2. Unsere liebe Frau der Nacht - Der Mythos der »Notre-Dame de la Nuit«

Es fällt auf, daß alle Religionen der Welt den Gläubigen weibliche Gottheiten zur Verehrung angeboten haben, und es ist denkbar, daß diese in den frühesten Zeiten innerhalb der Götterhierarchie an der Spitze standen als Mutter-Erde (Terre-Mere) und Mutter-Wasser (Eau-Mere) und in der Folgezeit allmählich zu den Müttern der Götter und schließlich der Menschen wurden. Die Geschichte der Rangposition der Göttin verläuft parallel zu der der Frau in den archaischen Gesellschaften: sobald die Gesellschaften ihre matriarchalische — oder (um das Wort Matriarchat zu vermeiden, das nichts bedeutet und von dessen Realität wir vor allem nichts wissen) besser gesagt gynäkokratische Struktur verloren, wechselten auch die weiblichen Götter ihr Geschlecht und wurden männlich. Diese Umwandlung erfolgte jedoch nicht vollständig: »Die großen patriarchalischen Epochen haben in ihrer Mythologie die Erinnerung an eine Zeit wachgehalten, in der die Frauen eine besondere Rolle spielten» (nach Simone de Beauvoir); »In historischer Zeit sind, besonders in Indien und im Iran, noch Reste einer alten Religion zu beobachten, die in ihrer Grundstruktur sichtlich mit gynäkokratischen Insitutionen in Beziehung gestanden haben muß.»[1] So ist nach der indischen Rig-Veda Aditi (Ardvi in der iranischen Avesta) die Großgöttin, deren Namen zugleich ein mythischer Fluß trägt, aus dem sämtliche übrigen Gewässer der Welt entspringen. Ferner ist der indische Kult der Göttin Kali, der gefräßigen Verschlingerin und zugleich nährenden Versorgerin, indoeuropäischen Ursprungs und geht mindestens bis auf etwa 3000 v. Chr. zurück. Entsprechend enthält auch noch die hebräische Bibel das Echo des ewigen Kampfes zwischen den Anhängern des Mondgottes Jahwe und der »Irrlehre» der getreuen Verehrer der semitischen Großgöttin, hinter der sich wahrscheinlich die babylonische Ischtar verbirgt.
Ähnlich sah es in der druidischen Religion aus. Wie in allen Mythologien, finden sich auch hier Spuren einer Mutter-Göttin (Deesse-Mere). Wie in allen anderen Religionen findet man auch in der druidischen zahlreiche weibliche Kulte und weibliche Gottheiten. Wir kennen sie nicht nur aus gallischen und britischen Baudenkmälern römischer Zeit, sondern auch aus irischen und walisischen Texten, die — wie bereits erwähnt ziemlich alte, erst im Laufe des Hochmittelalters schriftlich festgehaltene mündliche Überlieferungen sind. Spielen diese Göttinnen auch weiterhin eine wesentliche Rolle, so haben sie doch, wie bei den anderen Völkern, auch hier entschieden an Größe eingebüßt: sie stehen nun innerhalb einer paternalistischen Umgebung und wurden dabei nicht selten mit Geheimnissen umgeben, diffamiert, entstellt und regelrecht in die entlegensten Tiefen des Unbewußten versenkt. Aber dort existieren sie weiter: gelegentlich tauchen sie wieder siegreich auf und bringen arge Verwirrung in die maskuline Gesellschaft, deren Herrscher der Meinung waren, unerschütterlich fest im Sattel zu sitzen. Lange Zeit glaubte man den Sieg von Jahwe und Christus als definitiv gesichert, und doch tauchte dahinter immer wieder, verwirrend und Sehnsucht weckend, die Gestalt der Jungfrau Maria auf. Und diese schmückt sich mit den erstaunlichsten Namen: Notre-Dame de l'Eau (>Unsere liebe Frau des Wassers<), Notre-Dame des Orties (...der Disteln), Notre-Dame du Roncier (...des Dornengestrüpps), Notre-Dame des Tertres (...der Hügel), Notre-Dame des Pins (...der Pinien/Kiefern) und so fort. Tatsächlich ist die Göttin der antiken Religionen in uns noch immer lebendig, selbst wenn sie sich in einem Stadium des »Dornröschenschlafs» befindet. Trotz eines von Jahrhundert zu Jahrhundert immer verbissener geführten Kampfes, trotz eifriger Verbreitung von einer Flut dogmatischer Schriften über das Wesen der Jungfrau Maria ist diese im >offiziellen' Christentum stets eine zweitrangige Gestalt gewesen: profillos, schüchtern, ein Muster dessen, was die Frau zu sein hat, nämlich die Dienerin des männlichen Geschlechts, stets rein und jungfrauenhaft-keusch, vorbildliche Mutter und heldenhafte Dulderin. Hier ist sie nicht mehr die große Göttin, vor der die Menschen zittern, sondern sie ist jetzt Notre-Dame de la Nuit, Unsere Liebe Frau der Nacht.

1. Die Königin der Pferde

Will man ihr Geheimnis lüften, so muß man sie erst einmal aus ihrer Nacht hervorholen, aus ihrer Höhle, aus dem Dunkel der Meerestiefe, wohin sie die Horrorvisionen der Männer verbannt hatten, -- und dazu muß man auf die Welt des Mythos zurückgreifen: mit Hilfe der Mythen, Sagen und Legenden (mit all ihren Varianten, hinzugefügten oder ausgelassenen Elementen) wollen wir nun versuchen, eine Art Phantombild der Notre-Dame de la Nuit zu erstellen. Im Umfeld des Keltischen liefert dazu einen ersten Anhaltspunkt die Geschichte von Rhiannon, wie sie sich in drei der walisischen Mabinogion-Texten abzeichnet, nämlich in Pwyll, Fürst von Dyved, der den Grundstock des Mythos enthält, dann in Manawyddan, Sohn von Llyr, einer Fortsetzung davon, und schließlich in der Geschichte von Branwen, Tochter von Llyr, die weitere Einzelheiten liefert.[2]

Die Saga von Rhiannon (Wales):

Pwyll Penn Annwfn, König von Dyved, steht auf dem Hügel von Arberth. Da erscheint in der Ferne eine junge Frau in »golden strahlendem Gewände auf einem weißen Pferd». Als er einen seiner Reiter nach ihr ausschickt, ist sie verschwunden. Am folgenden Tag das gleiche Spiel: wieder verschwindet die wunderliche Reiterin. Am dritten Tag macht sich Pwyll persönlich auf die Verfolgung, aber auch ihm gelingt es nicht, die Flüchtige einzuholen. Aus der Ferne ruft er ihr zu: , Junges Mädchen, um die Liebe dessen, den du am meisten liebst, warte auf mich!» Die Reiterin hält an, gibt sich zu erkennen als Rhiannon, Tochter von Hyveidd Hen, und gekommen aus Liebe zu Pwyll: »Niemals würde ich von jemand anderem etwas begehren, es sei denn, du wiesest mich zurück.» Der König ist bereit, Rhiannon zu heiraten. Die Hochzeit findet im folgenden Jahr am Hofe von Hyveidd statt. Aber da erscheint mitten im Festbankett ein Herausforderer, der niemand anderer ist als Gwawl, der ehemalige Werber um Rhiannons Hand. Gemäß des Brauches, ein Gastgeschenk bewilligt zu bekommen, ohne daß der Gastgeber vorher weiß, welches der Gast wünscht, verlangt er Rhiannon persönlich. Aber Rhiannon gelingt es, bis zur Hochzeit mit Gwawl ein Jahr Aufschub auszuhandeln. In dieser Zeit ersinnt sie einen wahrhaft macchiavellistischen Plan, durch den Gwawl, besiegt und enttäuscht, endgültig aus dem Feld geschlagen werden kann, und setzt ihn auch in die Tat um. Rhiannon heiratet Pwyll, wie vorgesehen. Wenig später schenkt Rhiannon einem Sohn das Leben. Aber da sinken Rhiannon und die Frauen, die ihr Kindbett bewachen, eines Nachts in einen tiefen Schlaf, und das Kind wird unter mysteriösen Umständen entführt. Um sich selbst reinzuwaschen, behaupten die Frauen, Rhiannon habe ihr Kind getötet. Der Mutler wird von Pwyll und dem Rat der Weisen von Dyved der Prozeß gemacht, und sie wird zu einer höchst sonderbaren Strafe verurteilt: »Während sieben Jahren solle sie ohne Unterbrechung am Hofe von Arberth bleiben und hätte allabendlich auf dem Trittstein (der zum leichteren Besteigen des Pferdes diente; Anm. d. Übers.) draußen vor dem Eingang zu sitzen, müßte jedem Ankommenden, von dem sie den Eindruck hätte, er würde sie nicht kennen, ihre ganze Geschichte erzählen und geladenen wie ungeladenen Fremden anbieten, sich von ihr — auf ihrem Rücken reitend — in den Hof tragen zu lassen. » So geschieht es. Das Kind ist inzwischen auf nicht weniger mysteriöse Weise in den Pferdestall eines gewissen Teyron aus Gwent gelangt. In jeder Nacht der Kaienden des Mai hatte dessen Stute die Gewohnheit, ein Fohlen zu werfen, und dieses Fohlen verschwand immer, ohne daß man wußte, was aus ihm wurde. In jener Nacht nun hält Teyrnon vor seinem Stall Wache, und so findet er nicht nur ein neugeborenes Fohlen, sondern auch ein neugeborenes Kind, gehüllt in einen kostbar verzierten Mantel. Teyrnon zieht das Knäblein auf und gibt ihm den Namen Gwri Gwallt Euryn (>Gwri mit dem Goldhaar<). Als er drei Jahre alt ist, zähmt der Knabe das Fohlen, mit dem er Freundschaft geschlossen hat, und reitet es. Teyrnon, der von der Geschichte der Rhiannon gehört hat, beschließt, sich mit dem Kind an den Hof von Dyved zu begeben. Rhiannon bietet ihnen an, sie auf ihrem Rücken einreiten zu lassen. Das Kind lehnt ab. Teyrnon erzählt Pwyll und Rhiannon alles, was er mit dem Findelkind erlebt hat, diese erkennen ihr geraubtes Kind wieder, und Rhiannon ruft aus, daß sie nun eine »Sorge» (= >Pryderi<) los sei. So kam ihr Sohn zu seinem endgültigen Namen Pryderi. Pryderi wächst zu einem stattlichen jungen Mann heran. Nach dem Tod des Pwyll wird er König von Dyved und nimmt eine gewisse Kicva zur Frau. Nach dem katastrophalen Zug Brans nach Irland ist er einer der sieben einzigen Überlebenden, die durch einen Zauber am Leben erhalten werden, indem sie den »Gesang der Vögel von Rhiannon» hören, »der die Toten aufweckt und die Lebenden in den Schlaf schickt». Mit Manawyddan, dem Sohn von Iiyr, kehrt er nach Arberth zurück. Manawyddan heiratet Rhiannon. Da wird Dyved Opfer einer Verzauberung und das Land verödet. Rhiannon, Kicva, Pryderi und Manawyddan, die einzigen, die in dieser Gegend noch leben, gehen mit der Zeit die verbliebenen Vorräte aus, und so müssen sie fortziehen, um woanders ihr Glück zu suchen. Eines Tages kehren sie mit neuem Reichtum und neuen Vorräten nach Arberth zurück. Einmal sehen sie ein weißes Wildschwein in einer Burg verschwinden, von deren Existenz sie bisher nichts gewußt hatten. Pryderi folgt ihm bis in die Burg. Die Burg ist menschenleer. In der Mitte des Burghofes befindet sich ein Brunnen und darauf ein goldener Kelch, der an Ketten liegt, die soweit in den Himmel reichen, daß man ihr oberes Ende nicht mehr sehen kann. Pryderi greift nach dem Schöpfkelch, aber im selben Augenblick geht ihm die Stimme verloren und seine Hände bleiben an dem Kelch haften. Inzwischen macht sich Rhiannon Sorgen, daß sie ihren Sohn nicht zurückkehren sieht. Sie macht Manawyddan Vorwürfe, weil er ihn nicht begleitet hatte, und dringt selbst in die Burg ein. Als sie Pryderi befreien will, widerfährt ihr das gleiche Schicksal wie ihm. »Dann, sobald es dunkel war, erscholl ein Donnerschlag, eine mächtige Wolke senkte sich herab und die beiden verschwanden mitsamt der ganzen Festung.» Schließlich gelingt es Manawyddan, das Ende der Verzauberung herbeizufuhren, die über Dyved lastete und von Llywyt, Kilcoets Sohn verursacht worden war, der sich für Gwawl an Pryderi und Rhiannon rächen wollte. Man erfährt noch, daß während der Zeit ihrer Abwesenheit Mutter und Sohn Domestiken am Hofe von Llwyt waren, und insbesondere, daß Rhiannon dabei »ein Halfter um ihren Hals trug, mit welchem Esel gezäumt werden, nachdem sie die Heuernte eingebracht haben.«

Das Auffälligste an dieser Rhiannon-Saga ist zweifellos die Verbindung zwischen dem Pferd, besser gesagt der Stute, und der Figur der Göttin. Zunächst ist sie die Reiterin: sie erscheint auf einem weißen Pferd und sucht die Liebe des Königs Pwyll zu gewinnen. Das ist das Bild der Göttin der Autre Monde, der in einen Sterblichen verliebten Fee, die den Erwählten raubt und in das Land ewiger Jugend entführt. Das Pferd ist ein Sonnensymbol: es handelt sich um das Pferd, das vor den Sonnenwagen gespannt ist und ihn durch den Raum der Nacht führt. Daher ist die Reiterin nicht einfach nur ein Bild des Todes, sondern auch der Auferstehung. Ihr Pferd ist weiß, hat also die Farbe des Tages, und doch kommt es aus der Nacht herauf. Der Hügel von Arberth ist der Ort, wo Pwyll sie zum ersten Mal erblickt: dieser Hügel ist ein magischer Hügel; — nie besteigt man ihn, ohne ein Wunder zu erleben. Er ist mit den Sidhs, jenen Seelenhügeln Irlands identisch, in denen die Tuatha De Danann oder bestimmte Feen hausen. Nun taucht Rhiannon ebenfalls aus einem solchen Hügel auf, also ist sie in Wirklichkeit eine Notre-Dame de la Nuit.
Auf der anderen Seite wird ihr Sohn Pryderi im Stall des Teyrnon neben einem neugeborenen Fohlen gefunden; dieses Füllen wird er zähmen und bereits als Dreijähriger reiten. Nach seinem ersten Namen Gwri Gwallt Euryn zu schließen, hat der junge Pryderi goldene Haare, die mit der Mähne eines Streitrosses vergleichbar sind: es handelt sich dabei nicht nur um ein schönes, poetisches Bild, sondern zugleich um ein leicht erkennbares Sonnensymbol.
Noch dazu wird Rhiannon, als sie zu Unrecht für das Verschwinden ihres Sohnes bestraft wird, verpflichtet, die Reisenden, die zur Burg des Königs kommen, auf ihrem Rücken reiten zu lassen. Auch hier liegt eine semantische Assimilation an die Stute vor, ferner trägt das Detail der Beschreibung ihrer Lage als Gefangene am Hof des Llwyt (wo sie als Saumtier diente) zur Verstärkung dieser Gleichsetzung bei, und schließlich ist Rhiannon auch noch die Göttin mit den Wundervögeln, worauf wir noch zurückkommen werden.
Doch beschränken wir uns zunächst auf die Untersuchung des Pferdemotivs in der Rhiannon-Saga. Alle Mythologien sind sich über die enge Beziehung zwischen Rhiannon und der romanisieiten Galliergöttin Epona einig, deren Kult im römischen Imperium weit verbreitet war. Zahlreiche Kunstdenkmäler und Inschriften sind ihr gewidmet, besonders in Gallien und auf der deutschen Seite des Rheins. In der gallo-römischen Statuenkunst finden wir sie auf drei verschiedene Arten dargestellt: einmal auf einem Pferd oder Fohlen reitend; dann vor einem oder zwischen zwei (oder mehreren) Pferden stehend, und schließlich liegt sie in einer dritten, selteneren Darstellungsweise halbnackt auf einem Pferd. Gelegentlich trägt sie ein Füllhorn, einen Kelch oder eine einfache Schale. Manchmal ist sie von einem Hund begleitet, - ein interessanter Hinweis, denn der Hund gilt in allen Kulturkreisen als der Hüter der Unterwelt.[3] Epona ist nicht lateinisch-römischen Ursprungs, daher wird sie auch erst bei relativ späten Autoren erwähnt, etwa bei Juvenal {Satiren, VIII) oder bei Apuleius {Metamorphosen, III): dort erfahren wir, daß man mit ihrem Bild die Wände von Pferdeställen geschmückt und mit Rosen verziert hat. Demnach mußte sie in der Welt der Römer eine Schutzgöttin der Pferde gewesen sein. Dies bestätigt auch die auffallend große Häufigkeit von Inschriften ihr zu Ehren in solchen Gebieten, wo die Reiterei eine besonders wichtige Rolle spielte, wie etwa an den Grenzen zu Germanien. Es ist jedoch zu vermuten, daß diese ihr zugeordnete Rolle als Beschützerin der Pferde nur ein schwacher Abglanz der Rolle war, die sie in der Frühzeit bei den noch unabhängigen Kelten spielte Sie machte die gleiche Entwicklung durch, wie manche Heilige der christlichen Religion: zunächst hatten sie die Funktion irgendeiner als Symbol dargestellten Idee, und dieses Symbol wurde, als man vergessen hatte, was es bedeutete, allmählich wörtlich genommen: auf diese Weise wurde z.B. die Hl. Barbara, die man durch einen Turm, das Symbol der Jungfräulichkeit, darstellte, mit der Zeit zur Schutzpatronin der Artillerie (die den Turm sprengt!) und daneben auch noch zur Schutzpatronin der Feuerwehr (die den von ersterer verursachten Brand zu löschen hat!). Es ist geradezu lächerlich, die Götter und Göttinnen als reine Schutzinstanzen zu betrachten, wie es von einer großen Zahl von Mythologen getan wird. Das hieße nämlich, die Anhänger der alten Religionen für Schwachköpfe zu halten, was sie schwerlich zu allen Zeiten, auf keinen Fall aber in der Frühzeit dieser Religionen gewesen sein werden. Eponas Evolution als Gottheit bildet also keine Ausnahme zur Regel, und wie wir sehen werden, ist diese zu einer zweitrangigen Rolle verurteilte Figur in Wirklichkeit sogar die Inkarnation der ursprünglichen Muttergöttin der Kelten.
Es steht fest, daß die Epona auf die eine oder andere Art mit dem Bild des Pferdes verbunden ist. Dies läßt sich keineswegs nur aus der Ikonographie oder ihrer Funktion als Pferdebeschützerin ablesen, sondern bereits aus ihrem Namen: Epona stammt tatsächlich von gallisch Epo, und dieses aus indoeuropäisch ekwo, woraus lat. equus wurde. Demnach ist sie also etymologisch gesehen die »Reiterin», oder auch direkt die »Stute».
Agesilaos, ein griechischer Autor der Spätzeit, erzählt eine in diesen Zusammenhang passende, kuriose Geschichte über die Geburt der Epona: »Phuluios Stellos, der die Frauen haßte, trieb's mit einer Stute: diese kam, als die Zeit um war, mit einem schönen Mädchen nieder und gab ihm den Namen Epona.»[4]
Deutlicher kann die Pferdeabstammung der Epona kaum dargestellt werden! Ein Detail überrascht dabei jedoch: nicht Phuluios Stellos gibt dem Mädchen seinen Namen, sondern die Stute persönlich, der griechische Originaltext läßt diesbezüglich keinen Zweifel zu. Es ist also anzunehmen, daß es sich um ein magisches oder göttliches Tier handelt, oder ganz einfach um eine Darstellung der Gottheit als Tier.
Diese griechische Anekdote über die Geburt der Epona läßt sich zu einem uralten Brauch der Galen in Beziehung setzen, einem Brauch in Zusammenhang mit der Erlangung der Königsherrschaft, welcher noch von Giraldus Cambrensis (Topographia, III, 25), einem lateinisch schreibenden Gallier des XIII. Jh.,erwähnt wird. Hier die Übersetzung der betreffenden Passage, deren Schauplatz Kenecunnil, eine Stadt in Nord-Ulster, ist:

»Das ganze Volk hat sich an diesem Ort versammelt. Man führt in die Mitte der Versammlung eine weiße Stute. Daraufhin nähert sich die ranghöchste Person (= der König) vor aller Augen der Stute, ganz wie das liebe Vieh und gar nicht wie ein Fürst, wie ein wildes Tier, und gar nicht wie ein König; wie ein gesetzund sittenloser Strolch, und mit so wenig Vorsicht wie Rücksicht verkehrt er mit der Stute wie von Tier zu Tier. Sobald er fertig ist, wird die Stute geschlachtet; man zerteilt sie und läßt sie in Wasser kochen. Aus dieser Brühe bereitet man dem König ein Bad. Er setzt sich in den Badezuber, man bringt ihm Stücke des Fleisches, er ißt und teilt die Speise mit dem Volk, das um ihn versammelt ist. Dann wird er mit der Brühe gewaschen; er trinkt von ihr, nicht mit einer Trinkschale oder mit seinen Händen schöpfend, sondern direkt mit seinen Lippen. Nach Beendigung des Rituals ist seine Herrschaft und Macht bestätigt und gesichert.»

