zeigt sich besonders deutlich in den späteren Fassungen alter Sagen und Legenden, die vom ursprünglichen Mythos nur noch eine nun unter zeitgebundener Ausstattung versteckte Struktur enthalten. Die Polaritäten werden vertauscht: was gut war ist schlecht, was weiblich war, wird männlich, was am hellen Tag geschah, spielt sich nun im (un)heimlichen Dunkel ab, was auf der Erdoberfläche war, wird in die Welt unter Wasser oder tief unter die Erde verbannt. So finden wir in einem alten Volkslied aus der Gegend von Treguier, welches zur Zeit der französischen Revolution wieder auflebte (jedoch in ganz anderem Ton und in einer Form, die alle Anzeichen einer Entwicklung zum Puritanismus hin aufweist), das gleiche Schema wieder, das schon der Geschichte von Guengual'h und von Condle zugrunde lag.

Die Mädchen von Treguier (Bretagne):

Die Mädchen von Treguier waren alle von bildschöner Gestalt, doch keine von ihnen war so hübsch, wie diejenige, die als stoubinenn (= »Flachsspinnerin»mit der Konnotation »Mädchen mit lasterhaftem Lebenswandel») bezeichnet wurde. Nahe am Meer hatte diese ein Haus, in welchem wüste Orgien gefeiert wurden. Das geschah zu einer Zeit, wo alle Kirchen geschlossen waren und die Besatzung der »Bleus« (der »Blauen»: Armee der Revolution; Anm. d. Hrsg.) das Land beherrschte. Als diese Zeit vorüber war, wollte man einmal nachsehen, was in diesem freizügigen Haus getrieben wurde, und stieß dabei auf einen Keller, der unter das Meer hinabführte.[22]

Die stoubinenn gehört also jener Kategorie Frauen an, die von der Gesellschaft zwar verstoßen, aber dennoch zu ihrem Fortbestand gebraucht werden. Damit die Paläste sauber bleiben, braucht man Kloaken, meinten die Kirchenväter schlicht.

»So erlaubt (...) das Vorhandensein einer Kaste >gefallener< Mädchen, die >anständige Frau< mit der ritterlichsten Achtung zu behandeln. Die Prostituierte ist ein Sündenbock. Der Mann lädt auf sie seine Schändlichkeit und verleugnet sie anschließend«.[23]

Daher bestehen die von einer solchen männlichen Denkweise geprägten literarischen Werke besonders auf dem unmoralischen Aspekt des Lebens einer Prostituierten. Laut Umfrage sind gerade die Kunden von »Nutten« besonders bereit, deren Lebensweise zutiefst zu bedauern. Das sind natürlich nur Worte, die dazu dienen, das Gewissen zu beruhigen, sie sind aber dennoch aufschlußreich.

»Die Frau weiß«, so stellt Simone de Beauvoir weiter fest, »daß die Moral der Männer, was Frauen betrifft, eine unendlich verschlungene Mystifikation ist. Der Mann schleudert ihr mit großem Getöse seinen Sitten- und Ehrenkodex entgegen und fordert sie gleichzeitig mit Engelszungen auf, sich nicht an diesen zu halten; diesen Ungehorsam rechnet er ihr sogar hoch an, denn ohne ihn würde die ganze herrliche Fassade, hinter der er sich verbirgt, zusammenstürzen«.[24]

Die Prostituierte ist somit die Frau mit den zwei Gesichtern, die zugleich verworfen und begehrt wird. Im Traum kleidet sie sich in die aufreizendsten Farben, und gerade dies wird von den Moralaposteln heftig angeprangert: eine solche Frau ist automatisch vom Hauch der Sünde umgeben und jeder, der mit ihr in Berührung kommt, würde nicht nur in alle Ewigkeit verdammt werden, sondern auch das Elend und die Schande jenes lasterhaften Milieus am eigenen Leibe zu spüren bekommen: langsam aber sicher würde er in einen todesähnlichen Zustand verfallen, im Schlamm versinken, in Nichts aufgelöst werden und so fort.
Jedoch führen nicht nur moralische Gründe zu dieser Tabuisierung und Verachtung. Die Prostituierte, die in der Grauzone am Rande der Gesellschaft und ihrer Gesetze lebt, bedeutet, obwohl diese Gesellschaft sie als notwendiges Übel anerkennt, eine Gefahr für sie. Die Prostitution wird toleriert aber zugleich verdammt. So steigen in der Erinnerung der Menschen jene unbewußten Angstvorstellungen ihrer Ahnen wieder auf, die die Frau zu einem zwielichtigen, geheimnisumwitterten, gefährlichen und destruktiven Wesen machten. Denn der Mann erinnert sich in den tiefsten Schichten seines Gedächtnisses noch vage an eine Zeit, als er noch ein gestaltloser Fötus im Leib der Mutter war. Er trägt noch die Stigmata der Geburt an sich, jenes Moments, wo das Individuum brutal aus der feuchten, warmen Behaglichkeit der Nicht-Existenz ausgestoßen wird. Die Erinnerung an die Zeit vor der Geburt ist zugleich herrlich, denn sie war die Zeit des absoluten Wohlgefühls, des Paradieses, — sie war aber auch schrecklich, denn sie war das Nichts. Und vor der Rückkehr in das Nichts hat der Mensch (und Mann) Angst, so sehr er sich auch von diesem Nichts zugleich magisch angezogen fühlen mag.
Nun ist jede Frau eine potentielle Mutter, jede Frau ist mehr oder weniger eine Projektion der Urmutter. Jede Frau ist zugleich Leben und Nichts.

»So ist das Antlitz der Mutter Erde in Finsternis gehüllt; sie ist das Chaos, aus dem alles hervorgegangen ist und in das alles eines Tages wieder zurückkehren muß; sie ist das Nichts. In der Nacht vermischen sich wieder die verschiedenen Aspekte der Welt, die der Tag enthüllt: Nacht des Geistes, eingeschlossen in das Gleichmachend-Undurchsichfige der Materie, Nacht des Schlafs und des Nichts. Im Innern des Meeres herrscht Nacht: die Frau ist das mare tenebrarum, das die antiken Seefahrer fürchteten; Nacht herrscht in den Eingeweiden der Erde. Dies Dunkel, in das der Mensch zu versinken droht und das die Kehrseite der Fruchtbarkeit ist, erfüllt ihn mit Grauen.«[25]

Da ist es also nicht verwunderlich, wenn jene Neugierigen, die nur Licht in das Dunkel des Hauses der stoubinenn bringen, aber nicht in den Genuß der Gunst seiner Bewohnerin kommen wollen, bis auf den Grund des Meeres hinabgelangen — und dort nichts finden. Es ist wirklich das Nichts, die reine Negation allen Seins. Aber da alles nur durch seine jeweilige Negation erfahrbar ist, sind wir ganz in diesen kosmischen Kreislauf integriert: es muß unbedingt eine stoubinenn geben, die die Männer bis auf den Meeresgrund hinablockt, denn sonst gäbe es keine Erdoberfläche, kein Licht, kein Sein, somit kein Leben.
Diese ambivalente Haltung der Frau gegenüber, wie sie in den überlieferten Texten (seien sie seit Jahrhunderten schriftlich fixiert oder in Volksliedern von Generation zu Generation mündlich weitergegeben) zum Vorschein kommt, ist der Grund jener Fülle von Sagen und Legenden über Sirenen, Feen und Zauberinnen. Indem die Frau alles und nichts ist, ist sie die absolute Herrscherin über unermeßliche Reichtümer, aber diese Reichtümer sind verborgen, nur unter Schwierigkeiten zu erreichen, und auf dem Weg dorthin lauern Gefahren. Man verbrennt sich die Finger daran. In allen Traditionen gibt es übereinstimmend die Kunde von Schätzen auf dem Meeresgrund. Nach der Theogonie von Hesiod wohnen die Nereiden auf dem Meeresgrund in Höhlen unweit des goldenen Palastes von Triton. Eine skandinavische Sage berichtet, daß der Meersgrund der Besitz eines Götterpaares ist. Die Frau, Ran, hält auf dem sandigen Boden azurblaue Kissen zum Empfang der Schliffbrüchigen bereit. In Grönland wohnt die Tochter des Tangarsuk unter dem Meer und herrscht über alle Meerestiere. Ein Gefäß unter ihrer bis zum Überlaufen mit Lebertran gefüllten Lampe ist voller Schwimmvögel. Meerhunde bewachen das Tor des verbotenen Palastes und greifen jeden an, der ihn betreten will. Der Kalevala zufolge leben die Jungfrauen von Wellamo am äußersten Rande »eines nebelumwobenen Kaps, unter gewaltigen Wogen verborgen«. Die Herrscherin der Wogen taucht aus der Tiefe auf, wenn sie der Stimme des Barden Väinämoinenlauschen will. Im indischen Epos Mahdhbärata fliehen die Daityas, das heißt die Dämonen, nachdem sie von Indra (einem die patriarchalische Kultur symbolisierenden Helden) besiegt worden waren, in die Tiefe des Meeres. Ähnliches kommt in der irischen Mythologie vor, wo die Tuatha De Danann, die Untertanen der Göttin Dana, nachdem sie von den Söhnen des Mile (gemeint sind die Galen) besiegt worden waren, unter die hügelförmigen Erhebungen (tertres) der Erdoberfläche in das Innere der Erde oder auf geheimnisvolle Inseln jenseits des Horizonts fliehen müssen. Aber die Tuatha De Danann sind Wasserwesen, sie reiten auf Seepferden weiterhin unbesorgt über die grünen Auen der Meere.

Die Meerfahrt des Bran, Sohn des Felal (Irland):

Eines Tages erscheint Bran eine rätselhafte Frau, reicht ihm den Zweig eines Apfelbaums und lädt ihn zu sich nach Emain, der Insel der Frauen ein. Bran sticht mit seinen Gefährten in See. -Auf dem offenen Meer begegnet ihm ein auf den Wellen reitender Ritter, der sich als Mananann, Sohn von Lir (= »Sohn der Wellen») zu erkennen gibt und ihn nach Emain geleitet. Nach ihrer Landung auf dieser Insel führen Bran und die Seinen bei den Frauen das herrlichste Leben, bis sie eines Tages Heimweh ergreift. Als sie schließlich in Irland landen, entdecken sie, daß seit ihrer Abreise mehrere Jahrhunderte vergangen sind. Einer der Seefahrer wirft sich zur Begrüßung auf die heimatliche Erde, wo er zu Asche zerfällt. Daraufhin begeben sich Bran und die Seinen sofort wieder auf das rettende Meer hinaus, ohne einen Fuß an Land gesetzt zu haben.

Die Meerfahrt des Maelduin (Irland j:

Nach zahlreichen Abenteuern und wunderbaren Begegnungen auf dem Meer gelangen Maelduin und seine Gefährten auf eine Insel, wo sie von der Königin und ihren siebzehn Töchtern empfangen -werden, »und so teilten die siebzehn Männer mit den siebzehn herrlichen Töchtern und Maelduin mit der Königin das Lager der Liebe«. Am folgenden Morgen sagt die Königin zu Maelduin: »Bleibe hier, und du sollst nie alt werden. Stets wirst du in so jugendlicher Blüte bleiben wie jetzt. Und was du in vergangener Nacht erlebt hast soll dir in folgenden ebenso zuteil werden.« Verlockt von solch herrlichen Aussichten »blieben sie die ganzen drei Monate des Winters dort und hatten den Eindruck, sie hätten drei Jahre gedauert«. Aber schließlich bekommen sie Heimweh. Heimlich begeben sie sich auf ihr Schiff, doch die Königin »warf ein Garnknäuel nach ihm, Maelduin fing es auf, und sofort klebte es an seiner Hand fest. Die Königin brauchte nun nur noch an dieser Leine ziehen, und so gelangte das Schiff wieder in den Hafen zurück«. Diesmal »bleiben sie drei mal drei Monate auf der Insel. Anschließend fliehen sie wieder an Bord, und wieder wirft die Königin ihr Knäuel, das diesmal einer der Seeleute auffängt. Man hackt ihm die Hand ab, und sie fällt zusammen mit dem Knäuel ins Meer«. Da brach die Königin in Klagen und Weinen aus, sodaß die ganze Erde nur noch aus Geschrei, Wehklagen und Jammer der Verzweiflung bestand.[27]

Es handelt sich hier um zwei Ausformungen ein und desselben Stoffes. Die erste, die Meerfahrt des Bran, ist die ältere: sie zeigt, wie die Helden dem Zauberbann der Fraueninsel verfallen und daß alle — bis auf einen Unglücklichen — sich hüten, die heimliche Erde wieder zu betreten, obwohl sie sich nach ihr sehnen, und es vorziehen, wieder auf die Zauberinsel zurückzukehren. Zugleich ist diese Zauberinsel aber auch — wie es in Chetien de Troyes Lancelot über das von Meleagant beherrschte Königreich Gorre heißt - »ein Land ohne Wiederkehr«. In der zweiten Variante, der Meerfahrt des Maelduin, wird der Sieg des Helden in den Vordergrund gerückt, dem es gelingt, den weiblichen Verführungskünsten, nachdem er ihnen zuvor ausgiebig und willentlich erlegen war, schließlich zu entfliehen. Dieser Text trägt bereits deutlich christliche Züge oder doch zumindest Anzeichen eines Mißtrauens gegenüber den raffinierten Ränken der Weiblichkeit, die zu früheren Zeiten noch als höchst angenehm empfunden worden waren. Es gibt daneben noch eine dritte, in der lateinischen und französischen Literatur des Mittelalters weit verbreitete Variante, die Seefahrt des Hl. Brenda, in der die Züge der Bran/Maelduin-Figur mit denen der mehr oder weniger fiktiven Gestalt des Hl. Brendan, des legendären Abtes aus dem Kloster Clonfert, vermengt wurden. Hier ist die Evolution des Mythos noch weiter fortgeschritten. Aber anstatt die Ränke der Weiblichkeit zu brandmarken und Rezepte dafür zu bieten, wie dem endgültigen Untergang durch sie zu entrinnen sei, wurde der alte Mythos vom christlichen Klerus in ähnlicher Weise für die eigenen Zwecke rekuperiert wie die Menhire, denen lediglich christliche Kreuze aufgesetzt wurden, oder die heidnischen Kultstätten, an deren Stelle man einfach neue Kirchen errichtete.[28] Das Überraschende dabei ist, daß der Mythos, dergestalt oberflächlich christianisiert, mit einem Mal wieder verständlich wird, denn der Hl. Brendan begibt sich nun einfach auf die Suche nach dem Paradies. Das »Land der Frauen« wird auf einmal wieder das, was es von jeher im Grunde war: das keltische Paradies!
Übrigens kommt darunter auch deutlich jener Mythos zum Vorschein, der der Sage von Circe und von Calypso zugrunde liegt. Nur sichert sich Odysseus gegenüber Circe mit einem Übermaß an Vorsicht ab, ein Musterbeispiel für die Misogynie der Griechen oder vielmehr für ihr Mißtrauen weiblichen Gottheiten gegenüber. Als nämlich Circe Odysseus einlädt, mit ihr das Lager zu teilen, antwortet dieser:

»Du, die du forderst mit listiger Absicht, weil du hier bist,
dir in die Kammer zu folgen, das Lager mit dir zu besteigen,
um mich dann waffenlos zum schlappen Schelm zu erniedern,
nimmer komm» mir Verlangen, das Lager mit dir zu besteigen,
nimmst du es nicht auf dich, den großen Eid mir zu schwören,
Göttin, kein anderes Leid und Unheil mir zu ersinnen.«[29]

