Kinderglaube – Kinderängste

Eine der unerwarteten Freuden der Elternschaft ist das Gespräch. Zugegeben, manchmal kommt es höchst ungelegen, beispielsweise wenn morgens um halb sechs nackte Füßchen in Ihr Schlafzimmer tapsen und wissen wollen, wie alt der Himmel ist. Aber im allgemeinen macht es Spaß, mit kleinen Kindern zu reden. Haben Sie beim Anblick des kleinen verschrumpelten Bündels im Kreißsaal daran gedacht, daß Ihnen gerade noch vier Jahre bleiben, um für jedes Geheimnis der Welt eine einleuchtende Erklärung parat zu haben? Warum ist es nachts dunkel, was tun die Hunde dort, woher kommen die Babys, was ist ein Bundeskanzler und warum müssen wir das tun, was er sagt, kommen Meerschweinchen in den Himmel? Was dabei wirklich eindrucksvoll und auch irgendwie erschreckend ist, ist, daß Kinder zunächst einmal alles glauben, was man ihnen erzählt. Auch wenn sie später erfahren, daß der Sachverhalt ein anderer ist, sie werden immer an diese erste unauslöschliche Lektion zurückdenken. Erzählt eine vertrauenswürdige Person einem kleinem Kind, daß Polizisten Rabauken sind, die Menschen einsperren und sie treten, dann wird der Teenager zehn Jahre später automatisch bei einer Demonstration vor der Polizei weg rennen. Wenn Sie ihm erzählen, daß Gott gütig ist, dann wird er irgendwann zu ihm beten. Wenn Sie dein Kind sagen (oder zeigen), daß Ladendiebstahl in Ordnung ist, vorausgesetzt, man läßt sich nicht erwischen, dann wird dieses Kind immer Schwierigkeiten mit dem Begriff der Ehrlichkeit haben. Theoretisch kann es nichts Erstaunlicheres geben, als einem Kind die Weisheit weiterzugeben, die Sie sich in fünfundzwanzig Jahren angeeignet haben.
Und in vielen Bereichen geht das auch ganz leicht. >Ja, Schätzchen, dein Kaninchen ist tot, und sein kleiner Körper wird wieder zu Erde werden und Blumen zum Blühen bringen.« »Hefe ist das Mittel, das das Brot groß macht« oder der typische Rückzieher: »Wenn Daddy nach Hause kommt, wird er dir erklären, wie Elektrizität funktioniert, großes Ehrenwort. Vielleicht kauft er dir ein Strommeßgerät. « Wird das Kind älter und schlauer, werden ebenso unschuldige Fragen zu tickenden Zeitbomben. Davon später mehr. Und was wird aus dem Weihnachtsmann oder dem Christkind, den Feen und den Heinzelmännchen? Bringen Sie sich selbst in die Bredouille, indem Sie Ihren Kindern diese Geschichten erzählen, obwohl eines Tages die Wahrheit herauskommt? Wird eine jener Wahrheiten das ganze Vertrauensgefüge zusammenbrechen lassen? Die wenigsten von uns machen sich darüber allzu große Gedanken, werden diese Themen doch meist von der düsteren Realität überlagert, aber eine Überlegung sind sie allemal wert. Mit Kindern zu sprechen, ist natürlich und eine ganz persönliche Sache. Aber es gibt einige allgemein gültige Strategien, die die Dinge leichter machen. Beginnen wollen wir mit dem leichtesten der schwierigen Themen:

POLITIK

Es ist nicht allzu schwer, sich eine allgemeine Lebensphilosophie zuzulegen, die freundlich, rücksichtsvoll und gesellschaftlich verantwortungsbewußt ist. Heutzutage kommen wir auch nicht darum herum, alle diese Dinge mit unseren Kindern zu diskutieren. Ein Vierjähriger, der im Fernsehen sieht, wie in Nordirland eine Autobombe hochgeht, läßt nicht eher locker, bis Sie ihm dreihundert Jahre Geschichte plausibel erklärt haben. Das eigentliche Problem liegt in unserer polarisierten Gesellschaft. Es gibt immer ganz verschiedene Antworten auf ein und dieselbe Frage. Sie mögen wissen, was Sie von einer Sache zu halten haben, aber haben Sie auch das Recht, Ihrem Kind Ihre Meinung aufzuzwingen? Oder müßten Sie nicht zumindest so fair sein, auch die gegenteilige Meinung anzubieten ? Versuchen Sie es mit unseren Fallbeispielen:
»Warum sie eine Straße durch das Feuchtgebiet bauen? Nun, damit die Leute schneller zu dem neuen Elektrizitätswerk kommen. Weißt du, der Gemeinderat entscheidet, ob eine Straße, ein Haus oder eine Fabrik gebaut werden darf. Und dabei müssen sie darauf achten, daß nicht das Haus eines Nachbarn Schaden leidet. Und sie haben beschlossen, diese Straße zu bauen. ja, für unser Haus ist es nicht ganz so gut, und die Wildenten werden sich auch einen anderen Platz suchen müssen, aber es ist sehr wichtig, Elektrizität zu haben. Nun, die Regierung glaubt, daß es sehr wichtig ist, hier ein Elektrizitätswerk zu haben. Ja, ich weiß, daß Daddy da anderer Meinung ist und daß er gesagt hat, die Regierung sei ein Haufen Schwachköpfe, die man am besten auf den Mond schießen sollte ... ja, stimmt schon, wir haben sie gewählt, nein, wir nicht, aber die meisten Leute ... nein, eigentlich auch nicht die meisten Leute, aber...« (Es folgt ein Diskurs in Kommunal- und Bundestagswahlen und den damit verbundenen Problemen. Das Kind gähnt.) - »Nun, wie auch immer, sie bauen die Straße, weil das Gesetz es ihnen erlaubt. Ja, es ist schon eigenartig, daß uns das Gesetz verbietet, die Wildenten zu stören oder abzuschießen, aber die Bauarbeiter... nun, so ist das eben ... «
»Nein, momentan ist kein Krieg. Der Luftstützpunkt ist nur für den Fall da, daß es einen Krieg geben sollte ... ja, die Russen müssen auch Luftstützpunkte haben, weil wir welche haben, und wir haben sie, weil die welche haben, und
»Ja, Nelson Mandela ist jetzt frei. Ja, es gibt dort immer noch Kämpfe, weil ...«
»Ja, siehst du, manche Leute haben keine Arbeit. Sie möchten gerne arbeiten, aber es gibt keine Jobs. Deshalb bekommen sie Arbeitslosenunterstützung, damit sie nicht verhungern. ja, es wäre schon besser, wenn sie Arbeit hätten, aber es gibt eben keine Jobs ... « Auf Liberalismus bedachte Eltern machen die wildesten Verrenkungen, um fair zu sein und ihrem Kind die Komplexität des Problems klarzumachen. Als verbissener Linksradikaler spart man sich diese Mühe, nimmt sein Kind zu