Das hier zitierte Herrschaftsritual ist keineswegs ein Einzelfall, sondern ist in ähnlicher Form fast überall auf der Welt anzutreffen, wo das Asvamedha oder »Pferdeopfer» praktiziert wurde. Diese Zeremonie ging folgendermaßen vorsieh: zunächst wurde das Pferd mit Stoffdecken erwürgt; anschließend umkreisten die Gattinnen des Königs mehrmals den Kadaver. Dann legte sich die erste Gattin neben das Pferd auf den Boden; beide wurden mit einem Tuch bedeckt und die Frau führte sich den Penis des toten Pferdes ein. Obwohl es sich in Indien um die Kopulation zwischen einer Frau und einem Hengst und in Irland zwischen einem Mann und einer Stute handelt, ist das Ritual das gleiche: es handelt sich um eine Hierogamie, eine sakrale Hochzeit, wobei Hengst und Stute Gottheiten sind, die dem Herrscher die eigentliche, tatsächliche Macht bringen.
Denkt man an den hier beschriebenen Brauch, so erhält die Hochzeit zwischen Rhiannon und Pwyll ein ganz besonderes Gewicht. Kann es sich nicht auch hier um einen Fall von Hierogamie handeln? Der König Pwyll läßt sich von der Göttin Rhiannon seine Macht noch einmal bestätigen, die ihm bereits nach dem Willen des Volkes, d.h. von den Menschen, übertragen worden war. Durch seine Hochzeit mit der Reiterin des weißen Pferdes (eines Hengstes) wird er dergöttliche Erwählte und kann so sein Herrschaftsgebiet sichern »soweit das Auge reicht», wie es in der keltischen Definition der königlichen Macht heißt.
Rhiannon-Epona ist tatsächlich die göttliche Stute und verfügt über deren göttliche Macht: die hat sie aus dem Schattenreich unter den Hügeln mitgebracht, wohin sie die neue paternalistische Form der Gesellschaft verbannt hat. Aber die Gesellschaft verhält sich wie der Sohn, den man gewaltsam seiner Mutter entreißt: wie dieser hat sie Angst vor ihrer eigenen Verantwortung, sie möchte sie mit der teüen, deren Macht sie an sich gerissen hat, daher die Rückbesinnung auf Notre-Dame de la Nuit.
Dieser Mythos steht in der keltischen Sagentradition keineswegs vereinzelt da. Ob in Irland oder auf dem Kontinent, überall begegnen wir ihm in anderen Ausformungen und Varianten, in denen das Gesicht der Göttin immer deutlichere Züge gewinnt:

Die Geschichte der Macha (Irland):

Die Fee Macha tritt eines Tages bei dem braven Witwer Crunniuc ein und läßt sich bei ihm nieder. Daraufhin wächst der Wohlstand des Bauern von Tag zu Tag. Macha wird schwanger. Ihre Niederkunft steht in Kürze bevor, als Crunniuc sich zur Ratsversammlung der Ulates auf den Weg macht. Im Laufe der Versammlung schließt er eine verrückte Wette ab: er behauptet nämlich, seine Frau könne schneller rennen als die Pferde des Königs. Das erzürnt den König und erläßt die Frau zur Versammlung rufen. Sie verweist auf ihren Leibeszustand und bittet um Aufschub, doch der König zeigt sich unerbittlich: sie muß den Beweis antreten für das, was Crunniuc von ihr behauptet. Da sagt Macha: »Möge es denn geschehen, wie ihr verlangt, aber wegen des Schmerzes, den ihr mir verursacht, sollt ihr einen noch weit schlimmeren erleiden.» Das Rennen beginnt. Macha erreicht als Erste das Ziel, kommt jedoch vor den Köpfen der Pferde mit Zwillingen nieder. An dieser Stelle entsteht später die Stadt, die zur Hauptstadt von Ulster werden und Emain Macha heißen wird, was »die Zwillinge der Macha» bedeutet. Aufgrund des Fluchs der Machahaben die männlichen Ulates mindestens einmal in ihrem Leben die Schmerzen einer Geburt zu erleiden.[7]

Die Geschichte von Taliesin (Wales):

Am Hofe des Königs Maelgwn Gwynnedd hat sein Neffe Elffin behauptet, seine Frau wäre ebenso tugendhaft wie die Gemahlin des Königs, und sein Barde wäre geschickter als die Barden des Königs. Der junge Barde Taliesin beweist, was behauptet wurde und verlangt daraufhin von Elffin, er solle nun die Behauptung aufstellen, er habe ein Pferd, das schneller ist als die Pferde des Königs. Die Wette wird eingegangen. Taliesin bewirkt, daß Elffins Pferd gewinnt und entdeckt an der Stelle, wo das Pferd einen Fehltritt getan hatte, einen Schatz.

In beiden Sagen kommt ein Wettrennen vor: das erste gewinnt Macha, das zweite ein Pferd, welches der Dichter als Substitut an die Stelle der Frau gesetzt hat. Es ist nämlich nicht unwahrscheinlich, daß es in der Taliesin-Sage ursprünglich ebenfalls eine Frau war, die nach der leichtsinnigen Wette von Elffin zum Wettrennen gegen die Pferde des Königs Maelgwn Gwynedd antreten mußte. Beide Geschichten sind nach dem gleichen Schema konstruiert; nur ist die von Taliesin wesentlich jünger: denn einerseits wurde das Symbolverhältnis Frau - Stute nicht mehr verstanden, andererseits erschien es dem jüngeren Dichter >vernünftiger<, ein Pferd gegen andere Pferde rennen zu lassen. Dennoch bleibt die Analogie erstaunlich: Macha ist deutlich die weiße Stute, von der Giraldus Cambrensis spricht, deutlich ist sie die Reiterin des weißen Pferdes der MabinogionGeschichte und verkörpert einen Aspekt der Epona, die wir weiterhin als Notre Dame de la Nuit bezeichnen wollen.

Die Geschichte der Dechtire (Irland):

Dechtire begleitet einmal ihren Bruder Conchobar, den König von Ulster, auf der Jagd nach den Raubvögeln des Feenlandes. Eines Abends gelangen sie in ein Haus, wo Dechtire der Frau des Hausherrn bei einer Geburt beisteht. Diese bringt einen Sohn zur Welt, und im selben Augenblick wirft die Stute zwei Fohlen, die man dem Kind als Spielkameraden gibt. Am folgenden Morgen sind das Haus, der Hausherr und seine Gemahlin plötzlich verschwunden. Nur das Kind ist noch da. Es wird Dechtire zur Aufzucht anvertraut. Aber das Kind stirbt. Dechtire ist erschüttert. Nach der Beerdigung des Kindes trinkt sie etwas, dabei springt ihr aus dem Trinkgefäß ein kleines Tier in die Kehle, und sie verschluckt es. Sie wird schwanger, man verheiratet sie in aller Eile an einen gewissen Sualtam. Aber Dechtire schämt sich und treibt heimlich ab, bevor sie mit ihrem Mann die Ehe vollzieht. Bald wird sie ein zweites Mal schwanger und schenkt einem Sohn das Leben. Er wird Setanta genannt und wird erst später den Namen Cuchulainn erhalten.[9]

Dieser Text enthält zahlreiche Archaismen und verweist auf den einstigen Kampf der Galen gegen die Tuatha De Danann (die durch Feenwesen repräsentiert werden, welche in Gestalt von wilden Vögeln Ulster heimsuchen und verwüsten). Der Text ist recht schwer verständlich und offensichtlich verstümmelt. Man ahnt zwischen den Zeilen eine inzestuöse Liaison zwischen Dechtire und ihrem Bruder Conchobar. Von dieser Verbindung ist in einer zweiten Version der Sage ebenfalls die Rede, wobei aber mit keinem Wort mehr die Stute erwähnt wird, die zwei Fohlen wirft: dafür ist aber dann aus Dechtire eine Vogel-Frau geworden. Auf jeden Fall ist das Element der Fohlen und der Stute, wenn sich daraus auch nicht besonders scharfe Schlüsse ziehen lassen, ein Verweis auf den gleichen Mythos, der auch der Sage von Rhiannon und Macha zugrunde liegt, und die Anspielung auf diesen Mythos ist in einem Text wie Die Geburt des Cuchulainn besonders signifikant: der große Held der Ulates wäre nämlich dann von göttlicher Abstammung. In beiden Versionen der Sage ist von einer angeblichen Intervention des Gottes Lug die Rede, jedoch scheint das Motiv dieses göttlichen Eingreifens ein späterer Zusatz zu sein; es ist weit wahrscheinlicher, daß es sich in der ältesten Überlieferung, die in der ersten Version noch durchschimmert, um eine Stuten-Gottheit gehandelt hat, die aufgrund ihrer göttlichen Natur die Macht auf Conchobar übertrug, d.h. auf den rituellen Gatten der Dechtire in der Funktion der femme mysterieuse, der rätselhaften Frau.

Koadalan (Bretagne):

Der junge Koadalan verläßt seine Eltern, als diese keine Mittel mehr haben, um ihn noch weiter zu ernähren, und macht sich auf die Suche nach dem Glück.
Er begegnet einem edlen Herrn, der ihn auf sein Schloß mitnimmt und ihm die Wache darüber anvertraut, während er selbst auf Reisen ist. Alle seine Wünsche und Bedürfnisse soll Koadalan einem magischen Tuch anvertrauen, er soll sich davor hüten, zwei bestimmte Kammern zu betreten, und habe die Aufgabe, einem Fohlen soviel Klee und Hafer zu füttern, wie es verlangt, eine hungrige Stute aber mit Ruten zu prügeln, sooft sie Hunger hätte. Der Burgherr bricht zur Reise auf, und Koadalan fragt sich ernsthaft, ob er sich nicht im Schloß des Teufels befinde. Das magische Tuch schafft ihm alles herbei, was sein Herz begehrt. Er füttert das Fohlen und peitscht die Stute. Diese beginnt zu jammern und spricht ihn an: sie sagt, sie heiße Therese und sei nicht immer eine Stute gewesen. Sie verrät Koadalan die Mittel, wie er die Geheimnisse des Schloßherrn lüften, und wie man von dem Schloß entfliehen könne. Koadalan gehorcht ihren Anweisungen, und sie fliehen zusammen, Koadalan auf dem Rücken von Therese. Alle Versuche des Schloßherrn, sie wieder einzufangen, wehren sie erfolgreich ab, setzen mit knapper Not über einen Fluß und befinden sich schließlich außerhalb seines Machtbereiches, sodaß er ihnen nichts mehr anhaben kann. Da bittet Therese Koadalan, sie zu schlachten und ihr den Bauch zu öffnen. Er tut, wie sie ihm geheißen, ein wunderschönes junges Mädchen kommt heraus und verkündet ihm, daß ihm ein begnadetes Schicksal beschieden sei: er werde die Königin von Spanien heiraten, und sie selbst werde ihm stets zur Seite stehen, wenn er in Gefahr geraten sollte. Nach diesen Worten verschwindet Therese.[10]

Das in unserem Zusammenhang Interessante an dieser Sage ist, daß man hier - wenn auch in recht folkloristischer Aufmachung — die Figur der Rhiannon/ Epona nicht so sehr als diabolisches Wesen, sondern ganz im Gegenteil als Opfer und Feindin eines teuflischen Wesens dargestellt findet. Bereits im Zusammenhang mit der Princesse Engloutie konnten wir feststellen, daß in der verzerrenden Phantasievorstellung aus dieser Prinzessin oft ein unheilbringendes, >böses< Wesen wurde, und daß ferner das Pferd im Volksglauben gelegentlich als eine der Gestalten des Teufels galt. Hier dagegen ist die Stute ein glücksbringendes, >gutes< Wesen: sie fungiert als Schutzengel für den jungen Koadalan. Koadalan wird zum Anhänger, Verehrer der Göttin, und diese kann dem, der ihren sakralen Charakter und ihre Macht anerkannt hat, ihre Hilfe nicht verwehren. Noch dazu wird Koadalan in das diabolische Wissen des mysteriösen Schloßherrn eingeweiht und verwandelt dessen Schwarze Magie in Weiße Magie. Er nimmt eine Umwertung der Werte vor, und wenn man die Weiße Stute als die Göttin auffaßt (mit allem, was dies an weiblichen Elementen und gynäkokratischen Sozialstrukturen umfaßt), so kann man sagen, daß Koadalan sie wieder in ihre angestammten Rechte und Privilegien einsetzt, während sie bis dahin die Gefangene eines >bösen' Wesens war, welches die paternalistische Gesellschaft repräsentiert. In Freudscher Optik ist Koadalan der junge Sohn, der sich gegen seinen Vater auflehnt; nur hat Freud dabei seinen Gedanken nicht konsequent zu Ende gedacht: denn nicht nur, um sich in den Besitz der Privilegien des Vaters zu bringen, revoltiert der Sohn mit der Mutter als Komplizin, sondern auch deshalb, weil er der Mutter wieder zu ihren einstigen Privilegien verhelfen will. Daß eine Sage wie die von Koadalan,ausgerechnet im XIX. lahrhundert erzählt wurde, in einer Epoche, wo das Patriarchat seinen Höhepunkt erreichte, ist erstaunlich: aus ihr spricht ein gewisser im Volkstum unbewußt vorhandener Wille zur Umwertung der Werte und zum Sturz der tyrannischen Macht des Vaters (der als Usurpator dargestellt wird und die Stute, d.h. die Göttin gefangen hält), mit einem Wort: die (unbewußte) Sehnsucht nach einer Rückkehr zu den Quellen, — und die Quellen können nur im Universum der Mutter liegen, der Spenderin von Reichtum, Wohlergehen und authentischem Leben. Die Tatsache, daß das Fohlen reichlich gefüttert, daß aber die Stute geschlagen werden soll, zeugt von der Verachtung, die der Herr des magischen Schlosses gegenüber der Mutter und damit gegenüber dem weiblichen Geschlecht ganz allgemein empfindet. Wir haben also in der Koadalan-Geschichte den Versuch vorliegen, der Herrschaft des Vaters zu entkommen und die Prinzessin des Meeresgrundes wiederzufinden, die Notre-Dame der Nacht neu zu entdecken, die auf die Stufe einer Sklavin herabgesunken ist, aber in der Vorstellung des jungen Sohnes nichts von ihrem Prestige eingebüßt hat.
Die Erinnerung an Rhiannon/Epona findet man auch noch in einem anderen Volksmärchen, das aus den Vogesen stammt, aus jenen Bergen, die zwar auf germanischem Boden liegen, aber noch heute den Namen einer alten gallischen Gottheit tragen:

Die Prinzessin von Anfondrasse (Vogesen):

Die Prinzessin von Anfondrasse weigert sich, einen alten König zu heiraten, solange sie nicht ihren in der Luft verlorenen Schal und ihr im Meer verlorenes Diamantencollier wiedergefunden hat. Ein junger Mann namens Prudent(=>Klug<) rühmt sich, die verlorenen Gegenstände wiederfinden zu können, und wird beauftragt, sie zu suchen. Mit Hilfe seiner amie, der Stute, und mit Hilfe des Königs der Fische gelingt es ihm tatsächlich. Aber die Prinzessin verliebt sich daraufhin in Prudent, den >Klugen<, und willigt immer noch nicht in die Hochzeit mit besagtem König ein. Höchst erzürnt darüber befiehlt dieser, einen Ofen 24 Stunden lang vorzuglühen und anschließend Prudent darin zu verheizen. Da rät die Stute dem Prudent, ihr eine Vene in der rechten Hinterhand zu öffnen und sich seinen ganzen Körper mit ihrem Blut zu waschen. Auf diese Weise kann Prudent ohne irgendeinen Schaden drei Tage und drei Nächte lang in diesem Ofen ausharren. Das macht den König immer rasender und die Prinzessin immer verliebter. Prudent stürzt auf die Stute zu und entdeckt, daß sie auf einmal ein wunderschönes junges Mädchen geworden ist. Vor die Wahl gestellt, sich zwischen der Prinzessin und der Ex-Stute zu entscheiden, fällt seine Wahl auf die einstige Stute.[11]

Es besteht kein Zweifel, daß diese Sage keltischen Ursprungs ist: ein Detail beweist es besonders deutlich, nämlich das des glühenden Ofens, in dem der Held verheizt werden soll. Es ist die Reminiszenz eines archaischen Rituals, wovon wir zwar keine genauen Einzelheiten kennen, aber zumindest wissen, daß es mit der Samain-Nacht in Zusammenhang stand: im allgemeinen wird dabei ein König in einem bis zur Weißglut erhitzten Eisen-Haus geopfert.[12] Darüberhinaus ist auch das Rhiannon-Thema mit der Rückkehr zur Mutter im Hintergrund deutlich zu erkennen. Denn um Prudent das Leben zu retten, bedeckt die Stute ihn mit ihrem eigenen Blut, mit anderen Worten, sie schützt ihren Sohn (Prudent) mit ihrer Gebärmutter: sie nährt ihn und schützt ihn durch ihr Blut gegen die Austrocknung (= die Katastrophe der Geburt), die durch den glühenden Ofen symbolisiert wird. Hier haben wir eine perfekte Illustration der von Ferenczi in Thalassa aufgestellten Theorien über die Analogie zwischen der phylogenetischen Katastrophe der Geburt des Individuums und jener ontogenetischen Katastrophe, die vor Jahrmillionen die Lebensformen erschütterte: die Austrocknung des Urmeeres und die Notwendigkeit einer Anpassung an ein neues Leben auf dem Trockenen, was in den verschiedenen Kosmogonie-Traditionen durch die Sintflut oder den Weltenbrand (den Phaeton-Mythos) symbolisiert wird. Auf gesellschaftlicher Ebene handelt es sich wieder um die Revolte des jungen Sohnes gegen den alten König (seinen Vater) mit der aktiven Unterstützung einerseits der Stute (als Substitut der Mutter), und andererseits — was besonders bezeichnend ist — mit der Hilfe des »Königs der Fische»: beide sind treue Verfechter der gynäkokratischen Ordnung, denn der Fisch symbolisiert die Rückkehr zur Mutter. Auch der Schluß dieses Märchens, die Entscheidung für die ehemalige Stute, deutet unbestreitbar diese Rückkehr zur Mutter an, was mancher natürlich sofort als Regression, als Rückschritt betrachten wird: zweifellos ist es eine Regression, aber niemand dürfte a priori sagen können, in welcher Richtung sich die Menschheit zu bewegen hat und bewegt.
Bis hierher begegneten wir der Notre-Dame de la Nuit in der Gestalt einer Stute, oder zumindest in enger Beziehung zum Pferd, also semantisch mit Elementen der Pferdesymbolik besetzt. Wir haben uns aber im Zusammenhang mit den Kelten unbedingt von jeder Idee des Totemismus frei zu machen, da der Totemismus sich bei den meisten Stämmen nur auf eine Klassifizierung nach Bezeichnungen beschränkt, die von Tiernamen oder von Baumnamen entlehnt sind. Wie bei den anderen Indoeuropäern hat auch bei den Kelten das Tier nur in geringem Maß eine symbolische Bedeutung, und die wenigen Anzeichen und Spuren von Totemismus, die gefunden wurden, gehen auf eine voreuropäische Zeit zurück und stammen von Traditionen, die auch noch nach der Kelteneinwanderung ihre ursprüngliche Eigenart bewahrt hatten. Dabei soll natürlich unbestritten bleiben, daß das Pferd in der religiösen Symbolik der Kelten besonders häufig verwendet wurde, auch in der Ikonographie und sogar in der dekorativen Kunst, was ja nichts Ungewöhnliches sein dürfte bei einem Volk, das seit jeher Pferdezucht betrieben hat, und dessen Reiterei sogar noch zur Zeit Cäsars sowohl bei den Bretonen als auch bei den Galliern eine überaus effektive Spezialwaffe war. Die gallische und bretonische Münzkunst hat uns davon aufschlußreiche Zeugnisse hinterlassen: man denke nur an die Münzen der Redoni, Veneti, Duriosolites, Osismii und Baiocassi; alle verherrlichen das Pferd und erheben es zu einem phantastischen Tierwesen, das gelegentlich von einem geisterhaften Wagenlenker geführt wird, gelegentlich selbst einen Vogel- oder Menschenkopf hat, — ein untrügliches Indiz für der hohen Stellenwert, den bei diesen Völkern eine solche Darstellung hatte.
Es wäre indes ein Irrtum zu glauben, daß die Göttin ausschließlich in Gestalt einer Stute dargestellt wurde. Auch die anderen Tiere hatten eine besondere Signifikation. In der gallo-römischen Bildplastik fällt auch eine Bärengöttin auf, die im Museum von Bern aufbewahrt wird (einer Stadt, deren Name germanischen Ursprungs ist und deren Stadtwappen noch an dieses Tier, den Bären, erinnert). Die Göttin, es ist Artio — ihr Name ist von dem gallischen Wort für »Bär» abgeleitet — sitzt in dieser Darstellung vor einem großen Bären an einem Baum mit kurzen Ästen und hat neben sich auf einer kleinen »Säule» einen Korb voller Früchte. Man hat sich gefragt, ob es sich bei dieser Gottheit um eine Beschützerin der Bärenjäger handelt oder um die Beschützerin der Bären selbst. So ist die Frage falsch gestellt, denn die Gottheiten haben, wie die Schutzheiligen, Schutzpatrone und Nothelfer des Christentums ursprünglich »etwas bedeutet», waren »Signifiants». Übrigens ist die Tatsache, daß die Göttin Artio neben einem Früchtekorb sitzt, und daß der Bär, wie es scheint, von gleichem Symbolrang ist wie sie, ein Hinweis darauf, daß es sich eher um eine Göttin des Überflusses, d.h. um die göttliche Mutter allen Lebens und aller Nahrung handelt. Wir haben es also wieder mit Notre-Dame de la Nuit zu tun.
Tatsächlich kommt die Göttin mit dem Bären in der Sagen-Literatur der Kelten ebenso selten vor wie in ihrer Ikonographie.[14] Es ist wahrscheinlich, daß sie bereits sehr früh durch einen »Bären-Gott» ersetzt wurde. Man beachte besonders gewisse Götter-Beinamen, wie den gelegentlich »Artaios» genannten Merkur. Besondere Aufmerksamkeit verdient eine berühmte, wenn auch spät entstandene Mythen- und Sagengestalt, nämlich König Artus/Arthur, der einen unvergleichlich hohen Stellenwert in der gesamten höfischen Literatur des europäischen Mittelalters hatte. Der Name Artus/Arthur stammt möglicherweise entweder von der indoeuropäischen Wurzel ar- (mit der Bedeutung >ar-(-beiten<) ab oder von einem gallischen Wort, welches »Bär» bedeutet, das auch, wie bereits erwähnt, im Namen der Göttin Artio (breton.: Arz) enthalten ist. Als Erklärung des Namens Artus hat man auch einen römischen Ursprung vorgeschlagen, dessen Urform demnach Arctus oder Arcturus gelautet haben müßte. Arctus bedeutet wiederum >kleine< oder >große Bärin<, und Arcturus (Arktur) ist der Name des hellsten Sternes im Sternbild des Bootes (in der Nähe des »Großen Bären»). Alle diese Deutungsversuche führen uns immer wieder zu einer Wurzel mit der Bedeutung »Bär». Da nun der König Artus/Arthur unserer Sage nach ein gehörnter und ständig zum lächerlichen Hahnrei gemachter Monarch ist, und da nach keltischer Auffassung die eigentliche, die wirkliche Herrschaft von seiner Gemahlin Guenievre repräsentiert wird (in den walisischen Texten heißt sie Gwenhwyfar = »weißes Fantom»), und da Guenievre ihm ziemlich oft geraubt wird (von Lancelot du Lac, dem permanenten Liebhaber der Königin, hin und wieder aber auch von Meleagant, dem König der Autre Monde, oder von Mordred, dem Sohn und Neffen des Königs), erhebt sich die berechtigte Frage, ob Artus nicht eine späte und paternalistische Transkription der Idee einer alten weiblichen Gottheit ist, die mit einem Bären in Beziehung stand, oder sogar direkt die Transkription einer Bären-Göttin.
Jedenfalls ist die Gestalt des Königs Artus auffällig konturlos und nicht leicht zu deuten. Zahlreiche Interpolationen und Mischungen mit anderen Figuren haben ihn mit der Zeit immer komplexer werden lassen und verfremdet. Halten wir einfach fest, daß es einmal eine Bären-Göttin gegeben haben muß, und daß sich ihre Züge in der Erinnerung der Kelten immer mehr verwischt haben und daß neue, unschärfere Vorstellungen von Gottheiten an ihre Stelle getreten sind.