Ebensowenig ist er bereit, von Circe gereichte Speisen oder Getränke anzurühren, bevor sie den in »Säue» verwandelten Gefährten nicht wieder die menschliche Gestalt zurückgegeben hat. Und als Calypso auf ausdrücklichem Befehl des Zeus Odysseus wieder freigeben und ihm ein mit Proviant ausgerüstetes Boot stellen muß, verlangt Odysseus auch von ihr ein feierliches Gelöbnis, ihn nicht zu täuschen. Dadurch handelt er sich von der Nymphe die Antwort ein, er sei im Grunde nichts weiter als ein Schurke, habe aber immerhin recht listige Einfälle. Solche Worte nehmen sich recht hübsch aus im Munde einer Göttin! In der Tat ist Odysseus ein Bandit, ein Betrüger, jemand, der sich stets listig aus der Schlinge zu ziehen weiß: er verkörpert das Musterbild des Mannes der mediterranen patriarchalischen Gesellschaften, die eine besondere Geschicklichkeit im Ersinnen von zweideutigen Gesetzen und Formen der Ehrerbietung gegenüber der Frau entwickelt haben, die nur dazu dienen, sie von der realen Macht auszuschließen. Und doch trifft zu, was Calypso Hermes gesteht, als er ihr die Order des maskulinen Gottes Zeus überbringt: »Ich habe (Odysseus) geliebt und genährt; ich wollte ihn unsterblich machen und ihm auf alle Ewigkeit das Alter ersparen.« Odysseus ist wahrhaftig der Mann der Verweigerung in rationalistisch-patriarchalischer Form, der Mensch, der Angst hat vor allem, was sich in den Tiefen des Unbewußten abspielt, der Mann, der Angst hat vor der Frau, weil er weiß, daß die Frau die Macht hat, ihm »Kraft und Potenz zu rauben«, oder ihn mit anderen Worten trefflich übersetzt — »waffenlos zum schlappen Schelm zu erniedern«, ihn in die Märchenwelt der Kindheit zurückzuschicken, - in eine Welt, wo die Dimension der Zeit abgeschafft ist.
Der keltische Held geht entschieden weniger vorsichtig vor. Er zögert nicht lange, selbst auf die Gefahr hin, daß er nach dem Genuß seiner Abenteuer bitten muß, wieder Abschied nehmen zu dürfen oder einen Fluchtversuch unternimmt. Er hat keinerlei Furcht, von der Frau »entmannt«zu werden. Selbst der christianisierte keltische Held schreckt vor diesem Abenteuer, bei dem für ihn die Aussicht besteht, »unterzugehen», nicht zurück. Im Gegenteil: er sucht es gerade. Und es ist geradezu ein Frustrationserlebnis, wenn Sankt Brandan wieder in die Welt der Lebenden zurückkehrt, denn nach dem unerbittlichen göttlichen Gesetz muß man erst durch den Tod gehen, bevor man in das wahre Paradies gelangt. Hieran kann man den Mentalitätsunterschied ermessen, der die Griechen — selbst die der archaischen Epochen (denn die Odyssee spiegelt ja die Anfänge der Achaier wieder, mit denen die Entwicklung von Hellas begann, und enthält deutliche Verweise auf ältere Zustände, wo die Frau noch mehr Macht hatte und in höherem Ansehen stand) — von den Kelten trennt, die am Rande Europas lebten und Erben von Traditionen waren, die bis in das Dunkel der Prähistorie zurückgehen.
Der Calypso oder Circe haftet etwas stark Beunruhigendes an, der Königin der Fraueninsel dagegen nicht. In der Meerfahrt des Maelduin ist es die göttliche Reiterin, die in Irland als Macha, in Wales als Rhiannon, in Gallien als Epona und selbst auch im römischen Reich bekannt ist. Als Maelduin die Königin zum ersten Mal erblickt, reitet sie ein edles Streitroß. Bekanntlich galt das Pferd von jeher als das Tier, das Zugang zum Jenseits, zur Autre Monde hat. So wird der Sonnenwagen von einem Pferd in die Nacht hinab und in den Morgen heraufgezogen. Es hat die Funktion eines P.ychopompos, eines Seelenführers. Die ältesten Kultgegenstände der Bronzezeit sind von Pferden gezogene Wagen. Auch der Ritter des höfischen Mittelalters ist noch von Spurenelementen dieses Pferdemysteriums gezeichnet: er selbst folgt rätselhaften Trieben auf Irrfahrten der aventiuren, deren Ziel und Ausgang ungewiß ist, und dringt dabei gelegentlich in »mysteriöse» Schlösser ein, die zugleich Zugänge zur Autre Monde sind. In der Weiterentwicklung der Überlieferung nahm das Pferd dann immer deutlichere Züge des Satanischen an, bis schließlich bereits der Abdruck eines Pferdehufs zum Erkennungszeichen des Teufels wurde.[30] Diese Entwicklung verläuft in einer Art, die den Eindruck erweckt, als wolle man zwischen die Frau, das Objekt männlicher Sehnsüchte und Träume, und den Mann absichtlich Barrieren errichten, die ihn von der Realisierung seiner Suche (quete) abbringen sollen. Mag die Frau auch die reine Inkarnation alles Schönen und Wunderbaren sein, — bevor man zu ihr gelangt, hat man die härtesten Prüfungen zu bestehen und wird ständig mit unheilbringenden Monstern konfrontiert. Ohne hier weiter auf das grenzenlose Thema der Suche nach der Frau (Quete de la Femme) näher einzugehen, wollen wir uns auf die Untersuchung einiger Überlieferungen beschränken, bei denen es um die femme engloutie, die verwunschene Frau auf dem Meeresgrund geht, die dort von gräßlichen Ungeheuern bewacht wird, welche im christlichen Kontext natürlich die Helfer Satans oder Geschöpfe aus dem Geiste des großen Verneiners sind.

Die Abenteuer von Art, Sohn des Conn (Irland):

Nach einem über ihn ausgesprochenen geis soll Art Morganes Tochter Delbchaen, die irgendwo auf einer Insel im Meer lebt, zur Frau erhalten. Auf der Fahrt zu ihr muß er zuerst unter größten Gefahren gegen wilde Hirsche, gräßliche »Stechpalmenhunde«, widerliche Kröten und gewaltige Löwen kämpfen. Er muß einen Fluß voller Eisschollen überqueren und mit einem Riesen kämpfen. Dann muß er zwischen zwei Kelchen wählen, von denen einer Gift enthält: erst als er auch noch Vater und Mutter des jungen Mädchens im Kampf besiegt hat, kann er die Ersehnte endlich heimführen, wobei er dabei noch rasch sämtliche Schätze des »Landes der Wunder« an sich rafft.[31]

Prinzessin Marcassa (Bretagne):

Ein schwächlicher junger Mann, Luduenn (ein Pendant zu »Aschenputtel«), hat sich — um den König von einer rätselhaften Krankheit zu heilen — auf die Suche nach dem Vogel Dredaine zu begeben, der in einem unzugänglichen Schloß in einem goldenen Käfig sitzt. Luduenn muß drei Höfe überqueren, von denen der erste von einem gewaltigen Knäuel giftiger Reptilien, der zweite von einem Rudel tobender Tiger und der dritte von einer Horde von Riesen besetzt ist. Diese alle sinken zwischen elf Uhr und Mittag in tiefen Schlaf, und so hat er für seine Aufgabe nur diese eine Stunde zur Verfügung. Danach muß er drei Säle durchqueren: im ersten findet er einen Brotlaib, der nicht kleiner wird, soviel er auch davon ißt, im zweiten einen Weinkrug, der nicht leer wird, wenn er daraus trinkt. Im dritten Saal erblickt er »eine Prinzessin, so herrlich schön wie der helle Tag, auf einer purpurnen Ottomane hingestreckt in tiefem Schlaf. Der genossene Wein hatte ihn kühn gemacht und sein Blut in Wallung gebracht, und so zog er seine Schuhe aus und liebte die Prinzessin, ohne daß sie dabei erwachte.«-Schließlich findet er im vierten Zimmer den gesuchten Vogel Dredaine und nimmt ihn an sich. Nach einer Reihe weiterer glücklich bestandener Abenteuer gelingt es Luduenn zwar, die Leiden des Königs zu lindern, aber nicht, seine Gesundheit wieder ganz herzustellen, denn dazu müßte dieser erst mit der Prinzessin Marcassa, die Luduenn im Schloß »erkannt« hatte, das Liebeslager teilen. Und so macht sich die Prinzessin, die inzwischen einem Sohn das Leben geschenkt hat, auf die Suche nach Luduenn, findet ihn auch, heilt den König und heiratet schließlich Luduenn.[32]

Die Prinzessin des Verwunschenen Palastes (Bretagne):

Der junge Efflam wird eines Tages vom König ausgesandt, zu erkunden, weshalb die Sonne am Morgen die Farbe der Rose hat. Er erreicht nach einiger Zeit den Palast der Mutter der Sonne. Sie schützt Efflam davor, von der Sonne verzehrt zu werden und beantwortet seine Frage: »Zur Stunde des Morgens steht die verwunschene Prinzessin am Fenster ihres Palastes, und so tauchen die Strahlen ihrer Pracht die Sonne in die Farbe der Rose. Da der König sich in diese Prinzessin verliebt hat, sendet er Efflam wieder aus, sie zu holen. Efflam gelangt auf dieser Fahrt nacheinander durch die Königreiche der Löwen, der Menschenfresser und der Ameisen. Dann hat er den verwunschenen Palast erreicht. Dort empfängt ihn ein Mädchen von wunderbarer Schönheit und gibt ihm drei Prüfungen auf: er muß eine Nacht im Käfig eines Löwen, eine zweite in der Höhle eines Menschenfressers bestehen und eine dritte Nacht hindurch einen Berg Getreide verlesen. Diese Prüfungen besteht er. Daraufhin bringt ihn das Mädchen in das Gemach der verwunschenen Prinzessin. Sie ist bereit, ihm zu seinem König zu folgen. Der König wünscht, die Prinzessin auf der Stelle zur Frau zu nehmen. Unter dem Vorwand, er sei zu alt, schlägt ihm diese vor, ihn zuerst zu töten und dann wieder in der Gestalt eines rüstigen Zwanzigjährigen ins Leben zurückzurufen. Der König ist einverstanden. Die Prinzessin tötet ihn und erklärt kalt: »Nun, da er tot ist, soll er auch tot bleiben — und der, der alle Mühsal ihm zuliebe auf sich genommen hat, erhalte die Belohnung!« - und heiratet Efflam.[33]

In diesen drei Sagen macht sich der Held auf die Suche nach der Frau nicht aus freiem Entschluß, sondern er handelt auf Befehl. Sein Erfolg dabei ist in einem patriarchalischen Kontext völlig unverständlich. In der Geschichte des Art spielt die Idee der weiblichen Souveränität eine gewisse Rolle, in den beiden bretonischen Sagen scheint eine solche Tendenz ebenfalls vorzuliegen. Art tötet die Eltern von Delbchaen, die Prinzessin des verwunschenen Palastes tötet den König, um Efflam zu heiraten. Ganz per Zufall begegnet Luduenn der Prinzessin Marcassa, denn das einzige Ziel seiner Suche war der heilkräftige Vogel: besonders aufschlußreich ist dabei, daß die Erzählerin betont, er sei dem Zauber und Reiz der Prinzessin nur aufgrund des genossenen Weins erlegen: Art und Efflam dagegen befanden sich tatsächlich auf der Suche nach der verwunschenen Prinzessin. In allen drei Fällen sind die zu überwindenden Hindernisse furchterregend, unmenschlich, übernatürlich, und deshalb bedarf es eines so tapferen Helden wie Art oder eines so »unschuldigen» tumben Toren wie Luduenn oder Efflam, um dieses Ausmaß an Furcht und Schrecken zu überwinden.
Die Ungeheuer, die über die versunkene Frau auf dem Meeresgrund wachen und jeden Neugierigen daran hindern, ihr nahe zu kommen, sind sowohl Verkörperungen der gesellschaftlichen Tabus, als auch der von den Mechanismen der männlichen Psyche erzeugten Phantasmen. Die gesellschaftlichen Tabus sind klar zu erkennen. In erster Linie haben wir es hier mit dem Inzesttabu zu tun. Freud hat die Bedeutung dieses Tabus in allen sogenannten primitiven Gesellschaften aufgezeigt: er legt dar, daß nicht das Inzest-Tabu angeboren ist, sondern der Inzest selbst, der einer der Instinkte ist. Freud nahm aber an, daß bereits die ältesten Gesellschaften nach dem Muster der durch den Vater, das heißt durch das stärkste Männchen regierten Urhorde patriarchalisch ausgerichtet waren, und da er das Phänomen des Inzests als Revolte der Söhne erklärte, die sich mit der Mutter gegen den Vater verbünden, mußte er auf den Ödipuskomplex zurückgreifen, um den Inzest-Instinkt des Menschen zu erklären. Die Existenz des Ödipus-Komplexes ist unbestreitbar, auch wenn er als die Patent-Erklärung für alles mögliche oft überstrapaziert wird, nur hat Freud die Möglichkeit der Existenz von matriarchalischen Gesellschaften vor Auftreten der patriarchalischen nie gesehen. Durch ein persönliches Kindheitstrauma seinerseits stark beeinflußt, hat sich nämlich Freud bei seinen Forschungen nie besonders weit in das Terrain der weiblichen Psyche vorgewagt und sich dabei auf eine eher oberflächliche Untersuchung ganz aus einer männlichen Perspektive beschränkt, wobei er ebenso oft den gesellschaftlichen Zwängen seiner Erziehung wie seiner jüdischen Mentalität erlegen ist, was ohne den geringsten Hintergedanken rassistischer Art einmal betont werden muß. Nimmt man aber die Möglichkeit doch an, daß es vor den patriarchalischen Gesellschaften matriarchalische gegeben haben könnte, - worauf zahlreiche Phänomene, auf die wir noch zu sprechen kommen, in der Tat hindeuten —, so drängt sich die Erklärung der Ursachen der Inszestverdrängung ganz von selbst auf: man muß die Männer von den Frauen getrennt halten, damit die Männer nicht unter die Herrschaft der Frauen geraten, und hat deshalb jede Annäherung zwischen Bruder und Schwester, zwischen Söhnen und Müttern tunlichst zu unterbinden. Der Inzest oder der Inzestinstinkt entwickelte sich also aufgrund der Promiskuität, in der die Gemeinschaftsmitglieder miteinander ursprünglich lebten, einer Promiskuität, die freie sexuelle Beziehungen auch zwischen Angehörigen ein und derselben Familie, also Blutsverwandten, zuließ.
Bekanntlich ist der Inszest in allen sogenannt organisierten Gesellschaften durch Gesetze verboten; wird er aber in denselben Gesellschaften in bestimmten Ausnahmefällen toleriert, bleibt er immer besonders privilegierten Individuen vorbehalten. In der griechischen Mythologie findet sich noch das Echo solcher Tabuüberschreitungen: Hera ist Schwester und Gattin von Zeus. Ebenso ist es bei den Ägyptern: die Göttin Isis ist Schwester und Gattin des Osiris, außerdem mußten die Pharaonen der ältesten Dynastien ihre leiblichen Schwestern ehelichen. Und wenn man die Genesis wörtlich nimmt, so muß man annehmen, daß aufgrund der Tatsache, daß Eva nur Söhne gebar, die Menschheit aus inzestuösen Beziehungen zwischen Eva und ihren Söhnen hervorgegangen ist. Auch in der keltischen Mythologie sind Hinweise auf Inzestsituationen zu finden: Mordred, der gegen König Artus rebelliert, ist aus einer inzestuösen Beziehung zwischen Artus und seiner Schwester hervorgegangen; Cüchulainn ist zweifellos der Sohn von Concobar und seiner Schwester Dechtire; der zum Nachfolger Concobars vorgeschlagene Cormac-Conloinges ist der Sohn von Conchobar und seiner Mutter Ness; Lleu Llaw Gyffes ist der Sohn von Gwyddyon und seiner Schwester Arianrod; Merlin und seine Schwester Gwendydd haben ebenfalls recht vielschichtige Beziehungen zu einander, die den Autoren des Mittelalters nicht entgangen sind, da sie aus Gwendydd die Fee Viviane machten, die mit dem Zauberer und Seher nun in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis mehr steht.
Diese gesellschaftlichen Tabus, deren Kern der Inzest ist, sind also ein Mittel der Regulierung des Sexuallebens innerhalb der Gruppe. Aber so notwendig sie auch in Gesellschaften erscheinen, die die Monogamie zum absoluten Postulat erhoben haben, so unnötig waren sie in Gesellschaften, in denen die Freiheit der sexuellen Beziehungen nicht eingeschränkt war. Deshalb sind Überschreitungen sexueller Tabus in den Mythologien monogamer Gesellschaften Reminiszenzen einer früheren sozialen Ordnung. Denn wie Simone de Beauvoir sagt:

»(...) haben uns diese fernen Zeiten (...) keinerlei Literaturen hinterlassen; die großen Epochen des Patriarchats dagegen haben in ihrer Mythologie in ihren Literaturdenkmälern und Traditionen die Erinnerung an eine Zeit festgehalten, in der die Frau noch einen besonders hohen Rang in der Gesellschaft hatte«.[34]

Noch interessanter sind die individuellen Tabus, die Phantasmen des Unbewußten, die der Mensch sich selbst konstruiert, in die Tiefen seines Unbewußten verbannt und doch von Generation zu Generation in Form von gesellschaftlichen Konventionen, moralischen und religiösen Verboten und vor allem durch das Schweigen über gewisse Dinge weitergegeben hat. Tabus solcher Art ergeben die bei weitem ergiebigsten Untersuchungsobjekte, da sie ungleich aufschlußreicher für die Entwicklung des menschlichen Denkens seit der vage zu ortenden Vorzeit sind, in der die Frau — in Wirklichkeit oder zumindest theoretisch [35] -allmächtig war, bis hin zu den modernen Gesellschaften, in denen der Mann der Frau zwar einige weniger bedeutende Rechte einräumt, aber doch das soziale, ökonomische, intellektuelle und religiöse Leben so entscheidend steuert, daß es heute die Frauen sogar selbst sind, welche diesen Zustand — durch ihre Erzieher konditioniert — vor allem mit ihrer Stimmabgabe auch noch unterstützen. Von diesen individuellen Tabus spricht man jedoch außerhalb der speziellen Fachliteratur kaum, so als schäme man sich, sie auch nur zu erwähnen. Natürlich würde dies den romantischen Manierismus, mit dem man uns in Sachen »Frauen« und »Liebe« narkotisiert, erheblich untergraben, und was sich hinter den Symbolen der bösen Ungeheuer, die die schöne Prinzessin eingesperrt halten, verbirgt, ist freilich ganz dazu angetan, die Frauen selbst erschauern zu machen, die kaum eine Vorstellung davon haben, welch unglaubliche Phantasmen die Phantasie ihrer »camarades de plumard« (»Feder-Bettgenossen») heimsuchen, — um einen Begriff von Rabelais zu gebrauchen, der aber dank des notorischen Antifeministen San-Anonio alias Frederic Dard [36] hier durchaus gerechtfertigt ist. Simone de Beauvoir hat den Ursprung dieser Phantasmen klar durchschaut:

»Viel häufiger findet sich im Mann die Auflehnung gegen seine conditio als Körperwesen; er betrachtet sich als einen gefallenen Gott: sein Fluch ist es, daß er aus einem strahlenden und geordneten Himmel in das chaotische Dunkel des Mutterleibes hinabgestürzt ist.«[37]

Auf diese Art ist auch das vielzitierte platonische Höhlengleichnis zu verstehen, das wir dem Misogyn Sokrates verdanken: die Menschen, das heißt die Männer sind in einer Höhle gefangen, den Rücken dem Eingang der Höhle zugewandt, sodaß sie die Außenwelt, das heißt die reale Wirklichkeit, der sie entstammen, nur als Schatten auf der ihnen gegenüberliegenden Wand wahrnehmen können. Abgesehen von den metaphysischen Schlußfolgerungen, die aus dieser Allegorie im allgemeinen gezogen werden, kann die Höhle auch leicht als Uterus-Symbol  gesehen werden, denn die Höhle ist, wie wir weiter unten noch sehen werden, eines der häufigsten Symbole für den weiblichen Unterleib, die »Gebär-Mutter». Man darf nicht vergessen, daß diese Allegorie einen der Grundpfeiler der abendländischen Philosophie darstellt, und daß unser auf griechischen, römischen und jüdisch-christlichen Elementen bestehendes Denksystem - ob man es nun wahrhaben will oder nicht — davon geprägt ist. Aber Simone de Beauvoir insistiert auf dem makaberen Aspekt des Mutterleibes:

»Die wabernde, gallertartige Masse, die sich in der Gebärmutter bildet (deren Inhalt so geheim und verborgen ist wie in einem Grab), erinnert allzusehr an die schlaffe Viskosität einer Leiche, als daß er (der Mann) sich nicht mit Schaudern davon abwenden müßte (...) Der schleimige Embryo öffnet den Kreis, der sich mit der Verwesung des Todes schließt«.[38]

Man braucht sich also über die Scheu der Männer gegenüber schwangeren Frauen, ja selbst der Zeugung nicht weiter zu wundern. Der Leviticus lehrt:

»Wenn ein Weib besamet wird / und gebirt ein Kneblin / So so! sie sieben tage unrein sein / solange sie jre klein krankheit leidet... und sie soll daheim bleiben drey und dreissig Tage / im Blute jrer Reinigung... gebirt sie aber eine meidlin / So sol sie zwo wochen unrein sein / so lange sie jre Krankheit leidet / und soll sechs und sechzig tage da heim bleiben in dem blut jrer reinigung« (3. Buch Moses, 7; Übers. M. Luther).

