Absatz 6 bis 12

Absatz 6

Es ist unmöglich, über einen bestimmten Teil der McCarthy-Periode in einer klar datierten und kommentierten Form zu schreiben; vieles überschnitt sich mit anderem, nichts verlief nach einem sauberen Plan. Es ist klar, dass die Produzenten, von »denen« zur Waldorf-Konferenz berufen, nicht wussten, wie sie die von »denen« aufgezwungenen Pläne ausführen sollten. Die meisten von ihnen wollten es auch gar nicht wissen; eine strikte Befolgung hätte nämlich die Einbuße von Einnahmen aus bereits fertiggestellten, aber noch nicht ans Fernsehen verkauften Filmen bedeutet sowie den Verlust von vielen talentierten Menschen und die unerwünschte Verwicklung vieler ihrer großen Kassenmagneten: Wenn man sich erinnert, dass Gary Cooper, James Cagney, Fredric March, Humphrey Bogart alle auf verschiedene Weise in diese Angelegenheit verwickelt waren, manchmal auf unschuldigste Art, konnte dann nicht morgen ein neuer Verrückter mit einer neuen verrückten Anklage gegen irgendwen auf der Bildfläche erscheinen? Und die militantesten Streiter gegen die Linke in Hollywood, die Mutter von Ginger Rogers, Adolphe Menjou und ihresgleichen, erhielten zu viel Beachtung, machten den Mund zu weit auf. Wer konnte wissen, was sie morgen sagen würden, wenn sie heute schon den Zornesblick Gottes um sich warfen? Vielleicht würden sogar die Produzenten selbst,  deren  Privatleben  abgeschirmt war wie das der Männer im Kreml, einem Abgeordneten oder Senator auffallen? Eine aus edlen Motiven gewährte Halbstundenromanze könnte ans Tageslicht gezerrt werden, oder schlimmer noch, eine nicht ganz lupenreine Finanztransaktion. Aktionäre könnten von schwatzhaften Leuten, die es nicht einmal schlecht meinten, in Erfahrung bringen, dass die oft phantastischen Abrechnungen von Filmen auch den Preis alter, nicht benutzter Drehbücher enthielten sowie die Auslagen für Limousinen, Urlaube oder eine verschleierte jährliche Extragewinnbeteiligung. Zudem stellten sich viele Zeugen aus Hollywood, selbst die den Studios am freundlichsten gesonnenen, vor dem Ausschuss nicht gerade vernünftig an. Gary Cooper wurde äußerst zuvorkommend und freundlich gefragt, ob er in den ihm übermittelten Drehbüchern viel kommunistische Propaganda gelesen hätte. Cooper, der noch nie viel hatte reden müssen, dachte über die Frage nach und antwortete: Nein, er glaube nicht, aber schließlich lese er hauptsächlich nachts. Diese verblüffende Antwort löste viel Gekicher im ganzen Land aus, aber Cooper war kein Mann, über den man kichern sollte. (Etliche Zeit später mischte sich in das Lachen auch Schaudern, als Charles Laughton, der früher eng mit Bert Brecht befreundet gewesen war, ein Telegramm von der ostdeutschen Regierung mit der Einladung erhielt, an der Gedenkfeier für seinen alten Freund teilzunehmen. Mr. Laughton rief sofort J. Edgar Hoover an und sagte, dass er dieses Telegramm erhalten habe, was aber nicht seine Schuld sei und somit nicht gegen ihn verwendet werden könne.)
Doch viele der Befragten reagierten weder gut noch schlecht,  sondern lediglich verwirrt. Woher sollte man denn auch wissen, dass eine Spende für die russische Kriegshilfe während des Krieges nicht genauso untadelig war wie Pakete für England? Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand hätte ahnen können, dass eine Bezeichnung wie »Verfrühter Antifaschist« entstehen könnte. Die Popularität dieser Bezeichnung, die Tatsache, dass die meisten Amerikaner sie ernst nahmen und sogar vorgaben, sie zu verstehen, muss Vorbote jener Doppelzüngigkeit gewesen sein, die wir später wieder während der Watergate-Affäre erleben sollten. Wir, das Volk, waren in den fünfziger Jahren bereit, jeden Unsinn zu schlucken, wenn er nur oft genug wiederholt wurde, ohne seine Bedeutung zu prüfen oder nach seinen Wurzeln zu fragen.
Daher ist es kein Wunder, dass viele »angesehene« - gemeint sind freundliche - Zeugen oft nicht wussten, was man von ihnen wollte, und dass viele unter dem auf sie ausgeübten hysterischen Druck davon überzeugt wurden, sie hätten etwas zu verbergen, und sich wie in einem Alptraum fragten, was sie eigentlich dem Ausschuss gestehen sollten. Sie wühlten angestrengt nach dramatischen Enthüllungen und erfanden Sünden für die Priester der Inquisition.
Ich erzählte das Mrs. Shipley, der Leiterin der Passabteilung des Außenministeriums im Jahre 1953. Im gleichen Jahr, nach meiner eigenen Anhörung vor dem Ausschuss, bekam ich ein Angebot des Produzenten Alexander Korda in London, ein Filmdrehbuch für ihn zu schreiben. Das Honorar betrug ein Fünftel dessen, was ich vor Aufstellung der Schwarzen Liste erhalten hatte, aber wir brauchten das Geld, und zum Verhandeln war keine Zeit. (Korda war nicht der einzige Produzent, der die Gelegenheit ergriff, erfahrene Schriftsteller für wenig Geld aufzulesen; und die Tatsache, dass er mich noch um ein Drittel des Fünftels, das er mir angeboten hatte, betrügen würde, war der krönende Abschluss dieses Geschäfts.)
Um mich mit Korda zu besprechen und das Drehbuch zu schreiben, musste ich natürlich nach Europa fahren. Jedem, der als unfreundlicher Zeuge aufgetreten war, hatte man bisher seinen Pass verweigert. Joe Rauh schlug vor, Mrs. Shipley aufzusuchen. Mir schien dieser Besuch zwecklos zu sein, aber Rauh meinte, ich hätte eine Chance, und als ich ihn nach dem Grund dafür fragte, sagte er nur, das würde er mir nach dem Besuch bei ihr erzählen.