2. Bei den Schweinen

Mit dem Thema des Wildschweins treffen wir auf einen Aspekt der Notre-Dame der Nacht, der bislang von den Mythologen niemals richtig verstanden worden ist. Das Wildschwein kommt in der gallo-römischen und sogar in der rein gallischen Bildplastik überaus häufig vor. Die verschiedensten gallischen Münzen enthalten Abbildungen von Wildschweinen. Häufig sind sogar die Embleme der Krieger 114 Wildschweine. Es gibt Inschriften 2u Ehren eines Mercur mit dem Beinamen Moccus, in dem wir auf das gallische Wort für »Wildsau» oder »Schwein» (breton.: Moc'h) stoßen. Insbesondere gibt es eine Statuette der Göttin Arduinna, deren Name unweigerlich an die Ardennen erinnert, wo sie übrigens auch gefunden wurde: Sie stellt eine Frau mit den Zügen der Jagdgöttin Diana dar und reitet auf einem Wildschwein. Auf den ersten Blick scheint der Name Arduinna mit^4rtos, dem Bären, in Zusammenhang zu stehen, aber die Art der Darstellung läßt keinerlei Zweifel aufkommen. Interessant ist daran, daß die Göttin mit Merkmalen der Diana ausgestattet ist, die — wie wir noch sehen werden — die alte Muttergöttin der Indoeuropäer ist. Wenn man nun die Darstellungen der Epona, auf dem Pferd sitzend und mehr oder weniger direkt mit einer Stute assimiliert, mit diesem Bild der Arduinna vergleicht, so hat man allen Grund, daraus zu schließen, daß diese Göttin mit dem Wildschwein auch eine Wildschwein-Göttin, oder genauer gesagt: eine göttliche Bache, d.h. Muttersau gewesen sein muß. Alte, wenn nicht gar prähistorische Traditionen, deren Echo noch in den walisischen Texten anklingt, können uns dies bestätigen:

Die Geburt des Kulhwch (Wales:)

»Kilydd, Sohn des Fürsten Kelyddon, sehnte sich nach einem Weibe, um mit ihr das Leben zu teilen. Seine Wahl fiel auf Goleuddydd ('Glänzender Tag'), Tochter des Fürsten Anllawd. Sobald sie unter ein und demselben Dache vereint waren, begann das ganze Land zu beten, ihnen möge ein Erbe beschieden sein, und so wurde durch die Kraft der Gebete ihnen ein Sohn geboren. Die Mutter wurde aber von der Stunde der Empfängnis an schwachsinnig und floh jede menschliche Behausung. Als die Zeit ihrer Niederkunft näherrückte, kehrten ihr die Sinne wieder zurück. Als sie an einen Ort kam, wo ein Sauhirte eine Herde Säue hütete, erschrak sie beim Anblick dieser Tiere so sehr, daß sie auf der Stelle niederkam. Der Sauhirt nahm das Kind an sich und brachte es an den Hof. Dort wurde es getauft und erhielt den Namen Kulhwch, da man es in der Suhle einer Sau gefunden hatte.»[15]

Der Name Kulhwch soll, nach dem Verfasser des Mabinogion-Textes, aus folgenden Partikeln bestehen: erstens aus Cul (sprich KU; = >eng<) oder Cil (ebenfalls als KU auszusprechen: = >Versteck<, >Zufluchtsort<, >Winkel<, was mit dem gälischen Wort CHI, Kirche, zusammenhängt (vgl. Kildare, die >Kirche der Eichen<, ursprünglich in der Bedeutung von >Eichen-Versteck<), — und zweitens aus Hwch, was >Schwein< bedeutet (jedoch nur im Neuwalisischen im Sinn von >Muttersau<; Houc'h im Bretonischen). J. Loth ist der Auffassung, daß es sich hier um eine Fantasie-Etymologie handelt, wie man sie in analoger Form in allen Texten des Mittelalters findet, in den französischen und englischen Texten ebenso wie in den irischen oder walisischen. So vorschnell darf jedoch nicht geurteilt werden, denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß der anonyme Dichter dieses Textes, der der erste der Artus-Erzählung ist und von dem manche Passagen bis in das IX., wenn nicht sogar bis in das VII. Jahrhundert zurückgehen, hier eine völlig authentische Überlieferung wiedergibt.
   Natürlich ist diese Geschichte von Kulhwchs Geburt und der Frau, die >Glänzender Tag< heißt und den Verstand verliert, die fern von jedem menschlichen Kontakt in der Nachbarschaft von Schweinen lebt und im Augenblick der Niederkunft wieder zu Verstand kommt, höchst sonderbar. In dem letztgenannten Punkt ist der Text jedoch unmißverständlich: Es wird klar gesagt, daß sie deshalb plötzlich in der Suhle einer Sau niederkommt, weil sie wieder zur Vernunft gekommen ist und entdeckt, daß sie sich unter Schweinen befindet. So ist diese Frau also die Mutter-Göttin in Gestalt der Bache, sie ist die Mutter(Sau) Göttin und Kulhwch das Ferkel, das sie in ihrem Schweine->Schlupf-Winkel<, mit anderen Worten: in ihrer Gebärmutter getragen hat. Die ganze Geschichte steht in Analogie zu der von Rhiannon, deren Sohn in einem Pferdestall im gleichen Augenblick gefunden wird, wo die Stute gerade ein Fohlen geworfen hat: sie steht ebenfalls in Analogie zu der Geschichte von Dechtire und von Macha. Außerdem lassen sich auch deutliche Bezüge zu der gälischen Legende um den Helden Diarmaid aus dem Leinster- (bzw. Finn-) Zyklus herstellen, der in Irland ebnso weit verbreitet ist wie in Schottland:

Die Geschichte von Diarmaid (Irland/Schottland):

Diarmaid wächst am Hofe des Feenkönigs Oengus auf, der Sohn des Seneschalls von Oengus ist dort sein Milchbruder. Als eines Tages Diarmaids Vater bei Oengus erscheint, um seinen Sohn zu besuchen, tötet er aus Versehen den Sohn des Seneschalls und ist gezwungen, diesem eine Kompensation zu geben. Nach einem Schiedsurteil des Finn verwandelt der Seneschall seinen toten Sohn in ein Wildschwein ohne Borsten, Ohren und Ringelschwanz und spricht folgende Worte: >Hiermit unterwerfe ich dich der magischen Verpflichtung, Diarmaids Tod herbeizuführen; und dein Leben wird das Seine nicht um einen Tag überdauern.< Der Eber erhebt sich und verschwindet. Er wird den Namen >Eber des Ben Culbainn< erhalten.[16]

In dieser eigenartigen Geschichte ist nicht von einer Frau die Rede, man kann aber davon ausgehen, daß die Gemahlin des Seneschalls mit einer Muttersau in Zusammenhang stehen muß.
Diarmaids Schicksal ist also fortan an das des >Ebers von Ben Culbainn< geknüpft: Dieser ist sein Double, seine magische Projektion. In gewisser Hinsicht ist Diarmaid das junge Wildschwein, der Frischling, und wenn die Geschichte in der uns überlieferten Form auch verstümmelt und >korrigiert' ist, so enthält sie doch wichtige Elemente des Mythos: Eine unbekannte Frau, die in einem Bezug zu der Muttersau steht, bringt einen Sohn zur Welt, der seinerseits mit einem Wildschwein assimiliert wird. Das männliche wie das weibliche Schwein bzw. Wildschwein spielte bei den Kelten eine bedeutende Rolle. Zunächst einmal im täglichen Leben, denn die Kelten waren große Jäger und begeisterte Spezialisten im Fang von Wildschweinen, einer Wildart, die in den Wäldern Galliens, Britanniens und Irlands besonders stark verbreitet war. Ferner züchteten die Kelten große Herden von Schweinen, und das Amt des Schweinehirten ist eines der wichtigsten innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie. Den walisischen Mabinogion-Zweigen zufolge waren die bedeutendsten Schweinehirten Pryderi und Tristan. Eine gälische Erzählung mit dem Titel Die beiden Sauhirten[17] beschreibt die magischen Heldentaten der zwei Schweinehirten von Munster und Connaught. Ferner gilt das Schwein in der Mythologie als ein Tier, das magische Kräfte hat. Als die Tuatha De Danann von den Galen besiegt und unter die Hügel und auf die Inseln verbannt worden waren,  wurden sie auf einer Art Unsterblichkeitsbankett von den Schweinen von Mananann ernährt.[18] Den walisischen Mabinogion zufolge soll es in Syved sieben Wunderschweine gegeben haben. Das waren Schweine, die von Pwyll Penn Anwfn aus der Autre Monde mitgebracht und dem Pen daran, dem Ziehvatervon Pryderi, übergeben worden waren. Nach dem Mabinogi von Math dagegen sollen sie von Arawn, dem König der Autre Monde, an Pryderi geschickt worden sein. »Es sind kleine Wildtiere, deren Fleisch aber schmackhafter als das der Rinder ist. Sie sind klein von Gestalt. Sie sind dabei, einen anderen Namen zu erhalten. Jetzt nennt man sie Moch»[19] Dies ist eine deutliche Erinnerung an die Zeit der Einführung des Schweins als Haustier auf der Britischen Insel.
Das Bild von der Mutter(Sau)-Göttin scheint sich lange in der Erinnerung der Menschen erhalten zu haben, da man es noch in den Romanen der Tafelrunde wiederfindet. So liefert eine französische, im XIII. Jahrhundert entstandene Dichtung, die dem Artus-Zyklus angehört, eine kuriose Anekdote zum Mythos des Weißen Schweins:

Das Weiße Schwein (höfische Artusepik):

Guingamor, ein bretonischer Ritter, ist der Neffe des Königs. Die Königin verliebt sich in ihn. Doch er verschmäht sie. Um sich zu rächen, bestimmt sie Gingamor dazu, das Weiße Wildschwein zu jagen, das im Wald umgeht und noch von niemandem erlegt werden konnte, - im Gegenteil: Alle, die sich bis dahin auf die Jagd nach ihm begeben haben, kehrten nie mehr zurück. Bei seiner Verfolgung des Wildschweins verirrt sich Guingamor und überrascht plötzlich eine wunderliche Jungfrau beim Bade. Sie fordert ihn auf, ihr nahe zu treten und gewährt ihm ihre Liebe. Guingamor jedoch möchte bald an den Hof seines Onkels zurückkehren, mit dem Kopf des Weißen Schweins als Beute. Seine rätselhafte Amie gewährt ihm Abschied, eröffnet ihm aber gleichzeitig, daß seit seinem Aufbruch zur Jagd bereits dreihundert Jahre vergangen sind und ihn bei Hofe niemand mehr kennen wird. Trotzdem will ei sich auf den Weg machen. Da rät ihm die Fee des Weißen Schweines, nicht zu trinken und nicht zu essen, solange er sich außerhalb ihres Reiches befinde. Unterwegs erzählt er seine Geschichte einem greisen Köhler und ißt — den Rat der Fee mißachtend — eine Frucht, worauf er tot umfällt. Da erscheinen die Dienerinnen seiner Amie und holen ihn heim in ihr wunderliches Königreich.[20]

Die Königin des Wunderreiches hatte gewissermaßen unter dem Aspekt des Weißen Schweines den Helden angelockt. Sobald er sich aber in der Grenzzone zwischen den beiden Welten befand, brauchte sie den Akt der Verführung nur noch unter ihrem weiblichen Aspekt zu vollenden. Sie unterscheidet sich somit nur wenig von Goleuddydd, der Mutter(sau)-Göttin. Im Unterschied zu dieser ist sie aber die begehrenswerte, anziehende Lichtgestalt. Es kommt jedoch auch vor, daß sie sich in stark abstoßender Gestalt präsentiert. Häufig zitiert wird die walisische Sage von dem alles verwüstenden wilden Schwein, einem gefährlichen Untier der Nacht, bei dessen Jagd man Leib und Leben riskiert. Man hat dabei nicht erkannt, daß es sich in Wirklichkeit um ein weibliches Schwein handelte und somit wiederum um das Bild der Notre-Dame der Nacht. Hier die beiden Versionen dieser Sage:

Die Geschichte von Twrch Trwyth (Wales):

Damit Olwen einwilligt, ihn zu heiraten, muß Kulhwch sich in den Besitz eines Kammes bringen, der auf dem Kopf des Wildschweines Twrch Trwyth steckt. Damit die Jagd gelingt, ist ihm die Hilfe von König Artus und seinen Rittern zugesagt worden. Einer von diesen, der Ritter Gwrhyr, der sich in der Magie auskennt, verwandelt sich in einen Vogel und fliegt »über die Suhle, in welcher Twrch Trwyth mit ihren sieben Ferkeln saß»; er trägt die Bitte vor, eines von ihnen möge zu einer Unterredung mit zu König Artus kommen. Eines der Ferkel antwortet: »Wir werden nicht mit Artus sprechen. Schon ehe ihr kamt und gegen uns kämpftet, hat Gott uns bereits genug durch unsere jetzige Gestalt gestraft.» Artus gibt das Signal zur Jagd. Doch Twrch Trwyth verwüstet Dyved und ganz Wales. Nachdem alle Ferkel getötet worden sind und das Schwein selbst eine große Zahl der Ritter und Könige getötet hat, bricht es in Kernyw (Cornwall) ein, wo es seine Verwüstungen fortsetzt. Schließlich gelingt es aber Artus, ihm den Kamm zu entreißen. »Dann trieb man das Schwein aus Kernyw fort, geradewegs zum Meer hinab. Niemand hat jemals erfahren, was seitdem aus ihm geworden ist.»[21]

Die Geschichte von Henwen (Wales):

»Eine der Sauen des Koll, die Henwen (= >Die weiße Alte<) war trächtig. Nun war prophezeit worden, daß der Britischen Insel großes Leid von ihrem Wurf widerfahren würde. Daher rief Artus Britanniens Heere zusammen und trachtete danach, das Tier zu töten. Die Sau machte sich aus dem Staube und brach in Kernyw ein. Dort stürzte sie sich auf der Flucht vor dem Obersauhirten zum Meer hinab. In Maes Gwenith (= >Weizenfeld'), in Gwent, gebar sie ein Weizenkorn und eine Biene; seit dieser Zeit fand man nirgends einen besseren Boden für Weizenanbau und Bienenzucht als in Maes Gwenith. In Llonyon, in Penvro (Pembroke), gebar sie ein Gerstenkorn und ein Weizenkorn: auch die Güte der Gerste von Llonyon wurde zum Sprichwort. In Riw-Gyverthwch, in Arvon, gebar sie unter dem Maen Du (=»Schwarzer Stein») eine Katze. Aber der Obersauhirte warf sie vom Felsen herab ins Meer. Doch die Jungen von Palu retteten ihr später zu ihrem eigenen Schaden das Leben.»[22]

Die Schweine-Göttin erscheint hier unter einem negativen, bösen Aspekt:[23] Das Schwein Twrch Trwyth verwüstet alles, was ihm in den Weg kommt, und tötet die Menschen, wo immer es ihnen begegnet. Alles, was Henwen zur Welt bringt, wird für die Britische Insel zur Plage werden. Und doch fällt dabei auf, daß das Tier stets mit dem Bild der Fruchtbarkeit und des Überflusses verbunden ist: Henwen gebiert ein Weizenkorn, ein Gerstenkorn und eine Biene, und es wird betont, daß daraus bester Weizen, beste Gerste und eine hervorragende Bienenart erwächst. Daneben bringt Henwen jedoch auch noch einen Wolf, einen Adler und die genannte Katze Palu auf die Welt, auf die wir noch eingehen werden. Die Mutter(sau)-Göttin hat also — wie die Mütter der antiken Götter im Mittelmeerraum oder in Indien — sowohl einen >guten' als auch einen >bösen' Aspekt. Oder ist sie etwa nicht die indische Göttin Kali, »die Schwarze Kali, die sich mit den Köpfen und Händen ihrer friedfertigen Opfer, die kein Blut sehen konnten, schmückte und den Leichnam ihres Herrn mit Füssen trat...»[24] , — Kali, »diese Mutter Indiens, das schöne und schreckliche, milde und mörderische Bild, durch das das ewige Indien all das, was die Welt zerstört und erschafft, das ewige Fressen und Gefressen-Werden, in seiner Totalität symbolisiert.»[25] Angesichts all der von Twrch Trwyth getöteten Menschen liegt die Vermutung nahe, daß es sich hier um eine Art Blutritual handelt, wie es bei den Anhängern des Kaü-Kults Brauch war. Kali lebt vom Blut, Kali braucht Opfer, tierische und menschliche, sie ist die unersättliche Verschlingerin, ganz wie das Mutterschwein, das gelegentlich seine eigenen Ferkel nach der Geburt auffrißt. Hier liegt die Erklärung für die scheinbar schreckliche Grausamkeit verschiedener, der Muttergöttin dargebrachter Kulte, die das ganze Altertum hindurch in Indien und im Mittelmeerraum gepflegt wurden. Bei den Khonden in Südindien wurden noch bis 1835 Menschen zur Opferung vorbereitet (man bezeichnete ein solches Opfer als Meriah), und diese Vorbereitungszeit konnte zehn bis zwölf Jahre dauern. Unmittelbar nach der Konsekration des Opfers begann eine Epoche entfesselter Ausschweifung. Am Tage der Opferung zwängte man den Meriah durch einen Spalt in einem noch im Saft stehenden Baum, und die Menge stürzte sich auf ihn und riß Fetzen aus seinem Fleisch. In Rom versammelten sich zum Fest der Phrygischen Muttergöttin Priester und Priesterinnen unter ekstatischen Rhythmen zu Umzügen, die in Orgien endeten. In Argos setzten sich die Priesterinnen während des AphroditeFestes solange unter Drogen und Alkohol, bis sie die mystische Ekstase erreicht hatten. Bei diesen Riten spielte auch die Flagellation eine bedeutende Rolle: in Rom beim Fest von Cybele und Attis oder während des Lupercalien-Festes, wo die Priester die Gläubigen, besonders die jungen Frauen, auspeitschten, oder in Sparta, wo man die kleinen Kinder vor der Statue der Artemis auszupeitschen pflegte, — ein Ersatz für die Kinderopfer der Frühzeit, wie die Sage von Iphigenie bezeugt. Diese Flagellationsrituale lebten auch noch im Christentum weiter, und wir finden sie während des ganzen Mittelalters in den körperlichen Züchtigungen und Kasteiungen sowie in den Flagellantenprozessionen.
Die Schweine-Göttin will Blut sehen und Schmerzensschreie hören. Das Symbol der Bache und besonders des Ebers weist deutlich darauf hin. Das Wildschwein ist das Tier, das mit seinen »Hauern» und »Gewehren» den Boden aufwühlt und seine Opfer zerfleischt. Das Motiv des Wildschweins ist natürlich keineswegs nur bei den Kelten beheimatet; wir finden es auch im Mythos der Aphrodite wieder, eine der ältesten Göttinen der Hellenen. Aphrodite gilt zwar allgemein als die Meeres-Gottheit, geboren aus den Schaumkronen des Meeres und den Hoden des von Kronos kastrierten Uranos, aber ihr Name bietet noch andere interessante Aufschlüsse: er enthält das Element -dite, verwandt mit Ditis/Daitis, dem Namen einer kleinasiatischen Meeresgottheit, die in der griechischen Götter- und Sagenwelt zu Thetis wurde, sowie das Element Aphro-, dessen Spur auch im Monatsnamen April (frz. avr-il) steckt und das mit dem lateinischen Wort aper zusammenhängt: es bedeutet >männliches Wildschwein< (vgl. das deutsche Wort Eber dafür, das von diesem direkt abgeleitet ist; Anm. d. Hrsg.).
Man hat den Eindruck, als hätten sich sämtliche männlichen Zwangsvorstellungen, heute gerne euphemistisch als >Männerphantasien< bezeichnet, in konzentrierter Form zur Figur der Mutterschwein-Göttin bzw. der göttlichen Wildsau auskristallisiert. Dabei wurde das Bild der Göttin, die materielle Blüte und Liebe bringt, verdrängt, und nur die Idee niederster, triebhaftester Sexualität, verbunden mit der Idee von Blut und Fäulnis, beibehalten. Tatsächlich ist aus der einstigen Mutterschweine-Göttin wirklich eine >Sau< geworden, mit allem, was dieses Wort an wirklicher und übertragener Bedeutung im modernen Wortschatz mit sich bringt: ein >Schwein< und vor allem eine >Drecksau< ist nicht nur ein Mensch, der sich nicht wäscht, sondern auch einer, der >Schweinereien<, beziehungsweise >Sauereien< liebt, worunter besonders mehr oder weniger bizarre sexuelle Verhaltensweisen zu verstehen sind. Pornographische Werke sind schweinische/säuische Werke. Macht eine Frau von ihrem Geschlecht Gebrauch, wie es ihr paßt und ohne auf die Erlaubnis des Mannes zu warten, so gilt sie als Schwein, als Sau.[26]

Anmerkg. zu 4.26: Nebenbei sei darauf hingewiesen, daß das frz. Argot-Wort zur Bezeichnung von etwas Schmutzigem oder Häßlichem moche heißt und etweder von breton. moc'h oder gall. moccus abstammt. Eine mochete (eigentl. >Häßlichkeit<, >Schmutz') bezeichnet heute eine schmuddelige, häßliche Frau: das ist das degenerierte Bild der Mutterschwein-Göttin. Man beachte auch, daß in Dänemark seit der Abschaffung des Verbots der Verbreitung pornographischer Schriften spezialisierte Druckwerke besonders aufschlußreiche Photos veröffentlichen von Frauen, die nicht nur mit Hunden und Pferden, sondern auch mit Schweinen koitieren. Da diese Illustrierungen in höchst kommerzieller Form auf ein bestimmtes Bedürfnis reagieren (wir leben in einer Konsumgesellschaft!) muß man annehmen, daß der männliche >Verbraucher< solcher Angebote (denn die Pornographie ist, zumindest in ihrer aktuellen Form, ausschließlich für ein männliches Publikum bestimmt) in den Tiefen des Unbewußten noch die Erinnerung an die Göttin, wenn auch zu einem verkommen-obszönen Bild degeneriert, bewahrt hat. Es ist allzu leicht, von Lastern und Perversionen zu reden, — dies ist eine bequeme Form, dem Problem auszuweichen, sie trägt nichts zu seiner Deutung und Lösung bei. In Wirklichkeit gibt es weder Laster noch Perversionen, sondern nur unbewußte Triebe und Wünsche, die gelegentlich durch Handlungen oder Bilder zum Ausdruck kommen. Die Gesellschaft ist nicht gewöhnt, dies zuzugeben, und so weist sie es als für ihren Fortbestand schädlich von sich.