Manchmal kann diese Scheu und Hemmung aus verschiedenen Gründen zu Abscheu und Haß gesteigert werden, wie leider authentische Fälle belegen, wo schwangeren Frauen von manisch depressiven Tätern im Blutrausch der Leib aufgeschlitzt wurde, die man dann allzu leicht als »Sadisten« abstempelt, ohne sich jener gräßlichen Phantasmen bewußt zu sein, die die Phantasie dieser Kranken zerfressen. Die Aversion gegen die schwangere Frau wird in zwei keltischen Legenden drastisch illustriert:

Die Legende von Conchobar und Tryphina (Bretagne):

Der König Colomar (oder Kynvawr), dessen Herrschaft über die beiderseits des Kanals gelegenen Gebiete von Domnonee im VI. Jahrhundert historisch belegt ist und der mehrere Male Witwer geworden war, heiratet die Tochter von Waroc»h (oder Erec), dem König von Vannes. Es geht das Gerücht, daß Colomor alle seine Frauen in dem Augenblick zu mißhandeln begann, als sie guter Hoffnung waren. Tryphina wird schwanger und bemerkt die Feindseligkeit ihres Gatten. Sie flieht, wird aber nach einer wilden Verfolgungsjagd von Colomor eingeholt und geköpft. Aber der Hl. Gildas (oder Weltas) setzt Tryphina den Kopf wieder auf die Schultern und ruft sie ins Leben zurück. Nun kann sie doch noch einen Sohn, Tremeur, zur Welt bringen, der aber unglücklicherweise ebenfalls von Colomor geköpft wird. Der Hl. Gildas vernichtet daraufhin durch einen Zauber eher druidischer als christlicher Herkunft die Burg des Colomor mit allen ihren Bewohnern.[39]

Das Leiden der Ulates (Irland):

Die Göttin Macha, Tochter von Etrange (dem »Fremden»), zieht in das Haus des verwitweten Bauern Crunniuc. Macha wird schwanger. Crunniuc begibt sich zur Versammlung der Ulates und läßt sich zu einer prahlerischen Äußerung über Macha hinreißen, was den König dazu veranlaßt, sie holen zu lassen und zu einem Wettrennen gegen seine Pferde zu zwingen. Macha bittet um Aufschub aufgrund ihrer nahenden Niederkunft. Der König zeigt kein Erbarmen. Macha gewinnt das Rennen und gebiert Zwillinge. Aber sie verhängt über die Männer von Ulster und deren Nachkommen einen Fluch: sie sollen fortan in regelmäßigen Abständen jeweils vier Tage und Nächte lang die Schmerzen der Geburt erleiden.[40] Einzig der Held Cüchulainn wird diesem Fluch nicht unterworfen.[41]

Die Angst vor der schwangeren Frau spielt auch in dem Mysterium, das den Zeugungsvorgang umgibt, eine Rolle. Es darf nicht vergessen werden, daß in der Frühzeit der Menschheit der Mann wenig über seine Rolle bei der Empfängnis wußte und ihr auch später keine große Bedeutung beimaß, da sexuelle Promiskuität üblich war. Alle Männer der Horde waren mehr oder weniger Väter aller Kinder. Die Frau befand sich dabei in einer unangenehm privilegierten Lage, unangenehm und zweifelhaft deshalb, weil nach dem Gesetz des Gleichgewichts man einem Wesen das Leben nimmt, wenn man es einem anderen gibt. Der Vater fühlt sich also bedroht. Dies ist der Grund, weshalb Colomor auf seine schwangeren Frauen und auf seinen durch ein Wunder doch noch geborenen Sohn so erzürnt ist: für ihn bedeutet dieser Solin seinen eigenen Tod, die Negation seiner Person. Macha wiederum wird das Opfer einer männlichen Verschwörung, aber sie ist eine Göttin, somit Erbin der alten matriarchalischen Zivilisationen. Sie rächt sich und verhängt ihr eigenes Leiden über jene, die sie gequält hatten. Hier erkennt man einen der Hintergründe des auch heute noch bei manchen Völkern verbreiteten alten Brauches einer Art Geburtshilfe, die darin besteht, daß sich der Mann während der Entbindung seiner Frau zu ihr ins Bett legt und die Geburtsschmerzen simuliert.
Aus dieser Angst vor dem Gebären entstanden bestimmte, weltweit verbreitete Traditionen, aus denen der Wunsch des Mannes spricht, ohne die Konkurrenz der Frau selbst Kinder zur Welt bringen zu können. So entspringt zum Beispiel Athene dem Kopf des Zeus und Dionysos aus seiner Hüfte. Der hethitische Gott Koumarbi gebiert aus zwei verschiedenen Stellen seines Körpers zwei Kinder. Bandicoot, der Stammvater der Aranda, eines amerikanischen Volkes, gebiert aus seinen Achselhöhlen einen Sohn. Das indische Mahäbhärata (I, 67) erzählt, wie Bharadväja, der zum König gesalbt weden sollte und deshalb in strenger Enthaltsamkeit zu leben hatte, plötzlich die Ghritäsi entkleidet erblickt. Er kann sein Verlangen nicht bezähmen: sein Sperma fließt zur Erde, da dies aber gegen die Sitte ist, fängt der Held es in einem irdenen Krug {drona) auf. Aus diesem Krug wird nach einiger Zeit ein Kind geboren, das den Namen Drona erhält und eine Ayonija, das heißt ein Geschöpf ist, das nicht aus eineryoni hervorgegangen ist. Eine andere indische Legende, die im Kommentar zum Sarvänukramani erzählt wird, ist damit fast identisch: die göttliche Nymphe Urvaci ist durch einen Fluch von Mithra und Varuna auf die Erde verbannt worden. Bei einer Wanderung über die Erde entdecken die beiden Götter die Nymphe einmal in voller Nacktheit. Auch sie können ihre Wollust nicht unterdrücken und ejakulieren. Sie fangen ihr Sperma in einem Krug auf. Aus diesem Krug wird das Kind Skanda geboren und die unglückliche Urvaci wird auch vom der Erde verbannt.
Die symbolische Bedeutung des Kruges als Gebärmutter-Ersatz liegt auf der Hand. Nun dürfte einleuchten, warum die Völker der frühen Eisenzeit die Asche ihrer Verstorbenen in Urnen aufbewahrten. Dieser Brauch lebte bei den meisten Indoeuropäern lange fort. In Griechenland waren die Anthisterien das Fest der Toten und wurden im Frühjahr mit üppigen Zechgelagen begangen: der erste Tag dieses Festes hieß in Erinnerung an die Krüge, in denen die Reste der Toten eingeschlossen waren, »Tag der offenen Krüge«. Ähnlich wurde in Irland in der Nacht zum 1. November das Samain-Fest begangen, bei dem die berühmten sidhs, die Seelenhügel, in denen Götter und Tote wohnten, geöffnet wurden: man konnte sie dann betreten, und die Bewohner der sidhs konnten sich unter die Lebenden mischen. In der Bretagne hat sich dieser Volksglaube und -brauch noch lange gehalten; in der Nacht vor Allerheiligen irrten dort die gequälten Seelen an den Wegrändern entlang.
Krug, Urne, Erdloch, Höhle, Grotte unter dem Meeresspiegel, Insel mitten im Ozean: all dies sind Symbole der Frau und zugleich Symbole des Todes. Die Personifizierungen des Todes sind übrigens fast immer weibliche Gestalten, außer in der Bretagne, wo wir eine männliche Gestalt, den Ankou finden. Wolfgang Lederer hat auf die mittelalterlichen Standbilder hingewiesen, die von vorne eine schöne, von einem Ritter verehrte Frau darstellen; betrachtet man aber ihren Rücken, so sieht man, daß er schon von Fäulnis und Verwesung zerfressen ist oder einem Skelett gleicht.[42]
Es ist somit kein Zufall, daß man in der bildenden Kunst wie in der Literatur Hexen immer als häßliche alte Weiber mit widerlichen Fratzen dargestellt hat, obwohl man durch Prozeßprotokolle aus dem Mittelalter und der Renaissance genau weiß, daß die der Hexerei angeklagten Frauen oft jung und schön waren. Die keltische Literatur enthält entsprechende Beispiele, wo Helden mit weiblichen Monsterwesen konfrontiert werden, die nur der Welt der Toten beziehungsweise der Unterwelt entstiegen sein können.

Peredur ab Evrawc ( Wales):

Eines Tages erscheint am Artushof in Kair Llion-sur-Wysc vor dem König, vor Gwalchmai, Owein und Peredur ein junges Mädchen mit schwarzem Haar auf einer elenden Mähre: »Ihre Gestalt war roh und grob, Gesicht und Hände schwärzer noch als in Pech getauchtes Eisen... sie hatte arg hervorstehende Backenknochen, ein nach unten langgezogenes Gesicht, eine kleine Nase mit aufgeblähten Nüstern; ein Auge blitzte graugrün, das andere war schwarz wie Kohle und lag tief im Gesicht; sie hatte gelbe Zähne, die noch gelber waren als Ginster. Ihr Bauch wölbte sich über die Brüste noch höher als bis zum Kinn. Ihr Rückgrat hatte die Form einer Krücke.— Sie grüßt alle Anwesenden außer Peredur, den sie verflucht, weil er das Zauberschloß betreten hatte und dort Zeuge eines geheimnisvollen Vorganges wurde, aber die Frage unterlassen hatte, die dem verwundeten König seine Gesundheit und dem Land seine Blüte wiedergegeben hätte. Sie fügt hinzu, daß sie bei sich ein junges Mädchen gefangen hält, und daß derjenige, der sie befreit, großen Ruhm gewinnen wird. Da entschließt sich Gwalchmai, die Aventüre zu wagen, die ihn später zur Enthüllung der Geheimnisse um das Zauberschloß führt.[43]

Diese Episode mit der descriptio des häßlichen Fräuleins entspricht im wesentlichen dem Perceval von Chretien de Troyes. Im Parzival des Wolfram von Eschenbach tritt die berühmte Hexe »Kundrie la surziere« (Kundry la sorciere) auf, die nicht weniger häßlich dargestellt wird. Kundry ist eine für die keltische Tradition typische weibliche Gestalt, die den Bedürfnissen entsprechend als abstoßende Virago getarnt ist: sie ist eine Gottheit, die in ihren Liebesbeziehungen zu den Sterblichen Glück oder Unheil bringen kann. Sie hat den Fischer-König Amfortas ins Elend gestürzt, aber sie ist es auch, die Parzival zum Gralkönig macht. Sie gehört zur Kategorie der femme initiatrice (»in bestimmte Mysterien und Künste einweihende Frau»). Auf diese Funktion werden wir noch zu sprechen kommen. Wesentlich ist hier, daß ihr gefahrbringender Aspekt in den Vordergrund gestellt und durch ihre Häßlichkeit symbolisiert wird. Nie jedoch verliert sie, weder im deutschen noch im französischen oder walisischen Text, ihre grundsätzliche Ambiguität, und deshalb wirkt sie auch für die Männer so verlockend. Es gelingt jedoch nur ganz Wenigen, ihr zu folgen, mit anderen Worten: sie zu besitzen. Der Zugang zu den tabuisierten Bereichen ist nur dem Erwählten vorbehalten. Da die femme engloutie zugleich Weisheit, Reichtum und Macht verkörpert, kann sie nicht jedermann gehören. Das ist die den patriarchalischen Gesellschaften eigene Logik, denn sie sind im Grunde alle aristokratisch. Man muß also die Wünsche aller Sterblichen von ihr abwenden durch Einführung von Tabus und dem Terror der Abschreckung, der ja auch nichts anderes ist als ein Tabu. Die Übertretung eines Tabus ist demnach ein magischer Akt, vollbracht von dem, der liebt, das heißt von demjenigen, dem es gelungen ist, Abscheu und Hemmungen zu besiegen, und der das Risiko eingeht unterzugehen, um alles zu gewinnen. Denn ebenso wie es ohne Tod, ohne Auflösung kein neues Leben gibt, kann der neue Mensch, von dem die Mythen träumen, nur dann geboren werden, wenn er sich im Schoß der Frau der Auflösung preisgegeben hat.

Der Sohn des Eochaid Muigmedon (Irland):

Während einer Jagd werden die fünf Söhne des irischen Königs Eochaid von Durst geplagt, und so sucht einer nach dem anderen nach Wasser. Dabei begegnen sie einer alten häßlichen Frau: »All ihre Glieder vom Schädel bis zur Sohle waren kohlrabenschwarz. Ihre Haarmähne war grau und wirr wie der Schwanz eines wilden Pferdes. Ihre Zähne, die bis zu den Ohren reichten, waren grün wie die Blätter der Eiche. Sie hatte rauchtrübe, finster starrende Augen und eine gekrümmte, ausgezehrte Nase. Rauh, mit Warzen übersät und von Krankheit zerfressen war ihr Körper. Ihre Schienbeine waren krumm, ihre Knöchel geschwollen, ihre Schultern ausladend, ihre Knie plump, ihre Fingernägel grün«. Die Frau will den Söhnen Eochaids nur unter der Bedingung Wasser aus ihrem Brunnen schöpfen lassen, daß einer von ihnen ihr einen Kuß gibt. Die ersten vier Söhne weigern sich. Der jüngste, Niall, willigt ein und küßt sie. Aber da steht auf einmal das schönste und strahlendste Mädchen vor ihm. Dieses Mädchen sagt, sie heiße Flaithius, was »Königtum» bedeutet. Und so wird Niall König von Irland.[44]

Die Königstochter unter den Fluten (Schottland/Irland):

In einer Sturmnacht haben sich die Fiana um Finn versammelt. Eine häßliche und abstoßende Frau bittet um Einlaß. Finn und sein Sohn Oisin wollen sie nicht einlassen. Nur Diarmaid hat Mitleid mit ihr, läßt sie ans Feuer treten und teilt schließlich — seinem erheblichen Abscheu zum Trotz - das Lager mit ihr. Da entdeckt er, daß sie sich plötzlich in ein wunderschönes junges Mädchen verwandelt hat. Mithilfe ihrer magischen Kräfte baut sie auf dem Hügel von Ben Endain für Diarmaid ein Schloß und erklärt sich bereit, mit ihm dort zu leben, wenn er verspricht, ihr keine drei Mal die ihr erwiesenen Wohltaten vorzuwerfen. Natürlich wird das Versprechen nicht gehalten, und Mädchen und Schloß sind verschwunden. Diarmaid macht sich auf die Suche nach diesem magischen Wesen, leiht sich ein Boot und fährt ins offene Meer hinaus. Dort erfährt er, daß die Tochter des Königs nach sieben Jahren Abwesenheit wieder zurückgekehrt ist, daß sie aber von schwerer Krankheit befallen ist und von niemandem geheilt werden kann. Dairmaid erringt nach zahlreichen Abenteuern einen Zauberkelch, der die Königstochter wieder gesund macht. Von diesem Augenblick an aber flößt sie ihm nur noch Abscheu ein, er verläßt sie und kehrt nach Irland zurück.[45]

Es ist immer der Jüngste, der es wagt, seinen Abscheu zu überwinden. Niall ist der jüngste der Söhne Eochaids, Diarmaid ist der jüngste der Fiana. Das scheint die psychoanalytische These zu stützen, der große soziale Umbruch der Vorzeit sei die Machtübernahme des jüngsten Sohnes mit Hilfe der Mutter im Kampf gegen den allmächtigen Vater gewesen, wobei die anderen Brüder dem Beispiel des Jüngsten später folgen. In den meisten Erzählungen ist es der Jüngste und Schwächste, der die Prüfungen besteht. Manchmal bringen ihn seine eifersüchtigen Brüder um den Sieg. Diese Tradition findet sich auch in der biblischen Geschichte von Joseph und seinen Brüdern.[46]
Während Niall mit der Königswürde zufrieden ist, die er durch seinen rituellen Akt errungen hatte, ist Diarmaid im Zweifel über sein Schicksal. Ein erstes Mal verliert er die Tochter des Königs in der Tiefe des Meeres, weil er sich unbewußt durch das Übertreten des Verbotes von ihr befreien will, — vielleicht wegen der Gewissensbisse darüber, daß er sich mit Haut und Haar einem geheimnisvollen weiblichen Wesen ausgeliefert hat, dessen Herkunft er nicht einmal kennt. Als er aber das Verschwinden der Frau bemerkt, fühlt er sich hin- und hergerissen: sein Gewissen befiehlt ihm, sie zu suchen, sie in sich wieder erstehen zu lassen, genau wie Orpheus, der in die Unterwelt hinabsteigt, um Eurydike vom Gott der Unterwelt zurückzufordern und zwar deshalb, weil er die Frau noch nicht kennt. Und als Diarmaid die Frau wiedergefunden und geheilt hat, verliert er sie ein zweites Mal, diesmal freiwillig und bewußt wie Orpheus, der sich nach Eurydike umwendet. Denn nun hat er sie gesehen. Und wie sieht sie aus? Genau wie damals, als sie das erste Mal bei den Fiana eintrat, nämlich häßlich und abstoßend. Alles andere war nur Einbildung. Die Erzählung von Diarmaid ist in einen deutlich patriarchalischen und christlichen Kontext gesetzt. Diarmaid hat die Seinen verraten: er hat seine soziale Ordnung verraten, indem er auf die Vorschläge der Frau einging. Er ist so verblendet, daß er geraume Zeit braucht, bis er wieder auf den rechten Weg zurückfindet, das heißt zurück zum Gesetz des Patriarchats, von dem er sich nie hätte entfernen dürfen. Der gleiche Gedanke ist, unter noch stärkerem Einfluß christlicher Ideen, in der Quete du Saint-Graal zu finden, einem aus der Überlagerung von heidnischen, keltischen Sagenmotiven mit Elementen christlicher Mystik des XIII. Jahrhunderts erwachsenen Werk.