Sie war eine streng aussehende Dame, die durch den Versuch, es nicht zu sein, noch strenger wirkte. Wir saßen uns peinlich berührt in ihrem Büro gegenüber, während eine Sekretärin meine Akte holte. Ich erinnere mich, dass ich etwas über das Wetter zu murmeln begann, den Satz aber nicht zu Ende brachte, weil Mrs. Shipley mich anstarrte. Und so saßen wir uns ein paar Minuten schweigend gegenüber, bis die Sekretärin mit einer dicken Aktenmappe zurückkam. Als Mrs. Shipley die Mappe öffnete, sah ich ganz erstaunt zuoberst drei große Photos von Charlie Chaplin liegen. Zwar kannte ich Chaplin, aber nicht besonders gut, hatte auf seinem Platz mal Tennis gespielt, einmal von ihm ein endloses Drehbuch vorgelesen bekommen, das er geschrieben und nie produziert hatte, war bei einer anderen Gelegenheit bei einer Versammlung mit ihm auf der gleichen Tribüne gewesen und hatte dabei offen seine emotionale, ständig vom Thema abschweifende Rede missbilligt, und hatte außerdem noch mit ihm und Gertrude Stein zu Abend gegessen. Ich bewunderte Chaplin und mochte ihn gern, aber bis zum heutigen Tage weiß ich nicht, was seine Photos in meiner Akte zu suchen hatten. In jener wilden Zeit bekamen Regierungsdienststellen vielleicht noch mehr Fehlinformationen als heute; wann immer man neue Lügenmärchen benötigt, wird man auch welche bekommen.
Mrs. Shlpley machte keine Bemerkung zu den Photos von Chaplin, sondern begann eine Liste von Organisationen vorzulesen, denen ich entweder angehört oder Geld gespendet hatte, und auch ein paar, Ton denen ich noch nie gehört hatte. Ich hätte ihr gern gesagt, dass mir diese Liste aus dem Buch Red Channels (Rote Kanäle) bekannt sei, das man wohl aber kaum als passende Informationsquelle für eine Regierungsbehörde betrachten könne. Doch während sie die Liste herunterlas, schien es mir keinen Sinn zu haben, meine Verbindung zu der einen Organisation abzustreiten und zur nächsten zu bestätigen; deshalb blieb ich schweigend sitzen und fragte mich, warum ich mich in diese erniedrigende Situation begeben hatte.
Mrs. Shipley war noch nicht mit der Liste fertig, als sie hochsah und fragte: »Sagen Sie, Miss Hellman, glauben Sie, dass die Mehrzahl der freundlichen Zeugen vor dem Ausschuss gegen unamerikanische Umtriebe die Wahrheit gesagt hat?« Die Frage überraschte mich. Ich antwortete, dass ich überzeugt sei, dass das nicht der Fall gewesen wäre; vielen hätte man eingetrichtert, etwas zu gestehen, was sie nie getan und nie gesehen hätten.
»Edward G. Robinson zum Beispiel?« meinte Mrs Shipley.
Ich antwortete, ich sei bei ihm nicht sicher, nehme es aber an. Doch es gebe noch andere, Martin Berkeley zum Beispiel, der behauptet hatte, ich hätte eine kommunistische Versammlung in seinem Haus besucht. Ich sei jedoch nie in seinem Haus gewesen und könne mich nichtmal erinnern, ihm auch nur begegnet zu sein.
»Diese Lausejungen haben Sie und all die andern ganz schön an der Nase herumgeführt, Mrs. Shipley«, sagte ich, »und ihr verdient es auch nicht anders, weil ihr sie zu diesen bösen Tricks getrieben habt.«
Mrs. Shipley schien sich nicht darüber zu ärgern. Aufmerksam blätterte sie den Rest meiner Akte durch, als suche sie etwas, das ihres Wissens darin sein musste. Dann sagte sie: »Ich hatte schon den Verdacht, dass viele von ihnen gelogen haben. Sie werden ihre Strafe erhalten.«
»Ich glaube nicht«, sagte ich, »dass es darauf ankommt. Viel wichtiger ist, dass Leute wie ich dringend Arbeit brauchen. Deshalb bin ich hergekommen, obwohl ich es gar nicht wollte.«
»Das verstehe ich«, erklärte sie und hätte dabei fast gelächelt. Nachdem sie diese Regung unterdrückt hatte, fuhr sie fort: »Wenn Sie nach Europa kommen, werden Sie dort politisch engagierte Leute treffen?«
Ich antwortete, dass ich dort kaum Leute kenne, außer Louis Aragon und seiner Frau Elsa Triolet sowie ein paar Männern, die in Spanien gekämpft hätten.
»Bitte, schreiben Sie mir das in einem Brief«, sagte sie, »und fügen Sie auch hinzu, dass Sie keine politische Tätigkeit ausüben werden.«
Ich dachte eine Weile darüber nach, verstand es nicht, suchte nach einer Falle. Dann antwortete ich: »Ich habe mich noch nie in Europa politisch betätigt, abgesehen davon, dass ich gegen die Nazis und gegen die Faschisten bin. Das werde ich Ihnen gern schriftlich geben. Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, um alte Freunde einen Bogen zu machen.«
Sie stand auf. »Ich danke Ihnen.« Und während sie zur Tür ging: »Sie werden einen zeitlich begrenzten Pass erhalten. Er wird Ihnen diese Woche zugestellt werden. Wenn Sie wegen Ihrer Filmarbeit länger in Europa bleiben wollen, müssen Sie einen neuen Antrag schicken.«
Sie verließ das Zimmer. Eine Sekretärin erschien und öffnete für mich eine andere Tür, die in den Korridor führte, von dem aus ich eingetreten war. Rauh saß wartend auf einer Bank.
Er stand auf. »Sie haben also den Pass?«
»Ja.«
Als wir das Gebäude verließen, grinste er. »Ich glaube, Sie sind der einzige >unfreundliche< Zeuge, der einen bekommen hat.«
»Wieso waren Sie so sicher, dass ich ihn bekommen würde? Ich war keineswegs so fest davon überzeugt.«
»Weil«, antwortete er, »eine puritanische Lady an der Macht erkannt hat, dass eine andere puritanische Lady ein Problem hat. Puritanerinnen müssen glauben, dass andere Puritanerinnen nicht lügen.«
Aber all das spielte sich Monate nach meinem Auftreten vor dem Ausschuss ab.