So stehen wir vor folgendem Phänomen: die Göttin, das ist die Frau, und die Frau ist gefährlich, gesundheitsschädlich, schreckenverbreitend. Also haben die Männer sie auf den Meeresgrund versenkt oder in eine Höhle verbannt. »Im Herzen jedes Mannes schlummert eine Sau», heißt es treffend. Das ist eine wohlbekannte Formel, und wir brauchen zu ihrer Erklärung nicht weit auszuholen: eine Frau wird vom männlichen Über-Ich bis zum Exzess kulpabilisiert, gleichzeitig wünscht es sich aber insgeheim, sie möge aufwachen. Hierin ist eine Reminiszenz all jener Kulte zu sehen, deren Objekt die Muttergöttin ist und die sich alle durch das Fehlen jeglichen Schamgefühls auszeichnen. Um die japanische Sonnengöttin Amaterasu aus der Höhle, in der sie sich versteckt, hervorzulocken, steigt die Göttin Amano Uzume mit einem Strauß von Bambusblättern auf ein umgekipptes, pirogenartiges Boot und beginnt zu tanzen. Vom Geist der Gottheit besessen entblößt sie ihre Brüste und streift ihre Kleider ab. Das erregt das Gelächter der Götter, und Amaterasu kommt neugierig aus ihrer Höhle hervor.[27] Mit dieser Szene sollte man einmal die Striptease-Shows der Gegenwart vergleichen sowie die wahrhaft göttliche Ekstase, die manche Mädchen in Popkonzerten packt, wo sie sich dann gelegentlich die Kleider vom Leib reißen und in einer Art von unbewußtem Delirium tanzen. Auf den wirklichen oder rituellen Hexensabbat braucht nicht mehr ausführlicher hingewiesen zu werden: dort tanzen die Frauen mit Luzifer unter dem Patronat der Diana, der großen Göttin der Antike, dieser Diana — Artemis, die häufig in einer Pose dargestellt ist, wo sie gerade dabei ist, ihr Gewand abzustreifen, um vor ihren Verehrern ihr Geschlecht zu entblößen. Hierbei taucht wieder die Erinnerung an jene sakrale Tempelprostitution auf, die fast obligatorisch mit dem Kult der Göttin verbunden war: in Babylon zum Beispiel prostituierten sich die Töchter der Adligen im Tempel der Göttin Anahita, und in ganz Kleinasien, Griechenland und Indien gab es ähnliche Bräuche. Hören wir, was Herodot zu berichten weiß:

»Der übelste der babylonischen Bräuche ist jener, der die Frauen dieses Landes verpflichtet, sich einmal in ihrem Leben in den Tempel zu begeben, um mit einem wildfremden Mann sexuellen Verkehr zu haben... Die Männer defilieren an ihnen vorüber und treffen ihre Wahl. Egal, wieviel Geld sie dafür zahlen, nie würde die Frau sich ihnen verweigern, denn damit würde sie eine Sünde begehen, da das Geld durch den Vollzug des Geschlechtsaktes heilig gemacht wird. Nach Beendigung dieses Aktes ist die Frau in den Augen der Göttin heiliggesprochen.«

Wer ist diese Göttin? Ischtar, die Primordialgottheit, die »Göttin der Begierde, Göttin des Lebens, Kurtisane der Liebe, heilige Tempel-Hure», jene Ischtar, die durch die Stimme ihres Orakels erklärt: »Ich bin eine barmherzige Hure.» Natürlich dürfen solche Erinnerungen von dem »zivilisierten» Mann in einer von Männern beherrschten Gesellschaft, die sich auf die monogame Ehe und auf die absolute Treue der Ehefrau als Hüterin des Herdes gründet, keinesfalls toleriert werden. Denn die Treue der Gattin, darauf sei nochmals hingewiesen, wurde vom Mann lediglich zum Schutz seines Erbes erfunden: nach der patrilinearen Erbfolge hat der Sohn Nachfolger des Vater zu sein, der Sohn ist also stets Sohn des Vaters und nicht Sohn der Mutter. Daher darf der Mann bedenkenlos Abenteuern mit der Weiblichkeit nachjagen, das bedeutet keine Gefahr für die patrilineare Erbfolge. Das Gegenteil jedoch würde diese Art der Erbfolge in Frage stellen, denn die Frau könnte ja von einem anderen Mann schwanger werden, und dies würde die Rückkehr zur matrilinearen Erbfolge bedeuten, die sich — wie wir gesehen haben — noch deutlich in den keltischen Rechtsbräuchen und ganz besonders in den mytholgischen Traditionen der Kelten widerspiegelt. Folglich wurde der Ehebruch der Frau in allen patriarchalischen Gesellschaften streng verdammt. Die keltische Gesellschaft, die sich noch auf einer Zwischenstufe zwischen der gynäkokratischen und der androkratischen Gesellschaftsform befindet, ist auf diesem Gebiet erheblich großzügiger. Aber schon in den ältesten Traditionen der Kelten ist das einst weiße göttliche weibliche Wesen (Rhiannon auf einem weißen Streithengst, Goleuddydd, >der glänzende Tag<, Gwenhwyfar, das >weiße Phantom' und ihr irisches Pendant Finnabair, die >graue Stute<, ferner das weiße Schwein oder die weiße Muttersau) zu Twrch Trwyth geworden, dem zerstörenden Untier, oder zu Henwen, die zwar noch weiß, aber alt und häßlich ist. Daß die Heilige Hure ein wohltätige, gütige Gestalt war, geriet in Vergessenheit. War es nicht Acca Larentia, die Romulus und Remus aufgezogen hat? Gewiß, nur war Acca Larentia eine Prostituierte, die die mit Hilfe ihres Metiers erworbenen Schätze dem Staat vermachte. Übrigens war auch die Mutter von Romulus und Remus eine Vestalin, die sich im Tempel prostituierte; sie hatte lediglich das Glück, durch einen Gott, nämlich Mars, schwanger zu werden. Auch die Königin Medbh von Connaught verfährt mit ihrem Körper mehr als großzügig: immer wenn es um das Interesse ihres Tuath geht, zögert sie nicht, demjenigen, der von Nutzen sein kann, die »Freundschaft iherer Lenden» anzubieten. Ihren Gemahl, den König Ailill, schockiert das keineswegs; er begnügt sich mit der Erklärung: »Es mußte sein, um dem Unternehmen zu Erfolg zu verhelfen.«
Aber genau darin liegt die Gefahr für die Autorität des Mannes. Wenn die Frau nach eigenem Gutdünken über ihre >Lenden< verfügen kann,[28] wird sie zu allem fähig. Erinnern wir uns daran, daß in der indischen Religion Shiva, die Personifizierung des Brahma (des undifferenzierten großen Ganzen), männlichen Geschlechts ist, aber nichts aus eigener Kraft bewirken kann: er ist ein passives Wesen, er verharrt in Meditation außerhalb der Zeit. Um zu handeln, bedarf er der Hilfe seiner Gemahlin Shatki, die die aktiv agierende Energie, die Dynamik der Zeit verkörpert. Wenn nun der Mann die Frau braucht, so versucht er, ihre Macht einzuschränken. Deshalb verbieten die von Männern gemachten Gesetze der Frau die freie Verfügung über ihre Sexualität: sie könnte darin zu weit gehen und das fragile, wenn auch zählebige soziale Gebäude in Gefahr bringen, das der Mann ausschließlich zu seinem eigenen Vorteil errichtet hat: die patriarchalische Gesellschaft, in der wir heute noch leben. Das hat weitreichendere Konsequenzen, als man zunächst annehmen mag. Herbert Markuse stellt, eine These von Freud aufgreifend, fest, daß

»die freien libidinösen Beziehungen ihrem Wesen nach Arbeitsleistungen widerstreben, daß den ersteren Energie entzogen werden muß, um die letzteren zu begründen, daß nur das Fehlen der vollen Befriedigung die gesellschaftsgründende Organisation der Arbeit aufrecht erhält. Selbst unter den optimalen Bedingungen einer rationalen Gesellschaftsorganisation müßte die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse Mühe erfordern, und schon diese Tatsache allein müßte quantitative und qualitative Triebeinschränkungen erzwingen und damit zahlreiche soziale Tabus. Ganz unabhängig von ihrem Reichtum hängt die Kultur von stetiger und methodischer Arbeit ab und damit von unlustvoller Verzögerung der Befriedigung. Da die primären Triebe >von Natur aus< gegen diese Verzögerung sich auflehnen, bleibt ihre repressive Modifikation eine Notwendigkeit für jede Kultur»[29]

Folglich stellen die freien sexuellen Beziehungen - symbolisiert durch das Bild der Göttin, durch die Notre-Dame der Nacht — ein Risiko dar, weil sie mit der vollständigen Befriedigung der instinktiven Wünsche des Mannes (und der Frau) enden würden. Auf diesen Zustand der totalen, wunschlosen Befriedigung würde aber eine Phase der Latenz, um nicht zu sagen des Schlafs folgen. Übersetzen wir das durch den Verlust der Energie, die zum Fortschritt der menschlichen Gesellschaft unbedingt aufgebracht werden muß, dann bedeutet das: keine Wünsche mehr, keine Aktivität mehr, das Phänomen ist bekannt. Wir befänden uns in größter Nähe zum Zustand des Nirwana, wo jeglicher Wunsch nach Leben abgeschafft ist. Anders ausgedrückt: wir befänden uns in einem generellen regressus ad uterum, einer Rückkehr zur Mutter, zum wahrhaftigen Paradies, in der imaginären oder tatsächlichen Geborgenheit der Gebärmutter, ihrer Wärme, ihrer Feuchtigkeit, in der sicheren Geborgenheit der Nährerin und Hüterin eines Herdes, dessen Feuer nie ausgeht, — in der Sicherheit der ewigen Glückseligkeit, die der Mensch sucht; dies ist das berühmte »Stück Zucker», mit welchem man seit Jahrtausenden das Menschentier vorwärtstreibt und das stets wieder ein Stück entfernt wird, wenn der Mensch es fast erreicht hat. Es ist nötig, den Menschen in einem Zustand ständiger Angst zu halten, denn sie ist die Grundvoraussetzung seiner Aktivität. Also nährt die Gesellschaft diesen Angstzustand mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln: mit dem für die Zukunft verheißenen Wohlstand des Kapitalismus, mit der paradiesischen und allseits gleichberechtigten Gesellschaft des Marxismus, mit dem Paradies oder der Hölle post mortem der Christen und so fort. Ganz besonders wichtig ist es aber, den natürlichen Elan der Menscheit zu kulpabilisieren. Dieser naturgegebene Fortschrittstrieb ist — das braucht seit Freud nicht mehr eigens bewiesen zu werden - in seiner Grundstruktur sexueller Natur, er muß also bereits an seiner Basis kulpabilisiert werden: daher die Verdrängung des Sexuellen als etwas Schändliches, Geschmackloses, Übelriechendes, Gefährliches, Infernalisches. Der Mann,das männliche Geschlecht, bleibt davon aber wohlgemerkt ausgenommen: sein Geschlecht ist schließlich der »edelste Körperteil». Oder, wie Simone de Beauvoir unablässig feststellt: »Der Mann kriegt einen Ständer, die Frau wird naß.» Dazwischen muß anscheinend genau unterschieden werden. Somit wird die Frau mit dem Sexus gleichgesetzt und in die Nacht verstoßen. Und wenn sie aus der Tiefe des Dunkels auftaucht, so wird sie mit Schmutz beworfen, wird als schändlich, als geschmacklos abqualifiziert. Die Notre-Dame der Nacht ist zur großen Sau geworden, die sich im Schlamm wälzt.[30]

Anmerkg. zu 4.30: Hier sei angemerkt, daß die germanischen Vanen-Götter Freyr und Freyja (die zugleich Geschwister und Geliebte sind), ein Paar, das die Maskulinisierung der ursprünglichen Göttin Freyja (Tochter von Niordr, der von Tacitus erwähnten Nerthus) deutlich zeigt und das ebenfalls sexuelle Kontakte mit einem Wildschwein pflegt. Dem Gott Freyr wurde ein Eber oder eine Bache geopfert, denn dieser Gott hatte als Attribut ein Wildschwein mit goldenen Borsten, genannt Gullinborsti, das ihm als Reittier diente. In einem Gedicht der Edda reitet Frejja ein Wildschwein namens Hildisvin. Übrigens hat Freyja den Beinamen Syr, der >Sau'bedeutet. Hier sei auch daran erinnert, daß Freyja sich kaum von Frija (Frigg bei den Skandinaven) unterscheidet: Diese ist die Gemahlin des Asen-Gottes Wotan-Odin und scmit die Mutter des jungen Gottes Baldr, dem Pendant zu Mahon, Pryderi und in gewissem Sinn auch zu Mac Oc, d.h. zum Jungen Sohn, der momentan aus dem Machtbereich entfernt oder gefangen ist, dessen Mission es aber später sein wird, die Welt zu regenerieren. Nach der germanischen Mythologie von Snorri und besonders nach der Ynglinga-Saga (Kap. 4) »weihte Freyja, die Opferpriesterin, die Äsen zum ersten Male in die Seidhr genannte Form der Magie ein, die die Vanen beherrschten». Diese Art der Magie bestand in einem  Ekstase-Ritual,  das von  »sexuellen  Perversionen» begleitet wurde, die für den Mann in >erniedrigender< Weise verliefen. Diese Andeutungen sind besonders wertvoll, denn zum einen ist darunter zu verstehen, daß dieses Ritual ausschließlich den Frauen vorbehalten war, und folglich aus einer Zeit vor Errichtung des Patriarchats stammen mußte (die Vanen sind wahrscheinlich eine Reminiszenz aus jener Zeit), und zum anderen kann man daraus schließen, daß die Göttin mit dem Wildschwein, oder die Mutterschwein-Göttin bei den Germanen wie bei den Kelten mit tabuisierten Sexualpraktiken in Verbindung gebracht wurde (besonders mit dem Geschwisterinzest).

Aus diesen Gründen haben die Kelten neben der Goleuddydd noch die Figur der Twrch Trwyth[31] erfunden. Daraus ist zu erklären, weshalb im Mabigoni von Math die beiden Söhne der Göttin Dön, die sich gegenüber Math, ihrem Onkel mütterlicherseits schuldig gemacht hatten, von diesem dazu verurteilt wurden, die Gestalt von Tieren anzunehmen: eines Ebers und eines Mutterschweines. Aus dem gleichen Grund sieht sich der Hl. Antonius, der Eremit, der mit einer Sau lebte, plötzlich Versuchungen fleischlicher Art ausgesetzt: es konnte gar nicht anders kommen, zumindest nicht in der Vorstellungswelt der betreffenden Hagiographen.[32] Allmählich entwickelte sich eine ganze Literaturgattung, deren Thema es war, diese schlummernde >Sau' in die tiefste Tiefe der Nacht zu versenken. Es entstand die Trennung zwischen dem, was man am Tage, bei hellem Tageslicht tut, und dem, was man in der Nacht tut und worüber man nicht spricht. Die Phädra von Racine, eine der Inkarnationen der Notre-Dame der Nacht, überschreitet niemals die Grenze des Schattens in Richtung auf das Sonnenlicht. Sie fürchtet sich vor der Sonne, und durch ihren Tod gibt sie dem Tageslicht, welches sie beschmutzt hatte, wieder seine volle Reinheit zurück. Die gleiche Idee finden wir auch bei einem Autor der Gegenwart wieder, dessen Temperament - das muß hinzugefügt werden — ziemlich »racinehaft» ist: bei Franijois Mauriac in einer Passage seiner Therese Desqueyroux, die ihrerseits eine entfernte Nachfahrin der Muttersau-Göttin ist.

»Als sie sich eines Abends in Paris auf ihrer Rückkehr verweilt hatten, verließ Bernard ostentativ ein Music-Hall-Etablissement, dessen Darbietung ihn schockiert hatte: >Wenn die Ausländer dergleichen sehen würden! Welche Schande! Und aufgrund solcher Spektakel bildet man sich sein Urteil über uns…< Therese empfand Bewunderung darüber, daß dieser Mann mit soviel Schamgefühl derselbe war, dessen nächtliche Erfindungen sie in weniger als einer Stunde über sich würde ergehen lassen müssen.«

Welch offenes Geständnis! Es erinnert an das Verhalten jener Mitglieder der in allen zivilisierten Nationen beheimateten Sittlichkeitsvereine, die sich gierig auf solch fade Spektakel wie Hair oder O Calcutta! stürzen, um das Vergnügen zu leben, schockiert zu werden und um sich anschließend heftig über das Gesehene zu empören. Diese Reaktion führt in »puritanisch» genannten Epochen zuweilen bis zur Raserei. Dann wird die Frau depersonalisiert, desexualisiert und in eine Kleidung eingeschnürt, die nicht nur ihren Körper — der obszön ist — verbirgt, sondern die auch höchst gesundheitsschädlich auf ihn einwirkt, denn er muß als Objekt des Anstoßes und der Sünde gezüchtigt werden. Molieres Tartuffe bildet in Wirklichkeit eine >schallende' Realität ab und ist keineswegs ein der Fantasie des Autors entsprungenes Kunstprodukt. Rufen wir uns ins Gedächtnis zurück, was der berühmte Mgr. Dupanloup seinen weiblichen Schäfchen als Erkenntnis mit auf den Weg gab: »Ihr habt Göttliches in Euch, aber Ihr habt zugleich als Vermächtnis des Fehltritts Eurer Urmutter diese intime Schwachheit in Euch, die Ihr inmitten aller Anfechtungen, die sie zu erschüttern drohen, überwinden müßt.» Eine weitere scharfsinnige Äußerung, die durchaus ihre Berechtigung hat. Ferner sei an gewisse Persönlichkeiten übelster Natur aus der Zeit um 1900 erinnert (der Zeit, die als die »Belle Epoque» galt, — es fragt sich nur für wen?), wie etwa an einen gewissen Dr. Pouillet, welcher für die Erfindung einer sog. »ceinture contentive» plädierte, also eine Art Keuschheitsgürtel, den die Frauen tragen sollten. Der gleiche Dr. Pouillet empfahl sogar jungen Mädchen, die die Neigung haben, sich zu »manuellisieren», die betreffenden hochempfindlichen Hautpartien zu »cauterisieren», das heißt mit Quecksilber zu verätzen. Andere brilliante Ärzte lobten und praktizierten mit ausdrücklicher Zustimmung der kirchlichen Behörden die Clitoridectomie, wahrscheinlich um der Frau den Teufel auszutreiben. Diese »Belle Epoque» erlebte auch eine Flut von haarsträubenden Traktaten über die Ehe, die der Frau rieten, »den maritalen Akt ruhig über sich ergehen zu lassen» und dabei besonders darauf zu achten, »sich nicht zu abrupten Bewegungen hinreißen zu lassen, die die Beziehungen stören oder dem männlichen Organ Verrenkungen und Quetschungen, und somit erhebliche Verletzungen zufügen könnten.»[33] Man könnte sich über dergleichen heute köstlich amüsieren, wenn all das nicht katastrophale Folgen für die Psyche der Frau gehabt hätte.
Natürlich hatten alle diese »Wissenschaftler» illustre Vorgänger: »Als sich die Schlange mit Eva vermischte, pflanzte sie ihr eine Befleckung ein, mit der Eva seit dieser Stunde ihre Kinder infiziert», heißt es im Talmud. Oder: »Man hat seine Frau mit Umsicht und Strenge anzufassen, denn bei allzu laszivem Kitzeln muß man befürchten, daß ihre Lust ihre Vernunft aus den Angeln habt», lehrt Aristoteles. Denn eine Frau zu heftig zu karessieren, »c'est chier dans le panier pour apres se le mettre sur la tete» (»ist wie in den Korb scheißen, den man sich anschließend auf den Kopf setzt») so urteilt Montaigne. Man beachte einmal en passant das enorme Feingefühl dieses großen französischen Denkers, der immer noch in den Himmel gehoben wird von einer Institution wie der Universität, die heute ebenso überholt sein dürfte wie jener niveaulose Hanswurst. Wie bereits angedeutet, ist im Liebesakt in Wirklichkeit der Mann der Unterlegene. Dies kann er seiner Partnerin nicht verzeihen, und so wird sie natürlich zu seiner Feindin. Ebensowenig verzeiht er der Frau ihre Fähigkeit, nahezu unbegrenzt viele Orgasmen hintereinander zu erleben, während er sich vor dem zweiten Akt erst wieder ,erholen' muß. Das macht ihm erheblich zu schaffen. Er fragt sich: Was macht denn die Frau zu einem so außergewöhnlichen Wesen? Das muß an Zauberei grenzen. Und von dort bis zur Annahme, daß dahinter die Magie des Teufels steckt, ist nur ein kleiner Schritt. Es muß der Teufel sein, der sie zu ihren >Sauereien< inspiriert. Also muß der Teufel die Frau erschaffen und ihr diese abstoßende Schweinsgestalt gegeben haben, ständig bedrohlich, ständig anziehend, ständig von rechtschaffenen und tapferen Männern angeprangert, denen mit der Zeit wirklich angst und bange wird.[34] Da ist es leicht verständlich, wenn ein Mann wie Brach, ein zum Katholizismus konvertierter Rabbiner des XIX. Jahrhunderts, von einer modernen Rabbiner-Auslegung eines Kommentars zu Jeremia in Panik versetzt wird: »Und siehe, Jahwe wird eine Sache schöpfen, die auf Erden unerhört sein wird: eine Frau wird den Mann umgarnen.» So heißt es in Medrash Yalkuts Kommentar zu Jeremia, 315. Was der Kommentar aber sagen will ist, daß nach dem Erscheinens des Messias die Frau den Mann suchen wird, anstatt daß — wie heute — der Mann die Frau sucht. Entsetzt ruft Drach aus, wie gräßlich diese Idee sei, ein Zustand,

»der vom Erhabenen so weit entfernt ist wie der Himmel von der Erde und die Sitten aller Völker schockiert und die Frau erniedrigt. Es gibt wohl schwerlich ein häßlicheres Schauspiel als zusehen zu müssen, wie das schwache Geschlecht die schamvolle Zurückhaltung von sich wirft, die doch ihre schönste Zierde und die erste Hüterin ihrer Tugend ist.»[35]

Danach bleibt dem Mann natürlich nichts anderes mehr übrig, als mit den Frauen Schluß zu machen, sich in sein Stammlokal zu begeben und sich unter Männern die neuesten Sauereien zu erzählen, deren ewiges Thema natürlich die Frau ist.
Denn ebenso wie der Mann die Figur der Schweine-Göttin gewissermaßen zu seinem eigenen Schutz erfindet, wird er zur Befriedigung seines männlichen Stolzes akzeptable Substitute für sie erfinden; er wird sich solche suchen, die seiner Kraft nicht gefährlich werden, zum Beispiel die Höhle, worin die NotreDame der Nacht herrscht. Dies ist dann die Geburtsstunde der Zoten (d.h. der Obszönitäten, die man nicht offen auszubreiten wagt), dann der Anzüglichkeiten und — in der Reihe der Intensität steigend — der höchst literarischen und anspruchsvollen Erotica und schließlich der entweder verkommenen oder genialen Pornographie. Das Kennzeichen dieser Substitute ist, daß sie alle absolut ungefährlich sind: Sie haben kein Objekt. Nehmen wir die Pornographie als Beispiel: dabei handelt es sich um nicht mehr und nicht weniger als um eine Sexualität, die in die Leere geht und nie zu einer totalen Befriedigung führt. Dies ist, wie wir gesehen haben, eine für jede paternalistische Gesellschaft lebensnotwendige Eigenschaft, — und auch für jede kapitalistische, denn sie gestattet nicht nur die Aufrechterhaltung der Idee der Angst und Kulpabilisierung (den beiden optimalen Voraussetzungen für die Leistungsgesellschaft), sondern sie stellt das Verbotene und somit Wünschenswerte dar in einer strengen und unnachgiebigen Gesellschaft, die im Bereich der Moral jedoch nur dann unnachgiebig bleiben kann, wenn sie hie und da ein paar Abweichungen davon zunächst toleriert, — und dann energisch bestraft. Man erinnere sich an das Wort von Tertullian, welches lautet: »Der Tempel ist dicht über der Kloake errichtet» (bereits das verwendete lateinische Wort Cloaca hat einen pikanten »double sens»). Wo käme also die paternalistische Gesellschaft hin, wenn es die Prostitution und Pornographie nicht gäbe? Allein der Gedanke daran läßt erschauern. Nun wird man sagen, die eben angestellten Betrachtungen über die Pornographie im Kapitalismus entfernen uns himmelweit vom eigentlichen Thema der Notre-Dame de la Nuit. Dies ist keineswegs der Fall. Die paternalistische Gesellschaft weiß sehr wohl, daß sie die Notre-Dame der Nacht nicht vollkommen ersticken kann. Von Zeit zu Zeit öffnet sie einige Sicherheitsventile, erlaubt ein paar kleine Methoden zum momentanen Abreagieren und achtet sogar darauf, daß sie selbst daran noch etwas verdient. Gelegentlich löst aber das harmlose Abreagieren eine regelrechte Flutwelle aus, die dann nicht nur die Stadt Ys unter sich begraben könnte, sondern die prunkvolle Stadt auf dem Berge bedroht, wie wir in einem eigenen Kapitel über den Aufstand des Blütenmädchens (s.u.) noch sehen werden, — jenes von den Männern entworfene, herrliche Objekt, welches sich jedoch (o Jammer!) gegen seinen Schöpfer auflehnt. Bevor wir aber dazu kommen, müssen wir noch einige andere Aspekte der Notre-Dame de la Nuit beleuchten.