Zwei Perceval-Aventüren:

Auf seiner Suche nach der geheimnisvollen Gralsburg findet sich Perceval nach verschiedenen Aventüren einmal ohne Pferd an einem ihm unbekannten Ort wieder. Da erscheint eine Frau und bietet ihm ein wunderbares Streitroß an, er nimmt es, und sobald er sich in den Sattel geschwungen hat, jagt es mit ihm in höllischem Galopp davon. Er wird mißtrauisch und bekreuzigt sich. Da bäumt sich das Pferd auf, wirft Perceval ab und stürzt in einen Fluß, woraufhin sich das Wasser glutrot färbt.[47]
Wenig später trifft Perceval auf dem Meer auf ein wunderliches Schiff, auf dem ein in kostbare Gewänder gehülltes Fräulein steht. Sie lädt ihn zu sich auf ihr Schiff ein und erzählt ihm, was Galahad und den anderen Rittern inzwischen widerfahren ist. Perceval folgt ihr. Er wird mit großen Ehren empfangen, und man wartet ihm aufs Angenehmste mit köstlichen Speisen und Getränken auf. Dann läßt das Fräulein am Ufer ein Pavillon-Zelt errichten, unter dessen Schatten sich Perceval von der Sonnenglut ausruhen soll. Die junge Dame tritt zu ihm und nimmt ihm das Versprechen ab, ihr zu gehören. Perceval verspricht ihr in seiner Trunkenheit, alles zu tun, was sie von ihm verlangt, jedoch im Augenblick, als der Liebesakt gerade vollzogen ist, erblickt er das Kreuz auf seinem Schwert. Sogleich bekreuzigt er sich. »Da stürzte das Zelt ein und alles wurde in Rauch und Wolken gehüllt, so dicht, daß man nicht mehr die Hand vor den Augen erkennen konnte und es verbreitete sich solch ätzender Gestank, daß man glaubte, in der Hölle zu sein.« Natürlich ist jede Spur des Zeltes verschwunden, als er die Augen wieder aufschlägt. Perceval erkennt nur noch das Schiff, das sich mit dem Fräulein entfernt und hört sie rufen: »Perceval, Ihr habt mich verraten!« Später erklärt ihm ein Einsiedler, dem er seine Geschichte erzählt, daß das Fräulein, ein Geschöpf des »Bösen«, ihn in das Zelt, die von Sünden befleckte Welt, habe einsperren und ihn der Sonnenglut, das bedeutet: dem Feuer des Heiliegen Geistes, habe entziehen wollen.[48]

In der zweiten der beiden Perceval-Aventüren taucht das Schema des Mythos der geheimnisvollen Frau der Tiefe vollständig auf, dazu sogar noch seine Deutung. Wie Dahud/Ahes, die noch auf dem Meeresgrund über die Stadt Ys herrscht und ihre Liebhaber einlädt, ihr in die Tiefe zu folgen, lädt das Fräulein des Schiffes — gekleidet in prächtige Kleider, die die materiellen und geistigen Reichtümer der Tiefe symbolisieren, den Helden ein, mit ihr das Festmahl der Unsterblichkeit zu teilen, das sie ihm bereitet. Nach der sexuellen Vereinigung, die für Perceval eine Art Tod bedeutet, führt sie ihn in die pränatale Welt zurück, in einen paradiesischen Zustand, in dem nichts existiert außer dem unbewußten Glücksgefühl des Urmenschen. Durch ein letztes Aufbegehren männlichen Stolzes und aus Angst, zu versinken und in die Tiefe gerissen zu werden, befreit sich Perceval aus der Umarmung. Die gleiche Struktur liegt auch der Geschichte von Merlin und Viviane zugrunde: nachdem Merlin das Wissen seiner Magie an Viviane weitergegeben hatte, benutzt sie diese sofort, um Merlin ein Luftschloß außerhalb der Grenzen der Welt fortzuzaubern. Zu diesem Zweck schreitet sie neunmal um ihren Geliebten herum. Aber Merlin, der sehr wohl weiß, was ihm bevorsteht, willigt ein, in den Urzustand zurückzukehren. Er läßt sich freiwillig verzaubern. Perceval ist noch nicht reif für eine solche Erfahrung. Er wird sie erst später bei der Entdeckung des Grals machen, der genau die gleiche Bedeutung hat, die jedoch hier mit mystischen Elementen angereichert ist. Übrigens sind der Gral, das Rundzelt, sowie das Luftschloß Merlins Symbole des Mutterleibes: der Gral enthält Blut, und nicht jeder kann sich einfach über ihn neigen, um ihn zu schauen, denn diese Geste bedeutet den Tod: Galahad, der auf den Grund des Grals geschaut hat, ist unrettbar verloren.
Aufschlußreich ist die christliche Deutung, die in dieser Passage der Quete du Graal mitgeliefert wird: Perceval wäre auf ewig dem okkulten Dunkel der Tiefe anheimgefallen und dem hellen Tageslicht, der Sonne und somit dem Heiligen Geist entzogen worden. Hier wird ein heidnischer Mythos aktualisiert, denn die Sonne ist das sichtbare, materielle Leben. Perceval wäre beinahe zur schwarzen Sonne gelangt, zur geistigen Sonne, die nur den Initiierten leuchtet, jenen, die im Dunkel zu sehen vermögen. Den christlichen Bearbeitern des Stoffes schien eine solche Konzeption jedoch zu gefährlich. Alles, was schwarz ist, ist suspekt — weil unkontrollierbar - und muß daher verboten werden. Deshalb ist das Fräulein mit dem Schiff eine Ausgeburt des »Feindes dieser Welt«, dessen wahren Namen zu nennen man sich weislich hütet, denn es hat böse Folgen, Dinge oder Personen, die gefährlich sind, bei ihrem richtigen Namen zu nennen.
Im Mittelalter stand alles Weibliche mehr oder weniger eng in Verbindung mit dem »Erzfeind« und »Bösen«. Man fragt sich, weshalb man aus dem Teufel, Satan und Antichrist nicht gleich generell eine weibliche Gestalt gemacht hat, wenn man sich doch auf bestem Wege dazu befand. Aber die Sache verhält sich so: der »Böse« herrscht über die Frau; er ist der Herr (über den Hexensabbat; er ist es, der mit seiner Macht auf die Frau einwirkt. Am Anfang hatte er Eva dazu verführt, zu sündigen und auch Adam zur Sünde zu führen. Er will den Mann auch weiterhin zur Sünde verleiten, und dazu bedient er sich der Raffinessen der Verführungskünste und der Sexualität der Frau. »Die Sünde des Mannes kommt von der Frau, und die Sünde der Frau kommt von ihr selbst«, so sagt es der Prediger Salomon. Die Juden wiederholen jeden Morgen in ihrem Frühgebet: »Sei gesegnet, o Herr, unser Gott, Herrscher des Universums, daß ich nicht als Frau geboren bin.« Das Christentum hat diesen Haß auf die Frau einfach übernommen, bis zum Wahn gesteigert und kein noch so kleines psychologisches Detailphänomen unberücksichtigt gelassen, um daraus möglichst unüberwindliche Barrieren der Prohibition zu errichten. Die Kirchenväter sind - mit Ausnahme des Hl. Hieronymos von Sidon — klassische Personifikationen dessen, was wir heute »sexuelle Besessenheit« nennen würden. Tertullian, der die Frau als »Pforte des Teufels« bezeichnet hat, definiert sie zusätzlich noch als »Tempel über der Kloake« und der Hl. Augustinus verkündet gewichtig: »inter faeces et urinam nascimur«. Hier stoßen wir auf den Kern des Problems. Die Frau ist in der Tat ein Tempel, wie Tertullian sagt, aber um sich zu diesem Tempel Zutritt zu verschaffen, muß man Wege beschreiten, die — um eine Formulierung von Simone de Beauvoir zu gebrauchen, »verborgen, gefahrvoll verschlungen, schleimig, feucht, von Blut und Stimmungswechseln befleckt« sind. Genau deshalb sind auch die Wege, die zum Schloß der Sonne, dem Symbol der Weiblichkeit führen — (die Sonne ist nämlich ursprünglich weiblich) — mit so vielen Gefahren verbunden und von so vielen Ungeheuern, Sümpfen, Schlammlöchern und Höllenfluten verseucht.

»Die Frau als Körpergefäß ist«, so Erich Neumann, »der natürliche Ausdruck der Erfahrung, daß das Weibliche ein Kind in sich trägt und daß der Mann im Sexualakt »in» sie »eingeht».(...) Das Weibliche ist ursprünglich für sich selber ebenso wie für das Männliche das »Lebensgefäß» an sich, in dem sich das Leben bildet und das alles Lebendige aus sich heraus in die Welt hineingebiert und entläßt.[49] Alle grundlegenden Lebensfunktionen, besonders aber natürlich die des »Stoffwechsels» spielen sich in diesem Gefäß-Körper-Schema ab, dessen »Innen» ein Unbekanntes ist. Seine Eingangs- und Ausgangszonen sind von besonderer Bedeutung, denn so wie Nahrungs- und Getränkeaufnahme Nach-Innen-Nahmen in dieses unbekannte Gefäß hinein sind, wird in allen schöpferischen Funktionen, die von der Schlackenausscheidung und vom Samen bis zum Atem und Wort reichen, aus diesem Gefäß heraus »geboren». ... Alle Körperfunktionen: Augen, Ohren, Nase, Mund (Nabel, After, Genitalzone) sind als Orte des Austauschs zwischen Innen und Außen ebenso wie die Haut beim Frühmenschen numinos betont.«[50]

Und da das Gedächtnis des Menschen sehr weit zurückreicht, finden wir diese diffuse und schambelastete Faszination in den verschiedenen Liebespraktiken. Der Kuß auf den Mund, auf die Augen, die Zunge im Ohr, das »normale» Eindringen in die Vagina, die verschiedenen als »Perversionen« klassifizierten Akte (Cunnilingus, Analkoitus, die Vorliebe für Schweiß, für Intimsekretionen, für Fäkalien, für Urin und beschmutzte Wäsche etc.) sind nämlich - wieviel Widerwillen dieser Bereich auch immer auslösen mag — der ganz normale Trieb, den Eingang ins Innere zu finden, jenes berühmte offene Tor zum verschlossenen Königspalast, von dem die alchimistischen Traktate sprechen.
Der Umstand, daß sich der Mann zur Frau ebenso hingezogen wie von ihr abgestoßen fühlt, ist ein nicht zu leugnendes biologisches Faktum. Alle alten Mythen, keltische wie andere, sind davon geprägt. Wir haben einige Beispiele aufgezeigt, vor allem solche, bei denen die Häßlichkeit der Frau eine Rolle spielt.[51] Es gibt jedoch noch unzählige andere, die die Frau selbst betreffen. Diese Ambivalenz der männlichen Gühle gegenüber der Frau zieht sich durch die Literatur der ganzen Welt. Ein krasses Beispiel dafür finden wir in einem kurzen, wenig bekannten Text von Georges Bataille, der Novelle Dirty, in der bereits der Name der Protagonistin, der ihr den Titel gegeben hat, programmatisch ist.[52]
Es muß überraschen, daß in der rein keltischen Tradition die Frau nirgends derart monströs und abstoßend erscheint, wie es in der griechischen, lateinischen und in der modernen Literatur der Fall sein kann. Man hat den Eindruck, daß die Kelten stets darauf bedacht waren, dieses von Geheimnissen umgebene Wesen zu respektieren, das auch ihnen sicherlich Angst machte, aber dennoch zugleich ein Bild der Vollkommenheit und Reinheit blieb: das geht aus jeder eingehenden Analyse der höfischen Romane des XII. und XIII. Jahrhunderts hervor, die alle noch Einflüsse des Keltischen aufweisen.
In den Erzählungen von der Suche nach der femme engloutie tauchen die maskulinen Phantasmen in besonderer Intensität auf. Stets lebt die Frau in einem Schloß, in einer Höhle, auf einer Insel oder in einem Palast auf dem Meeresgrund verborgen. Wo sie sich aufhält, ist alles »eitel Ruhe, Pracht und Seligkeit«. Aber zu diesem Allerheiligsten muß erst einmal der Weg gefunden werden — und trotz all dem mythologisch verzierten Beiwerk, das die Erzähler aufgewendet haben, um den Versuch des Wagemutigen, zu dieser Frau zu gelangen, dichterisch zu gestalten, begegnet man doch auf Schritt und Tritt all dem Abstoßenden, das dem Begehren des Mannes zugleich als Barriere und Herausforderung dient. Natürlich wurde durch die patriarchalischen Strukturen der heidnisch-keltischen Gesellschaft und in der Folge durch die moralischen Imperative des Christentums auf diese abstoßenden Elemente nur noch mehr Gewicht gelegt, indem durch die Wahl von Bildern, die eine wahre Flut von Assoziationen auslösen, die Phantasie des Publikums in erheblichem Maß beeinflußt wurde. Die Frau in der Tiefe ist gut bewacht. Die Verbote und Tabus sind für den gewöhnlichen Sterblichen unüberwindlich.
Kommen wir noch einmal auf das Höhlengleichnis zurück. Auf die Tatsache der uterinen und vaginalen Konnotation aller sakralen Höhlen und Grotten der einzelnen Weltreligionen — inklusive der christlichen - braucht nicht mehr eigens hingewiesen zu werden. So ist es auch keineswegs Zufall, wenn die Erscheinungen der Jungfrau Maria vor allem in Grotten — wie in der von Lourdes — beobachtet wurden. Ebenfalls nicht zufällig lokalisiert die Tradition die Geburt Christi in einer Höhle, die als Stall diente. Die römischen Kirchen und besonders ihre Krypten haben dieses Bild von der Höhle nur übernommen und weiterleben lassen, ein Bild, welches ein Erbe aus dem Paläolithikum ist, wo die Menschen in Höhlen Unterschlupf fanden, geboren wurden, schliefen, starben, ihre Gottheiten verehrten und ihre Toten beisetzten. Aber bei den Kelten ist dieses Erbe noch ungleich direkter lebendig, weil jünger, denn es stammt aus dem Neolithikum. Das zeigt sich in der Benutzung von natürlichen Höhlen oder in Konstruktion und Ausstattung von künstlichen Höhlen zu kultischen Zwecken. Als Beispiel sei die Höhle im Petit-Morin-Tal bei Cozard (Marne) angeführt. Dort wartet die femme engloutie auf ihre Anbeter und Verehrer: auf den Kalksteinwänden der Höhle ist sie als Totengöttin dargestellt. Weitere Beispiele künstlicher Höhlen sind jene Megalithbauwerke mit ihrer versteckten Kammer und vor allem den überdeckten Zugängen, jenen langen, manchmal gewundenen Gängen, die seltsame überdachte »Alleen» bilden und zu einer Art unterirdischem Allerheiligsten führen. Dieser Gang ist in der Nähe des Eingangs eng und niedrig und wird breiter und höher, je weiter man zu der eigentlichen Höhle vordringt. Dort war für die Galen der Ort,wo die Götter und Göttinnen lebten, aus denen in der Folklore im Lauf der Zeit »gute Feen« und wundertätige Frauen wurden, an die die Erinnerung selbst in unserem modernen Zeitalter der Fernsehgeräte und Bulldozer auf dem Lande noch nicht erloschen ist.

Beispiele von Feenhöhlen und -grotten:

»In der Bucht von Yaudet in Ploulec'h an der bretonischen Kanalküste sprach früher alle Welt von einer kleinen Höhle, in der zwar nicht eine Fee, sondern eine Prinzessin lebte, die mitsamt ihren unermeßlichen Schätzen dorthin verzaubert worden war. In tiefen Schlaf versenkt mußte sie nun warten, bis eines Tages ein unverheirateter Jüngling, den nichts in Furcht versetzen kann, erscheinen und sie erlösen würde.« (Paul Sebillot: Folklore de la France, Paris 1982 - 1984, Bd. II, S. 121)
Auf Gurnsey gibt es eine Feengrotte, die nur bei Ebbe zugänglich ist und deren Eingang durch eine davorgelagerte Masse großer Felsbrocken erschwert wird. (Ibid. Bd. II, S. 116).
Eines Tages entdeckt ein buckliger Jäger in der Nähe von Lourbieres (Ardeche) eine Höhle: als er eintritt, findet er ihr Inneres hell erleuchtet, das Moos in Gold verwandelt und in der Mitte eine reich gedeckte Tafel. Er setzt sich und kostet die köstlichen Speisen. Plötzlich sieht er mehrere Kegel und eine Kugel aus purem Gold herabfallen: es ist der Körper einer Fee, die lieblich zu singen beginnt (Ibid. Bd. I,S. 437).
»Die schwarzen Feen der Pyrenäen, so geht die Sage, sollen junge Viehhirten entführt haben, wenn sie die Nester der weißen Rebhühner nach Eiern absuchten, anstatt die Herde zu bewachen. Die Margot-la-Fees hielten Männer in ihrer Höhle gefangen, sofern diese damit einverstanden waren; den Glücklichen gefiel es dort so gut, daß ihnen die Zeit halb so rasch wie in Wirklichkeit zu vergehen (Ibid. Bd. I, S. 442).
»In der Nähe von Giromagny, nicht weit von Belfort, hausten Feen unter der Erde; oft konnten die Bauern, wenn sie auf den Feldern pflügten, von unten das Kneten und Walken der Feen in ihren Backtrögen vernehmen.« (Ibid. Bd. I, S. 451).
In St.-Aignan (Ardennen) galten tiefe, enge Schluchten, aus denen häufig dicke Nebelschwaden hervorquollen, als Behausungen von Feen. Die Leute glaubten, daß es sich bei den aufsteigenden Schwaden um Rauch aus ihren Küchen handelte (Ibid. Bd. I, S. 452).
»Eine Höhle in der Umgebung von Saint-Victurien im Vienne-Tal soll einst von übernatürlichen Wesen bewohnt gewesen sein, die — halb Frau, halb Tier — unter dem Namen ,/anettes« (= böse Feen) bekannt waren.« (Ibid. Bd. I, S. 453).
»An der Kanalküste sollen zwischen Saint-Brieuc und Dinard Feen, die im Volksmund dort »houles« heißen, in Höhlen hausen, »die bis weit unter das Land vorgeschoben sind und bis unter die Dörfer reichen, von wo aus man die Hähne der Feen unter der Erde krähen hören kann; eine dieser Höhlen soll bis nach Notre-Dame-de-Lamballe, also 40 km weit landeinwärts gereicht haben. Einigen Erzählungen zufolge soll man nach Passieren eines Tunnels in eine Welt gelangt sein, die der unseren völlig gleichsah und einen Himmel, eine Sonne, einen Erdboden mit Bäumen, ja sogar herrliche Burgen und Schlösser am Ende von langen Prachtalleen hatte.« (Ibid. Bd. II, S. 108).