Absatz 7

Vor zwei Tagen, während ich an diesem Buch schrieb, saß ich  auf Martha's Vineyard am Strand bei Gay Head, aß ein Sandwich und blätterte einen Haufen Zeitungen durch, für die ich vorher keine Zeit gehabt hatte, um wieder auf dem Laufenden zu sein. Wie überall, wo man seit längerer Zeit lebt, musste ich ständig Leute grüßen, an deren Namen ich mich nicht erinnern und dabei nur hoffen konnte, sie würden nicht lange genug bei mir stehenbleiben, um das zu bemerken. Ein Ehepaar mittleren Alters verweilte jedoch, um sich mit mir zu unterhalten und mich zu fragen, woran ich gerade schriebe: eine Frage, die mich immer so irritiert, dass ich einfach leugne, überhaupt etwas zu tun. Der Mann, dem diese Antwort nicht gefiel, deutete auf ein Exemplar der New York Review of Books und sagte: »In dem Fall müssen Sie Lionel Trillings Abhandlung über Whittaker Chambers lesen. Vielleicht wollen Sie ja selbst eine Geschichte Ihrer Zeit schreiben.« Ich lachte und erwiderte,  ich sei keine Historikerin. Aber nachdem sie weitergegangen waren, nahm ich mir den Aufsatz vor, der in einer zu alten Ausgabe stand, um schon die Neuigkeit von gestern zu enthalten, dass man weiter nichts in Chambers' Kürbis gefunden hatte als fünf Rollen Mikrofilm, zwei davon entwickelt, drei in Metallhülsen. Die meisten Einzelbilder waren nicht zu entziffern, keines aber hatte auch nur irgendetwas mit den Beschuldigungen gegen Alger Hiss zu tun. Und doch hatte Mr. Nixon, wie man sich erinnert, sie für die Kameras hochgehalten und dabei gesagt, hier sei der dokumentarische Beweis für den schwersten serienmäßigen Verrat gegen die Regierung in der Geschichte Amerikas. Doch Nixon ist ein niederträchtiger Lügner. Lionel Trilling dagegen, ein angesehener Kritiker und Lehrer, von jeher Antikommunist und Autor eines Romans, der in etwa auf dem Werdegang von Whittaker Chambers basiert, ist ein ehrlicher Mann.
Plötzlich verspürte ich den Wunsch, nach Hause zu gehen; und ich tat es auch, um mich den Rest des Tages zu fragen, wie Diana und Lionel Trilling, langjährige und hochgeschätzte Freunde gleichen Alters und in derselben Zeit lebend, so grundverschiedene politische und soziale Ansichten haben konnten.
Tatsachen sind Tatsachen - und eine davon ist, dass ein Kürbis, in dem Chambers die vernichtenden Beweismittel gegen Hiss versteckt zu haben behauptete, verfault -, und es hat nie eine Chance bestanden, dass Chambers, wie Trilling weiterhin in der New York Review behauptet, ein ehrenhafter Mann gewesen ist. Die unreifen, krankhaften Erfindungen von Chambers wurden von Leuten in Washington und New York widerlegt, die ihn besser kannten als Trilling, und später von Leuten, die zusammen mit ihm beim Time Magazin gearbeitet hatten. Doch ich sagte mir, dass Chambers nur ein unwichtiges Teilchen eines größeren Puzzles sei. Wenn Tatsachen aber Tatsachen sind, die man nicht entstellen darf, wer von uns hat dann, als Individuum oder Angehöriger einer Gruppe, für diese Entstellungen gesorgt und warum? Für viele Intellektuelle waren die Radikalen zum wichtigsten, vielleicht sogar einzigen Feind geworden.  (Diese Dinge reichen in die  Zeit vor meiner Generation zurück: Eugene Debs beispielsweise wurde von Woodrow Wilson gehetzt und bis ins Gefängnis verfolgt, und es hatte die infamen Prozesse gegen die Männer der International Workers of the World gegeben.) Nicht nur, weil die intellektuellen Begründungen der Radikalen verdächtig waren, sondern weil ihre Überzeugungen zu einer Welt führen würden, die alle übrigen ihres Besitzes beraubte. Nur sehr wenige sind fähig, etwas so Einfaches einzugestehen: Der Radikale musste als unmoralischer Mensch abgestempelt werden, gegen den Mord, Gefangenenlager, Folter und vieles mehr als Mittel zum Zweck gerechtfertigt erscheinen sollte. Und, um die Wahrheit zu sagen, manchmal war er auch unmoralisch. Doch im Lager der Antiradikalen fand man die gleichen Kategorien: Oft waren es aufrichtige oder umsichtige Leute, oft aber auch Männer, die aus dunklen Beweggründen einen dunklen Weg einschlugen.
Aber Radikalismus oder Antiradikalismus dürfte nichts mit den verschlagenen, elenden Methoden von McCarthy, Nixon und Konsorten zu tun gehabt haben, mit denen sie auf Kommunisten, Kommunistensympathisanten und Nichtkommunisten Jagd machten. Leben wurden zugrunde gerichtet, und nur wenige boten ihre Hilfe an. Seit wann muss man die Ansichten von Leuten teilen, wenn man sie gegen Ungerechtigkeit verteidigen will? Gewiss kann kein vernünftiger Mensch geglaubt haben, dass die vom Außenministerium beschuldigten und hinausgeworfenen China-Experten etwas anderes verbrochen hatten als zu erkennen, dass Tschiang Kai-schek der Verlierer war. Die Wahrheit machte einen zum Verräter, wie das oft in einer Zeit der Schurken geschieht. Aber nur sehr wenige hatten den Mut, das auszusprechen, und sogar heute findet man kaum jemand, der uns daran erinnert, dass wir nur deshalb so wenig und so falsch über China informiert sind, weil wir die einzigen Männer verloren haben, die wussten, worüber sie redeten. Zumindest die guten Zeitschriften, die den seriösen Schriftstellern ihre Seiten zur Verfügung stellten, hätten den Verfolgten zu Hilfe kommen müssen. Aber Partisan Review etwa, die jahrelang viele Protestschriften gegen die Bestrafung von Dissidenten in Osteuropa veröffentlichte, protestierte nicht, als Menschen bei uns ins Gefängnis geworfen oder zugrunde gerichtet wurden. Sie veröffentlichten keinen redaktionellen Beitrag gegen McCarthy persönlich, wenn sie auch die Resultate von gegen McCarthy gerichteten Symposien und wenigstens einen hervorragenden Aufsatz von Irving Howe herausbrachten. Auch Commentary unternahm überhaupt nichts in dieser Richtung. Kein Redakteur oder Mitarbeiter erhob je Protest gegen McCarthy. Irving Kristal schrieb sogar in jener Zeitschrift über McCarthys Kritiker, unter ihnen auch Henry Steele Commager, wie über unartige Kinder, die ihn zur Wiederherstellung ihrer Unschuld dringend brauchten.
Bei beiden Zeitschriften arbeiteten viele besonnene und hervorragende Männer und Frauen. Soviel ich weiß, hat es jedoch niemand von ihnen als Gewissenssache betrachtet, einzugestehen, dass ihr Kalter Krieg gegen den Kommunismus - vielleicht sogar gegen ihren Willen - in den Vietnamkrieg mündete und schließlich Nixon ans Ruder brachte, ihren unerwünschten, aber unvermeidlichen Anführer.

Absatz 8

Im Jahre 1952 verlebte ich ein hartes Frühjahr. Es muss-ten nicht nur Vorbereitungen für mein Erscheinen vor dem Ausschuss getroffen werden, sondern es gab auch noch andere Sorgen. Hammett schuldete dem Finanzamt einen Haufen rückständiger Steuern, und so beschlagnahmte es zwei Tage nach seiner Einlieferung ins Gefängnis das gesamte Einkommen aus Büchern, Rundfunk,
Fernsehen und sonstigen Quellen. Für die restlichen zehn Jahre seines Lebens sollte er über keine Einnahmen mehr verfügen. Ich selbst war beim Verkauf eines Bühnenstücks an eine Filmproduktionsfirma schlecht beraten gewesen, und obwohl »Washington« - womit der damalige Direktor der Finanzverwaltung gemeint ist - zur Zeit des Verkaufs sein inoffizielles Einverständnis gegeben hatte, änderte man im Ministerium jetzt seine Meinung und behauptete, ich schuldete dem Fiskus 175.000 Dollar. Ich hatte darauf bestanden, Hammetts Verurteilung und Gefängnisstrafe -gegen seinen Willen und ohne seine Mitarbeit - vor das Appellationsgericht zu bringen. Das hatte viel Geld gekostet, und meine neuen eigenen Schwierigkeiten würden gewiss ebenfalls sehr große Ausgaben verursachen. Außerdem würden wir jetzt beide sowohl in Hollywood wie auch beim Fernsehen oder Radio kein Bein mehr auf die Erde bringen. Das Geld zerrann mir unter den Händen und würde zukünftig noch schneller zerrinnen, und ich quälte mich ab mit Fragen, wie ich weiter ohne Geld leben sollte, in dem Wissen, dass Hammett krank war, ohne jedoch zu wissen, was er von Tag zu Tag benötigen würde. Ich weiß nicht, ob meine Sorgen Rauh veranlassten, um Aufschub für mein Erscheinen nachzusuchen, oder weil er selbst Zeit brauchte, um über die rechtlichen Fragen nachzudenken. Ich zitiere aus den Notizen, die Rauh mir im Juli 1975 zuschickte. Die Notizen sind vom 26. März 1952 datiert:

»Heute Vormittag habe ich mit Tavenner gesprochen, dem Hauptanklagevertreter des Ausschusses gegen unamerikanische Umtriebe... Nach Austausch von ein paar ziemlich gezwungenen Höflichkeiten erklärte ich den Zweck meines Besuches ... ich fragte Tavenner, woran der Ausschuss besonders interessiert sei. Er sagte, dem Ausschuss läge eine beeidete Aussage vor, dass Miss Hellman Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen sei, und der Ausschuss wünsche dieses Thema zu erörtern. Ich erwiderte, ich wisse nicht, ob Miss Hellman jemals Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen sei, könne aber mit Sicherheit sagen, dass sie bereit sei, vor dem Ausschuss über ihre Betätigung in sämtlichen Organisationen auszusagen. Sie schienen davon so angetan zu sein, dass ich sogleich auf das damit verbundene legale Dilemma zusteuerte... Wenn Miss Hellman Fragen über sich selbst beantwortete, könne sie gesetzlich dazu gezwungen werden, auch Fragen über andere zu beantworten, und dies könne sie aus moralischen Gründen nicht... Sie deuteten Mitgefühl an, mehr aber auch nicht... Er [Tavenner] ... erwähnte, dass Budd Schulberg zu Anfang auch abgelehnt hätte, irgendjemand zu nennen, sich aber dann zu einer Änderung seiner Haltung habe überreden lassen... [Er] fragte mich, ob ich glaube, Miss Hellman würde in einer privaten Sitzung eher Namen nennen... womit er seine Bereitschaft andeutete, noch vor dem Verhör unter vier Augen mit Miss Hellman reden zu wollen... Tavenner sagte, dies sei mehr im Interesse von Miss Hellman ... da es ihr erleichtern würde, ihre Angaben zu koordinieren... Nixon [der Leiter der Untersuchungen im Ausschuss, nicht Richard] sagte, sie beackerten gerade >das gesamte Feld der Unterhaltungsin-dustrie< und seien besonders an dem literarischen Zweig< interessiert, um zu zeigen, wie die Kommunistische Partei das Denken ihrer Mitglieder zu kontrollieren versuche. Tavenner fragte mich, ob Miss Hellman Erfahrungen mit Versuchen der Kommunistischen Partei gemacht hätte, ihr zu diktieren, was sie schreibe. Ich antwortete, Miss Hellman sei eine Individualistin, ...und ich würde ihnen gern nachweisen, dass Watch on the Rhine 1940 geschrieben worden sei, als die Kommunisten pro- und nicht anti-Nazi gewesen seien. Sie fragten mich, wie ich erklären könne, dass Miss Hellman in jener Zeit ein gegen die Parteilinie verstoßendes Stück geschrieben hätte... Die Zusammenkunft ging mehr oder weniger mit der Erkenntnis zu Ende, dass Miss Hellman eine Außenseiterin sei, und sie würden so nett wie möglich mit ihr umgehen, aber es gäbe keine Möglichkeit, die Nennung anderer Leute zu umgehen.«

Ich kann mich nicht erinnern, dass Joe mir je von dieser Zusammenkunft erzählt hat. Ich glaube, dass ich zum ersten Mal in seinem Brief im Juli dieses Jahres davon erfuhr. Bestimmt hatte Rauh seine Gründe für diese Zusammenkunft, aber sie ist auch der Beweis dafür, dass er mich, so sehr wir einander auch mochten und immer noch mögen, zu einem sehr großen Teil nie verstanden hat. Vielleicht ist es fairer, wenn ich sage, dass ich mich immer ziemlich eigenartig benehme, wenn ich mich um Selbstkontrolle bemühe, und er ist nicht der erste, den das verwirrt hat. Aber wie ich schon sagte, ich wollte die Angriffe der Kommunistischen Partei gegen mich nicht zu meinen Gunsten ausnutzen; nach meinem schmalen Moralkodex ist es unehrenhaft, sich auf Kosten anderer, die selbst in der Klemme sitzen, aus einer schwierigen Lage zu befreien. Die meisten Kommunisten, denen ich begegnet war, schienen mir Menschen zu sein, die eine bessere Welt schaffen wollten; das mag verrückt sein, doch es ist kein Grund, sie zu denunzieren oder Leuten zur Bestrafung zu übergeben, die lediglich auf Schlagzeilen in den Zeitungen abzielen, die ihre persönliche Karriere fördern könnten. Die größten Fehler der einheimischen Kommunisten beruhten auf der Imitation der Russen, einem völlig anders gearteten Volk mit einer völlig anderen Geschichte. Amerikanische Kommunisten akzeptierten russische Theorie und Praxis mit der Begeisterung eines Liebenden, dessen Geliebte sich nicht beklagen kann, weil sie nur wenige Worte seiner Sprache spricht; das mag die Geliebte sein, von der viele Männer träumen, aber so etwas taugt nur fürs Bett, nicht für die Politik. Auch ging ihnen nicht auf, dass sie als Kinder ihrer Zeit und Umgebung Idealismus mit den unattraktiven Regeln des Marktes mischten: Gewinn und Verlust, Ruhmsucht und eine Art Geheimniskrämerei, ausgeliehen von den Direktoren riesiger Konzerne. Kommunistenhasser, besonders solche unter den Intellektuellen, schrieben und redeten eine ganze Menge über die Gewalt, die ihnen von den amerikanischen Kommunisten drohen könnte - Whittaker Chambers brachte mit diesem romantischen Thema sogar ein Handelsgesetz durch -, aber ich halte das für eine sehr weit hergeholte Beschuldigung. Über ausländische Attentäter weiß ich nur, was ich gelesen habe, aber die amerikanischen Radikalen, die ich kennengelernt habe, waren keine gewalttätigen Menschen.
Beispielsweise kann man kaum annehmen, dass irgendjemand sich den Parteitheoretiker V. J. Jerome als Bombenwerfer oder Heckenschützen vorstellen könnte. Ich kannte Jerome nicht sehr gut, doch eines Abends, wohl in der Hoffnung, mich von dem hohen kulturellen Anspruch der Partei zu überzeugen, bestand er darauf, Shelleys Renaissancedrama The Cenci laut vorzulesen und zu interpretieren. Während der zweiten Hälfte ging ich mit dem Hund spazieren, und falls Jerome gemerkt haben sollte, dass ich zwischendurch nicht da war, erwähnte er es jedenfalls nicht nach meiner Rückkehr. Jahre danach, Jerome und mehrere andere kommunistische Funktionäre waren zur gleichen Zeit wie Haxnmett im West-Street-Gefängnis, erzählte Hammett mir von einem Zwischenfall, der ganz nach meinem Geschmack war. Auf dem Gefängnisdach stand eine Tischtennisplatte, und eines Nachmittags spielte Hammett mit Jerome ein Doppel gegen einen Mann, der wegen der Ermordung eines Bundeskriminalbeamten verhaftet worden war, und gegen einen anderen, der wegen bewaffneten Bankraubs einsaß. Jerome behauptete nun, dass der mutmaßliche Mörder einen guten Aufschlag fälschlicherweise als Ausball bezeichnet hätte. Hammett bedeutete Jerome, dass er von Kriminellen vielleicht keine Ehrlichkeit erwarten sollte. Jerome hatte darauf das Spiel unterbrochen, um Dash die sozialistische Notwendigkeit des Glaubens an die Besserungsmöglichkeit aller Menschen sowie die Verpflichtung zu erklären, ihnen den Weg zur Ehrlichkeit zu zeigen. Als sie das Spiel mit ihren ungeduldigen Gegnern wieder aufnahmen, schien alles gut zu gehen, bis Jerome beim zehnten Ballwechsel über die Tischtennisplatte schrie, dass der Mörder erneut betrogen hätte und wie empört er darüber sei. Der Mörder knallte seinen Schläger auf die Platte und ging mit einem Messer auf Jerome los. Hammett mischte sich ein und sagte: »Mister Jerome möchte sich entschuldigen.«
Doch Jerome widersprach: »Ich möchte mich keineswegs entschuldigen. Du solltest dich schämen, einen Kameraden im Gefängnis zu betrügen! Du musst lernen.«
Als das Messer durch die Luft zischte, stieß Hammett Jerome zu Boden und hielt den Mörder mit wiederholten Entschuldigungen zurück, in denen er anklingen ließ, dass Jerome nicht ganz richtig im Kopf sei. Der Frieden wurde wiederhergestellt, indem Hammett Jerome dazu brachte, dem Messerwerfer zwei Päckchen Zigaretten zu kaufen und zu schwören, nie wieder Tischtennis mit ihm zu spielen. Vielleicht wäre die russische Ausgabe von Jerome gefährlicher, aber wohl auch weniger einfältig gewesen.
Die Intellektuellen, die der Partei beitraten und sie dann wieder verließen, hatten ein Recht darauf, sich gegen die unangemessenen Ausdrücke zur Wehr zu setzen, mit denen die Pflichtgetreuen sie attackierten. Aber nur Literaten können Anwürfe wie »Renegat« oder »Verräter« mit jenem Schaden gleichsetzen, den eine Schusswaffe oder eine Bombe anrichten kann.