3. Die Weiße Hirschkuh

Im irischen Leinster-Zyklus tritt der Mythos von der Hirschgöttin am klarsten zutage. Der Kontext ist aus jüngerer Zeit, da der Zyklus um Leinster beziehungsweise Finn (häufig auch Ossian-Zyklus genannt) von all den großen Feensagen-Komplexen, die die gälische Literatur bilden, der am spätesten entstandene ist. Dieser Zyklus lebte übrigens auch in der irischen und schottischen Folklore weiter, so daß wir die vollständige Gestalt mancher Sagen und Legenden nur aus den mündlichen Überlieferungen kennen, die erst im XVIII. und XIX. Jahrhundert aufgezeichnet wurden. Dies gilt ganz besonders für die Geschichte von Diarmaidund Grainne. Angesichts der großen Zahl von Sagen und Legenden mit den immer gleichen Themen und Personen, die in Irland wie in Schottland erzählt wurden und in den Grundzügen übereinstimmen, dürfte außer Zweifel stehen, daß es eine eigene Tradition mündlicher Überlieferung gegeben hat, die bis in älteste Zeiten zurückreicht.

Die Geburt des Oisin (Irland):

Finn, der König der Fiana, und seine Männer befinden sich auf der Jagd. Da entdecken sie eine Hirschkuh und machen sich auf zu ihrer Verfolgung. Aber keinem Jäger und keinem Hund gelingt es, sie einzuholen. Nur Finn setzt mit seinen beiden Spürhunden Brán und Scolan, »die den Verstand von Menschen haben», die Jagd fort. Schließlich legt sich die Hirschkuh ins Gras nieder, und anstatt sich aggressiv zu zeigen, spielen die Hunde mit ihr und lecken ihr Kopf und Hals. Höchst verwundert über dieses Verhalten nimmt Finn die Hirschkuh mit sich nach Hause. In der Nacht erscheint ihm plötzlich ein bezaubernd schönes junges Mädchen und erklärt ihm, es heiße Sadv und sei die Hirschkuh, die er den ganzen Tag über gejagt hatte. Der Druide Fir Doirche hätte sie durch einen Zauber in eine Hirschkuh verwandelt, weil sie dessen Annäherungsversuche standhaft zurückgewiesen hatte. Aber ein Diener des Druiden habe ihr verraten, daß der Druide keinerlei Macht mehr über sie hätte, sobald sie sich im Bezirk der Burg der Fiana befände. Finn verliebt sich in Sadv und lebt mit ihr die vollkommene Liebe. Bald wird Sadv schwanger. Als Finn eines Tages abwesend ist, tarnt sich der Druide Fir Doirche unter dem Aussehen von Finn und lockt Sadv vor die Burg hinaus. Sadv eilt auf die Person zu, die sie für Finn hält. Da verwandelt der arglistige Druide sie erneut in eine Hirschkuh. Sadv versucht verzweifelt, zur Burg zurückzukehren, aber die beiden Hunde des Druiden versperren ihr den Rückweg und zerren sie in den Wald zurück, Als Finn dies erfährt, läßt er seiner Trauer freien Lauf und durchstreift mit seinen beiden Hunden sieben Jahre lang ganz Irland auf der Suche nach der Hirschkuh. Eines Tages haben seine Hunde einen kleinen Jungen umstellt und begegnen auch ihm mit Zutraulichkeiten. Finn ist über die verblüffende Ähnlichkeit zwischen Sadv und diesem Jungen erstaunt. Er nimmt ihn mit auf seine Burg und läßt ihn erziehen. Als der Knabe sprechen kann, enthüllt er ihm, daß er von einer Hirschkuh aufgezogen worden war und daß diese eines Tages von einem schwarzen Mann mit einem Stab berührt und fortgeführt worden war. Finn schließt daraus, daß der Knabe der Sohn von Sadv und ihm sebst sein müsse und gibt ihm den Namen Oisin (Ossian), was >Hirschkalb< bedeutet.[36]

Die Struktur der Erzählung weist überraschende Ähnlichkeiten mit der Geschichte von Rhiannon und Pryderi und mit der von Goleuddydd und von Kulhwch auf. Letztendlich ist Oisin das Hirschkalb, wie Kulhwch der Frischling und Pryderi das Fohlen ist. Ähnlich wie Goldeuddydd die Schweine-Göttin und Riannon die Stutengöttin ist, muß auch Sadv die Hirschkuh-Göttin, die göttliche Hindin sein. Der Hauptakzent der Oisin-Geschichte liegt auf dem Ereignis der Geburt des Protagonisten sowie auf der Tatsache, daß seine Mutter in eine Hirschkuh verzaubert worden war und somit der Autre Monde angehört. Oisin wird ein Dichter/Barde, ein göttlich Inspirierter, und als er stirbt, wird sein Tod nicht endgültig, nicht wirklich sein: Eine kuriose Kompilation der einzelnen Ossian-Legenden, das Acallam na Senorach (>Rat der Alten<) erzählt nämlich, daß Oisin eines Tages seiner Mutter in das Zauberreich der Tuatha De Danann gefolgt ist.
Diese Hirschkuh-Göttin, wie sie im Leinster-Zyklus in Erscheinung tritt, ist in der gallischen oder gallo-römischen Ikonographie keineswegs eine Seltenheit. Wir kennen mehrere Statuetten, die eine Frau mit Hirschgeweih darstellen, — wovon das markanteste Beispiel im Londoner British Museum aufbewahrt wird: es handelt sich um eine sitzende Göttin, die ein Füllhorn auf ihrem Schoß hält und auf der linken Schulter einen Widderkopf trägt; ihr Gesicht hat vollkommen menschliche Züge, außer daß aus ihrem Haar ein Hirschgeweih hervorwächst.[37] Haben wir hier nicht die gleiche Gestalt wie die Sadv vor uns, die Gemahlin des Jäger-Gottes Finn und die Mutter von Oisin, dem jungen Hirschkalb? Es gibt übrigens auch eine Darstellung eines gallischen Gottes in Gestalt eines jungen Mannes, dessen eines Ohr wie das Ohr eines Hirsches geformt ist.[38] Es ist durchaus denkbar, daß dieser und der berühmte Ossian ein und dieselbe Figur sind. Da die Religion der Kelten über das gesamte von ihnen besiedelte Territorium verbreitet war, ist diese Annahme keineswegs abwegig, da man gesicherte Beziehungen zwischen gewissen irischen Gottheiten, die zu literarischen Epenhelden geworden waren, und gallischen oder gallo-römischen Gottheiten feststellen konnte, von denen in Stein gemeißelte Darstellungen erhalten sind, wie zum Beispiel von dem Gott Lug, dem Helden der Tuatha De Danann und Schutzgott der Städte Lyon (Lugdunum), Laon, Loudun und Leyden.
Die Hirschkuh-Göttin taucht auch in der Literatur des französischen Mittelalters auf, nämlich in einem Lai der Marie de France.

Der Lai von Guigemar (Höfische Epik):

Der Junge Guigemar, Sohn des Grafen von Laon, befindet sich auf der Jagd. »Im dichten Gestrüpp gewaltiger Gebüsche entdeckt er plötzlich eine Hindin mit ihrem Kalb, die das Gekläff der Hunde aufgescheucht hatte. Es war ein vollkommen weißes Tier, welches auf seinem Haupt das Gehörn eines Hirsches trug.« Guigemar schießt einen Pfeil auf sie ab, der die Hirschkuh verletzt, aber wieder zu ihm zurückschnellt und ihm den Schenkel durchbohrt. Da klagt die Hindin unter Seufzen: »Du, Vassall, der du mich verwundet hast, sollst keine Heilung finden für deine Wunde. Weder durch Kraut, oder Wurzel, noch durch Arzt oder heilsames Gift wirst du genesen, solange dich nicht jene heilt, die aus Liebe zu dir größeren Schmerz leidet als jemals eine Frau zuvor.»[39]

Diese waidwunde Hirschkuh, die sprechen kann und eine Verwünschung ausspricht, ist eine Fee, die im höfisch-christlichen Weltbild der Marie de France die Gottheit der archaisch-heidnischen Ur-Sageersetzt. Man beachte,daß diese Hirschkuh weiß ist, daß sie ein Kalb bei sich hat, und vor allem, daß sie ein Hirschgeweih trägt. Es geschieht keinesfalls aus reinem Zufall, wenn sie von Marie de France so beschrieben wird: denn in allen ihren Lais hält sie sich immer genau an eine bereits existierende Vorlage, und wenn sie auch solche Elemente, die christliche Ohren schockieren könnten, abwandelt, so überträgt sie doch alle Details, denen sie nur wenig Bedeutung beimißt, stets mit großer Texttreue. Eine Einzelheit ist dabei in unserem Zusammenhang von Interesse: der Pfeil, der zurückkommt und Guigemar am Schenkel verletzt. In allen höfischen Dichtungen des XII. und XIII. Jahrhunderts ist die Verletzung am >Schenkel' ein Euphemismus: sie bedeutet in Wirklichkeit eine Verletzung der Geschlechtsteile, wie zum Beispiel die Impotenz des Fischerkönigs beweist, der ebenfalls am >Schenkel< verwundet wird, weil er den Gral geschaut hatte, ohne dazu berechtigt gewesen zu sein.[40] Ein anderes Beispiel ist der rätselhafte Math ab Mathonwy, Heid eines der walisischen Mabinogion, der nur am Leben erhalten werden kann, wenn sein Fuß im Schoß einer Jungfrau ruht. Ferner hängt die von der Hirschkuh verhängte Verwünschung mit dem irischen Geis zusammen: es gibt nur eine einzige Frau auf der ganzen Welt, die Guigemar heilen kann, und das ist sie selbst, die Göttin in anderer Gestalt. Sie sichert sich dieses Privileg, indem sie Guigemar mit dem Leiden der Impotenz schlägt. Die gleiche Idee liegt auch dem Mythos von Diarmaid und Grainne sowie von Tristan und Yseult zugrunde.[41] Deshalb dürfen wir unser Untersuchungsgebiet im Zusammenhang mit der Hirschkuh nicht auf den indoeuropäischen Kontext beschränken, sondern müssen es auf die ganze Welt erweitern. Tatsächlich findet sich dort dasMotiv der Wunde wieder, die eine Göttin ihrem Geliebten zufügt, — ein Thema, das besonders im Nahen Osten, besonders bei den semitischen Völkern weit verbreitet ist. Denn ist das nicht auch die Geschichte von Ischtar und Tammuz? Oder von Astarte (der späteren Aphrodite) und Adonis? Ist das vor allem nicht auch die Geschichte von Attis und Cybele, in der die Göttin ihren Sohn und Geliebten mit der Keule des Wahnsinns schlägt, um ihn zu halten? In seinem Wahnsinn entmannt sich nämlich Attis, und diese Geste hat sich in ritueller Form erhalten, da die Priester des Cybele-Kults, die Galloi, die sich mit Attis identifizieren, sich ebenfalls kastrieren und Frauenkleider tragen. Auch wenn Ischtar-Astarte oder Cybele semitische Namen der Göttin sind, darf dabei der den Indoeuropäern vertrautere Name nicht unberücksichtigt bleiben: der Name einer Göttin, die zahlreiche Eigenschaften mit der alten Göttin und Mutter der Götter gemeinsam hat, nämlich der Artemis, die die Römer mit der Diana zu einer Figur verschmolzen. Diese Artemis, die die indo-iranische Arvi [42] ist, wird im allgemeinen als die archaische und grausame skymische Diana angesehen, die Sonnengöttin der Steppenvölker, deren Kult sich während der Hellenen-Wanderungen über das ganze Mittelmeergebiet verbreitete. Bekanntlich wurden in Sparta in der ältesten Zeit seiner Geschichte der Artemis noch Menschenopfer dargebracht; das stimmt mit dem überein, was man über den Kult der großen Göttin der Skythen weiß. Erst der große Reformator Lykurg ließ diese Menschenopfer verbieten und reduzierte sie auf die Dimension der Auspeitschung von Jugendlichen vor der Statue der Göttin, — und dort taucht auch der Mythos von Cybele und Attis, Ischtar und Tammuz wieder auf. Ferner wird in der Ikonographie die Artemis ebenfalls als Hirschkuh dargestellt, was viel über die Transformation des ursprünglichen Mythos aussagt. Denn so wie sie in der Mythologie der klassisch-griechischen Literatur fixiert, d.h. in einer bestimmten Phase ihrer Evolution aufgegriffen und festgehalten wurde, ist Artemis tatsächlich die göttliche Jägerin. Wenn sie als Hirschkuh dargestellt wird, so möglicherweise deshalb, weil sie die Jäger beschützt und ihnen eine gute Jagd und Beute sichert. Da aber in allen Religionen die Idee des Schutzes zeitlich nach — und aus — der reinen Darstellung eines Symbols entstand, ist es weit wahrscheinlicher, daß sie zuerst die Beschützerin des Wildes und besonders der Hirschkühe war, entsprechend einer Auffassung, die einer weit archaischeren Analogie entsprang: nämlich daß die Göttin ursprünglich selbst ein wildes Tier, daß sie selbst eine Hirschkuh war. Dieser Entwicklungsprozeß konnte bereits anhand der Figur von Rhiannon/Epona festgestellt werden.[43]
Das Sonderbare dabei ist aber, daß Artemis die Jägerin ist, während die gälische Sadv und die Hirschkuh des Guigemar gejagtes Wild sind. Betrachtet man dieses Phänomen jedoch näher, so wird es verständlich: in den literarischen Sagen und Legenden der klassischen Antike ist Artemis als Bild der archaischen Göttin endgültig fixiert worden, so wie sie zur Zeit ihrer ursprünglichen sakralen Macht inmitten einer gynäkokratischen Gesellschaft ausgesehen hat. In der mündlichen und daher sich ständig weiterentwickelnden Tradition der Kelten hatte die Figur der Göttin genügend Zeit, ihre Gestalt zu verändern und allmählich okkultiert zu werden. Infolge der Umwertung der Haltung gegenüber der Weiblichkeit, infolge der Einführung der neuen, paternalistischen Gesellschaftsstrukturen wurde die Göttin aus dem Bereich der Legalität verbannt. Ähnlich wie die mit der Stadt Ys versunkene Prinzessin wurde die göttliche Jägerin dazu verdammt, das Leben eines gejagten Wildes zu führen, das gezwungen ist, sich in der Tiefe des Dickichts zu verstecken, und das nun selbst den Nachstellungen der Jäger, dJi. der Männer ausgesetzt ist. Nur einige wenige Helden beschützen sie noch, so etwa Finn, der überhaupt nichts gemein hat mit jenen künstlichen Zuchthelden, die in den anderen indo-europäischen Traditionen vorkommen. Aber die paternalistische Ordnung, wie sie von den Priestern aller Religionen repräsentiert wird, setzt alles daran, diese Göttin nach Möglichkeit für immer aus der Welt zu schaffen: Daher die Besessenheit, mit der der Druide Fir Doirche die Sadv verfolgt und ihr ihre Wildgestalt wiedergeben will. Das Bild der Göttin ist jedoch in den Tiefen des Unbewußten der Menschen noch präsent, so daß sie unter den oft ausgefallensten Gestalten immer wieder auftaucht. Sadv mag verschwinden, aber sie hat einen Sohn, Oisin. Das Hirschkalb wird zu einerneuen, eigenständigen Figur, die nun dem patriarchalischen Ideal entspricht, aber sie repräsentiert durch ihre Abstammung immer noch das alte Konzept von der weiblichen Gottheit.
Und wie aus der Mutter-Göttin der Vater-Gott bzw. »Gottvater» wird, wie die Sonnen-Göttin zum Sonnengott wird, so muß entsprechend auch aus der Hirschkuh-Göttin der Hirsch-Gott werden. Und dieser ist innerhalb der keltischen Ikonographie alles andere als unbekannt, wie zahlreiche Plastiken beweisen, die einen Mann mit einem Hirschgeweih auf dem Kopf darstellen. Man kennt sogar seinen Namen: er heißt Cerunnos, wie auf einem Basrelief des Altars von Nantes zu lesen ist, welches im Musee de Cluny in Paris aufbewahrt wird. Auf einem anderen Kunstdenkmal, das heute in Autun zu sehen ist, hält der Gott einen Kelch in der Hand, nach dem sich zwei Schlangen strecken. Auf einem in Reims aufbewahrten Basrelief, das das bekannteste sein dürfte, sitzt Cerunnos in der klassisch-buddhistischen Pose und hält eine Art Sack auf, aus dem sich ein Strahl — wahrscheinlich Geldstücke - auf einen Stier und einen Hirsch ergießt; den Gott umstehen Apoll und Merkur. Auf einer der Dekor-Platten des Kultkessels von Gundestrup (Nationalmuseet, Kopenhagen), dessen Alter und Herkunft unterschiedlich beurteilt werden, und dessen figürliche Illustrationen unzweifelhaft Darstellungen aus der keltischen Mythologie sind, ist der Gott von vier Tieren umgeben, darunter von einem Hirschen und einem Hund. Dieser Hirsch-Gott (was wohlgemerkt eine vereinfachende Hilfsbenennung ist, wobei auch hier, wie die Stute die Rhiannon-Epona, das Tier den Gott symbolisert!) tritt in Literaturdenkmälern, die wesentlich jünger, aber immer noch von keltischen Traditionen geprägt sind, ebenfalls auf als das Wild, das man jagt, um eine Belohnung dafür zu erhalten, oder als domestiziertes Haustier, das seinem Herrn treu ergeben dient.