Das letzte Beispiel ist einer Geschichte des irischen Volksglaubens verblüffend ähnlich, nach der man auf eine der unseren bis aufs Haar gleichenden Welt trifft, sobald man die innere Schwelle des Feenhügels, des berühmten sidh, überschreitet. Diese Gegenwelt ist das Reich der Tuatha De Danann, der Götter aus fernen Tagen, mit anderen Worten: der Vertreter einer Zivilisation, die — nach bestimmten mythologischen Merkmalen zu urteilen — der Frau einen weit größeren Anteil am Gemeinschaftsleben sicherten als die jüngere Zeit. Es ist also nicht weiter verwunderlich, wenn man in diesen Höhlen und in den künstlich angelegten Seelenhügeln, den megalithischen Bauwerken, immer wieder Feen begegnet.
Aber zuerst muß einmal der Eingang zu diesem Reich, zu diesem Kosmos gefunden werden. Der Weg dorthin ist schwierig, gefährlich, »blutrünstig». In unzähligen Sagen und Legenden stößt man auf eine wohlbekannte Phantasmagorie, auf das Horrorbild der vagina dentata. Das erste Eindringen in eine unbekannte Höhle ist riskant, man kann nie wissen, was einem dabei widerfährt: man kann von einem Felsbrocken erschlagen werden, kann ausrutschen und sich dabei die Glieder verletzen - am Ende gar das kostbarste Glied, das der Mann hat, jenes, das seine ganze Existenzberechtigung als maskulines Wesen ausmacht. (Man vergleiche einmal den Ausdruck »kostbarster beziehungsweise edelster Körperteil« des Mannes mit dem der »Scham(gegend)« der Frau!). Der Mythos des mit Blutvergießen und vielerlei Gefahr verbundenen Eindringens in die Höhle, in der die femme engloutie, die tief gesunkene Frau, ihr verborgenes Dasein führtest nichts anderes als die symbolisch illustrierte Darstellung eines Deflorationsaktes. In Indien gibt es Märchen von Frauen, deren Vagina mit Zähnen besetzt ist, die dem Mann das  Glied abbeißen. [53] In anderen Gegenden, besonders im Umkreis des sagenhaften Priesterkönigtums des Johannes, dessen Kunde und mögliche Existenz im Mittelalter heftiges Aufsehen erregte, ist die Vagina ein Hort voller Schlangengezücht. Anderswo sind es wüde Bestien, die ihren Eingang bewachen und jeden Verliebten, der im Besitz seiner Manneskraft ist, in Stücke reißen. Nach den Protokollen der Hexenprozesse wurde den Angeklagten vorgeworfen, während des Sexualakts das männliche Glied ihres Partners verstümmelt zu haben.
Dieser fast weltweit verbreitete und zählebige Aberglaube hängt natürlich mit der Angst vor Blut zusammen. Zunächst vor dem Menstruationsblut, dem anscheinend etwas Fuchterregendes und Gesundheitsschädliches anhaftet, da es mit einer haarsträubenden Menge der verschiedensten Tabus belegt ist, dann aber auch vor dem bei der Defloration auftretenden Blut, das angeblich Unglück bringen soll. Hieraus resultieren übrigens die während des Deflorationsaktes gelegentlich auftretenden Schwierigkeiten, sei es aufgrund einer mangelhaften Erektion des Mannes oder aufgrund des zu engen oder fehlentwickelten weiblichen Organs. Deshalb wurde in manchen Ländern die Defloration mit Hilfe eines scharfen Gegenstandes, eines Stockes oder eines Steines vorgenommen. Vor allem aber erklärt das genannte Phänomen jenen kuriosen Brauch des ins primae noctis, eines Rechts, das keineswegs ein dem Herrscher gewährtes (oder von diesem beanspruchtes) tyrannisches Privileg war. Ganz im Gegenteil: da, wie angedeutet, die Defloration aufgrund der möglichen Schwierigkeiten aber auch aufgrund des dabei auftretenden unglückbringenden Blutes eine nicht ganz ungefährliche Angelegenheit ist, bedarf es dazu einer physisch und vor allem geistig gefestigten, »mächtigen» Persönlichkeit, — und das war eben der Geistliche, der König oder der Landesfürst ganz allgemein, denn nur eine solche Person hat die Macht, den Fluch abzuwenden, der sonst in voller Stärke auf den unglücklichen Ehemann niedergehen würde. Der Beweis dafür ist die Tatsache, daß diejenigen, denen es gelingt, in die Höhle einzudringen, stets außergewöhnliche Naturen mit einer nicht alltäglichen physischen und geistigen Potenz sind. Es darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, daß der Held zuerst die wilden Ungeheuer am Eingang, dann seine eigenen Phantasmen (nämlich die Verzauberungen, deren Opfer er zu sein glaubt) besiegen und töten und schließlich das Heiligtum, den Tempel selbst, bezwingen muß. Somit hat er eine sakrale Mission. Mehrere keltische Erzählungen illustrieren dieses Thema:

Peredur und der Addanc ( Wales):

Die Söhne des »Königs der Leiden» werden Tag für Tag von einem Addanc (einem Riesenbiber) getötet, welcher in einer Höhle haust. Nur aufgrund der Wirkung des »Kessels der Wiedergeburt» können sie jedesmal wieder ins Leben zurückgerufen werden. Peredur gelobt, das Untier zu töten. Da erscheint ihm eine Frau von wunderbarer Schönheit und spricht: ,,Ich kenne das Ziel deiner Fahrt. Du wirst mit dem Addanc kämpfen. Er wird dich töten, jedoch nicht durch Tapferkeit, sondern durch eine feige List. Auf der Schwelle zu seiner Höhle steht eine Säule aus Stein. Von dort aus kann er jeden Nahenden erspähen, ohne selbst gesehen zu werden, und tötet ihn aus dem Hinterhalt der schützenden Säule mit vergifteten Pfeilen. Wenn du mir dein Wort gibst, mich mehr als jede Andere zu lieben, so mache ich dir einen Stein zu Geschenk, mit dessen Hilfe du beim Betreten der Höhle das Monster sehen   kannst, ohne daß es dich sieht.« Auf diese Weise gelingt es Peredur, in die Höhle einzudringen und den Addanc zu töten. Als Zeichen seines Sieges nimmt er noch den abgehackten Kopf des Untiers mit.[54]

Der Raub der Rinder des Fraech (Irlcndj:

Dem Fraech wurden Weib und Herde geraubt und in eine Zauberburg entführt, die von einem Drachen bewacht wird, der allen Unvorsichtigen den Zutritt verleidet. Fraech gelangt in Begleitung von Conall Cernach, einem Milchbruder von Cuchulainn und einem der drei besten Recken von Ulster in die Nähe der Festung. Schließlich und endlich gelingt es Conall, das Ungeheuer mit seinem Gürtel zu fesseln und in einen tiefen Schlaf zu schicken. So kann Fraech wieder sein Weib und seine Herde zurückführen.[55]

Tristans Kampf gegen den Drachen (Irland/Cornwall):

Tristan wird von König Marke, seinem Onkel, ausgesandt, für diesen um die Hand von Yseult Blondhaar, der Tochter des Königs von Irland, anzuhalten. Da in Irland auf seinen Kopf eine Belohnung ausgesetzt ist, begibt er sich verkleidet auf die Reise. Zu dieser Zeit hält ein riesiger »kammbewehrter« Drache das Land in Angst und Schrecken, und der König hatte kundgetan, er würde demjenigen seine Tochter geben, der das Ungeheuer tötet. Tristan dringt in die Höhle des Lindwurms ein, wo er ihn nach härtestem Kampf besiegt und tötet. Er wird aber von dem Pestatem des Monsters vergiftet und sinkt bewußtlos zu Boden. Ein feiger Ritter macht sich dies zunutze, schneidet dem Ungeheuer den Kopf ab und verlangt für sich die Belohnung. Yseult jedoch traut dem Frieden nicht, begibt sich selbst zu der Höhle und findet Tristan. Der Betrüger wird bestraft, und Tristan macht sich mit Yseult auf die Heimreise.[56]

Lancelot und die Schwertbrücke (Artusepik):

Die Königin Guenievre ist von Meleagant entführt worden und wird in dessen Königreich »Gorre« (oder ,,Verre« = »Glas»), einem »Land ohne Wiederkehr« gefangen gehalten. Lancelot du Lac (= »vom See») zieht aus, Guenievre zurückzuholen. Zwei Wege führen in das Königreich Gorre/Verre: entweder über die »Schwertbrücke« oder durch die »Unterwasserbrücke«. Lancelot entscheidet sich für die erste Möglichkeit. Unter größten Strapazen muß er über eine gewaltige Schwertklinge kriechen, die die tosenden Fluten eines Flusses überbrückt. »Seine Hände, Beine und Knie sind nur noch eine einzige Fläche von Blut«, heißt es. Außerdem lauern auf dem gegenüberliegenden Ufer zwei Löwen. Als er jedoch das Ufer erreicht hat, »läßt er den Blick in die Runde schweifen: nichts Beunruhigendes ist mehr zu sehen, nicht einmal eine Eidechse, weit und breit nicht das geringste Tier, welches zu fürchten wäre...« Daß nun auf einmal keiner der Löwen mehr zu erblicken ist, beweist ihm, daß er getäuscht worden und Opfer einer Verzauberung gewesen ist. Gauvain ergeht es anders: nachdem er unter größten Mühen auf dem Weg über die Unterwasserbrücke in das Königreich gelangt war, wird es ihm nach Bestehen verschiedener komplizierter Aventüren gelingen, die Königin zu befreien.[57]

Die Gralsburg (Artusepik):

Nach einer Meerfahrt voller Wunder landet Lancelot am Fuße einer geheimnisvollen Burg: »Auf der Hinterseite der Burg befand sich ein Tor zur See hinaus, welches Tag und Nacht offen stand. Dieser Zugang brauchte nicht durch Menschenhand bewacht werden, denn ihui verteidigten zwei Löwen, und der einzige Weg zu dieser Pforte führte zwischen den beiden Bestien hindurch.« Lancelot verläßt sein Schiff und rüstet sich um Kampf gegen diese beiden Wachen. Da reißt ihn eine Flammenhand so heftig am Arm, daß ihm sein Schwert entfällt, und er vernimmt eine Stimme, die ihm seinen Mangel an Zutrauen vorwirft. Und siehe: als er sich den Löwen nähert, lassen sie ihn tatsächlich unbehelligt vorüber. Lancelot betritt die Burg und dringt bis zu einer verschlossenen Tür vor. Er bittet Gott, ihm zu gestatten, für einen Augenblick die Geheimnisse schauen zu dürfen, die jenseits dieser Türe liegen. Da »sah Lancelot, wie sich diese Tür zu einer Kemenate öffnete, und ein Glanz strahlte daraus hervor, so blendend hell und rein, als wäre diese Kammer der Wohnsitz der Sonne... Als Lancelot dieses Wunder schaute, wurde er von gewaltiger Freude erfüllt und es übermannte ihn so große Sehnsucht zu schauen, woher dieses Licht käme, daß er alles um sich herum vergaß.« Und doch bleibt Lancelot der Zutritt zur Kammer des Heiligen Gral verwehrt.[58]

Alle diese Erzählungen heben den unheimlichen und sakralen Charakter des Ortes hervor, zu dem der Held vorzudringen hat. In allen drei Texten geht es darum, eine Frau oder eines ihrer Substitute zu gewinnen, denn auch der Graal ist ja ein weibliches Symbol, sein sonnenhafter Glanz beweist es: die Sonne galt bei den Kelten, wenn nicht direkt als weibliche Gottheit, so doch auf jeden Fall als eine weibliche Macht (Yseult la Blonde, in den deutschen Fassungen »Isolt/Isolde Blondhaar», ist die Personifikation der Sonne). Bei den Ungeheuern, die dem Helden den Zutritt verwehren,handelt es sichmeist um Drachen oder Löwen. Der Addanc im Peredur ist ein mehr oder weniger chimärenhaftes Fabeltier, wie letztlich alle diese Monsterwesen lediglich Illusionen, der Einbildung des Helden entsprungene Phantasmagorien sind. In der Quete du Saint-Graal werden hinter diesen Details trotz ihrer christlichen Farbtönung wesentlich archaischere Elemente sichtbar, vorausgesetzt, man ist bereit, sie in diesem Sinne richtig zu interpretieren. Hat der Held einmal seine Hemm\mge.nante portam überwunden, so steht seinem Eindringen in die Frau nichts mehr im Wege, und die Beschreibung von Lancelots Euphorie und momentanem Vergessen seiner Umgebung ist ganz einfach die Sublimierung eines höchst diesseitigen, höchst »materiellen» Orgasmus, jedoch eines unvollkommenen Orgasmus, denn Lancelot ist des endgültigen und totalen Besitzes des Graal noch nicht würdig: seine Sünde hält ihn noch zurück, das bedeutet, er ist noch allzusehr dem paternalistischen System und Denken verhaftet, in dem er erzogen wurde. Diese Lancelot-Passage erinnert übrigens an eine Hymne, die nach den Berichten von Clemens v. Alexandria im kleinasiatischen Cybele-Kult von den Initiierten angestimmt wurde:

»Ich speiste aus dem Tamburin,
ich trank aus der Cymbel,
ich trug den heiligen Kelch
und ich gelangte bis in das Brautgemach.«[59]

Die weitere Evolution des Mythos von der durch Ungeheuer bewachten Höhle (oder Burg) läßt sich gut anhand von zwei Erzählungen aus der christlichen Legendendichtung ablesen. Die erste steht in einer anglo-normannischen Dichtung des XII. Jahrhunderts, und die zweiteist mit einem besonders fruchtbaren Variantenwachstum in die mündliche Überlieferung der bretonischen Folklore eingegangen:

Das Purgatorium des Hl. Patrick (Irland):

Der edle Ritter Owen, wohlbekannt als gottesfürchtiger und mutiger Mann, wagt sich einmal in Irland in den Brunnen des Hl. Patrick hinein, einen finsteren Ort, aus dem üble Dämpfe und gräßliche Schreie hervordringen. Er wird Zeuge von unvorstellbar grauenhaften Vorgängen, denn er befindet sich im Purgatorium, dem Ort der Läuterung, einer Art Vorhölle. Durch diese Prüfung geläutert, kehrt er wieder an die Oberfläche zurück und verbringt von da an den Rest seiner Tage in frommer Einkehr.[60]

Mit der Absicht, den Aberglauben in Irland ein für allemal auszurotten, begibt sich König Artus eines Tages in die Ftöhle, die dorthin führt, wo die Toten weilen und von wo die Seelen nach ihrer Liuterung selig in den Himmel auffahren. Gauvain hindert Artus daran, das Mysterium dieser Höhle noch weiter zu erkunden, von deren Grund das Tosen einer Sclwefeldämpfe speienden Wassersäule und die Klageschreie der Verdammten hervordringen.[61]

König Artus und der Hl. Efflam (Bretagne):

Der junge Efflam, Sohn des Königs von Irland, gelangt nicht bis zum Vollzug sener Ehe mit der britannischen Prinzessin Enora. Mitten in der Hochzeitsnacht stiehlt er sich heimlich davon und begibt sich zur See auf die Fahrt nach der Bretagne. Kaum hat er dort den Fuß an Land gesetzt, da erblickt er einen ungheuerlichen Drachen, der gerade in seine Ftöhle kriecht. Der junge Held trifft auf König Artus, der gerade auf der Jagd nach diesem Ungeheuer ist, es aber bislang nicht erreichen konnte. Efflam führt Artus zu der Höhle, der König kämpft gegen den Lindwurm, muß den Kampf aber bald wieder aufgeben. Da zwingt Efflam am folgenden Tag durch die Macht seiner Gebete das Ungeheuer, in den Fluten des Meeres zu versinken.[62]