Absatz 9

Im April 1952 schrieb ich die Farm in Pleasantville zum Verkauf aus; und dieser Schock mag der Grund dafür sein, dass ich so wenige Erinnerungen und fast keine Notizen von den paar Wochen vor meinem Auftritt vor dem Ausschuss habe. Rauh setzte einen Brief auf, den ich an den Ausschuss schicken sollte, aber nicht besonders mochte, weil er so gar nicht meinem Gefühl entsprach. Dann machte ich einen Entwurf, er schrieb wieder einen anderen, ich schrieb ihn erneut um, er änderte ihn nochmals ab, bis wir uns zum Schluss auf die Version einigten, die ich hier zitiere:

Honorable John S. Wood
Chairman
House Committee on Un-American Activities
Room 226 Old House Office Building
Washington 25, D .C.

Sehr geehrter Mister Wood,

wie Sie wissen, bin ich unter Strafandrohung vorgeladen worden, am 21. Mai 1952 vor Ihrem Ausschuss zu erscheinen. Ich bin absolut bereit, sämtliche Fragen über meine Person zu beantworten. Ich habe nichts vor Ihrem Ausschuss zu verbergen, und es gibt nichts in meinem Leben, dessen ich mich schämen müsste. Mein Anwalt hat mich belehrt, dass ich nach dem Fifth Amendment das verfassungsmäßige Recht habe, die Antwort auf alle Fragen nach meinen politischen Überzeugungen, Tätigkeiten und Verbindungen zu verweigern, da ich mich sonst selbst belasten könnte. Ich möchte dieses Recht nicht für mich in Anspruch nehmen. Ich bin bereit und willens, vor den Vertretern unserer Regierung über meine Ansichten und Handlungen auszusagen, welche Risiken oder Konsequenzen sich auch für mich daraus ergeben sollten.
Mein Anwalt hat mich aber auch belehrt, wenn ich die Fragen des Ausschusses über meine Person beantworte, müsste ich auch Fragen über andere Leute beantworten, und falls ich mich weigerte, das zu tun, könnte ich wegen Missachtung des Ausschusses vor Gericht zitiert werden. Mein Anwalt sagt mir, wenn ich Fragen zu meiner Person beantwortete, verzichtete ich damit auf alle meine Rechte nach dem Fifth Amendment und könnte gesetzlich gezwungen werden, Fragen über andere Personen zu beantworten. Für einen Laien ist das sehr schwer zu verstehen. Aber es gibt ein Prinzip, das ich verstehe: Ich bin nicht gewillt, jetzt oder in Zukunft, Unglück über Leute zu bringen, die während meiner Beziehung mit ihnen in der Vergangenheit weder mit Worten noch mit Taten illoyal oder subversiv gehandelt und irgendeine Schuld auf sich geladen haben. Ich mag keine Subversion oder Treulosigkeit, in welcher Form auch immer, und falls ich dergleichen begegnet wäre, hätte ich es für meine Pflicht gehalten, die zuständigen Behörden davon zu unterrichten.  Aber unschuldigen Menschen, die ich seit vielen Jahren kenne, weh zu tun, nur um mich selbst zu retten, ist in meinen Augen unmenschlich, unanständig und unehrenhaft. Ich kann und will mein Gewissen nicht nach der diesjährigen Mode  maßschneidern, auch wenn ich schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen bin, dass ich kein politischer Mensch bin und keinen bequemen Platz in irgendeiner politischen Partei einnehmen kann. Ich bin nach altmodischer amerikanischer Tradition erzogen worden, wozu auch gewisse altvertraute Dinge gehörten, die man mich lehrte: immer sich bemühen, die Wahrheit zu sagen, kein falsches Zeugnis zu reden, dem Nächsten nicht zu schaden, dem Vaterland gegenüber loyal zu sein und so weiter. Im Allgemeinen habe ich diese Ideale christlichen Ehrgefühls immer respektiert und nach bestem Wissen und Gewissen befolgt. Ich glaube, dass Sie diesen einfachen Regeln menschlichen Anstands zustimmen werden und nicht von mir erwarten, dass ich die gute amerikanische Tradition verletze, aus der sie entspringen. Ich werde also gern vor Sie treten und über meine Person aussagen.
Ich bin bereit, auf das Recht zur Aussageverweigerung zu verzichten und Ihnen alles zu sagen, was Sie über meine politischen Ansichten oder Handlungen wissen wollen, wenn der Ausschuss sich bereit erklärt, mir gegenüber auf Fragen nach anderen Personen zu verzichten. Sollte der Ausschuss mir diese Versicherung nicht geben wollen, werde ich mich genötigt sehen, bei dem Verhör die Rechte nach dem Fiflh Amendment für mich in Anspruch zu nehmen. Für eine Antwort auf diesen Brief wäre ich Ihnen dankbar.
Hochachtungsvoll
Lillian HELLMAN