Demonstrationen mit und wirft dem Hund demonstrativ eine quietschende Gummipuppe in Form des Bundeskanzlers vor. Wiederholt fällt der Satz, daß die Politik ein schmutziges Geschäft sei und unsere Regierung absichtlich den Menschen die Arbeitsplätze wegnehme. Der stramme Rechtskonservative hingegen läßt sein proper aufgeputztes Kleinkind wissen, daß die Regierung gut daran tut, dem industriellen Fortschritt gegenüber ein paar Wildgänsen den Vorrang zu geben, sich für militärische Stärke einzusetzen, und daß - wie ich es selbst einmal meinen Kindern sagte (aber zu einem späteren Zeitpunkt auch meinen Kindern gegenüber revidierte), »Gewerkschaftsmitglieder einfach immer quer schießen« und daß Menschen ohne Arbeit »für gewöhnlich ziemlich faul sind«. Wir müssen aber zumindest versuchen, all diese Menschen der verschiedensten politischen Richtungen zu erklären und einen Anstoß zum selbständigen Nachdenken geben. Ich selbst habe schon an der Küchenspüle gestanden und habe mit den Händen im Schmutzwasser nach Erklärungen gerungen, warum Kinder in der Dritten Welt Hungers sterben, während wir hier einen leicht angeschimmelten Kuchen wegwerfen. Ich habe ganz bestimmt nicht die Sprache darauf gebracht, die Kinder kamen damit daher, nachdem sie einen Spendenaufruf im Fernsehen gesehen hatten. Ich konnte ihnen etwas von Bob Geldof erzählen und gab ihnen offen und ehrlich politische Erklärungen, die nicht immer ein gutes Licht auf unsere westliche Welt warfen. Solange Sie sich Ihre eigenen Gedanken zu Weltproblemen machen, müssen Sie nicht ständig davor Angst haben, Ihre Kinder einseitig zu beeinflussen. Es ist ganz selbstverständlich, daß sie Ihre politische Meinung bis zu einem gewissen Grad übernehmen. Schauen Sie sich nur einmal die Herkunft unserer Politiker an. Aber die wirklich besorgniserregenden Augenblicke sind die, in denen wir - müde, zornig oder einfach gedankenlos unseren Kindern anstatt der wohl überlegten, ehrlichen Meinung erschreckende unausgegorene Vorurteile präsentieren. Das kommt bei jedem von uns vor. Die Kinder, die in der Schule türkische oder dunkelhäutige Kinder verspotten, tun das nicht instinktiv. Irgend jemand hat ihnen dazu den Anstoß gegeben. Das kommt bei Ihnen nicht vor? Können Sie wirklich guten Gewissens behaupten, in Ihrer Familie wäre noch nie - und Kinder haben große Ohren - gesagt worden, daß alle Iren Trunkenbolde sind? Daß man den Franzosen einfach nicht über den Weg trauen darf? Haben Sie Ihr Kind nicht mit dem Mädchen (als Babysitter ist sie brauchbar - es gibt ja sowieso keine) spazieren gehen lassen, das ernsthaft glaubt, man würde Leukämie bekommen, wenn man Eis an einem italienischen Stand kauft, weil Italiener dunkle Hände haben? Oder gehört zu Ihrer Familie vielleicht jene liebenswerte Großmama, die davon überzeugt ist, die Kinder würden Läuse und Flöhe mit heimbringen, wenn sie mit Kindern aus Sozialwohnungen spielten?