Die beiden christlichen Rekuperationen der heidnischen Legende lassen aufhorchen: das Purgatorium des Hl. Patrick ist stets ein Höllenort: es ist die Höhle der Verdammnis, in die nur diejenigen gelangen, die bereits als Sünder gelten. Aber paradoxerweise »gelangt man gelegentlich«, wie ein Kritiker einmal über Baudelaire sagte, »gerade durch die Hölle der Lust zu Gott«. Der Ritter Owen »er-fährt» seine Läuterung im Schoß der Erde, mit anderen Worten: im Schoß der Frau. Auch die Geschichte vom Hl. Efflam ist transparent. Wenn Efflam mitten in seiner Hochzeitsnacht flieht, so tut er dies trotz der Beteuerungen der frommen Hagiographen nicht aus Sorge um seine Keuschheit, sondern weil er die Schwelle nicht überwinden, die Pforte nicht öffnen kann. Er ist, psychoanalytisch ausgedrückt .inhibiert. Erst später wird er seine Obsessionen überwinden, und zwar ermutigt durch eine Geste des Königs, einer Reminiszenz des droit de cuissage, des ius primae noctis, das nur noch in Form einer reduzierten Zeremonie ausgeübt wurde, die darin bestand, daß der Herrscher seinen Fuß rituell in das Brautbett setzte. Erst nachdem Efflam den Drachen besiegt hat und dieser (keineswegs zufällig) ausgerechnet im Meer versinkt, ist der Zugang zur Höhle möglich.[63]
Wie wir gesehen haben, hat die Burg (im allgemeinen von Wasser umgeben und mehr oder weniger unauffindbar abgelegen) den gleichen Symbolwert wie die Höhle. Dabei geht die Analogie weit über eine Gleichheit in der Form oder über die Identität des Ursprungs hinaus (die erste »Festung», in der der Mensch Zuflucht fand, war schließlich die natürliche Höhle). Untersucht man nämlich die Etymologie des Wortes Arche (das seit biblischer Zeit für uns soviel wie »Schiff und »rettender Zufluchtsort» bedeutet) bis hin zu seinen Ursprüngen, dann wird man überrascht feststellen, daß das lateinische arca »Stauraum», »Sarg» und auch »Gebärmutter» bedeutete. Die Wurzel dieses Wortes, das wahrscheinlich etruskischen Ursprungs ist, findet man nicht nur in arcanum, »Mysterium», »Rätsel», »geheim» und »Arkanum» (im alchemistischen Sinn), sondern auch in arx (Gen.: arcis) wieder, was »Zitadelle», also »innerster Bereich der Burg» bedeutet und im Mittelalter dem Donjon/Bergfried entsprach. Wie Otto Rank[64] aufgezeigt hat, werden Städte erstaunlicherweise wie Frauen »genommen« und Frauen gelegentlich wie Städte »eingenommen« und »erobert«: beide müssen erobert werden, und beim Studium der Geschichte stößt man immer wieder auf Vorfälle, wo nach der Einnahme einer Stadt die Vergewaltigung ihrer Frauen nicht ein Akt barbarischer Brutalität, sondern ein Akt von eminent symbolischer Bedeutung war, ein Erinnern an Rituale aus weit zurückliegenden Zeiten.
Auf jeden Fall bleibt festzuhalten, daß der Held, indem er nach Überwindung der verschiedenen Gefahren in die Höhle, Burg oder Zitadelle eindringt, den Vorgang seiner eigenen Geburt reaktualisiert, jedoch in entgegengesetzter Richtung, wobei die versunkene Prinzessin, die femme engloutie, die Funktion der Mutter hat, die ihr Kind auf (bzw. in) ihren Schoß nimmt und beschützt, wodurch ihr durch das Kind erneuertes Leben seinerseits an Intensität gewinnt. Jedoch müssen zur Herbeiführung dieses Zustandes alle Tabus überschritten, sämtliche Verbote übertreten werden:

»Die Schwierigkeiten und Gefahren«, so argumentiert Otto Rank, »welche dem Kind im Augenblick seines Austritts (aus dem mütterlichen Uterus) drohen, werden durch die Schwierigkeiten und Gefahren ersetzt, die sich dem charmanten Prinzen in dem Augenblick entgegenstellen, wo er zu Dornröschen vordringt, als da sind: domige Ranken, abschüssig-schlüpfrige Wege, Felsen voll Fallen und Hinterhalt, während die endgültige Befreiung/Erlösung der Geliebten symbolisch dargestellt wird durchdie Zerstörungder schützenden Schale,die Öffnung des Sarges, das Zerreißen des Hemdes — kurzum durch Zerreißen aller Schutzhüllen, die die Jungfrau bis dato unberührbar machten.«

Hierdurch wird die Doppelnatur dieses Aktes transparent, sein angenehmer und zugleich »unwegsamer» Aspekt, und es zeigt sich,

»daß die vom Trauma der Geburt erzeugte Angst durch die Liebe als Erlöserfunktion überwunden werden kann. Daraus folgt, daß die Erlösung des »schönen Kindes» (...) in der Tilgung der durch die Geburt erzeugten Ängste besteht. Dies wird besonders anhand von solchen Märchen deutlich, in denen der Held, nachdem er den Drachen getötet hat, selbst in einen todesähnlichen Schlaf verfällt.«[65]

Ein weiteres Detail, auf das in diesem Zusammenhang hingewiesen werden muß, ist der Umstand, daß die Höhle oder Burg in fast allen Fällen entweder von einem Wassergraben oder von unwegsamen Sümpfen umgeben, irgendwo in einer »terre gaste«, (»waste land«, wüste Öde), in undurchdringlicher Waldwildnis, in dicke Nebel gehüllt, oder direkt mitten im weiten Meer oder in einem See lokalisiert ist. Besonders dem Moor haftete seit jeher etwas Unheimliches und Diabolisches an. Es ist weder festes Land noch Wasser: es ist die »Zwischenzone», der Ort, wo alles entsteht und alles vergeht. Wir sind gemacht aus Wasser und Erde, und zu Wasser und Erde werden wir wieder verwesen. Das Moor ist somit die Interferenzzone zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Daher sein beunruhigender, umheimlicher Aspekt. In der Bretagne wird das ausgedehnte moorige Tiefland von Yeun Elez in den Monts d»Aree (in der Nähe davon, in Brennilis, befindet sich eine Statue zu Ehren der Notre-Dame-de-Breach-Ilis (oder Breach-Ellez), was »unsere liebe Frau vom Elliz-Moor» bedeutet. Selbstverständlich ist es kein Zufall, daß das Wort Ellez — wie der Name des Flüßchens Elle und des berühmten Artuswaldes Broceliande (in den alten Texten Brecheliant aus Breach-Elliani) — auf eine indoeuropäische Wurzel zurückgeht, aus der auch engl, hell und dt. Hölle abstammt. Die femme engloutie ist also mehr denn je »LTmperiere des infernaux paluds« (»Majestät der höllischen Sümpfe«), von der Francois Villon in seiner »Ballade pour prier Notre Dame« spricht.
Sandor Ferenczi hat noch dazu in Thalassa, seiner Studie über die Ursprünge des Sexuallebens,[66] aufgezeigt, daß der Geschlechtsakt für den Mann zusätzlich zu einem Geburtsvorgang mir umgekehrtem Vorzeichen auch die unbewußte Aktualisierung der Sehnsüchte nach Rückkehr in das nasse Element bedeutet, mit anderen Worten, die Sehnsucht nach Aufhebung der Katastrophe der Austrocknung, durch die die weit entfeinten Ur-Ahnen des homo sapiens vor Jahrmillionen aus dem vertrauten Milien des Wassers auf das trockene Land ausgestoßen wurden. Damit hängt auch die enorm symbolische Bedeutung des Fisches zusammen, ein Bild des Penis und des ungeborenen Kindes im Mutterleib, eine unbewußte Erinnerung an die Urphase als Wasserwesen, die das menschliche Individuum während seines foetalen Reifungsprozesses in einem geschlossenen, feuchten Milieu erneut durchläuft. Der Trieb des Helden, sich auf die Suche nach der Prinzessin auf dem Meeresgrund zu begeben, korrespondiert also mit

»dem Versuch, die eingebüßte Lebensform des Urzustandes in einem feuchten Kontinuum wiederherzustellen, welches gleichzeitig sämtliche lebenswichtigen Stoffe enthält, nämlich die aquatische, nahrungsreiche Präexistenz im Mutterleib.«[67]

So läßt sich die in vielen Traditionen auffallende Bedeutung des Fisches als Symbol erklären. Nach der Vita des Hl. Korentin soll sich der erste Bischof von Quimper monatelang von einem einzigen Fisch ernährt haben, der sich, obwohl Abend für Abend um das abgeschnittene Stück verkürzt, jede Nacht wieder zu seiner ganzen Größe regenerierte. Bei den Chaldäern galt der Fisch Oannes als das erste Lebewesen und wurde daher als Primordial- und Nährgott verehrt. Die Urchristen verwendeten das Bild des Fisches nicht nur als Erkennungszeichen untereinander, sondern verehrten es auch deshalb, weil für sie Christus die unendliche Speise bedeutete, die seine Botschaft verkündet, das heißt die Rückkehr zum paradiesischen Leben vor dem Sündenfall. Und da das Wasser als Lebensraum des Fisches und die Physis des weiblichen Körpers manche Eigenschaften und Funktionen gemeinsam haben, wurde der Fisch schließlich zu einem Symbol des Weiblichen und somit der Frau ganz allgemein, wie zum Beispiel der Mythos der Sirenen, jener Wasserwesen mit Fischschwänzen, verdeutlicht. Die indische Gottheit Satyavati (deren Name »Wahrheit» bedeutet), hat auch den Vornamen »Stinkender Fisch«. Bekanntlich hängt der Menstruationszyklus der Frau mit dem 28-tägigen Mondzyklus zusammen (welcher wiederum die Gezeiten der Meere beeinflußt). Es ist ebenfalls kein Geheimnis, daß die bei sexueller Erregung ausgeschiedenen Vaginalsekrete einen charakteristischen »Fisch»-Geruch haben, der seine Ursache in dem darin enthaltenen Trimethylamin hat, einem Ammoniakderivat, das auch im Gewebe der Fische bei einsetzender Verwesung auftritt. Daher steigen aus Höhleneingängen und über Moorflächen Ausdünstungen auf, welche empfindliche Nasen in die Flucht schlagen, aber andererseits doch wieder magisch anziehen. Mythen sind schließlich niemals aus der Luft gegriffene Erfindungen, sondern sie übersetzen in bildhafter Form die elementaren Wirklichkeiten des Seins und des Lebens.[68]
Sind einmal alle Hemmungen abgelegt und die Schwelle des Eingangs überschritten, dann erwarten den Helden paradiesische Freuden in Hülle und Fülle:

Lyon und die Prinzessin von Österreich (Vogesen):

Der junge Lyon dringt nach Überwindung zahlreicher Hindemisse und Tötung dreier Riesen in ein Zauberschloß ein. Sein Weg führt ihn zunächst in einen Saal aus Silber, dann in einen Saal aus Gold und schließlich in einen noch prächtigeren Saal, der mit kostbaren Edelsteinen ausgestattet ist. In einem vierten Saal findet er die Prinzessin von Österreich in tiefen Schlaf gesunken vor und über ihr eine Inschrift mit den Worten: »Derjenige, der die drei riesenhaften Wächter dieses Schlosses tötet und mich befreit, wird in den Genuß eines Körpers kommen und mir das Ringlein rauben, das ich am Finger trage.«[69]

Die Pfingstnacht (Bretagne):

Nahe vor der Küste von Saint-Efflam (Cotes-du-Nord) liegt eine versunkene Stadt im Meer. Jedes Jahr in der Nacht vor Pfingsten taucht die Stadt während der zwölf Schläge von Mitternacht wieder aus den Fluten auf und wird zugänglich. Perik Scoarn wagt sich in ihre Mauern vor, um einen allmächtig machenden Zauberstab aus dem Holz der Hasel in seinen Besitz zu bringen. Er durchquert Säle, in denen sich Silber, Gold und Edelsteine häufen, und gelangt schließlich in das Gemach, in dem sich der gesuchte Zauberstab befinden soll. Doch was erblickt er statt dessen? »Hundert wunderschöne junge Mädchen, bei deren Pracht selbst ein Heiliger sein ewiges Seelenheil aufs Spiel setzen würde; jedes von ihnen hält in der rechten Hand einen Eichenkranz und in der linken einen Kelch voll feurigem Wein.« Perik Scoarn gerät augenblicklich in Ekstase, läßt den zwölften Schlag von Mitternacht verstreichen, und so geht er mitsamt der ganzen Stadt in den Fluten unter.[71]

Diarmaid und Grainne (Irland/Schottland):

Grainne (= »Sonne»), die Gemahlin des Königs Finn, ist mit dem jungen Diarmaid geflohen, nachdem sie ihn mit Hilfe einesgeis zu dieser Flucht verpflichtet hatte. Die beiden halten sich in einer Grotte versteckt, bis eines Tages ihr Unterschlupf durch Holzspäne verraten wird, die von einem aus der Höhle rinnenden Bächlein davongetragen werden.[71]

Tristan und Isolt[72] (Deutsche Fassung):

Als Tristan und Isolt in flagranti von König Marke überrascht werden und es ihnen gerade noch einmal gelingt, dem Scheiterhaufen zu entgehen, flüchten sie sich nicht in den Wald von Morois, wie in den anderen Versionen des Stoffes, sondern in eine von Riesenhand errichtete Grotte mit einer Krone ganz aus Edelsteinen am Deckengewölbe. In der Mitte der Höhle steht ein kristallenes Bett. Auf diesem Lager an Altares Statt zelebrieren die beiden Liebenden die Lithurgie der Liebe.[73]

Wir sehen, daß der paradiesische Zustand wieder eintritt, sobald das »Heiligtum«, das »Allerheiligste« im Herzen des Schlosses erreicht ist. Dieses Schloß kann sich mitten in einer versunkenen Stadt befinden, wie die Legende von der Pfingstnacht zeigt. Ebenso kann es im der Tiefe einer natürlichen oder künstlichen Höhle/Grotte liegen. In der Erzählung von Diarmaid und Grainne ist die Grotte noch dazu deutlich mit Merkmalen der weiblichen Sexualorgane konnotiert, sogar mit dem des austretenden Wassers, welches Holzspäne fortschwemmt, worin ein Symbol des Menstruationsflusses zu sehen ist. Im Tristan des Gottfried von Strassburg ist die Grotte regelrecht «in Tempel mit allem, was dazugehört, — ein templum super cloacam, würde Terttillian sagen. Die Tatsache, daß in der deutschen Ausformung der Wald durch eine Grotte ersetzt ist, gibt Anlaß, eine Äquivalenz in der Symbolik beider Lokalitäten zu sehen. Der mysteriöse, um-heimliche Wald, der im Französischen als foret vierge bezeichnet wird, wenn er sich noch in seinem unberührten, undurchdringlichen Urzustand befindet, ist ein weltweit verbreitetes Weiblichkeitsymbol. Es geht vom Heiligtum inmitten eines Waldes, dein nemeton der alten Druiden über das Bild der sonnenüberfluteten Lichtung inmitten des Waldesdunkels bis hinzu dem hübschen »Jardinet« (= »Gärtlein») aus der Dichtung des Francois Villon oder der Renaissancepoeten, ja sogar bis zur Prosa des »Gebüsches« der Pornographie. In den am meisten verbreiteten Versionen des Tristan-Stoffes ist der Wald der Ort, wohin sich Tristan und Yseult zurückziehen, um einander das »Sakrament der Liebe« zu geben. Der mittelalterliche Obst- beziehungsweise Baumgarten, jener Topos eines diskreten und nach außen abgeschirmten Mikrokosmos voller Wohlgeruch, ist der Ort, wo die Princesse engloutie, die verwunschene Prinzessin der Tiefe auf ihren Geliebten wartet. Dieses Motiv erfuhr in der höfischen Zeit eine schier unüberschaubare Fülle literarischer Illustrationen und wurde von den Troubadouren über ganz Europa verbreitet.

Der »Roman de Jaufre« (Okzitanienj:

Nach einer Reihe von Aventüren im Wald Broceliande findet sich Jaufre eines Tages in einem Hause von Aussätzigen wieder und entdeckt in ihrer Mitte ein wunderschönes junges Mädchen. Er muß gegen die Aussätzigen kämpfen und eine Kinderstatuette zerschlagen, um mit heiler Haut diesem Ort zu entrinnen. Als im dies gelungen ist, stürzt das ganze Haus in sich zusammen, und er erwacht auf einmal inmitten eines »rundum mit Marmor umfriedeten« Gartens voller Bäume, Blumen und Vögel, die sonst an keinem Ort der Erde anzutreffen sind, was ihn an das Paradies erinnert. Dieser locus amoenus gehört einer jungen Waisen namens Brunissen, die seit sieben Jahren Trauer trägt und zusammen mit ihrem Gefolge dreimal in der Nacht und viermal am Tage ihrem Jammer tränenreichen Ausdruck verleiht. Einzig der Gesangder Vögel vermag ihren Schmerz zu lindern. Nachdem der Held diesen Wundergarten gebührend bestaunt hat, versinkt er in einen bleiernen Schlaf. So findet ihn Brunissen und verliebt sich auf der Stelle in ihn.[74]

Dieser Text dürfte besonders interessant sein, zunächst aufgrund der Figur der Brunissen, der brünetten Königin (die jedoch, wie es die Mode des XIII. Jahrhunderts vorschreibt, im Roman blond ist!): sie verkörpert einen Aspekt der Göttin der Finsternis, und wir haben gesehen, daß ihr Name in ähnlicher Weise mit den Römerstraßen in Südfrankreich verknüpft ist, wie der Name der Ahes mit denen auf der bretonischen Halbinsel. Auch die Gestalt der Brunissen ist somit ein Pendant zu Hekate, der griechischen Göttin der Wegkreuzungen. Da Brunissen mit Hingabe dem Gesang der Vögel lauscht, kann sie auch mit einer Gottheit des walisischen Pantheon verglichen werden, nämlich mit Rhiannon, der großen Königin, deren Vögel »die Toten erwecken und die Lebenden in Schlaf versetzen« können. Diese Göttin ist Hauptfigur zweier Erzählungen, nämlich von Pwyll, Prinz von Dyvet und von Manawyddan ab Llyr:[75] Ein weiterer interessanter Aspekt des Roman de Jaufre ist, daß Brunissen in ihrem Garten und Schloß eingeschlossen und in einer rätselhaften Trauer lebt, die deutliche Ähnlichkeiten mit derjenigen aufweist, unter der die Bewohner des Zauberschlosses in der walisischen Dichtung Peredur[76] leiden. Und schließlich tritt das Schema der eigentlichen Geschichte im Roman de Jaufre besonders klar hervor: Jaufre entdeckt das junge Mädchen Brunissen, nachdem er sich in einem Wald verirrt hat; jedoch muß er zuerst gegen Aussätzige kämpfen (gemeint ist: seine Phantasmen und seinen Ekel überwinden) und eine Kinderstatuette zerbrechen, mit anderen Worten, seine Kindheit ablegen, seine Geburt negieren. Daraufhin stürzt alles zusammen: es kommt zum Zusammenbruch des Zustandesder wachen Bewußtheit im Augenblick des Orgasmus. Aufgrund dessen findet er sich auf einmal in einem bezaubernden Garten wieder (im Zustand totaler Auflösung post coitumj und ist damit wieder in den paradiesischen Urzustand zurückversetzt.
Dieser herrliche (Obst-) Garten ist nichts anderes als der Garten Eden, das Paradies, wie es in sämtlichen Kosmogonien und Genesis-Dichtungen vorkommt, das in den Tiefen des Unbewußten verborgene, verlorene Paradies, das jeder Mensch auf seine Weise.in sich wiederherzustellen versucht. Die Troubadoure lokalisieren in ihren Dichtungen die Begegnung zwischen den Liebenden in einem allseits umschlossenen (Obst-) Garten, und zwar zu nächtlicher Stunde. Und wenn der Morgen graut, so bedeutet dies einen Riß, eine Katastrophe, die Reaktualisierung der Geburtsstunde, begleitet von all den damit verbunden traumatischen Erlebnissen:

»Unter Weißdornzweigen in einem Garten umfing die Dame ihren Liebsten, bis zur Stunde der Morgendämmerung der Ruf des Wächters erscholl. 0 Gott! Der Morgen, wie rasch ist er herbei! Gott gebe, daß diese Nacht ohne Ende sei, daß mein Liebster mich nie mehr verlassen muß und der Wächter nimmermehr Morgenstunde oder Tag erlebe! 0 Gott! Der Morgen, wie rasch ist er herbei!«[77]
»Erfülle bestens deine Pflicht, Wächter im Schloß, wenn ich bis zur Morgenröte bei mir habe, was das Beste und das Schönste ist, denn der nächste Morgen bleibt nicht aus. Kühnes Spiel raubt Morgenrot, ja Morgenrot! Sei auf der Lauer, Freund, sei wachsam, rufe, schrei», ich bin so reich, denn alles was ich begehr», ist mein, doch ich bin der Morgenröte Feind. Der Jammer, den der Tag uns bringt, wirft mich stärker nieder noch als Morgenrot, ja Morgenrot!«[78]

Dieses Thema des Paradiesgartens findet seine Apotheose in dem außergewöhnlichen Roman de la Rose ~ sowohl in der Fassung von Guillaume de Lorris (wo die vom Erbe keltischer Bräuche und okzitanischer Troubadourmentalität geprägte höfische Tendenz dominiert), als auch in der Fassung von Jean deMeung (die mit furchterregenden, quälenden Fragen zum Phänomen der Weiblichkeit durchsetzt ist). Der Liebende entdeckt in diesem Versroman in einem Garten eine magische Rose. Schon bald kann er nicht mehr leben, wenn es ihm nicht gelingt, diese Rose zu brechen. Aber wieviele Schwierigkeiten sind bis dahin zu meistern, wieviele Gefahren zu bestehen, wieviele dornige Pfade zubeschreiten, bis es endlich zu dem wiederbelebenden Akt kommen kann! Die Grundaussage der Dichtung von Jean de Meung ist leicht zu erkennen: es geht — in allegorischen Bildern ausgedrückt — um die Angstvorstellungen der Einbildung, die der Mensch sich aus dem Weg zu räumen hat, um ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen.
Häufig sind es nicht böse Ungeheuer, die den Eingang zur Kemenate der versunkenen Prinzessin bewachen. In der Troubadourdichtung sind es in der Regel die gelos und losengiers, die Neider und Verleumder, in manchen Erzählungen ist es der Vater persönlich, in anderen wieder der eifersüchtige Gatte. Meist ist dieser alt und tyrannisch, hält seine Frau so gut wie gefangen und tötet ihre potentiellen Liebhaber. Ganz wie Yspaddaden Penkawr dem Anwärter auf seine Tochter absolut unlösbare Prüfungen auferlegt und sogar versucht, ihn umzubringen (in der walisischen Erzählung Kulhwch und Olwen aus den Mabinogion), so entdeckt der Ehemann später in sich einen unerschöpflichen Einfallsreichtum beim Ersinnen von Fallen und Perversionen im Bestreben, seine Gattin unter Verschluß zu halten.

Der »Lai de Guigemar» der Marie de France:

»Der Herr und Gebieter über die Stadt war ein greiser Mann; er hatte zur Frau eine Dame von hohem Geblüt, freigebig, courtois (= höfisch) und wunderschön. Seine Eifersucht kannte keine Gren2en... Er bewachte sie auf Schritt und Tritt, das war nicht zum Lachen. Unter dem Donjon lag ein allseits umfriedeter Garten, der sich bis zum Strand erstreckte. Die Mauer aus grünem Marmor war hoch und ziemlich dick, sie hatte nur einen Durchlaß, der Tag und Nacht streng bewacht wurde. Am unteren Ende des Gartens dehnte sich das Meer, sodaß niemand sich von dieser Seite nähern konnte, es sei denn zu Schiff. Um sein Eheweib an ganz und gar sicherem Ort zu verwahren, hatte er dort unten für sie eine Kemenate errichten lassen, so herrlich wie keine zweite unter dem Himmel: am Eingang eine Kapelle, rundherum um die Kammer Gemälde mit Darstellungen von Venus, der Göttin der Liebe, vollendet geformt und von Meisterhand ausgeführt... Madame war in dieses Haus gebracht und eingeschlossen. Ihr Herr und Gebieter gab ihr eine Jungfrau zu Diensten, und ein betagter Priester mit wallendem Bart verwahrte die Schlüssel zu ihrer Tür.«[79]

Die Lais der Marie de France haben zweifellos etwas stark Herausforderndes an sich: sie sind der dichterische Protest gegen die der Frau ohne Rücksicht auf ihre persönlichen Neigungen aufgezwungene Ehe, ja noch mehr: eine regelrechte Attacke gegen die monogame Ehe, die ipso faco zum Ehebruch reizt, wie die Lektüre der höfischen Romane des XIII. Jahrhunderts immer wieder bestätigt. Die höfische Liebe (amour courtois), die sich notwendigerweise — sei es platonisch-asketisch oder sinnlich-befriedigend - außerhalb der Ehe manifestiert, wirkte stets als unruhestiftender Störfaktor innerhalb   der christlichen Gesellschaft, und wenn ihre Ursprünge auch meist im Umkreis der okzitanischen Kultur vermutet werden,so weist sie doch deutliche Bezüge zumRechts- und Gesellschaftssystem der Kelten auf. Abgesehen von der Forderung der Frau nach dem Recht auf Freiheit in der Liebe weisen die Lais der Marie de France (die alle Adaptationen von keltischen Sagen und Legenden insularer oder kontinentaler Herkunft sind, denn aus den Eigennamen läßt sich schließen, daß die Dichterin sich von Werken in bretonischer Sprache inspirieren ließ) auch die charakteristische Grundstruktur des Mythos von der femme engloutie auf. In der Versnovelle von Guigemar finden wir die Festung am Meeresstrand, und innerhalb des Festungsbezirks den Garten und das Allerheiligste, das hier eine von Venusdarstellungen umgebene Kemenate ist. Im weiteren Verlauf des Lai wird der Liebende nahen, und zwar von der Seeseite her. Denn letztenendes ist im Mythos der femme engloutie das Wasser per defmitionem das kennzeichnende Grundelement. Erinnern wir uns an den Lancelot des Chretien de Troyes: der Held ist der Liebhaber der Königin Guenievre und zieht aus, um die von Meleagant Geraubte und in sein »Reich aus Glas» Entführte zurückzuerobern. Lancelot dringt in das Reich aus Glas über die Schwertbrücke ein und verletzt sich an der Schwertklinge so alptraumhaft blutreich, daß sich die descriptio dieses Brückenübergangs wie die eines Blutrituals liest, wobei das Riesenschwert selbst als Phallussymbol zu verstehen ist. Daß Lancelot sich, als er die Wahl zwischen der Schwertbrücke und der Unterwasserbrücke hat, für Erstere entscheidet, ist zu erwarten. Er ist der Liebende. Aber das Schwert hat noch eine weitere Bedeutung: es symbolisiert das Feuer. Es handelt sich also um einen Flammenweg, einen Weg der Trockenheit, den Lancelot wählt — und dies gemahnt an den »kurzen Weg« beziehungsweise »trockenen Weg« der Alchimisten, das heißt einen der Wege, die zum Stein der Weisen führen. Obwohl Lancelot die Aventüre, auf diesem Weg das Reich aus Glas zu erreichen, erfolgreich bestanden hat, gelingt ihm die Befreiung der Königin nicht: er versagt.80 Derjenige, der schließlich Guenievre wieder zurückbringt, ist Gauvain/Gawan, der Artusritter, der den Weg durch die Unterwasserbrücke gewählt hat, übrigens ebenfalls unter erheblichem Risiko, denn er wäre dabei beinahe ertrunken. Gauvain ist Guenievres Neffe, er fungiert als Sohnersatz und hat instinktiv den richtigen, natürlichen Weg gefunden, der es ihm ermöglicht, seine Mission mit Erfolg auszuführen.
Die Frau ist ganz klar die Mutter mit all ihren verschiedenen Aspekten. Was Gauvain gelingt und woran Lancelot scheitert, ist ein regressus ad uterum, auf dessen Weg das Element des Wassers zu passieren ist, mit anderen Worten: das amiotische Fruchtwasser, das den Foetus von der Außenwelt trennt. Diese foetale Eingeschlossenheit im Fruchtwasser spiegelt noch die Situation der Urahnen der Menschheit wieder, die noch im geschlossenen Kontinuum des Urmeeres lebten, bevor die große Katastrophe der Austrocknung einsetzte, durch die sie auf das feste Land vertrieben wurden (wo sie sich an eine neue, harte Lebensform auf dem Trockenen anpassen mußten). Lancelot handelt als Liebender, er geht über den Weg des Schwertes, das ist — wie angedeutet — nicht anders zu erwarten, aber es genügt nicht. Das Schwert ist eine Projektion der Figur des Lancelot, wie der Penis die Projektion der Männlichkeit ist. Lancelot versucht die sexuelle Vereinigung mit Guenievre, der Mutter-Frau (Jemme-mere) — sie ist die Königin —, aber  diese  Vereinigung bleibt natürlich unvollständig, denn »bei beiden Geschlechtern vollzieht sich die Entwicklung der Lust (desir) über einen nicht zu erfüllenden Wunsch (envie)«.[81] Wenn auf der anderen Seite die sexuelle Vereinigung eine Art Rückkehr in den mütterlichen Uterus bedeutet,

»so realisiert der coitus diese zeitliche Regression auf dreifache Weise: der gesamte Organismus vollzieht sie nur halluzinatorisch, das heißt als Traum; der Penis, auf den sich in diesem Augenblick der gesamte Organismus reduziert, realisiert diese Regression bereits partiell, das heißt symbolisch; nur das Sperma hat in seiner Funktion des Repräsentanten des Ego und seines narzißtischen alter ego, des Genitalorgans, das Privileg, auch realiter die intra-uterine Lage zu erreichen.«[82]

Folglich konnte Lancelot gar nicht gelingen, was Gauvain durch warhaftiges Versinken in den mütterlichen Wassern gelang. Deutlicher kann die Wichtigkeit der Funktion des Wassers im Zusammenhang mit unserem Thema nicht dargestellt werden. Das Wasser hat die Funktion einer Grenze zwischen zwei Welten. Der Übergang vom einen Ufer zum anderen ist somit ein Austausch zwischen diesen beiden Welten, wie die berühmte Episode des Peredur zeigt, wo der Held sieht, wie weiße Schafe beim Betreten des einen Ufers plötzlich schwarz werden und schwarze Schafe beim Betreten des anderen Ufers weiß werden.[83] In einem eigenartigen Werk von Pierre Bercheur, einem lateinisch dichtenden Autor des XIV. Jahrhunderts, findet sich eine signifikante Aventüre von Gauvain, der in den Fluten eines Sees untergegangen ist und in eine Unterwasserburg kommt: dort findet er ein fertig bereitetes Festmahl vor, dem er reichlich zuspricht; anschließend wird er Zeuge eines Schauspiels, das seltsam an jene archaische Ur-Gralsprozession des Peredur erinnert. Ein phantastisch wucherndes irisches Erzählepos enthält ebenfalls eine Aventüre in der Unterwasserwelt:

Das Abenteuer des Loegaire, Sohn des Crimthann (Irland):

Die Männer von Connaught sind in der Nähe des Sees der Vögel versammelt, da taucht aus dem Nebel ein geheimnisvoller Ritter auf und gibt sich als einer »von den Leuten der Feenwelt« zu erkennen. Er bittet um die Hilfe einiger Helden zur Befreiung seiner Frau, die von einem Feind entführt wurde. Loegaire, der Sohn von Crimthann, ist bereit, dem Fiachna - so der Name dieser Feengestalt — zu helfen, und »folgt ihm in Begleitung von fünfzig Recken. Fiachna taucht vor ihnen in den See. Sie folgen ihm und tauchen ebenfalls unter. Da sehen sie eine Festung und vor ihr eine Schlacht in vollem Gang.« Loegaire und seine Mannen führen den Sieg herbei und befreien die Frau. Als Belohnung erhält Loegaire Fiachnas Tochter, Der Greine, und bleibt mit ihr ein volles Jahr lang in dem Feenland. Nach Ablauf dieses Jahres kommt in Loegaire und den Seinen die Sehnsucht nach Neuigkeiten aus der Heimat auf, und so rät ihnen Fiachna, sich auf die Pferde zu schwingen und keinen Augenblick mehr den Sattel zu verlassen. Sie befolgen den Rat, und so gelangen sie über dem versammelten Rat von Connaught an, sagen ihren Verwandten Lebewohl und kehren in das Wunderland zurück.[84]

Das Grundmotiv der Geschichte kehrt in zahlreichen Varianten wieder. In dieser Erzählung geht es um die Zurückeroberung einer Frau. Diese Wiedergewinnung wird aber noch um die Eroberung einer weiteren Frau erweitert, einer feenhaften Gestalt, somit eines Wesens aus der Gegenwelt. Bereits der Name dieser Figur ist bedeutsam: sie heißt Der Greine, was an Grainne, Finns Frau erinnert, die mit Diarmaid flieht und sich in einer Höhle versteckt, und Greine bedeutet wie Grainne »Sonne»: sie verkörpert also einen Aspekt der weiblichen Sonnengottheit, wie sie allem Anschein nach von allen ur-indoeuropäischen Völkern gekannt wurde. Es zeigt sich, daß der Mythos der Prinzessin auf dem Meeresgrund hier um die Dimension des Sonnenmythos erweitert ist, da die Sonne für bestimmte Zeit hinter die »andere» Seite des unermeßlichen, die Erde umgebenden Ozeans verschwindet, — ein Mythos, von dessen Existenz unzweifelhafte archäologische Spuren aus der Bronzezeit zeigen, man denke nur an die berühmten Sonnenwagen der Ostseezivilisationen.
Dieser Sonnenmythos scheint, falls er nicht skandinavischen oder noch weiter nördlichen Ursprungs ist, so doch bei den Völkern Nordeuropas und Asiens bis hin zur Pazifikküste besonders intensiv entwickelt gewesen zu sein. Sogar in einer japanischen Legende finden wir ihn wieder:

Die Sonnengöttin Amaterasu hat sich in einer Höhle versteckt, als ihr die Kunde vom Lebenswandel ihres Bruders zu Ohren kommt. Sie weigert sich, diese Höhle jemals wieder zu verlassen (ein Bild der archaischen Menschheitsangst, eines Morgens werde die Sonne nicht mehr aufgehen). Da versammeln sich alle Götter vor der Höhle und versuchen zunächst mit einem Spiegel, das Bild der Göttin hervorzuzaubern. Als das nichts hilft, führt die Göttin Amano Uzume einen stark obszönen Tanz auf, über den alle Götter in schallendes Gelächter ausbrechen. Die Neugier treibt Amaterasu vor die Höhle heraus, und seitdem erleuchtet sie wieder die Welt.

Wenn man noch dazu berücksichtigt, daß die Sonne bei den Kelten (anders als in den heutigen romanischen Sprachen, wo frz. le soleil und it. il sole maskulin sind; Anm. d. Hrsg.) eine Einheit weiblichen Geschlechts war, trägt diese in einer Höhle (oder unter Wasser) verborgene Sonne wesentlich zur Erhellung der Struktur sämtlicher Sagen und Legenden von der Princesse engloutie bei, jener unterseeischen Hüterin von Schätzen und Geheimnissen, die darauf wartet, daß ein Furchtloser erscheint, sie aufweckt und befreit.
Außerdem führt das Bild von der Sonnen-Scheibe zu einem weiteren Aspekt des gleichen Mythos, der für die Kelten von ganz besonderer Bedeutung war: der Mythos von der Insel, auf der die Prinzessin wohnt. In der Meer fahrt des Maelduin wie in der Meerfahrt des Bran sind wir ihm bereits begegnet. Seine am weitesten entwickelte Form, die noch dazu die bekannteste sein dürfte,findet er in der Sage von Morgane und der Insel Avalon, die durch die Artusepik über die ganze Welt verbreitet wurde.