Absatz 10

Notizen aus einem Tagebuch:
16. Mai 1952

Vielleicht hat Meg das alles ausgelöst. Um fünf Uhr heute früh sprang sie zu mir aufs Bett. Sie tut das sonst nie, da sie zu stolz ist, sich bei mir oder jemandem anders einzuschmeicheln. Ich liebe diese Hündin, seit ich geholfen habe, sie ihrer Mutter zu entreißen; jetzt aber gab ich ihr einen Tritt, und sie verkroch sich und weigerte sich, ihr Frühstück zu essen. Beim Verlassen der Wohnung stolperte ich über Maggie, die den Korridor zu fegen versuchte. Sie war betrunken, schon am Morgen, wie üblich. Das FBI hatte sie zweimal über mich ausgefragt, und jetzt trinkt sie noch mehr als vorher.
Shoreham Hotel, Washington. Warum bin ich schon so früh hergekommen, noch dazu ohne jemanden davon zu erzählen? Ich werde Hammett heute Abend anrufen und ihm sagen, wo ich bin. Das Telefon wird angezapft sein, aber was macht das schon. Nein, ich werde ihn nicht anrufen. Ich habe mir ein paar Zeitschriften gekauft und dann Kaviar und Steak bestellt. Das Steak war zäh, Kaviar gab es keinen. Ich werde morgen eine Menge Geld für irgendwas ausgeben.
17. Mai.
Ich bin gerade zurückgekommen, habe mir teure Kleider angeschaut, aber nichts gekauft. Ich fange an, mir zunehmend Geldsorgen zu machen, was gerade in dieser Woche nicht passt. Dazu werde ich noch viele Jahre Zeit haben, und so will ich in dieser Woche so tun, als gäbe es sie nicht. Ich habe Dash angerufen und ihm erzählt, -wo ich bin. Er meinte, er sollte lieber herkommen, und ich erwiderte, das sollte er lieber nicht. Wir haben das schon so oft durchgekaut. Er würde mir hier nur schaden können - sein Name, meine ich -, und überhaupt möchte ich nicht immer daran denken müssen, dass er mein Handeln missbilligt. Ich habe Joe angerufen, ohne zu sagen, dass ich in Washington bin, und ihn gefragt, ob er mich brauche.  Er verneinte, aber wir sollten in Fühlung bleiben. »In Fühlung bleiben« ist eine komische Redensart; ich glaube nicht, dass ich sie jemals benutzt habe.
18. Mai.
Ich hätte nicht herkommen sollen. Ich weiß nichts mit mir anzufangen. Ich werde die Nationalgalerie besuchen. Ich hasse die Umgebung: nichts, wo man gut spazieren gehen kann.
Am Abend
Ich bin nicht in die Nationalgalerie gegangen, sondern habe den Zoo besucht. Schön, einmal Lebewesen zu sehen, die nichts von kommenden Sorgen, von Tod oder Ausschüssen wissen. Ich habe mir schon immer gewünscht, mal mit einem Orang-Utan ins Bett zu gehen, aber wahrscheinlich wird daraus nichts werden. Ich habe einen Taxifahrer gefunden, der auf mich wartet, ohne die Wartezeit zu berechnen, weil er, wie er sagt, nicht glücklich ist. Ich habe Dash angerufen. Er aß gerade ein Lammkotelett. Ich erzählte ihm von mir und dem Orang-Utan, und er erwiderte, er werde mich vielleicht zurückrufen, wenn er sein Lammkotelett aufgegessen hätte.
19. Mai
Ich habe mir ein wunderschönes, teures Bal-main-Kleid gekauft. Mir geht es besser, wenn ich es trage. Danach ging ich zum Lunch zu Harvey's, wo der Kellner mir die FBI-Direktoren J. Edgar Hoover und Clyde Tolson zeigte und sagte, sie kämen jeden Tag zum Lunch hierher. Ich wette, dass sie jede Nacht mit einem Orang-Utan zusammen sind. Ich ließ meinen Lunch stehen, nachdem ich dieses abscheuliche Paar gesehen hatte. Mein Taxifahrer wartete, und ich beschloss, ein Flugzeug nach New York zu nehmen und am 20. zurückzukommen. Auf halbem Weg zum Flughafen überlege ich es mir wieder anders.
20. Mai
In einer schlaflosen Nacht erkenne ich, warum ich früher als notwendig nach Washington gekommen bin. Vor fünf Tagen ging ich zum Abendessen in Lennie Bernsteins Restaurant. Es war ein angenehmes Essen mit Shirley und einem Ehepaar, dessen Namen ich gehört und sofort wieder vergessen hatte. Nach dem Dinner kam Harry herein.
[Bemerkung von 1975: ich habe seinen Namen geändert; er ist jetzt ein alter Mann, und seine Aussage vor dem Ausschuss hat ihm für sein weiteres Leben Armut und Krankheit eingebracht.]
Alle wollten hören, was Harry zu erzählen hat, weil er vor zwei Wochen als unfreundlicher Zeuge vor dem Ausschuss aufgetreten ist. Ich war natürlich besonders gespannt auf seinen Bericht. Niemand unter den Anwesenden hier wusste, dass ich selbst für die nächste Woche vorgeladen war. Harry genoss selbstverständlich die Aufmerksamkeit und Bewunderung, was mir gefiel. Jedenfalls mochte ich ihn so lange, bis er sagte, dass sein Rechtsanwalt ihn vor seinem Auftritt die Antworten auf 25 Fragen hatte auswendig lernen lassen. Das jagte mir einen großen Schrecken ein. Rauh hatte mich auf nichts vorbereitet. Irgendjemand fragte: »Woher hat Ihr Rechtsanwalt denn gewusst, welche 25 Fragen sie stellen würden?«
»Er hat auf die Wahrscheinlichkeit gesetzt«, antwortete Harry, »gestützt auf das, was er bei anderen Leuten gehört und gesehen hatte.«
Ich hörte mich selbst sagen: »Ich könnte mir keine 25 Antworten merken, und ich werde es auch nicht.«
Mir wurde ganz schlecht und ich ging nach Hause, um Joe anzurufen: »Sie haben mir nicht gesagt, dass ich die Antworten auf diverse Fragen auswendig lernen muss. Das kann ich nicht, aber Sie hätten mich darauf vorbereiten müssen.« Joe sagte, er wisse nicht, wovon ich rede. Ich erzählte ihm von Harry, und er fragte nach seinem Rechtsanwalt. Bevor ich antworten konnte, bemerkte Joe, dass arry hier bestimmt nicht die Wahrheit sage, auch wenn er vielleicht in anderen Dingen in Ordnung sei. Natürlich hätte jeder das Recht, sich heldenhaft darzustellen, was ich vermutlich auch anstrebe. Dann lachte er und erklärte, meine Chancen lägen aber woanders, ich solle die Nacht gut schlafen, es gäbe nichts auswendig zu lernen. Zwei Ratschläge würde er mir noch mitgeben wollen, die aber nicht besonders wichtig seien, und besser geeignet für die letzte Minute.
Ich glaube, Harry war der Grund, weshalb ich dann aus New York unbedingt weg wollte.
Noch ein Tag Warten. Ich rief wieder Joe an, der aber nicht im Büro war, und hinterließ die Nachricht, dass ich im Shoreham bin. Dann fuhr ich mit meinem Taxichauffeur mein neues Kleid abholen. Außerdem kaufte ich mir einen sehr teuren Hut und ein Paar schöne weiße Lederhandschuhe. Auf dem Rückweg zum Hotel mit meinen Einkäufen fragte ich den Chauffeur, ob er mich morgen früh um acht Uhr abholen könne. Sicher, antwortete er, das würde ihn wenigstens ablenken. Ich fragte wovon. Seine Frau habe Kehlkopfkrebs und würde morgen gegen Mittag operiert werden. Mehr sagte er nicht, mehr sagte ich nicht. Bevor ich ausstieg, gab ich ihm einen Scheck über hundert Dollar und bat ihn, seiner Frau ein Geschenk zu kaufen. Ich würde das gern für großzügig halten - aber es war wohl mehr eine Geste, um Gott meine Güte zu demonstrieren, damit er mir morgen helfen würde, oder etwas in der Art. Mein Kleid, mein Hut, meine Handschuhe, mein Geschenk würden die letzten Extravaganzen für viele Jahre sein. Sie gaben mir ein gutes Gefühl. In meinem Zimmer lagen zwei New York Times, die heutige und die gestrige. Ich hatte sie nicht lesen wollen und damit
instinktiv das Richtige getan: Denn Clifford Odets hatte als freundlicher Zeuge ausgesagt und dabei die Namen von alten Freunden und Bekannten genannt. Sein alter Freund Elia Kazan hatte vor einem Monat genau dasselbe getan und zudem eine Anzeige in der New York Times veröffentlicht, die man wegen ihres frömmelnden Gesülzes nicht für möglich gehalten hätte. Ich musste lange über Clifford nachdenken und über unser Dinner bei Barbetta: Hatte er ernst gemeint, was er mir an jenem Abend erzählt hatte, oder war alles nur vorgetäuscht gewesen? Oder steckte sogar noch Schlimmeres dahinter - nämlich der Versuch, herauszufinden, was ich tun oder sagen würde? Man kann unmöglich glauben, dass ein erwachsener, intelligenter Mensch nicht weiß, wie er sich unter Druck verhält. So ein Verhalten wird schon früh festgelegt und geprägt, wenn man noch sehr jung ist, beruhend auf unseren kindlichen Definitionen von Stolz oder Würde. Darum regten mich auch Joes gelegentliche Zweifel so auf, dass ich meine Haltung vor dem Ausschuss vielleicht noch ändern könnte. Höchstens würde ich mich lächerlich machen. Unter besonderen Umständen, unter Folter zum Beispiel, können Menschen zusammenbrechen. Ich erinnere mich daran, was Louis Aragon mir erzählt und Albert Camus bestätigt hat, als ich ihn das einzige Mal in meinem Leben sah: dass  die  französischen Untergrundkämpfer während des Krieges den Befehl bekommen hatten, so lange wie möglich die Folter auszuhalten, damit andere in der Zwischenzeit fliehen könnten. Aber bevor sie unter der Folter sterben oder sich verkrüppeln lassen, sollten sie nachgeben und das Schweigen brechen. Das ist sinnvoll. Hier jedoch ist niemand gefoltert worden, und ich habe
kein Verständnis für dieses modische Gerede von seelischer Folter als ebenbürtig zu gebrochenen Armen und verbrannten Zungen. Das ist absoluter Quatsch. Ich brauche dringend Schlaf.