RELIGION

Es sollte nicht allzu schwer sein, den Kindern Ihre Religiosität (oder deren Fehlen) zu vermitteln (obgleich es erstaunlich ist, wie viele im Trend der Zeit agnostische Eltern, die Angst haben, mit ihren Kindern über den Tod zu sprechen, ihnen doch ganz verschämt etwas vom Himmel erzählen). Wenn Sie einen starken Glauben haben, brauchen Sie von mir keine Hilfe. Wenn jedoch Ihr Christentum sich auf eine Hochzeit in Weiß beschränkt, dann müssen Sie sich schon ein paar Gedanken machen, ehe Sie Fragen von kleinen Leuten beantworten, die Ihnen voll und ganz vertrauen. Um es auf den Punkt zu bringen: Kulturell ist es enorm wichtig, daß Kinder die wichtigsten Geschichten aus der Bibel kennen, die Schöpfungsgeschichte, die Geschichte von Christi Geburt, die der Kreuzigung und der Auferstehung sowie die zehn Gebote. Kindern, die das nicht kennen fehlt es an Grundbegriffen der westlichen Kultur. Die meisten Dramen, Romane, Gedichte und Gemälde werden ihnen ohne dieses Grundwissen sehr wenig sagen. Es liegt jedoch an ihnen, ob Sie ihnen gleichzeitig und gleichberechtigt auch von Hinduismus, Buddhismus und Islam oder sogar von altrömischen, altgriechischen und alt ägyptischen Religionen erzählen. Auch wenn Sie selbst nichts davon halten, wäre es sinnvoll, der Geschichte des Christentums einen gebührenden Platz einzuräumen. Schließlich sind all die Kirchen, Priester und Bischöfe ein wichtigerer Teil des Lebens Ihres Kindes als Isis und Anubis. In einer multikulturellen Gesellschaft sollten die Kinder auch die wichtigsten Feste anderer Religionen kennen.
In den siebziger Jahren interviewte ich einige etwa achtjährige Schulkinder in einer als sehr fortschrittlich geltenden Gegend in Oxfordshire. Keines der Kinder hatte eine Ahnung, wer die Personen waren, die in der Krippenszene dargestellt waren. Ein Negativbeispiel, das ich nicht unerwähnt lassen wollte. Sehr wichtig ist auch, daß die Kinder sehr früh den Gedanken der religiösen Toleranz mitbekommen. Mein Sohn wurde in der ersten Klasse Grundschule von einem sechsjährigen Mitschüler, der als Zeuge Jehovas erzogen wurde, belehrt, daß Gott eigentlich die böse Schlange war, die Eva in Versuchung führte, und daß wir alle Teufelsanbeter wären. Glücklicherweise erzählte er mir davon, ehe die Geschichte in ihm zu nagen begann, und ich holte beherzt zu einer Lektion in vergleichender Religionswissenschaft für Sechsjährige aus. Mein Hauptaugenmerk lag auf der Betonung, daß verschiedene Menschen immer schon verschiedene Vorstellungen von Gott hatten, ihm verschiedene Namen gegeben haben (von Jehova bis Manitu), und daß nur eine Tatsache (Ich halte es für eine Tatsache!) wichtig sei, nämlich die, daß Gott es nicht duldet, wenn sich Menschen seinetwegen bekämpfen. Mit einem Schlußsatz über Salman Rushdie, der sich vor der islamischen fatwa verborgen halten muß, entließ ich mein Kind zu seinen Legobausteinen.