Die Jagd auf den weißen Hirsch (Chretien de Troyes):

Zu Ostern verkündet König Artus, der gerade in Cardigan Hof hält, daß er den weißen Hirsch jagen will, »um den alten Brauch wieder aufleben zu lassen». Gauvain, der damit nicht so ganz einverstanden ist, gibt zu bedenken: »Uns allen ist der Brauch bei der Jagd des weißen Hirsches wohlbekannt: Wer ihn zu erlegen vermag, muß der schönsten Frau Eures Hofes einen Kuß geben.»[44]

Gereint und Enid (Mabinogion, Wales):

Zu Pfingsten hält König Artus in Caer Llion Ar Wysg Hof. Da erscheint ein Ritter und erklärt vor dem König: »Ich habe im Walde einen Hirsch gesehen, wie mir noch nie zuvor einer begegnet ist... Er ist zur Gänze weiß und ist so stolz und hochmütig in seiner Herrlichkeit, daß er ohne jede Begleitung irgendeines Tieres umherzieht.» Artus beschließt, diesen weißen Hirsch zu jagen, und Gwalchmai (Gauvain/Gawan) schlägt vor, »demjenigen, dem der Hirsch auf der Jagd zuerst zu Gesicht kommt, zu gestatten, ihm den Kopf abzutrennen und ihn zu geben, wem immer er will, sei es seiner Herrin oder amie oder der Herrin seines Gefährten und ohne Unterschied, ob der Hirsch einem Ritter oder Knappen zufalle.»[45]

Merlins Hirsch ( Wales):

Nachdem Merlin den Verstand verloren hatte, zieht er sich in den Wald von Kelyddon zurück und hat sogar seiner Gemahlin Gwendolyn gestattet, sich unter gewissen Bedingungen wieder zu verheiraten. Eines Tages erfährt er von ihrer nahenden Vermählung und erscheint auf dem Rücken eines Hirsches reitend und ein ganzes Hirschrudel vor sich hertreibend bei ihr. Er ruft Gwendolyn heraus, sie zeigt sich am Fenster und amüsiert sich köstlich über dieses Schauspiel. Da tritt auch der Bräutigam hinzu, um ebenfalls das Ereignis zu bestaunen: Aber da reißt Merlin dem Hirsch, auf dem er reitet, die Geweihe aus, wirft sie nach dem Bräutigam und schlägt ihm damit den Schädel ein. Dann reitet er auf seinem kuriosen Reittier wieder in den Wald zurück.[46]

Edern und Genoveva (Bretagne):

Edern, eine Figur der Artusromane, die in der Bretagne zum Hl. Edern wurde, gelangt einmal »reitend auf einem Hirsch mit seiner Schwester Genoveva hinter sich auf der Kruppe« in die Monts d'Arree. Dort lassen sie sich beide nieder: Genoveva in Loqueffret, Edern in Lannedern. Der Hirsch hilft ihnen beim Transport der Lasten, und so können sie sich ihre Einsiedelei einrichten. Um ihren Besitz voneinander abzugrenzen, muß Edern bis zum ersten Hahnenschrei auf dem Rücken des Hirsches soviel Land durchreiten, wie er kann. Dieses Land soll dann ihm gehören. Als Genoveva sieht, daß der Hirsch viel schneller dahinjagt, als zu erwarten war, bringt sie einen Hahn zum Krähen. Seitdem geht die Kunde, daß in den Wäldern der Umgebung noch heute die Nachkommen des Hirsches vom Hl. Edern leben.[47]

Die Jagd auf den weißen Hirsch scheint ursprünglich ein magisch-religiöses Ritual zur Verehrung einer Frau gewesen zu sein, wobei aber der Hirsch von Merlin und der von Edern diese Funktion verloren haben. Man ist sich aber allgemein darüber einig, daß der Hirsch als ein'Tier anzusehen ist, das Überfluß und Fertilität erzeugt. Die gallischen und gallo-römischen Darstellungen des Gottes mit einem Kelch oder einem Sack, aus dem sich ein Geldstrom ergießt, scheinen das zu bestätigen. Nun sind Überflußund Fruchbarkeit aber vor allem kennzeichnende Attribute der Frau. Daher müssen wir weiterhin an der Behauptung festhalten, daß das Bild des Hirsch-Gottes (bzw. des auf dem Hirsch reitenden Gottes) nur ein älteres Bild ersetzt, nämlich das Bild der Hirschkuh-Göttin, oder der Göttin auf bzw. mit der Hirschkuh. Es handelt sich hier im übrigen wieder um das Motiv des Hirschwaldes, das schon in archaischer Zeit zu finden ist und auf prä-indoeuropäische Ursprünge zurückgeht: so findet sich schon unter den Höhlenzeichnungen des Camonica-Tales, die etwa aus dem V. vorchristlichen Jahrhundert stammen, unter anderem die Darstellung einer Göttin mit Torquen (= den für die Kelten typischen spiralförmig gedrehten Halsringen; Anm.d.Hrsg.) und Hirschgeweihen; ein weiterer sicherer Beweis für das hohe Alter des Motivs ist ein Bild der >Grotte des Trois-Freres<, das auf das Paläolithikum zurückgeht und aus einer halb tierischen, halb menschlichen Gestalt besteht, die ebenfalls ein hirschartiges Geweih trägt. Auch in den Bestattungsstätten des Mesolithikums auf den Inseln Teviec und Hoedic (Morbihan) wurden auf Totenschädeln Hirschgeweihe gefunden. Von den nordeuropäischen Völkern wird der Hirsch ganz besonders verehrt, der hier deutlich als ein die Jagd allgemein repräsentierendes Tier gilt. Manche Schamanen Sibiriens verkleiden sich als Hirsche und tragen Geweihe auf dem Kopf. Der Hirsch — egal ob männlich oder weiblich — muß demnach schon in der arktischen Kultur ein heiliges Tier gewesen sein, dessen Symbol während der Eiszeit lis in das Mittelmeergebiet verbreitet war.[48] Das Entscheidende ist, daß dies alles auffallend stark an die Praktiken und Glaubensinhalte der alten Skythen erinnert: In zahlreichen skythischen Gräbern Asiens, besonders in seiner Ostregion, hat man nämlich Statuetten von Menschen oder Tieren mit Hirschgeweihen gefunden und sogar ornamentale Geschirre, die für Pferdeköpfe bestimmt und ebenfalls mit Hirschgeweihen geschmückt waren; die wichtigsten Funde dieser Art stammen aus dem berühmten Grabungsfeld von Pazirik, östlich des Altai-Gebirges.[49]

Damit gelangen wir wieder zu jener Göttin, die man die skythische Diana genannt hat, und hinter der sich die griechische Artemis verbirgt, die Sonnengottheit, die der Geburt der Zeit vorausging und die später ihre ursprüngliche Gestalt und Funktion zugunsten eines männlichen Gottes verlor. Wie dieser Prozeß in der griechischen Welt abgelaufen ist, läßt sich übrigens noch deutlich erkennen und auf die keltische Tradition übertragen: ursprünglich war Artemis — der Name der Göttin spielt dabei keine Rolle — mit ihrer Mutter Leto (oder Latona) identisch, ähnlich wie Kore-Persephone, die lediglich eine Doublette ihrer Mutter Demeter war: sie symbolisierte die junge, aufgehende und kraftvolle Sonne —im Gegensatz zu Leto, die die alte, untergehende und verbrauchte Sonne personifizierte; entsprechend war Kore das junge Mädchen, d.h. die junge Erde, gegenüber Demeter, der alten Mutter-Erde, worin im übrigen der wohlbekannte Mythos der Wiedergeburt zu erkennen ist. Als die weiblichen Gottheiten vermännlicht wurden, war es unmöglich, den weiblichen Aspekt dieser Gottheiten total in Vergessenheit zu bringen; so wurde die Gestalt der Artemis zwar beibehalten, man gesellte ihr jedoch ein männliches Pendant zur Seite, ihren Bruder Apoll, welcher dann den Sonnenaspekt für sich monopolisierte, während Artemis in die Nacht verbannt und zur Mondgöttin wurde.[50] Bekanntlich war ja der Mond ursprünglich männlich und die Sonne weiblich konnotiert.[51] Es hat also eine gewaltige Umwälzung in der religiösen und mythischen Symbolik stattgefunden: Leto, die Muttergöttin Sonne, wurde durch ihre beiden (männlichen und weiblichen) Kinder ersetzt und, wie man weiß, hat Juno-Hera alles darangesetzt, um die Geburt dieser aus dem Ehebruch mit Zeus (und somit aus den patriarchalischen Privilegien) hervorgegangenen Kinder zu verhindern, mit anderen Worten: Hera, die göttliche Frau, hat sich geweigert, die Umformung der Gynäkokratie in das Patriarchat anzuerkennen.[52]

Daher ist es keineswegs aus der Luft gegriffen, die These aufzustellen, daß die Kinder der ehemaligen Sonnen-Göttin (oder der ehemaligen Hirschkuh-Göttin, was auf dasselbe hinausläuft), in Merlin und seiner Schwester Gwendydd einerseits und in Edern und seiner Schwester Genoveva andererseits in neuer Gestalt wiederzuerkennen sind. Denn obwohl Merlin mit Gwendolyn verheiratet ist, gibt er sich doch vor allem mit seiner Schwester Gwendydd ab und scheint sich die Welt mit ihr zu teilen. Am Ende der Vita Merlini, jenes bemerkenswerten Werkes aus dem XII. Jahrhundert, das wir Geoffroy of Monmouth verdanken, überträgt Merlin alle seine Zauber- und Propheten-Kräfte auf seine Schwester Gwendydd, was in gewissem Sinn als eine Rückbesinnung auf gynäkokratische Konzepte gewertet werden könnte. Was den »Heiligen» Edern betrifft, der nichts anderes ist als der Sohn des keltischen Gottes Nudd, d.h. Nodens, und der Bruder von Gwynn, dem Höllenpförtner in der christlich-walisischen Tradition, so verteidigt dieser hartnäckig sein Landregen seine Schwester Genoveva, die, obwohl sie eine Heilige ist, — warum auch nicht? — als äußerst unsympathisch und listig-verschlagen dargestellt wird. Dennoch gelingt es ihr nicht, Edern zu verdrängen und an seine Stelle zu treten: denn dies hätte der christlichen Doktrin der Vorherrschaft des Mannes widersprochen. Und weshalb? Weil Edern den Hirsch besitzt, mit anderen Worten, die durch das Hirschgeweih symbolisierte Macht. Edern ist somit die neue Sonne aus der Sicht einer androkratischen Gesellschaft, die die Niederlage der Sonnengöttin bestätigt. Wer würde aber unter der Gestalt von Merlin und Gwendydd, unter Edern und Genoveva noch ohne Schwierigkeit die Figuren wiedererkennen, die einst aus der gleichen Form gegossen waren, nämlich Apollo und Artemis?
Und was soll man erst von jenen zunächst recht sonderbar anmutenden Bräuchen halten, die bis ins Christentum des Hochmittelalters hinein überlebt haben, etwa von dem Phänomen, daß auf gewissen Prozessionen hirschartige Masken getragen wurden? Über diesen als »höchst infame Schändlichkeit» bewerteten Brauch berichtete Cesaire d'Arles ausführlich in den Viten des Hl. Hilarius und Hl. Pirminius. Von hier aus bedurft« es nur eines kleinen Schrittes, um dem Teufel ein Hirschgeweih aufzusetzen, und dieser Schritt wurde leichten Fußes getan: aus dem Gott Cerunnos wurde einfach der Teufel, aber vergessen wir dabei nicht, daß sich hinter der so praktischen Maske des Teufels noch alles verbirgt, was von den neuen sozialen und religiösen Dogmen verboten wurde, mit anderen Worten: alle Erinnerungen an die Muttergöttin.
In einem berühmten Text des XIII. Jahrhunderts kommt es noch besser:

Der weiße Hirsch mit dem goldenen Halsband (Höfische Roman-Epik):

Lancelot und Guenievre befinden sich in einem Wald. »Plötzlich (...) bricht,gefolgt von vier Löwen, die seine Eskorte bilden, ein weißer Hirsch hervor. Eine funkelnde Goldkette ziert den Hals des heiligen Tieres, dessen Decke noch weißer ist als die frisch entfaltete Blüte des Klees.»**412.4.53*** Als bald darauf die drei Gralsritter Galaad, Perceval und Bohort beisammen stehn, erscheint wieder der weiße Hirsch, und wieder wird er von vier Löwen begleitet. Die drei Helden folgen dem Hirsch: Er betritt eine Kapelle, in welcher ein Priester sich gerade anschickt, die Messe zu zelebrieren. Da ist es ihnen, als verwandle sich der Hirsch in einen Menschen und drei der Löwen in Adler, Stier und Mensch. »Diese setzten sich an den Platz, wo der Hirsch gesessen (...) und verschwanden durch ein Fenster hinaus, ohne das Glas zu zerbrechen oder sonst in irgendeiner Weise zu beschädigen.»[54]

Die christliche Auslegung ist völig problemlos: es handelt sich einfach um Christus und die vier Evangelisten, die auf die beschriebene Weise eine Himmelfahrt unternehmen, die ihrer durchaus würdig ist. Alle Kommentatoren sind sich darin einig. Und doch ist diese Auslegung viel zu einfach und bei eingehender Untersuchung muß ein Detail daran stören: wie kommt es, daß die vier Evangelisten durch vier Löwen dargestellt wurden? Zweifelsohne zur Steigerung des poetischen Reizes, wird man sagen, um etwas Ungewöhnliches hinzuzufügen, wobei der Rückgriff auf das Bild der Löwen durchaus naheliegt, da es damals in Mode war (wie das Beispiel von Yvain und seinem Löwen in Chretien de Troyes' Versroman zeigt). Das aber hieße, den symbolischen Gehalt des Löwen zu verkennen, der dem des Hundes entspricht: Er ist der Wächter der Autre Monde. Außerdem würde dabei uaberücksichtigt bleiben, daß die Quete du Graal trotz ihrer höchst christlichen, ja viel zu christlichen äußeren Gestalt in Wirklichkeit ein gewaltiges heidnisches Epos ist, dessen archaischer Text noch in filigranen Konturen hinter der Zisterzienser-Ornamentik durchscheint: Alle Details, sämtliche Aventiuren dieser genialen Dichtung sind lediglich Travestien — und nicht einmal Transpositionen — der keltischen Quete, der Suche nach der Femme Engloutie, die durch den Gral symbolisiert wird. Zieht man diese Tatsache in Betracht, so dürfte es schwer fallen, sich noch mit der rein äußerlichen Gestalt des weißen Hirsches mit der goldenen Halskette aufzuhalten. Er ist weiß wie der in Erec und Enide von Artus gejagte Hirsch, weiß wie die weiße Hirschkuh von Guigemar. Er trägt vor allem eine goldene Halskette, d.h. ein deutliches Sonnensymbol. Man mag einwenden, daß auch Christus mit Elementen der Sonnen- und Licht-Symbolik ausgestattet ist. Dies ist in der Tat so. Nur haben sich die Schöpfer dieser Symbolik eben heidnischer Elemente bedient, um zu ihr zu gelangen. Das goldene Halsband ist nichts anderes als die berühmten goldenen Torquen der alten gallischen Häuptlinge, die Torquen, die auch der Gott Cerunnos nicht nur als Insignien seiner Göttlichkeit, sondern auch seiner Abstammung von der Sonne um den Hals trägt. Weshalb hat man eigentlich bei der Untersuchung der Auftritte des weißen Hirsches mit der Goldenen Halskette niemals an die vielzitierte Schmuckplatte des Kultkessels von Gundestrup gedacht, die den Gott Cerunnos mit Hirschgeweihen auf dem Kopf, mit den Torquen um den Hals und umgeben von vier Tieren darstellt? Und weshalb hat man bisher nie auf die Analogie geachtet, die zwischen dieser Episode der Quete, jener Darstellung auf dem Kultkessel von Gundestrup und der Hirschkuh mit Hirschgeweih, d.h. Sadv, Oisins Mutter, bestehen, sowie zwischen den vier Hunden, die sein Schicksal bestimmen, Finns beiden Spürhunden Brán und Scolan, die sie aus dem Dunkel hervorlocken, und den beiden Bluthunden der Hölle, den Hunden des Druiden Fir Doirche, die sie ins Dunkel zurückziehen?
Letztendlich führen alle diese Wege immer zurück zur Geschichte der Sadv, der Göttin mit dem Hirschgeweih, der weißen Hirschkuh, die vom Zorn des Schwarzen Mannes, des Druiden, verfolgt wird, welcher die soziale und religiöse Ordnung vertritt, der Göttin, die von Finn und den Fiana, den letzten Rittern der Notre-Dame de la Nuit beschützt wird. Es darfauch nicht übersehen werden, daß der richtige Name von Finn (denn Finn ist nur ein später erhaltener Beiname, der >schön<, >weiß<, >blond< bedeutet) eigentlich Demne ist (worin noch ein altes *Dam-Nijo = >kleiner Hirsch' zu erkennen ist), ferner, daß der Name seines Sohnes Oisin >Hirschkalb< bedeutet, und daß Oisins Sohn Oskar heißt, was soviel wie >der die Hirsche liebt< bedeutet. Außerdem heißt ein Teil von Leinster Osraige, mit der Bedeutung >Volk des Hirsches<, und schließlich darf nicht vergessen werden, daß der gesamte Epenzyklus um Finn bzw. Leinster unter dem symbolischen Patronat des Hirsches steht, der Ulster-Zyklus dagegen unter dem Zeichen des Stiers oder der Kuh.[55] Soviel soll zur Hervorhebung der besonderen Bedeutung der Sadv und der Geschichte von Oisin/Ossian genügen: denn die HirschkuhGöttin oder Göttin mit der Hirschkuh geht auf das älteste Bild der Artemis/ Diana zurück, der Sonnengöttin jener Völker, die vor den Indoeuropäern in Westeuropa beheimatet waren.

4. Die Göttin mit den Vögeln

Wie wir gesehen haben, war Rhiannon nicht nur die Stutengöttin, sondern sie stand auch mit den Vögeln in einer bestimmten Verbindung. Die »Vögel der Rhiannon» sind tatsächlich in der gesamten walisischen Tradition eine auffällige Erscheinung. In der Erzählung von Kulhwch und Olwen fordert Yspaddaden Penkawr die atemberaubendsten, kompliziertesten Geschenke von Kulhwch, als dieser ihn um die Hand seiner Tochter Olwen bittet, und zu diesen Forderungen gehörten unter anderem auch »die Yögel der Rhiannon, die die Toten erwecken und die Lebenden in Schlaf versetzen; — noch heute nacht will ich mich daran erquicken».[56] Diese Wundervögel finden wir wieder in der Erzählung von Branwen, dem zweiten Text der Mabinogrion-Dichtungen:

Die Gastlichkeit des heiligen Kopfes {Wales):

Nach einer katastrophal endenden Expedition nach Irland, um Branwen, die Schwester von Brán zu befreien und den Kessel der Wiedergeburt zurückzuerobern, wird Brán verwundet. Er bittet die anderen sieben Überlebenden, ihm den Kopf abzuhacken, ihn mitzunehmen und nach Britannien zurückzukehren. »In Harddlech sollt ihr sieben Jahre lang an der Tafel verweilen, während die Vögel der Rhiannon für euch singen werden. Mein Kopf wird euch dabei eine ebenso angenehme Begleitung sein wie während der besten Stunden jener Zeit, als er noch auf meinen Schultern sak.» So geschieht es. »Sie begaben sich nach Harddlech und ließen sich dort nieder. Zunächst versahen sie sich mit unermeßlichen Vorräten an Speisen und Getränken und begannen dann zu speisen und zu trinken. Da kamen drei Vögel und sangen ihnen in einer Weise, die den Gesang der Vögel, die sie bis dahin vernommen hatten, ohne jeden Reiz erscheinen ließ. Die Vögel befanden sich in der Ferne über dem Wasser, aber sie waren so genau zu erkennen, als säßen sie in nächster Nähe bei ihnen. Das Festmahl währte sieben Jahre lang.«[57]

Rhiannon selbst tritt zwar in dieser Geschichte persönlich nicht auf, aber dafür ihr Sohn Pryderi, der als einer der sieben Überlebenden einer der sieben Teilnehmer an diesem Fest der Unsterblichkeit ist, welches sieben Jahre dauert. Auf jeden Fall lassen jene Wundervögel, ron denen es ausdrücklich heißt, daß sie der Rhiannon gehörten, nicht nur jedes Zeitgefühl, sondern auch die Erinnerung an die schmerzhaften Augenblicke der Vergangenheit vergessen. Das gleiche Thema ist fast vollständig auch in einem Artusroman enthalten, der nicht sonderlich bekannt aber in vieler Hinsicht faszinierend ist, nämlich im Roman de Jaufre:

Der Garten der Brunissen (Okzitanien):

Nach einer Reihe seltsamer Aventiuren im Walde Broceliande hat Jaufre einen (Baum-)Garten erreicht, der »allseitsumschlossen mit Marmor» und voller Vögel ist. Dieser Garten befindet sich auf dem Terrain des Palasts von Monbrun, in dem in aller Abgeschiedenheit die junge Vaise Brunissen eingeschlossen lebt: »Sie ist gekleidet in eine elegante, hoch geschlossene Korsage aus Seide. Ihr Haar, fein und blond, wird anmutig von einem goldenen Faden zusammengehalten. Sie ist natürlich, makellos, rein und ihr Glanz verblaßt zu keiner Zeit, weder am Morgen noch zur Stunde des Sonnenuntergangs; ihr Strahlen nimmt eher stetig zu, und ihr Licht breitet sich ständig weiter aus: davon wird jeder beschienen, der an ihrer Seite wandelt. Sie trägt auf ihrem Haupt (...) eine Haube aus Pfauenfedern, und in der Hand hält sie eine herrliche Blume, die einen sanften Duft verströmt.» Diese Brunissen ist seit sieben Jahren tief betrübt und leidet an einem Kummer, den sie mit den Ihrigen viermal am Tage und viermal bei Nacht beweint. Einzig der Gesang der Vögel vermag ihren Schmerz zu lindern. {Roman de Jaufre v. 3040ff.)