Absatz 11

Mein brieflicher Vorschlag, den ich dem Ausschuss am 19. Mai 1952 unterbreitet hatte, ist mit einem Brief vom 20. Mai zurückgewiesen worden. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als zu tun, was ich eigentlich nicht tun wollte, nämlich das Fifth Amendment für mich in Anspruch zu nehmen. Das Fifth Amendment ist sicherlich ein weiser Teil unserer Verfassung: Niemand darf gezwungen werden, sich selbst zu belasten. Aber dieser Zusatz birgt Schwierigkeiten in sich, die ein Laie nur schwer verstehen kann. Sowohl Rauh als auch ich glaubten, dass meine Reise nach Russland während des Krieges, über die ich in einem anderen Buch geschrieben habe, im Mittelpunkt der Fragen des Ausschusses stehen würde. Im Jahre 1944 hatten die Russen mich eingeladen, als eine Art kulturelle Repräsentantin die UdSSR zu besuchen. Präsident Roosevelt und sein enger Mitarbeiter Harry Hopkins hatten das beide für eine gute Idee gehalten, wollten es jedoch verständlicherweise nicht als einen offiziellen Besuch deklarieren. Mein Flug über Sibirien war von den Russen arrangiert worden, aber Charles Bohlen vom Außenministerium hatte offenbar Anweisung erhalten, mich bis nach Alaska zu begleiten. In Moskau hatte ich vier Monate lang als Gast unseres damaligen Botschafters Avereil Harriman in der Botschaft gewohnt. Rauh und ich nahmen an, der Ausschuss würde mich in seiner offenen Feindschaft gegen die Roosevelt-Periode über diesen Besuch befragen. Das Fifth Amendment hatte hier einen Haken: Falls man mich fragen sollte, ob ich Harriman oder Präsident Roosevelt kenne, müsste ich bejahen, denn ich konnte schlecht behaupten, dass diese Bekanntschaft mir schaden würde. Wenn man mich allerdings beispielsweise fragte, ob ich Chaplin oder Hammett kenne, würde ich die Antwort verweigern müssen, weil mich beide in den Augen des Ausschusses belasten könnten. Auf diese Weise zeigte man mit dem Finger auf bestimmte Leute, möglicherweise auch auf Leute, über die man nur wenig weiß, und bei denen man Details aus ihrer Vergangenheit nur erraten kann. Vielleicht ist das alles notwendig und gut konzipiert, aber in der Praxis kann es zu einer äußerst unangenehmen Angelegenheit werden. Mein Verhör war auf 11 Uhr vormittags am 21. Mai 1952 angesetzt. Rauh hatte mich gebeten, um 8 Uhr 30 in seinem Büro zu sein. Ich versuchte zu schlafen, aber es gelang mir nicht, ich versuchte zu lesen und nahm zwei heiße Bäder. Zweimal läutete das Telefon, und da ich glaubte, es sei Hammett, hob ich nicht ab. Schließlich wusste ich, dass er jede vorgetäuschte Stimmung sofort durchschauen würde. Im Verlauf der Nacht versuchte ich mir darüber klar zu werden, was in mir vorging - »die Dinge logisch zu durchdenken«, wie die Modeformel gerade lautete -, aber gab es gegen Morgen wieder auf in einer Art hämischen Vergnügen darüber, dass die Zeit für Selbstprüfungen vorüber war. Ich wurde ruhig, dank der Erfahrung, dass ein Temperamentsausbruch oder auch nur ein ganz normales Gefühl nervöser Ängstlichkeit bei mir nicht mehr gestoppt werden kann, wenn dies einmal angefangen hat, und deshalb erst gar nicht ausbrechen darf. So aß ich ein kräftiges Frühstück und ließ mich von meinem traurigen Taxichauffeur zu Joes Büro fahren. Wir schüttelten uns zum Abschied die Hand, und er sagte, er würde mich besuchen und von seiner Frau erzählen. Ich gab ihm meine New Yorker Adresse, hörte dann aber nie wieder etwas von ihm.
Rauh telefonierte. Er nickte mir zu, deckte die Muschel mit der Hand zu und erklärte, dass er gerade mit Thurman Arnold spräche (Arnold war Abteilungsleiter im Justizministerium gewesen und jetzt Partner von Abe Fortas). Rauhs gewöhnlich heiteres Gesicht war ernst und verschlossen. Ich ging mit einer Zeitung ins Nebenzimmer, las ein paar Minuten, und als ich aufblickte, stand Rauh im Türrahmen.
Er sagte: »Thurman Arnold hat mich angerufen. Er sagt, dass ich Sie mit dem Brief, den wir geschrieben haben, direkt ins Gefängnis befördere. Er glaubt, wir müssten, ehe das Verhör beginnt, einen Weg finden zu erklären, dass wir unsere Absicht bezüglich des Briefs geändert hätten. Wörtlich hat er gesagt: >Sie und Fortas machen eine Märtyrerin aus dieser Frau.< Ich will keine Märtyrerin aus Ihnen machen. Arnold ist ein ausgezeichneter Rechtsanwalt.« Ich stand auf und ging in den Korridor, wanderte ihn hinauf und hinunter und probierte die Tür zur Damentoilette, die aber verschlossen war. Rauh hatte mich in allerbester Absicht an einen Punkt gebracht, wo mir schlecht wurde. Ich kann keine plötzlichen Kehrtwenden vollziehen, kann nicht einmal ein Flugzeug am Nachmittag besteigen, wenn ich damit gerechnet habe, am Vormittag zu fliegen, kann mich nie schnell einer neuen Lage anpassen, und es liegt nicht in meinem Wesen, etwas anderes, vielleicht Klügeres zu tun, wenn ich mich auf eine bestimmte Weise vorbereitet habe. Ich wollte Rauh sagen, dass ich wütend auf ihn und im Begriff sei, meine Nerven zu verlieren, die ich bisher mit einer gewissen Selbstdisziplin im Zaum gehalten hatte. Doch als ich ins Büro zurückkam, sah er so elend aus, dass ich kein Wort darüber herausbrachte.