LEGENDEN

In unserer Familie ist ein sehr nützlicher Satz Tradition geworden, der in dem Sommer entstand , in dem wir um die britischen Inseln segelten und versuchten, die Kinder in Regen-und Sturmzeiten mit allen möglichen Folkloregeschichten bei Laune zu halten: Wir erzählten von riesigen Kabeljaufischen, die von hohen Wellen in die Kamine von Häusern gespült wurden, vom Ungeheuer von Orkney, dessen Leber Feuer fing, woraus die isländischen Vulkane entstanden (seine Zähne sind die Färörer-, die Shetland- und die Orkneyinseln), von dem Riesen, der unter St. Michael's Mount in Cornwall begraben ist, und so weiter. Der Satz lautet folgendermaßen: »Es ist eine Legende. Eine Legende ist eine Geschichte, die so alt ist, daß niemand weiß, ob sie wahr ist oder nicht.« Damit eröffnen sich gar köstliche Möglichkeiten für alle Arten von Riesen, Zauberern und Feen, ohne daß es dabei auf historische Authentizität ankommt. Es gibt jedoch auch Familienlegenden. Nehmen wir einmal die Zahnfee. Wir hatten eigentlich in unserer Familie mit der Zahnfee nie etwas am Hut, aber wenn Ihr Kind mit glänzenden Augen und einem kleinen, blutigen Stück Elfenbein zu Ihnen kommt, weil es in der Spielgruppe gehört hat, daß man durch diese Fee zu kleineren Reichtümern kommen kann, dann ist es sehr schwierig zu widerstehen. Also machten wir mit: Der Zahn wurde in Folie eingepackt und unter das Kissen gelegt. Am nächsten Tag lag Geld statt des Zahns unter dem Kissen. Dann begann unser Sohn, der Fee kleine Briefchen zu schreiben, adressiert an Z. F., und natürlich mußte die Z. F. antworten (in reich verzierter Schrift). Als unser Sohn und seine Freunde schon ein wenig skeptischer wurden (dachten wir!), streuten sie Talkumpuder auf das Fensterbrett, um nach Fußabdrücken zu fahnden. Natürlich hinterließ Z. F. kleine Fußabdrücke (Daumen- und Fingerballen versuchen Sie es!). Natürlich schlugen auch wir Vorteile aus der Legende, konnten wir doch glaubhaft machen, daß Z. E nur saubere Zähne mag und es merkt, wenn sie erst geputzt wurden, nachdem sie heraus gefallen waren das zählt nicht. So fiel Zahn für Zahn aus einem Kind, und immer lag das Geld unter dem Kissen. Ich mag Z. F., genauso wie den Weihnachtsmann. Es ist etwas Beruhigendes für Kinder in der Vorstellung, daß nicht alle Geschenke von den Eltern kommen, weil das Universum mit wohlwollenden Kreaturen bevölkert ist. Es ist eine einfache »Religion«, und alle einfachen menschlichen Wesen - wie Kinder - brauchen eine -Art von »Volksreligion«. Aber wann hört das Ganze auf? Ich hörte damit auf und rückte mit der Wahrheit heraus, als ich dachte, mein Sohn wüßte ohnehin Bescheid. Er war damals sieben. Ich sagte ihm, es sei eine Legende, aber eine, die heutzutage nicht mehr funktioniere, und deshalb seien sein Vater und ich so zum Spaß eingesprungen. Ich dachte wirklich, er wüßte es, aber o Schreck - die Unterlippe zitterte. Er wollte es nicht wissen. Dann lachte er ein wenig verlegen, und ich hatte das Gefühl eines verblassenden Zaubers, grelles Tageslicht, vorzeitiges Erwachsensein.
Er verkraftete es schneller als ich, aber die Geschichte war mir eine Lehre. Nach acht Jahren ist bei uns immer noch der Weihnachtsmann der Größte. Er kommt durch den Kamin, und wir legen Karotten für die Rentiere bereit. Und wißt ihr, was sie tun? Sie fressen die Karotten und spucken das Kraut den Rauchfang hinunter auf den Kaminvorleger, diese Ferkel. Und der Weihnachtsmann selbst? Er ißt ein Stück Weihnachtskuchen und läßt geheimnisvolle, fremdländische Geschenke aus Holz da, die man nicht in jedem Laden findet. Ich weiß nicht, wie lange bei uns noch der Weihnachtsmann kommen wird, aber ich halte mich an die Strategie, die Christina Hardyment entwickelt hat. Sie muß es wissen, denn sie hat vier Töchter aufgezogen: »So, die Kinder in der Schule erzählen also, es gäbe keinen Weihnachtsmann? Wie schade! Siehst du, wenn die Kinder nicht mehr an den Weihnachtsmann glauben, dann kann er ihnen auch nichts mehr bringen. Normalerweise übernehmen das dann die Eltern, damit die Kinder nicht gar so enttäuscht sind. Aber natürlich ist das lange nicht so schön.« Außerordentlich klug! Sie überläßt es dem Kind, halb oder ganz an den Weihnachtsmann zu glauben, oder aber den Glauben ganz aufzugeben und sich dabei doch nicht so betrogen zu fühlen, wenn es ein Stück Geschenkpapier findet, das es vom Gabentisch her kennt, oder wenn bei den Geschenken etwas dabei ist, das schon vorher unter der Treppe hervorlugte. Das Geheimnis bleibt erhalten und rutscht ganz allmählich ohne jähen Bruch in den Bereich der liebevollen, elterlichen Geborgenheit.