Es besteht kein Zweifel, daß diese rätselhafte Gestalt der Brunissen eine Sagen-Gottheit ist: Das leuchtende Strahlen ihres Gesichtes weist darauf hin. Aber es handelt sich nicht um die Sonne der Lebenden: sondern um die Sonne der Autre Monde, um jene Sonne, die eher am Abend als am Morgen zu scheinen beginnt. Es ist die »Schwarze Sonne». Außerdem ist bereits ihr Name aufschlußreich: Brunissen ist die >Braune Königin<, — trotz ihrer blonden Haare, deren Färbung mit der damaligen Mode zusammenhängt und die die Idee der Sonnenhaftigkeit noch unterstreicht. Sie wohnt im Palast von Monbrun, heißt es, und Monbrun bedeutet >Schwarzer Berg<, sofern es sich hier nicht um eine okzitanische Deformierung eines keltischen Wortes handelt, das etwa MaenBrán gelautet haben könnte, was dann >Stein des Rabe< bedeutet. Bekanntlich ist aber der Rabe das Tier Apolls, und dies trotz seiner schwarzen Färbung; ferner ist er das Tier des keltischen Gottes Lug (dessen Name >weiß< bedeutet); außerdem ist der Rabe direkt mit dem Namen des brit(ton)ischen Helden Brán Vendigeit (>der geweihte Rabe<) verbunden, dessen Kopf zusammen mit den Vögeln der Rhiannon das Fest der Unsterblichkeit ermöglicht. Darüber hinaus gleicht Brunissen mit ihrer Haube aus Pfauenfedern der Juno, deren symbolisches Tier der Pfau ist. Diese Juno ist jedoch nicht die Juno/Hera des Tages, sondern eher die beunruhigende in das Dunkel der Nacht verbannte Juno/Lucina, genannt die >Böse Lucine<, die Mala Lucina, aus der im traditionellen Volksglauben der Region Poitou die Melusine wurde. Und diese Notre-Dame der Nacht — denn auch sie ist eine, schließlich ist sie im Palast von Monbrun eingeschlossen! — trägt in der Hand eine Zauberblume, die nichts anderes ist als die Blume der Unsterblichkeit.
Dies sind äußerst auffällige Kennzeichen. Brunissen ist seit irgendeinem tragischen Ereignis tieftraurig, heißt es weiter. Sie und ihr Gefolge drücken diese Trauer tränenreich aus, was durchaus an die Klageschreie und Seufzer erinnert, deren Zeuge Peredur im Zauber-Schloß (= Gralsburg) während jener Szene wird, die die ursprüngliche Gralsprozession gewesen sein dürfte. Und seit sieben Jahren wird Brunissen durch den Gesang der Vögel getröstet. Dies ist kein Zufall: Der okzitanische Autor des Roman de Jaufre bezieht sich auf die gleiche Überlieferung, die wir auch in der Erzählung von Branwen vorfinden, und so erhalten wir eine ziemlich präzise Beschreibung der >Göttin mit den Vögeln<, einer NotreDame der Nacht in wieder anderer Gestalt.
Eine andere wohlbekannte Episode enthält ebenfalls dieses Thema der verzaubernden Vögel. Sie taucht sowohl in der walisischen Literatur, als auch in den französischen Artus-Romanen auf:

Die Vögel von Barenton (Wales und Bretagne):

Am Hofe des Königs Artus berichtet Kynon, der Sohn des Klydno von den Aventiuren, die ihm bei der geheimnisvollen Quelle von Barenton widerfahren sind. Er hatte Wasser auf die Vorstufe der Quellenfassung gegossen, da brach ein fürchterliches Unwetter aus und hatte insbesondere einen Baum in der Nähe der Quelle aller seiner >Blätter< beraubt. »Bald darauf heitert sich das Wetter wieder auf und sofort lassen sich die Vögel auf dem Baum nieder und fangen zu singen an; und ich bin sicher, Kai, weder vorher noch nachher jemals eine Musik gehört zu haben, die mit jener vergleichbar gewesen wäre. Als ich ihnen gerade mit höchstem Genuß lausche, dringen Klageschreie aus dem Tal herauf an mein Ohr.» Ein Ritter erscheint, macht Kynon schwerste Vorwürfe wegen seiner Tat, die das Land verwüstet hat und fordert ihn zum Zweikampf heraus. Kynon wird besiegt.[58]

Und nun die Beschreibung des Vogelgesangs im entsprechenden Werk von Chretien de Troyes:

»Da erblickte ich die Vögel in so gewaltiger Zahl auf der Kiefer sitzen, daß es keinen Zweig, keine Nadel gab, die nicht vollkommen von ihnen bedeckt gewesen wäre, was den Baum aber nur prächtiger machte, und alle Vögel sangen, jeder in einer anderen Art, die sich aber dennoch in höchst wunderbarer Weise zu einem harmonischen Ganzen fügte. Ich erfreute mich an ihrem Frohsinn und lauschte ihrem Gebet bis zum Schluß; nie zuvor hatte ich eine so herrliche Musik gehört; ich glaube nicht, irgendein Mensch könne jemals eine ähnliche Musik zu hören bekommen wie jene, die so sanft und angenehm auf mich wirkte, daß ich glaubte zu träumen. Als der Sang zu Ende war, vernahm ich den herannahenden Galopp eines Pferdes.«[59]

Durch diesen Bericht höchst neugierig geworden, bricht Owein/Yvain nach der mysteriösen Quelle auf, um seinerseits das beschriebene Experiment zu riskieren. Er verwundet den Quellenritter, der auch ihn angreift, tödlich und heiratet anschließend die >Dame der Quelle<, die Witwe des getöteten Schwarzen Ritters, da diese nach einem Mann und Verteidiger der Quelle verlangt. Diese Quellendame, die nur bei Chretien (und seinen Nachfolgern) den Namen Laudine trägt — hat sich durch die Überredungskünste ihrer Dienerin Luned/Lunete (einer Fee, die auf Oweins/Yvains Seite steht) zu diesem Schritt bewegen lassen: Wenn ihr Gatte getötet würde, wurde ihr zu bedenken gegeben, dann muß er, verglichen mit dem Sieger, nicht viel getaugt haben.
Abgesehen von der historischen Deutung, die den Gesang der Vögel auf der Kiefer von Barenton als Ausdruck des Erstaunens eines französischen Dichters über die walisische Gesangskunst interpretiert, die für den Ursprung der polyphonen Musik der Ars-Nova-Tradition gehalten wird,[60] kann man auch die Tatsache hervorheben, daß diese Vögel magische Kräfte haben: denjenigen, der ihren Gesang vernimmt, versetzen sie in eine Verzückung, die der Extase nahekommt und den Hörer seine eigene Existenz vergessen läßt. Ihr Gesang ertönt nach dem Unwetter, so als wolle er den Tollkühnen zurückhalten, der es gewagt hatte, den höllischen Mechanismus des Unwetters auszulösen, und auf diese Weise dem Verteidiger der Quelle ermöglichen, noch rechtzeitig zu erscheinen und den Täter »mitten im schönsten Traum» zu überraschen. Auch darf nicht übersehen werden, daß der walisische Text, der dem Archetypen nähersteht, eigens betont, daß alle Lebewesen durch das Unwetter umkamen und daß der Baum, die Kiefer, alle ihre >Blätter< d.h. Nadeln, verlor. Wenn danach aber die Vögel trotzdem auf ihm einfallen, so deshalb, weil sie nicht der Welt der Wirklichkeit angehören, in der sie auch umgekommen wären, sondern den Vögeln der Rhiannon vergleichbare Feenwesen sind.
Es lassen sich aber noch weitere Ähnlichkeiten aufzeigen. Die Figur der Laudine, die Dame der Quelle, erregte bisher noch kaum die Aufmerksamkeit der Mythologen, und doch erfahren wir durch sie Bedeutendes. Versteht man diese Geschichte richtig, so ist Laudine die rechtliche Besitzerin der Quelle, ihrer magischen Kraft, und damit auch der Vögel. Der von Owein/Yvain besiegte Schwarze Ritter ist gewissermaßen nur der mit der Verteidigung der Quelle beauftragte >Prinzgemahl<. Laudine wird ihn als souveräne Herrscherin durch einen Stärkeren, nämlich Owein, ersetzen, damit dieser dann die gleiche Funktion weiter ausübt. Hierin ist unbestreitbar eine Vorherrschaft seitens der Frau zu erkennen, und im weiteren Verlauf der Geschichte wird dies nur bestätigt, denn als Owein, der für eine bestimmte Zeit die Erlaubnis erhält, sich zu entfernen, nach Ablauf dieser Frist nicht pünktlich zurückkehrt, wird er von der Dame verstoßen. Andererseits wird Laudine mit der Quelle gleichgesetzt, die ein unmißverständliches Weiblichkeitssymbol darstellt: Oweins Geste, Wasser auf die Schwelle der Quelle zu spritzen, ist als eine unabstreitbar erotische Handlung zu werten,[61] die ödipaler Natur ist, denn sie bedeutet eine Vergewaltigung der Frau, und zwar eine Vergewaltigung der Mutter-Göttin. Übrigens sah der walisische Autor keinen Grund, die Figur anders als durch die Periphrase »Dame der Quelle» zu benennen: Er wußte, daß das genügt. Wenn Chretien sie daher »Laudine» nennen wollte, so muß er entweder mit diesem Namen eine bestimmte Bedeutung verbunden haben oder die von ihm benutzte Vorlage (die in einer brit(ton)ischen Sprache abgefaßt, aber nicht unbedingt die gleiche gewesen sein muß, die der walisischen Erzählung zugrunde liegt) verwendete einen Namen, den er mißverstanden oder falsch transkribiert hat. Was bedeutet Laudine? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten: man kann darin die Deformation eines walisischen Namens sehen, derEeuad (= >Mond<) enthält, oder ein altes awd, >Fluß<, >Uferböschung< (>Beet. aod oder im Vannetais > aud), mit hinzugefügtem französischen Artikel, — oder auch eine fehlerhafte Transkription eines l'ondine, was die Übersetzung eines keltischen Wortes ist. Diese letzte Deutungsmöglichkeit hätte den Vorteil, sich direkt auf den symbolischen Gehalt der Quelle zu beziehen und aus Laudine eine Wassergottheit zu machen, die sie zweifelsohne auch ist. Der Name Luned (Lunete bei Chretien und Hartmann) ist dagegen ziemlich klar und leicht zu deuten: Es handelt sich dabei um das walisische Wort Llun (= >Gestalt<, >Bild<), das durch ein Suffix erweitert ist. Somit wäre Luned/Lunete nur ein anderer Aspekt der Laudine, ein Ab-Bild von ihr, gewissermaßen ihr >Double<, was übrigens gut zu der Rolle paßt, die sie in der Owein/Yvain-Sage spielt, nämlich die Rolle der Diener-Fee, eines Substituts der Herrin Laudine, die selbst im Schatten bleibt. Das bedeutet aber: wir hätten auch hier wieder die Notre-Dame der Nacht vor uns.
In anderem Zusammenhang habe ich einmal näher ausgeführt,[62] daß die >Dame der Quelle< die kosmische Ur-Mutter repräsentiert und daß durch diese Eigenschaft auch die Handlung des Tollkühnen, der Wasser auf die Schwelle gießt, als Inzest-Versuch interpretiert werden kann, — als Versuch der Rückkehr zum intra-uterinen Leben. Äußerst rätselhaft dagegen ist die Komplizenschaft zwischen Owein/Yvain und Luned/Lunete. Darf man aus der Tatsache, daß Owein/Yvain in gewissem Sinn als der Sohn und Gatte der Mutter-Göttin Laudine fungiert und aus der Tatsache, daß Luned das Double der Laudine ist, nicht darauf schließen, daß Owein/Yvain der Bruder der Luned ist, und daß beide die Kinder der Laudine sind? Dann hätten wir nämlich eine Konfiguration vor uns, die der von Apoll und Artemis, den Kindern der Leto/Latona entspricht. Laudine oder Latona? Das ist die Frage. Wie wir sehen werden, ist dieser Gedanke keineswegs so aus der Luft gegriffen, wie es zunächst den Anschein hat.
Owein liefert zu dieser gewagten Deutung den Schlüssel: Dieser Epenheld ist als Mischung von historischen Reminiszenzen und mythischen Elementen eine höchst komplexe Gestalt. Owein, Sohn des Urien, König von Rheged, als Führer der Nord-Brit(ton)en ständig im Kampf mit den Pikten und Sachsen, scheint tatsächlich eine historische Persönlichkeit zu sein. Zusammen mit Uryen wird er in der walisischen Saga des Dichters Llynwarch-Hen[63] besungen, und eines der Gedichte, die als echte Dichtungen -von Taliesin gelten, ist das »Lied von Oweins Tod».[64] Aber um die historischen Gestalten Owein und Uryen ranken sich zahlreiche disparate Elemente, die uralten mythischen Überlieferungen entliehen sind, und gerade diese liefern uns wertvolle Aufschlüsse:

Die Raben des Owein (Wales):

König Artus und Owein ab Uryen spielen eine Partie Schach. Unterdessen unterhalten sich Artus' Bedienstete damit, die Raben des Owein zu jagen und umzubringen. Dreimal hintereinander bittet Owein den König, seinen Dienern zu befehlen, das Vogelmorden einzustellen. Artus lehnt es ab, deswegen das Spiel zu unterbrechen. Da befiehlt Owein den Seinen, »das Banner im dichtesten Gewühl aufzupflanzen, und dann geschehe, wie es Gott gefällt.» So geschieht es, und Oweins Raben stürzen sich auf Artus' Leute und metzeln sie der Reihe nach nieder. Dreimal hintereinander bittet Artus Owein, dem Massaker Einhalt zu gebieten. Owein lehnt es ebenfalls ab, deswegen das Spiel zu unterbrechen. Schließlich befiehlt er aber doch, das Banner einzuholen, und es kehrt wieder Frieden ein.[65] »Owein ab Uryen hat die drei Burgen im alten Cattraeth bezwungen. Wie das leibhaftige Feuer hat Artus den Owein, seine Raben und seinen buntfarbenen Speer gefürchtet.»[66] ,Owein blieb am Hof des Königs Artus (...) bis er schließlich wieder zu seinen treuen Vasallen zurückkehrte, das heißt, zu seinen dreihundert Schwertern des Stamms von Kynvarch und seiner Rabenschar. Wohin er mit ihnen gelangte, war er Sieger.«[67]

So wie sie dasteht, ist die Geschichte kaum verständlich. Aber zwei aus Frankreich stammende Texte liefern dazu den Schlüssel, vorausgesetzt, man setzt die Methode des Vergleichs der Ähnlichkeiten konsequent fort:

La Quete du Saint-Graal (Höfische Gralsepik):
Perceval kämpft gegen einen Ritter. Da fällt ein Vogelschwarm über ihn her, um den Ritter zu verteidigen. Perceval tötet einen der angreifenden Vögel, »aber sobald er zu Boden gefallen ist, verwandelt sich der tote Vogel in eine wunderschöne Frau. Sofort stürzen alle Vcgel herab, umringen sie und entführen sie unter klagendem Geschrei in die Lüfte». Da erklärt der Ritter dem Perceval, daß die Vögel die Dienerinnen seiner amie, der »Prinzessin der Feen», seien, und daß diejenige, die von Percevals Schwert getroffen wurde, in Wirklichkeit nicht tot sei: »Ihre Gefährtinnen entführen sie zur Insel Avalon, dem Ort der Unsterblichkeit.»[68]

Didot-Perceval (Höfische Gralsepik):

Perceval kämpft gegen einen gewissen Urbain und ist dem Sieg bereits nahe. Da erblickt er eine Schar Vögel, »noch schwärzer als das Schwärzeste, das ihm je begegnet war». Und diese Vögel versuchen, den Urbain zu verteidigen und greifen Perceval an. Perceval tötet einen der Vögel. Dieser verwandelt sich, als er zu Boden fällt, in den Leichnam eines jungen Mädchens. Urbain erklärt ihm, daß es sich um Schwestern seiner Gattin Modron handelt, die die Fähigkeit haben, sich in Vögel zu verwandeln. (Ausg. Roach: v. 200ff.)

Die Figur des Urbain im Didot-Perceval ist leicht zu identifizieren: Es handelt sich um den Urgben der Historia Brittonum (Kap. LXIII), der auch in einer Genealogie des ausgehenden X. Jahrhunderts wieder auftaucht als »Urbgen map Cinmarc,[69] was neuwalisisch als »Uryen ab Cynfarch» zu lesen ist.
Und dieser von den Dichtern — besonders von Llynwarch-Hen und Taliesin[70] — als der gefürchtete Krieger und Held par excellence, als der großmächtige Vernichter der Feinde Britanniens und als das Haupt der Nord-Brit(ton)en (aus der Gegend um Strathclyde und Glasgow) besungene Uryen ist der König Urien, der von Chretien immer wieder als einer der Ritter der Tafelrunde und Vater von Yvain, d.h. Owein erwähnt wird. (Und dessen Echo noch in Wolframs Parzival als Pferdedieb Urjanz/Urians herumgeistert; Anm. d. Hrsg.).
Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand: Da Oweins Vater von einem Schwärm schwarzer Vögel verteidigt wird, bei denen es sich in Wirklichkeit um die Schwestern seiner Gemahlin Modron handelt, sind die berüchtigten Raben des Owein, mit deren Hilfe dieser in jedwedem Kampf Sieger wird, ebenfalls nichts anderes als diese Feen-Frauen, die sich in Vögel verwandeln können und den Sohn genauso schützen, wie sie den Vater geschützt haben. Und damit rückt die so eigenartige Figur der Modron in den Vordergrund.
Etymologisch ist Modron die Matrone, die Matrona der Gallier, deren Name (walis. Modr) auch der des Flusses Marne sowie der Gattungsname sämtlicher Mutter-Göttinnen ist, die in der Bildplastik der gallo-römischen Zeit zu beobachten sind. Auch in den mythischen Texten der walisischen Literatur kommt Modron häufig vor: So erwähnt einer der Mobinogion-Texte, der von den Drei Heilige(n) Würfe(n) Britanniens handelt, einen »Owein, Sohn des Uryen zusammen mit Morvudd, seiner Schwester, im Schöße der Modron, Tochter von Avallach».[71] Diese Morvudd ist einem anderen Mabinogi zufolge[72] »eine der drei Geliebten des Königs Artus». Kynon ab Klydno ist dagegen ihr Geliebter.[73] Bekanntlich ist Kynon (Calogrenant in Chretiens Yvain-Roman) derjenige, welcher als Erster die Aventiure an der Quelle von Barenton wagt und dem Owein von ihrer Existenz berichtet: somit besteht zwischen Kynon und Owein ein Zusammenhang. Ferner führt die Erwähnung der Modron, Tochter des Avallach (der walisische Name für Avalon!) seltsam in die Nähe der Morgane, die die Priesterkönigin der Insel Avalon ist: Denn wie wir bereits gesehen haben, beherrscht nach der Vita Merlini Morgane »die Kunst, das Aussehen eines Gesichts zu verwandeln und durch die Lüfte zu fliegen«.
Setzt man die Reihe der Ähnlichkeiten und Querbezüge fort, so gelangt man zu der in der irischen Epenliteratur so berühmten Gestalt der Göttin Morrigane oder Morrigu, deren Name ebenfalls an Morgane denken läßt, und die ebenfalls in Gestalt eines Vogels auftritt.[74] Morrigane wird nämlich fast ständig von zwei ihrer Schwestern, Bodbh und Macha, begleitet und sogar häufig mit ihnen, besonders mit Bodbh, verwechselt. Die Figur der Macha, die die Stuten-Göttin ist, haben wir bereits untersucht. Aber Bodbh (oder Badbh), ein Eigenname, der in der gälischen Tradition dazu tendiert, zu einem Gattungsnamen für die Böse Fee schlechthin zu werden, findet man im Namen einer gallischen Kriegsgöttin wieder, der durch eine in Savoyen entdeckte gallo-römische Inschrift bekannt wurde, nämlich der Göttin Cathubodua.[75] Dieser Name läßt sich segmentieren in Cathu bzw. Cath (= >Kampf; walis. und breton. Kad) und in Bodu (= >Zorn<, >Furor<, >Gewalt<), wodurch man unweigerlich an die historische Königin Bodicea oder Budicca erinnert wird, die die Seele des bretonischen Widerstandes gegen die römischen Invasoren war. Morrigane, Bodbh und Macha werden stets in besonders wilder Gestalt als kriegerische Furien dargestellt, die sich auf die Kämpfenden stürzen und sie im Kampf anfeuern. Morrigane wird sogar »Tochter des Emmas» genannt, was soviel wie >Tochter des Mordes' bedeutet und bereits ein ganzes Programm darstellt. In dem gewaltigen Epos der Tarn Bö Cualnge wirft sie sich, nachdem sie den Stier, den Grund des Krieges, beiseitegeschafft hat, in den Kampf, bietet sich ohnejede Hemmung dem Cuchulainn an und verspricht dafür, ihm im Kampf zu helfen. Cuchulainn lehnt ab. Da versucht Morrigane, sich an ihm zu rächen, wobei sie nacheinander die Gestalt einer Kuh, eines Zitteraals und einer Wölfin annimmt. D'Arbois de Joubainville hat, gestützt auf die Tatsache, daß Morrigane und ihre Schwestern meist in der Gestalt von Krähen erscheinen, vorgeschlagen, in dem berühmten tarvos trigarannos, einem gallischen Kunstdenkmal, das einen von drei Kranichen überflogenen Stier darstellt und sich im Musee de Cluny (Paris) befindet, eine Illustration dieses Themas zu sehen.[76] Im Tod des Cuchulainn kommt Bodbh, dort die Tochter von Calatin, die eine andere Form der Morrigane zu sein scheint, in der Gestalt einer Krähe über das Haus geflogen, in dem sich Cuchulainn befindet, und spricht einen Zauber aus, durch den der Untergang des Helden besiegelt wird. Als Cuchulainn gestorben ist, nähert sie sich dem Leichnam des Helden um festzustellen, ob er auch wirklich tot ist:

»In Gestalt eines Rabenvogels, genau gesagt, einer Krähe, kam sie aus den höchsten Höhen des Firmaments zu ihm herabgeflogen. Sie stieß über ihm ihre drei großen Schreie aus und setzte sich ihm gegenüber auf einen Weißdornenbusch, woher das Weißdomgebüsch in der Ebene von Muirthemne seinen Namen »Weißdorn der Krähe» erhielt.[77]

Eine History of Ireland, die im XVII. Jh. auf der Grundlage alter Dokumente von John Keating verfaßt wurde, zitiert Bodbh, Morrigane und Macha als die drei Göttinnen der Tuatha De Danann. Der Text der Schlacht von Cnucha, der den ossianischen Dichtungen angehört, erwähnt ebenfalls die »Bodbh auf der Brust der Menschen». In der Schlacht von Mag Rath ist die Rede von der »Morrigane mit dem grauen Haar», in der Zerstörung von Da Cochas Schloß geht es unter anderem um die »Bodbh mit den roten Mündern», wobei Bodbh hier im Plural steht. Im Book of Conquests, einer umfangreichen gelehrten Textsammlung über die mythischen Ursprünge Irlands, findet man folgende Aufzählung: »Bodbh, Macha und Ana (oder An and), die drei Töchter des Emmas»; — dem wird in dem auf diese Passage folgenden Gedicht widersprochen, denn dort ist in der betreffenden Reihung Ana durch Morrigane ersetzt. Abgesehen davon werden wir im folgenden noch darauf eingehen, wie diese Austauschbarkeit von Morrigane und Ana zu beurteilen ist.