Die Insel Avalon:

Als König Artus, in der Schlacht von Camlann tödlich verwundet, mit Hilfe des Ritters Girflet gerade noch die Küste erreicht hat, bittet er diesen, sich nun zu entfernen. Ein heftiges Gewitter bricht aus, und es erscheint »auf dem Meer ein Schiff, besetzt mit edlen Frauen«. Eine von ihnen ist die Fee Morgane, die Schwester des Königs. Sie ruft Artus zu sich, und dieser begibt sich an Bord. Das Schiff entfernt sich, wie man sagt, »geradewegs auf die Insel Avalon zu, wo der König Artus, in einem goldenen Bett ruhend, heute noch lebt«.(La Mort le Roi Arthu)

»Die Insel der Apfelbäume wird auch die Begnadete Insel genannt, da auf ihr alles auf natürliche Weise gedeiht, ohne daß die Bewohner das Land zu bebauen hätten... Reich sind dort die Ernten und von Äpfeln und Trauben übervoll die Wälder... Neun Schwestern herrschen auf der Insel... Unter ihnen ist eine, die alle anderen an Schönheit und Macht übertrifft. Morgane ist ihr Name, und sie lehrt den Gebrauch der Kräuter und die Kunst, Krankheiten zu heilen. Sie beherrscht die Kunst, das Aussehen eines Gesichts zu verändern und durch die Lüfte zu fliegen wie Dädalus, mit Hilfe von Federn... An diesen Ort führten wir nach der Schlacht von Camlann den wunden Artus... Morgane nahm uns in allen gebührenden Ehren auf. Den König ließ sie in eine Kammer tragen und auf ein goldenes Lager betten... Lange wachte sie bei ihm und sagte schließlich, er könne wieder genesen, wenn er mit ihr für immer auf dieser Insel bleibe und ihr seine Heilung anvertraue.[85] Diese Insel wird — da allseits vom Ozean umgeben — von keinerlei Krankheit heimgesucht. Es gibt weder Diebe noch sonstige Übeltäter; es gibt weder Schneefall noch Nebel oder unerträgliche Hitze. Ewiger Friede herrscht auf der Insel. Nie versiegt der Reichtum der Blüten und Früchte unter dem Dach der Blätter. Die Bewohner sind ohne Makel und in ewiger Blüte der Jugend. Einejungfräuliche Königin, noch schöner als die Allerschönste auf Erden, herrscht über die Insel«.[86]
Diese Insel mitten im Ozean mit allen Merkmalen eines Paradieses ist ein leicht zu deutendes Symbol: es ist wiederum das Bild des intra-uterinen Lebens, projiziert in den Raum und in eine Vergangenheit mit allen Kennzeichen einer zeitlosen Zukunft. Dort herrschen weder Tod noch Krankheit, die Früchte, vor allem Äpfel, gedeihen im Überfluß und ohne menschliche Hilfe, das Altern ist unbekannt. Hier ist nichts anderes als das Goldene Zeitalter beschrieben, das seit Jahrmillionen die Phantasie der Menschen bewegt, es ist der ruhevolle und friedliche Zustand des Embryo, der von der Körperwärme der Mutter geschützt und von ihr genährt in einem geschlossenen Raum lebt: in einem (Obst-)Garten, einer Höhle oder Grotte, auf einer Insel, in einer unbezwingbaren Burg, an einem Ort also, wo die Unterscheidung zwischen Gut und Böse noch unbekannt ist, wo folglich nicht nur das moralische, sondern auch das seiner Psyche bewußte Leben (das ja auf der Differenzierung zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich beruht) noch nicht existiert.
Diese Insel ist die Insel der Äpfel, ganz wie der Garten Eden ein Garten der Äpfel und der Garten der Hesperiden ein Garten voll goldener Äpfel ist. Der Name Avalon stammt von einem keltischen Wort mit der Bedeutung »Apfel» ab, das breton. und walis. aval, engl.apple,mederdt.appel und hochdt. Apfel wurde. In den irischen Sagen und Legenden heißt die Insel der Frauen, die der Held Bran ansteuert, Emain Ablach, und die Dichter rühmen ihre Apfelbäume und die Herrlichkeit ihrer Äpfel. Nach Plinius d.Ä. (Hist. nat. XXXVIII, 35) trieben die Teutonen, ein keltisiertes Volk, Bernsteinhandel mit den Bewohnern der Insel Abalum, dem heutigen Ösel in der östlichen Ostsee. Auf dieser Insel soll es einen Ort namens Aboul gegeben haben, und dieser Name stammt wie Abalum (und z.B. auch wie der der italienischen Insel Abella Malifera (lat. malum = »Apfel»!) aus der gleichen Wurzel wie Avalon. Die brit(ton)ische Tradition macht übrigens aus Morgane die Tochter eines Evallach: diesen Namen finden wir auch in der Quete du Graal wieder, wo er der Name des Königs Mordrain vor seiner Taufe ist; dieser ist wiederum eine der Doubletten des »reichen Fischerkönigs» Pelles, Hüter des Heiligen Kessels, oder wenn man so will, des Grals, das heißt eines vasenförmigen Objekts, dessen weiblicher Symbolcharakter außer Zweifel steht.
Höchst bemerkenswert ist, daß die Kelten ihr Paradies unter eine Rechtsordnung stellten, die mit der patriarchalischen (die trotz manchen Abweichungen die ihre war) nichts gemein hatte. Die Insel Avalon (oder ihre gälische Entsprechung wirft zwei Fragen auf, die unbeantwortet bleiben mögen: handelt es sich dabei wirft zwei Fragen auf, die unbeantwortet bleiben mögen: Handelt es sich dabei nicht um eine Reminiszenz einer weit zurückliegenden Entwicklungsphase der keuschen oder prä-keltischen Gesellschaft, in der die Frau den Ton angab, — oder handelt es sich lediglich um eine Projektion unserer Sehnsucht nach dem regressus ad uterum? Möglicherweise trifft sogar beides zu. Auf keinen Fall ist dieser Mythos von der Fraueninsel nur eine literarische Schöpfung des Mittelalters und ebensowenig eine Erfindung der französischen Autoren der Romane um Artus und seine Tafelrunde, sondern er existierte bereits lange vor dieser Zeit, wie die Autoren der greichischen und römischen Antike bezeugen:

Pomponius Mela (11,6):

»Gegenüber den keltischen Küsten ragt eine Gruppe von Inseln auf, die den Namen Cassiterides trägt, da sie reich an Zinnvorkommen sind. Die Insel Sena sie liegt im mare britannicum (= Ärmelkanal) gegenüber der Küste der Osismi (Finistere-Nord) — ist berühmt wegen eines gallischen Orakels, dessen Priesterinnen neun zu ewiger Jungfräulichkeit verpflichtete Frauen sind. Sie werden »Gallicenes« genannt, und man schreibt ihnen die übernatürliche Macht zu, durch ihre magischen Kräfte Winde und Gewitterstürme zu entfesseln, sich je nach Belieben in dieses oder jenes Tier zu verwandeln, als unheilbar geltende Leiden zu kurieren und schließlich, die Zukunft voraussagen zu können. Ihre Heilmittel und Wahrsagungen gewähren sie ausschließlich denjenigen, die sie eigens zu diesem Zwecke aufsuchen«.

Strabo (IV,4):

»Im Ozean, nicht weit draußen auf dem offenen Meer, sondern dicht vor der Loire-Mündung liegt nach dem Bericht desPosidonios eine Insel von geringer Ausdehnung, auf der die sich selbst so nennenden ,Frauen der Namnetes» wohnen. Diese vom bacchischen Furor besessenen Weiber suchen durch Mysterien und andere sakrale Zeremonien den Gott, der in ihnen wütet, zu besänftigen und zu entwaffnen. Niemals setzt ein Mann den Fuß auf diese Insel, sondern die Frauen begeben sich selbst aufs Festland, wann immer es sie gelüstet, mit ihren Männern Verkehr zu haben.«

Es wird aufgefallen sein, daß sich die Beschreibung des Pomponius Mela, eines romanisierten Schriftstellers und Geographen aus der iberischen Halbinsel, in allen Punkten mit dem deckt, was Geoffrey of Monmouth zu berichten wußte. Pomponius Mela scheint die Bewohnerinnen dieser Insel für Vestalinnen, für Jungfrauen (virgines) zu halten, (wobei wir im folgenden noch definieren müssen, was die antiken Autoren eigentlich genau unter dem Begriff »Virgines» verstanden). Strabo dagegen betrachtet sie — unter Berufung auf Posidonius — als Bacchantinnen, die mit dem männlichen Geschlecht sehr wohl »verkehrten». Nach den die Artusschwester betreffenden Darstellungen zu urteilen, wonach sie »die Heißeste und Ausschweifendste von ganz Groß-Britannien« gewesen sein mußte (soweit das Urteil des Prosa-Lancelot-Dichters), sind Morgane und ihre Schwestern wohl eher der Kategorie der »Bacchantinnen» zuzuordnen. Wie dem auch sei, die Kunde von der Paradies-Insel hat eine uralte Tradition, deren Spuren noch in der keltischen Folklore zu erkennen sind. Bei der Insel Sena dürfte es sich trotz der Tatsache, daß sie von Pomponius Mela im Ärmelkanal lokalisiert wird, um die Insel Sein handeln, die als Ort der Autre Monde gilt, als Gegenküste zur Baie des 7>epasses (= »Bucht der Hinübergegangenen») und zum Enfer de Plogoff»(= »Unterwelt von Plogoff).87 Es wurde sogar versucht, Avalon entweder in der Bretagne mit der Insel Aval (nicht weit von Trebeudren, Cötes-du-Nord) zu identifizieren, mit Mön (der Insel Anglesey) oder mit der alten Abtei von Glastonbury und den umliegenden Sümpfen.** Derartige Lokalisierungsversuche sind jedoch völlig wertlos, denn es handelt sich um eine Insel, die außerhalb der Dimensionen von Zeit und Raum der wirklichen Welt liegt. Und von dieser spricht Plutarch in seinem Werk.

De Defectu Oraculorum (XVIII):

»Nach Demetrios haben von den britannischen Inseln einige ihren Namen von Dämonen oder Heroen... Einmal betrat er die nächstliegende dieser öden Inseln... Bei seiner Ankunft entstand eine gewaltige Turbulenz in den Lüften, begleitet von zahlreichen Himmelserscheinungen. Die Winde fegten donnernd einher, und an verschiedenen Stellen schlug der Blitz in den Boden. Als sich die Elemente wieder beruhigt hatten, erklärten ihm die Bewohner, daß dieses Ereignis durch das momentane Einschlummern eines höheren Wesens verursacht worden wäre... In dieser Gegend schlafe Kronos, bewacht von Briarea. Der Schlaf sei die Fessel, die man erfunden habe, um ihn auf der Insel festzuhalten. In seiner Nähe halte sich eine große Zahl von Dämonen auf, um ihm zu dienen.«

Hier geht es wieder um eine Insel im äußersten Norden der bekannten Welt, aus der nach den irischen Texten die Tuatha De Danann kommen und wo sie in »Wissenschaft, Magie, Druidentum, Weisheit und Kunst« eingeweiht wurden.
Interessant ist dabei der Umstand, daß — sofern man Plutarch glauben will — Kronos in tiefem Schlaf auf der Insel weilt. Man beachte, daß Kronos, der alte Göttervater, von seinem Sohn Zeus entthront und kastriert wurde. Artus» Verwundung stammt von Mordred, seinem eigenen Sohn aus inzestuöser Verbindung, und es ist bekannt, daß jede Art von Verletzung für einen König im Endeffekt eine »entehrende und zur Ausübung der Herrschaft (potentia) unfähig machende Verwundung« ist und somit »impotent» macht, wie der Fall des Fischer-Königs Pelles/Amfortas der Graldichtungen deutlich zeigt. Die Tatsache, daß Kronos schläft und auch Artus die Zeit bis zu seiner Wiederkehr schlafend verbringt, ist ein Hinweis darauf, daß Tod und Schlaf in einem psychoanalytisch erweiterten Sinn äquivalent sind: der Schlaf ist die Phase, die auf den Orgasmus folgt, anders ausgedrückt, der Zustand der bewußtlosen Befriedigtheit (Zustand des Nirvana), der für die Rückkehr in das intra-uterine Leben kennzeichnend ist. Wo ist dabei aber noch die Grenze zwischen Leben und Tod zu ziehen? Sie ist hier natürlich fließend. Das bringt Sandor Ferenczi zu der Schlußfolgerung,

»daß es den Tod in absoluter Form möglicherweise überhaupt nicht gibt; vielleicht birgt selbst das Anorganische in unsichtbarer Form Keime des Lebens und der Regression. In diesem Falle müßten wir definitiv davon abgehen, uns Fragen zu stellen über die Ursachen von Anfang und Ende des Lebens und müßten uns den gesamten Kosmos des Organischen und Anorganischen vorstellen als eine ununterbrochene Wechselwirkung zwischen Lebens- und Todestendenzen, als ein System also, in dem weder das Leben noch der Tod jeweils ausschließlich dominiert.«[89]

Bei eingehender Lektüre der verschiedenen Ausformungen des Mythos von der Prinzessin auf dem Meeresgrund gelangt man jedenfalls zu einer solchen Hypothese. Der ständige Wechsel zwischen Lebens- und Todestrieben, wovon Ferenczi spricht, ist genau das, was man in der bereits erwähnten Peredur-Episode von den ihre Farbe wechselnden Schafen vorfindet (eine Episode, die in ähnlicher Weise in der Meerfahrt desMaelduin enthalten ist). Dieses Hin und Her ist auch jener ununterbrochene Austauschkontakt zwischen den beiden Welten des Diesseits und des Jenseits, der für die alten handschriftlich festgehaltenen Epen ebenso charakteristisch ist, wie für die jahrhundertelang mündlich weitergegebenen Stoffe, die in den keltischen Ländern erst in wesentlich jüngerer Zeit schriftlich fixiert wurden.
In der Samain-Nacht stehen die Seelenhügel offen, man braucht sie nur zu betreten oder sich an ihren Eingang zu stellen, und schon kann man sehen, wie sich die geheimnisvollen Bewohnerinnen der sidhs aus ihren Schutzmauern aus Erde und Wasser hervorwagen. Aber die Samain-Nacht ist ihrerseits zeitlos: sie dauert jede Nacht so lange wie das Leben der Gestirne. Wir alle befinden uns in der Lage des Ödipus und treffen in den Trümmern einer toten Stadt auf die Sphinx. Die Sphinx ist ein weibliches, okkultes Wesen: im Schutze der Samain-Nacht hat sie ihre Höhle verlassen; sie stellt uns Fragen und diese Fragen sind idiotisch. Aber wir selbst sind noch weit dümmer als die Fragende, denn wir sind unfähig, sie zu beantworten. Wir sind blind, oder besser: wir wollen die naheliegenden Antworten nicht sehen. Und so rennen wir in unser Verderben. Denn die Sphinx wird uns zerfleischen und sie hat recht damit. Denn die Fragen, die sie uns stellt, sind Fragen über uns selbst. Besteht aber überhaupt die Hoffnung, daß eines Tages der Mensch — egal ob Mann oder Frau — seine Augen zu öffnen geruht und endlich wiedererkennen will, was in ihm ist und in ihm agiert?

Unser Ausgangspunkt war der Mythos von der untergegangenen Stadt, die Sage von der Stadt Ys, und dies war nicht ohne Absicht geschehen. Am Anfang war das Wasser, am Ende wird das Wasser sein. Wir haben versucht, den Spuren der Dahud/Ahes durch alle ihre Metamorphosen und Verstecke zu folgen, denn sie ist die Frau mit den tausend Gesichtern. Zwischen der Stadt Ys und der Insel Avalon liegt nur die Entfernung von einem Bild zum anderen. Aus all diesen Transpositionen ein und desselben Mythos, in denen sich immer wieder die gleiche Denkstruktur bestätigt, erwächst die Gewißheit, daß »die Struktur des Symbols nicht als etwas vom Menschen Geschaffenes aufzufassen ist, sondern umgekehrt als etwas diesen Konstituierendes« (Jacques Lacari). Analysiert man die Art, wie der Mann die Frau geträumt hat, wie er sie hat »tief sinken» lassen, sowie die Gründe, weshalb er das getan hat, so enthüllt sich das wahre Wesen des Menschen in allen seinen Aspekten.
Aber das Symbol, das sich durch die Mythen entwickelt, ist - worauf Claude Levi-Strauss hingewiesen hat — niemals absolut: auch wenn das letzte Wort darüber gesprochen zu sein scheint, ist noch längst nicht gesagt, daß es auch verstanden wurde. Das großartige irische Epos von der Brautwerbung um Etaine[90] endet damit, daß der König Eochaid, der seine vom Gott Mider (mit ihrem Einverständnis, was die Sache so problematisch macht!) geraubte und in sein Zauberreich der sidh entführte Frau Etaine zurückfordert, unter allen Hügeln Irlands nach ihr graben läßt. Eine List Miders bewirkt aber, daß Eochaid nicht seine richtige Frau wiedererhält, sondern eine andere, die lediglich Etaines Gesichtszüge hat. Dieses Ende ist bezeichnend: erst wenn der Mann seine Frau verloren hat, beginnt er zu begreifen, wer sie war und was sie ihm bedeutete. Nur ist es dann bereits zu spät, denn nun schieben sich andere Bilder zwischen die objektive Realität und den Mann. »Die Wahrheit liegt in einem Zwischenbereich zwischen denen, die sie aussprechen« (Jacques Lacan), und es ist nicht gerade leicht, sie zu begreifen. Vielleicht liegt die Lösung in der Wiederentdeckung der Language du debut, der (Ur-)Sprache des Beginns, »der Grundstruktur des Unbewußten«, wie Jean Lacroix sie nennt. Aber wo ist diese Grundstruktur zu finden? Die Stadt Ys lebt auf dem Meeresgrund weiter fort und mit ihr die versunkene Prinzessin, und der Erste, der am Tage der Wiederauferstehung von Ys ihre Glocken läuten hört, gelangt in den Vollbesitz des Königreichs und dazu der Dahud/Ahes. Noch entscheidender ist aber die Frage, wo die Stadt Ys der Wirklichkeit zu suchen ist: oben oder unten? Oder kann man bei der Betrachtung der Spiegelung einer Stadt oder eines Waldesauf dem Wassereines Sees, Flusses oder Meeres überhaupt jemals sicher sein, ob die Ralität auch wirklich auf der Seite liegt, wo man sie vermutet? Wenn also der Mythos von der Prinzessin auf dem Meeresgrund einen gewissen Verdacht des Zweifels über den Wert der seit Jahrhunderten »eingebürgerten» Opposition mors versus vita aufkommen läßt, so ist man aufgrund der Tatsache, daß diese nur die Angst des Menschen vor den Zwischenbereichen zwischen Traum und Wirklichkeit (d. h. Wachzustand) widerspiegelt, zu der Frage berechtigt, ob diese starr fixierte Opposition nicht auch der Ausdruck ist von der Unfähigkeit des Menschen, sich zu entscheiden. Und so taucht in seiner Phantasie, die jahrhundertelang durch schwachsinnige, weil ausschließlich im Namen der Männlichkeit geformte Denkstrukturen verfälscht wurde, die Prinzessin, die er bewußt in die Tiefen seines Unbewußten verdrängt hat, herrlicher und mächtiger als je zuvor wieder auf im Bild einer Göttin, die er niemals hätte aufhören sollen, zu verehren und anzubeten.

Texttyp

Erzählung