ÄNGSTE

Ängste sind eng verbunden mit all den oben behandelten Themen. Sie oder irgend jemand anderer kann sie auslösen. Ich habe aus verschiedenen Familien Kinderängste »gesammelt«:
Ich habe Angst,

  • daß ein Bullterrier sich unter rneinem Bett verstecken und mir die Kehle durchbeißen wird, während ich schlafe (Herkunft: Fernsehnachrichten).
  • daß der Todesengel kommt, um den Erstgeborenen zu holen (Herkunft: Schulbibel).
  • daß die Zahnfee mich erdrosselt (Herkunft offensichtlich. Gegenmaßnahme: Zahn unten in einem versperrten Raum aufbewahren).
  • daß der Weihnachtsmann nicht kommt.
  • daß er kommt und ein haariger, wilder Geselle ist (Herkunft: furchterregende Kaufhaus-Weihnachtsmänner mit Mundgeruch. Gegenmaßnahme- Strümpfe unten aufhängen).
  • daß Wünsche wahr werden. Das klingt Seltsam, aber einmal brach ein Kind in Tränen aus und fragte: »Werden Wünsche wirklich wahr?« Nach einiger Zeit kam folgendes heraus: »Ich habe mir gerade gewünscht, ich wäre ein Elefant. Aber ich will doch keiner werden!«
  • daß das Ozonloch uns ertränkt oder verbrutzelt (Erzählen Sie, daß Wissenschaftler an dem Problem arbeiten, daß die ganze Welt Bescheid weiß und etwas dagegen unternehmen will).
  • daß es wieder Krieg gibt (Sprechen Sie von den politischen Bemühungen, von dem guten Willen aller Menschen, von Gipfelkonferenzen und dem allgemeinen Wunsch nach Frieden).
  • daß Mami und Papi sterben (Gegenmaßnahme: feste Umarmungen und die Erlaubnis, im elterlichen Bett zu schlafen, bis die Angst vorbei ist).
  • daß ich sterbe (Gegenmaßnahme siehe oben).
  • daß meine Geschwister sterben (dito; dabei kann man auf die durchaus robuste Gesundheit des Geschwisterchens hinweisen und auch nebenbei erklären, daß es niemals funktioniert, wenn man jemandem den Tod wünscht. Die Angst entsteht wahrscheinlich aus diesem Wunsch).
  • daß Einbrecher ins Haus einsteigen. (Zeigen Sie Schlösser, Riegel etc. mit großer Sorgfalt.)
  • daß Hexen, Kobolde, Geister und Teufel durch die Wand kommen. (Nicht ganz einfach; nur zu sagen, es gäbe sie nicht, funktioniert nicht. Ich hatte einmal ein Kind als Übernachtungsgast, das mein Kind mit Geschichten von Hexen, die kleine Kinder rauben, zu Tode erschreckte. Nachdem es mir nicht gelang, die beiden zu beruhigen, erinnerte ich mich in meinem Bedürfnis, selbst eine Mütze Schlaf zu bekommen, an meine katholische Kindheit und zeigte den Kindern ein Kruzifix, das an der Wand hing, und ein Bild des Heiligen Christophorus. Dazu erklärte ich, daß nichts Schlimmes in einem Haus passieren könne, in dem ein Heiligenbild hängt. Es funktionierte sofort. Das einzige Problem war, daß unser kleiner Besucher nach Hause ging und seiner Mami - und der ganzen Nachbarschaft - erzählte, wir würden jeden Tag mit einem Kruzifix ins Bett gehen, um die Vampire abzuschrecken.)

Ich könnte noch lange so fortfahren. Wie jede andere Mutter auch. Einige wenige Kinder kennen solche Ängste nicht oder nur sehr selten. Andere wiederum kämpfen jede Nacht gegen eine andere an. Wichtig ist es, die Kommunikationsleitung offen zu halten. Hören Sie immer zu, wenn Ihr Kind von seinen Ängsten spricht, auch wenn sie Ihnen noch so dumm erscheinen. Sind es traurige, allgemein gültige Ängste (wie obdachlos, ungeliebt, verwaist oder im Krieg verschollen zu sein), so hilft es seltsamerweise häufig, dem Kind zu sagen, daß wir alle gelegentlich diese Ängste haben, auch wir Erwachsene, und daß man sich daran gewöhnt, sie zu vertreiben. Das schafft eine Atmosphäre der Verbundenheit und ein sehr gesundes Empfinden dafür, daß nicht das Unglück selbst der wahre Feind ist, sondern das Gefühl des drohenden Unglücks. Sind es ganz unvorstellbare Ängste, dann lachen Sie nicht. Bemühen Sie auch nicht gleich Freud, indem Sie alles auf die Geburt des Geschwisterchens schieben.
Auch ist nicht immer der Umzug in ein anderes Haus schuld, oder was es sonst noch alles für olle Kamellen gibt. All das mag zwar auch eine Rolle spielen, aber die Ängste selbst sind wichtiger. Gibt es vielleicht einen ganz profanen, aber konkreten Grund? Ein kleiner junge war einmal tagelang deprimiert, weil sein Vater eine sechswöchige Dienstreise anzutreten hatte. Wie sich herausstellte, hatte der arme kleine Knirps sechs Jahre verstanden. Meine Tochter hatte plötzlich Angst, in ihrem Zimmer zu schlafen. Nachdem weder schmeicheln noch schimpfen half, war sie wie ein Schloßgeist mit weißem Teddy und Federbett von einem Zimmer zum anderen gezogen.
Eines Nachts ging ich selbst in ihr Zimmer. Unten saß mein Mann vor dem Fernseher, in dem eine Vorschau auf einen knallharten Thriller lief. »Ich werde dich töten, das schwöre ich dir!« zischte eine haßerfüllte Stimme von unten herauf. Wie schrecklich mußte mein armes, kleines Kind Nacht für Nacht an der sensationslüsternen Fernsehkultur gelitten haben. Kein Wunder, daß die Angst bei meinem Kind lange vorhielt.