Hier soll uns genügen, daß die gälische Morrigane wie die Morgane der Artusromane die Fähigkeit besitzt, sich in einen Vogel verwandeln zu können, und von ihren Schwestern begleitet wird, die die gleiche Gestalt haben. Es steht außer Zweifel, daß es sich bei Modron um die gleiche Figur handelt: um die Mutter Göttin, die ihren Gemahl bzw. ihren Sohn beschützt. Aber dabei gibt es eine kleine Schwierigkeit: Die walisische Überlieferung ordnet in manchen Fällen der Modron die Kinder Owein und Morvudd, in anderen Fällen aber nur einen einzigen Sohn zu. Und dieser Einzelsohn ist keineswegs weniger rätselhaft: es handelt sich um Mahon. Die walisische Erzählung von Kulhwch und Olwen, die äußerst alt ist, bezeichnet ihn als »Mahon, Sohn der Modron, den man in der dritten Nacht nach seiner Geburt zwischen der Mutter und der Wand heraus entführt hatte.»[78] Danach erfährt man, daß Mahon an einem unbekannten Ort gefangen gehalten wird, und eine der Prüfungen, die Kulhwch auferlegt werden, besteht darin, ihn zu finden. Nach einer der Mabinogion-Tnaden war Mahon einer der drei illustren Gefangenen der britischen Insel.[79] Mit Hilfe von König Artus und seinen Rittern wird Mahon schließlich in einem unterirdischen Kerker in Kaer Loyw wiedergefunden, in einem Gefängnis, von dem es heißt, daß es nur über einen Fluß und zwar auf einem Fisch reitend erreicht werden kann. »Kai und Bedwyr stiegen auf die Schultern (sie!) des Fisches, und während die Artusritter das Schloß angriffen, schlug Kai eine Bresche in die Kerkermauern und entführte den Gefangenen auf seinem Rücken.»[80]
Bei den Galliern und besonders bei den Bretonen gab es zu römischer Zeit eine Sonnengottheit, die Maponos heißt. Wir kennen den Namen aus Inschriften auf der britischen Insel, besonders aus dem Stammland der Brigantes (York), sowie aus einer Widmungs-Inschrift aus Gallien, die in Bourbonne-Lesbains gefunden wurde. Der Name Mahon/Maponos ist nicht schwer zu deuten: Er stammt aus einem brit(ton)ischen *mapos (gäl. *makos), was >Sohn' bedeutet (walis. mab, breton. ab, irisch mac). Dieser Name erinnert an den gälischen Helden Oengus, der auch Mac Oc, d.h. >Junger Sohn' genannt wurde und Sohn des Dagda, eines der Führer der Tuatha De Danann war: Dieser Mac Oc, die Frucht einer verbotenen Liaison zwischen Dagda und Eithne aus dem Sidh von Brug-Na-Boyne, wird genaugenommen nicht entführt, sondern direkt nach seiner Geburt dem Mider von Brig-Leith, einer Art Schattengottheit[81] zur fosterage übergeben. Diese Geschichte ist hier deshalb von Interesse, weil es Dagda später gelingt, Oengus in den Besitz des mütterlichen Erbes zu bringen, und dies zum Nachteil seines rechtlichen Vaters Elcmar, was wieder das hartnäckige Überleben der uterinen bzw. matrilinearen Erbfolge zeigt.
Es ist wahrscheinlich, daß mit Mahon kein anderer als Owein gemeint ist, da er der Sohn ist. Da aber der solare Charakter von Mahon als gesichert gilt, hat man in Mahons Gefangenschaft die Gefangenschaft der jungen Sonne gesehen, die ein Held befreien muß. So gesehen ist dann die Mutter-Göttin Modron die ehemalige Sonnengöttin. Man beachte, daß sich Mahons Kerker wie per Zufall in Kaer Loyw befindet, was aber »Zitadelle des Lichts» bedeutet, und daß der Gefangene nur mit Hilfe eines Fisches befreit werden kann, was den Symbolgehalt eines regelrechten regressus ad uterum hat, einer Regeneration durch die Mutter. Und dies ist Mahons zweite Geburt. Man kann darin natürlich auch eine Doublette zur Geschichte von Rhiannon und Pryderi sehen (über deren Sonnencharakter es ebenfalls keine Zweifel gibt): Auch Pryderi gelangt zu seiner zweiten Geburt in dem Augenblick, als Rhiannon ihn wiederfindet und ihm seinen endgültigen Namen gibt. Modron kann also nur die Göttin mit den Vögeln sein, wenn nicht gar die Vogel-Göttin wie Rhiannon, und auch sie ist auf einer der Platten des Kultkessels von Gundestrup dargestellt, der — wiederholen wir es noch einmal — ein wahrhaftiges Bilderlexikon der keltischen Mythologie darstellt.
Modron steht als Tochter des Avallach auch in Zusammenhang mit dem Apfelbaum. Das Wort Apfel steckt in dem Namen Avallach, einem der Beinamen des Fischerkönigs aus der Quete du Saint-Graal. Bei den Galliern gibt es noch eine andere Sonnengottheit, nämlich Belenos, und dieser Name, der >der Funkelnde<, >Brilliante' bedeutet, hat seinen Ursprung in der gleichen Wurzel wie der des Apoll, des Sonnengottes der Griechen, die ihn aus dem Norden importiert haben, diese Wortwurzel hat in den indo-europäischen Sprachen folgendes ergeben: Apfel im Deutschen, Apple im Englischen, Malum im Lateinischen und^va/im Bretonischen; — alle diese Worte bedeuten >Apfel<! Und sind die Goldenen Äpfel aus dem Garten der Hesperiden nicht symbolische Büder der Sonne? Man sollte sich auch vor Augen halten, daß Owein, der Sohn der Modron, das Abenteuer seines Lebens an der Quelle von Barenton hat, dem alten Belenton, was >BelenoNemeton' bedeutet, also >Heilige Lichtung< bzw. >Heiligtum des Belenos<; daß es bei den Galliern eine Sonnengöttin mit Namen Belisama gab (was >die blendend Strahlende< bedeutet), die verschiedene Ortsbenennungen beeinflußte (wie z.B. Belleme); und schließlich, daß diese Göttin — in Bath (England) Sul genannt — überraschenderweise in maskulinisierter und christianisierter Form wieder in (höchst dubiosen) bretonischen >Heiligen< und >Schutzpatronen< auftaucht, wie Sul, Suliau und Suliac, die überall auf der bretonischen Halbinsel anzutreffen sind.
Man mag einwenden, dies alles führe weit vom Thema ab. Aber das mythische Denken bewegt sich stets in zentrifugaler Bahn. Aus zu Anfang sehr einfachen Elementen werden, sobald sie sich verstreuen, äußerst komplexe Gebilde. Man braucht aber lediglich die ursprünglichen Grundmuster durch alle Variationen ein und desselben Mythos hindurch zu verfolgen und gelangt so wieder zu seiner Ausgangsstruktur. Diese Struktur ist das Bild der Göttin mit ihrer Tochter, dem Resultat ihrer eigenen Regeneration, ihrem Double (Demeter und Kore), dann mit ihrem Sohn, der infolge der Maskulinisierung der Gesellschaft den Platz der Tochter eingenommen hat, sie gelegentlich völlig eliminiert oder seine Rolle mit ihr teilt (siehe Diana und Apoll).
Dabei muß man jedoch den Dingen auf den Grund gehen und darf sich nicht mit reinem Katalogisieren begnügen, wie es leider allzu viele Mythologen tun, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, endlose Namenslisten zusammenzustellen und dann zu behaupten, diese oder jene Gottheit sei der Schutzpatron dieser oder jener gesellschaftlichen Kategorie. Die Mythologie ist schließlich mehr als nippeshafter Devotionalienhandel: sie hat das Ziel, die Ursprünge der Welt und den Mechanismus des Lebens durch das Symbol auszudrücken und zu erklären. Freilich ist es jedem Einzelnen überlassen, wie und ob er es versteht. Das Zweierpaar Modron-Mahon, wie auch Rhiannon-Pryderi, Sadv-Oisin, Laudine-Owein, Goleudydd-Kulhwch, Demeter-Kore, Isis-Horus, Ischtar-Tammuz, AphroditeAdonis und wie sie alle heißen, ist nichts anderes als die Übersetzung einer großen Grundwahrheit — nämlich der ewigen Transformation der Kräfte des Lebens — in einfache Bilder.Plutarch sagt dazu treffend:

»Die Gottheit ist aufgrund ihrer Natur unsterblich und unzerstörbar, sie wird jedoch unter der Einwirkung des Schicksals und seinem unentrinnbaren Gesetz gewissen Transformationen unterworfen... Sobald die Transformationen des Gottes zur Ausgestaltung der Welt gelangen, bezeichnen die Weisen in esoterischen, verdeckten Worten die Veränderung, die er durchgemacht hat, eine Zerstörung, eine Verstümmelung (...) und erfinden dann Berichte vom Tode oder Verschwinden dieser oder jener Götter und anschließend von ihrer Wiederauferstehung oder Regeneration (...), — mythische Erzählungen, und zugleich dunkle Anspielungen auf die genannten Veränderungen...[82]

Auf unserer Suche nach der Notre-Dame de la Nuit, jener in den Jahrhunderten des Patriarchats in Untergrund und Vergessenheit abgedrängten, okkultierten Göttin, konnten wir einige besonders langlebige Bilder der Gestalt zum Vorschein bringen, die einst die große Ur-Gottheit war. Modron mit ihren beiden (Zwillings-) Kindern Morvudd und Owein ist allem Anschein nach das keltische Äquivalent der Leto-Latona und ihrer beiden Kinder Apoll und Artemis-Diana. Dies wird auch durch die Tatsache bestätigt, daß die britische Insel in der Antike als das Geburtsland der Leto galt. Diodor v. Sizilien ist sich dessen besonders sicher und stützt darauf seine These, daß der Rundtempel von Stonehenge ein Heiligtum zu Ehren der Sonnengottheit sei.[83] Diese Ansicht wird übrigens von Pomponius Mela bestätigt. Im Falle der Modron ist die Göttin von wunderwirkenden Vögeln begleitet, — falls man sie nicht selbst als Wundervogel anzusehen hat. Und dieser Vogel ist der Rabe bzw. die Krähe. Bekanntlich ist aber der Rabe auch das symbolische Tier Apolls und trotz seiner schwarzen Farbe ein Sonnensymbol. Es gibt aber auch weiße Raben, worauf u.a. der Name der brit(ton)ischen Gottheit Branwen (= >weißer Rabe'), der Schwester des Helden Brán, hinweist. Man hat auch einen Bezug zwischen Modrons Kindern, Morvudd und OweinMahon einerseits und Branwen und Brán, den Kindern von Llyr, andererseits zu sehen, wobei der Name Llyr >Fluten< bedeutet und somit wieder den Hinweis auf eine Meeresgottheit gibt, die ohne Zweifel ursprünglich weiblich war.[84]
Aber Notre-Dame der Nacht kann auch in Begleitung anderer Vögel oder selbst in Gestalt eines anderen Vogels als Rabe oder Krähe in Erscheinung treten. Denn zahlreiche keltische Epen berichten von Vogel-Frauen.

Die Geburt des Cuchulainn (Irland):

Dechtire, die Schwester des Königs Conchobar, ist ohne Erlaubnis Conchobars mit fünfzig Mädchen geflohen. Eines Tages tauchen sie in Gestalt von Vögeln wieder auf, und alle Ulates machen sich auf die Jagd nach ihnen. Dabei gelangen sie zu geheimnisvollen Häusern, aus denen eine seltsame Musik dringt. Schließlich erfährt Bricriu, einer der Ulates, daß Dechtire und die fünfzig Mädchen sich darin aufhalten, und am folgenden Morgen findet man, schlafend an Conchobars Brust, ein kleines Kind. In der Folge stellt sich heraus, daß es Dechtires Sohn ist, und man gibt ihm den Namen Setanta. Dies ist das Kind, das später den Beinamen Cuchulainn erhält.[85]

Die Geschichte der Derbforgaille (Irland):

»Derbforgaille, die Tochter des Königs von Lochlann, verliebte sich in Cuchulainn, allein aufgrund all der herrlichen Geschichten, die man über ihn erzählte. Mit ihrer Dienerin brach sie in Gestalt von zwei Schwänen, die durch eine Goldkette aneinandergebunden waren, nach Osten auf und erreichte schließlich Lough Cuan.» Cuchulainn, der sich dort in Begleitung seines Milchbruders Lugaid aufhält, schießt nach den Vögeln mit der Schleuder einen Stein, der im Körper des einen von ihnen stecken bleibt. Da nehmen die Vögel wieder menschliche Gestalt an, und Cüchlainn saugt der Derbforgaille den Stein aus der Wunde. Da nun aber eine Bindung des Blutes zwischen ihnen besteht, kann er sich nicht mehr mit ihr vereinigen und gibt sie dem Lugaid.[86] 

Die Leiden des Cuchulainn (Irland):

An einem Samain-Tag sitzen alle Ulates beisammen, und die Frauen bitten Cuchulainn, ihnen die Vögel zu fangen, die sie über den See fliegen sehen. Cuchulainn gelingt diese schwierige Aufgabe. Wenig später fallen zwei durch eine Kette aus Rotgold miteinander verbundene Vögel am See ein und singen ein liebliches Lied, das alle Ulates außer Cuchulainn, seiner Konkubine Ethne und seinem Sauhirten Loeg in tiefen Schlaf versetzt. Cuchulainn nimmt seine Steinschleuder und schießt nach den Vögeln, aber zum ersten Mal in seinem Leben schießt er daneben. Er schleudert seinen Speer nachihnen und durchsticht einem der Vögel den Flügel, woraufhin sich beide unter die Wasseroberfläche flüchten. Cuchulainn überfällt starker Schwindel. Er lehnt sich gegen eine Steinsäule und schläft ein. Da hat er einen gräßlichen Traum, indem ihm zwei junge Frauen erscheinen und ihn verprügeln. Das wirft ihn ein ganzes Jahr lang krank zu Bett. Da hat er wieder einen Traum, und eine der beiden Frauen enthüllt ihm, daß ihre Gefährtin Fand, die Gemahlin des Königs Manannan,in ihn verliebt ist und hofft, er werde zu ihr in ihr Feenland kommen.[87]

Die Tochter des Zauberers (Bretagne):

Während der junge Schäfer Pipi Menou seine Schafe in der Nähe eines Sees weidet, ist ihm aufgefallen, daß hin und wieder große Vögel unweit des Sees landen. Sobald sie die Erde berühren, verwandeln sie sich in wunderschöne Mädchen, die in völliger Nacktheit im See baden und sich in der Sonne tummeln. Später, bei Sonnenuntergang, nehmen sie wieder ihre Vogelgestalt an und verschwinden in den Lüften. Der Schäfer fragt seine Großmutter um Rat, was dies zu bedeuten habe, und diese antwortet ihm: »Das sind Schwanen-Frauen,Töchter eines mächtigen Zauberers, die in einem herrlichen Palast wohnen, der ganz aus Gold und funkelnden Edelsteinen besteht und an vier Goldketten über dem Meer aufgehängt ist...». Mit Hilfe einer List gelingt es Pipi Menou, die drei Töchter des Zauberers dazu bewegen, ihn zu dem Zauberpalast zu führen, und dort begibt er sich Abend für Abend, versteckt in einem Korb, in die Kammer derjenigen, die ihm am besten gefällt. Als aber die beiden leer ausgehenden Schwestern drohen, das Geheimnis zu verraten, sofern er nicht auch sie besucht, flieht Pipi Menou, nachdem er sich noch schnell eine hübsche Menge Edelsteine eingesteckt hat, zusammen mit der jungen Zauberin, wobei er auf dem Rücken des Vogel-Mädchens durch die Luft fliegt.[88]

Die Vögel des Gwenddoleu (Wales):

Die beiden Vögel des Gwenddoleu, die ein goldenes Joch trugen, waren höchst ungewöhnliche Tiere: Sie gaben sich nicht mit ihrem Amt, die Schätze ihres Herrn zu bewachen, zufrieden, sondern verschlangen alltäglich zum Diner zwei Menschen und ebensoviele zum Souper.[89]

Die Vögel des Drutwas (Wales):

Drutwas, der Sohn des Tryffin, einer der Ritter der Tafelrunde, hat eine FeenFrau geheiratet, und diese macht ihm drei Wundervögel zum Geschenk, die die Worte der Menschen verstehen können und alles tun, was man ihnen befiehlt. Drutwas nimmt sie mit in den Krieg, wo sie wahre Wunder vollbringen. Als er aber König Artus herausfordert, schickt er an seiner Stelle seine Vögel mit dem Befehl aus, den Ersten, den sie antreffen, zu töten. Da Artus verhindert ist, persönlich zu erscheinen, erscheint Drutwas selbst als Erster an dem vereinbarten Ort, und so wird er von seinen eigenen Vögeln zerfleischt.[90]

Es handelt sich bei den Vögeln des Drutwas wie bei den Raben des Owein zweifelsohne um Feen. Die Vögel des Gwenddoleu, die täglich zwei Menschen verschlingen, sind ebenfalls Feen-Wesen und wohlgemerkt weiblichen Geschlechts: Hier dominiert der Kali-Aspekt der Göttin: sie ist die Verschlingende. Man beachte, daß alle diese Vögel jeweils miteinander durch eine goldene Kette verbunden sind, und daß sie in dieser Form auch fliegen. Andererseits nehmen sie, sobald sie den Boden berühren, ihre Frauengestalt an. Sie behalten also nicht ständig ihre Vogelgestalt bei wie die Kinder von Lir, die durch einen von ihrer »Raben-Mutter» (wie es sprichwörtlich heißt) über sie verhängten Fluch dazu verurteilt sind, ewig in Vögel verwandelt zu bleiben. In der Brautwerbung um Etaine verwandelt sich Mider in einen Schwan, um Etaine ihrem Gemahl, dem König Eochaid, zu entführen, und ebenfalls in der Gestalt von Schwänen flüchten beide von Hügel zu Hügel, nachdem der König befohlen hatte, in allen Hügeln Irlands nach ihnen zu graben und sie wieder einzufangen.[91] Diese Schwanengestalt erinnert unweigerlich an die brit(ton)isch-germanische Sage von Lohengrin, Parzivals Sohn, der, als er sich gezwungen sah, das Geheimnis seiner Herkunft preiszugeben, auf einem Schwan nach dem geheimnisvollen Königreich seines Vaters, des Gralkönigs, fliehen mußte. Diese Geschichten von Prinzen oder Prinzessinnen, die infolge eines Fluchs oder einfach zu dem Zwecke, in Bereiche vorzustoßen, in die sie in ihrer menschlichen Gestalt nicht eindringen könnten, in Vögel verwandelt werden bzw. sich selbst in Vögel verwandeln, sind in der gesamten europäischen Folklore anzutreffen.
Ferner erinnern diese Motive auch an eigenartige keltische Bräuche, in denen Vögel eine Rolle spielen, wovon die Autoren der klassischen Antike berichten. So beschreibt Strabo (IV,6) unter Berufung auf den Geographen Artemidor folgenden Brauch: Konnten sich zwei Personen in irgendeiner Angelegenheit nicht einigen, so legten sie auf eine erhöhte Stelle an einem Seehafen zwei Kuchen auf ein Brett. Sogleich stürzten sich Raben, deren rechter Flügel weiß war, auf die Kuchen und führten die Entscheidung herbei, denn derjenige, dessen Kuchen umkippte, wurde als Sieger erklärt. Daneben gibt es noch zahlreiche andere wunderliche Vogelgeschichten, darunter eine von Titus Livius (Buch VII) über Marcus Valerius, der von einem Raben beschützt worden sein soll, wodurch er den Beinamen Corvinus erhielt. Zu erwähnen wäre auch ein Hinweis bei Justinus (XXIV, 4) darauf, daß die Gallier während ihrer großen Wanderung durch Illyrien dem Zug der Vögel gefolgt sein sollen. All dies zeugt von dem traditionellen Glauben, daß der Vogel als ein himmlischer Führer, ein schwereloses Luftwesen anzusehen ist, dessen Mysterium in seiner Fähigkeit liegt, die höchsten Sphären erreichen und sich in der Bläue des Himmels verlieren zu können. Dieses Mysterium entspringt der gleichen Quelle wie das Mysterium der Frau. Die Frau, das geheimnisvolle und beunruhigende Wesen, gehört den verbotenen Bereichen an, und ein solcher Bereich ist auch der Himmel. Die Frau hat die Macht, Leben zu schaffen, die Kraft zu heilen, die Kraft, dem Individuum den Wiedereintritt in das Ur-Paradies zu ermöglichen, in dem es einst gelebt hatte und das es infolge der großen Katastrophe seiner Geburt verlor. Daher ist es keineswegs abwegig, sie mit den Vögeln zu vergleichen, selbst wenn bösen Witzbolden zuweilen nichts Besseres einfällt, als zu behaupten, die Frau hätte nicht mehr Hirn im Kopf als ein Vogel. Das müßte natürlich erst einmal bewiesen werden, und der Beweis steht allerdings noch aus.
Die Vogel-Frau, — oder die Göttin mit den Vögeln ist somit wieder eine Erscheinung der Notre-Dame de la Nuit, aber eine sichtlich freundlichere, ermutigendere als die des Pferdes, Bären oder Hirschen. Man hat den Eindruck, als hätten die Männer zuweilen die teuflische Maske vergessen, die sie der Frau aufgesetzt haben. Aber haben sie sie wirklich ganz vergessen? Nein, sondern ihr Unbewußtes erlaubt sich seine eigenen Scherze und tanzt aus der Reihe: gelegentlich wirkt es mit solcher Wucht, daß selbst die solidesten Dämme brechen. Es stellt sich nämlich die Frage, ob die Vogel-Göttin nicht im Grunde die Hoffnung symbolisiert, das heißt klar ausgedrückt: die Versuchung! Schließlich ist es die Großmutter, die den Schäfer Pipi Menou darüber aufklärt, wer die SchwanenFrauen sind und wie man zu dem an vier goldenen Ketten über dem Meer hängenden Palast gelangt. Immer ist es die Mutter oder eines ihrer Substitute, die dem Mann den richtigen Weg weist, immer ist es die Mutter, die das Kind erzieht, die ihm, ob er will oder nicht, seine erotischen Triebe und folglich alles, was seine Manneskraft ausmachen wird, entwickelt. Dies ist der Sinn aller Mythen, die von der rätselhaften, verwandelnden Kraft der Frau handeln — und besonders auch der Sinn der Sage von Keridwen.
Und diese Göttin, die in einem Falle Keridwen heißt, aber genauso gut Rhiannon, Laudine, Sadv, Dechtire, Macha, Bodbh, Morrigane, Modron, Morgane heißen kann, diese Göttin ist der Kern des Problems vom Mythos der Frau. Diese Keridwen ändert nicht nur ihre eigene Gestalt, sondern sie kann auch andere Menschen in andere Wesen verwandeln. Und wer sind diese Anderen? Das sind natürlich zunächst ihre eigenen Kinder, ihre Tochter oder ihr Sohn - aber ebenso die Männer, die ihre Liebhaber sind. Sie ist die göttliche Zauberin Circe, die auf ihrer Insel die Seefahrer in die verschiedensten Tiere verwandelt. KipKT? (kirke) ist nichts anderes als die weibliche Form zu Kijoko? (kirkos), >Steppenweihe<, einer Habichtsart. Notre-Dame de la Nuit ist somit das Habichtsweibchen, mit anderen Worten: die verschlingende Raubvogel-Frau, die zugleich neues Leben gebiert, wenn auch auf einer anderen Ebene und in einer anderen Welt. Und da der Mensch, besonders der Mann, niemals sicher ist, ob er ihr auch begegnet, stellt er sie sich zumindest bildlich in den verschiedensten Gestalten vor, die durch die Mythen überliefert werden. Sie ist nicht nur im Meer, in einem See oder in einer tiefen Höhle versunken, sie ist nicht nur Notre-Dame der Nacht, Notre-Dame unter dem Wasserspiegel oder Notre-Dame unter der Erde — sondern sie zeigt sich gelegentlich auch im vollen Tageslicht. Aufgrund ihrer Natur — und weil der Mann es so will — läßt sie sich aber nicht fassen, wechselt ständig ihre Gestalt und ist das Wesen mit den tausend Gesichtern. Wer aber ist davon die wirkliche Notre-Dame der Nacht?