Stattdessen sagte ich: »Rufen Sie bitte Mister Arnold an und richten Sie ihm meinen Dank aus. Aber sagen Sie ihm auch, dass alles, was mir jetzt passieren kann, besser sein wird als das, was passieren könnte, wenn wir etwas Neues anfangen. Und dann hören Sie auf, sich schuldig zu fühlen, denn das ist heute Morgen gar nicht gut für mich.«
Rauh, sein Gehilfe Daniel Pollitt und ich nahmen ein Taxi zum Old House Office Building. Ich erinnere mich, wie ich mir im Stillen sagte: »Pass nur auf, dass du dich nicht schämen musst, wenn du da wieder herauskommst. Alles andere ist unwichtig.«
Joe klopfte mir leicht auf den Arm. »Wenn es Ihnen zu viel wird, sagen Sie's mir, und ich werde dem Ausschuss erklären, dass Sie eine kurze Pause brauchen. Das geht wahrscheinlich nur einmal; also lassen Sie sich Zeit, wenn Sie auf der Toilette sind, waschen Sie sich das Gesicht, rauchen Sie eine Zigarette. Wenn Sie keine Erholungspause benötigen, behalten Sie die Uhr im Auge und denken Sie daran, dass die Leute gegen 12 Uhr 50 eine Mittagspause einlegen werden. Möglicherweise wird man uns noch einmal zurückrufen, aber Sie werden doch wenigstens anderthalb Stunden für ein Nickerchen oder einen Drink oder beides haben. Was ich Ihnen jetzt sage, ist aber viel wichtiger, also prägen Sie es sich ein: Machen Sie keine Witzel«
»Witze? Warum sollte ich wohl Witze machen?«
»Fast jeder, der sich vom Ausschuss beleidigt fühlt, macht einen Witz oder mimt Überlegenheit. Es geschieht aus einer Art Verlegenheit heraus. Machen Sie das auf keinen Fall.«
Der Verhandlungsraum war fast leer, bis auf ein paar ältliche Damen mit schmalen Gesichtern, die in der letzten Reihe saßen. Sie sahen aus, als seien sie Dauergäste, und da sie gelegentlich miteinander redeten, -war nicht schwer zu erraten, dass sie Angehörige einer organisierten Gruppe oder eines Vereins waren. Angestellte liefen ein und aus, legten Akten auf den erhöhten Tisch des Ausschusses und verschwanden wieder. Ich meinte, wir seien zu früh gekommen, aber Joe widersprach, denn es sei besser, wenn ich mich schon ein wenig an den Raum gewöhnen würde.
Dann, wahrscheinlich um mir die Wartezeit ein wenig zu verkürzen, sagte er: »Also, jetzt kann ich Ihnen ja erzählen, dass ich in der ersten Zeit unserer Bekanntschaft Angst hatte, mir könnte das gleiche passieren wie meinem Freund.«
Er unterbrach sich, um Pollitt zu fragen, was mit der Presse los sei, denn nicht ein einziger Journalist war erschienen.
»Was ist Ihrem Freund denn passiert?« fragte ich.
»Er vertrat einen Schriftsteller aus Hollywood, der ihm erklärte, er würde unter gar keinen Umständen als freundlicher Zeuge aussagen. Nur deswegen hat mein Freund diesen Fall überhaupt übernommen. So kamen sie hierher, saßen auf denselben Plätzen wie wir jetzt, er war sich seines Klienten völlig sicher, aber innerhalb von zehn Minuten wandelte sich der Schriftsteller zum einem der freundlichsten Zeugen, die zu hören der Ausschuss je das Vergnügen hatte. Er warf ihnen jeden Namen hin, der ihm nur einfiel, einschließlich seines Zimmergenossen auf dem College und Jugendfreundes.«
»Nein«, antwortete ich, »das wird hier nicht passieren, und aus entscheidenderen Gründen als Ihrer oder meiner Ehre. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich keine raschen Kurswechsel vollziehen kann.«
Joe meinte zu Pollitt, er glaube jetzt zu verstehen, warum keine Presse da und der Raum halb leer sei, denn der Ausschuss hätte unser Auftreten so geheim wie möglich gehalten. »Das bedeutet«, meinte Joe, »sie haben Angst vor uns. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, denn wir brauchen die Presse, und ich weiß nicht, wie wir dafür sorgen können, dass sie kommt.«
Er brauchte es nicht zu wissen. Der Raum hinter mir begann sich plötzlich zu füllen, und die Presseleute drängten zu den für sie reservierten Plätzen. Immer mehr schoben sich herein, bis der Abgeordnete Wood mit seinem Hammer zu klopfen begann. Ich hatte die Mitglieder des Ausschusses nicht hereinkommen sehen, hatte wohl auch nicht realisiert, dass sie auf einem Podium Platz nehmen würden: Die Regierung hatte vom Theater gelernt - oder das Theater von der Regierung. Ich war froh, dass ich ihre Ankunft nicht bemerkt hatte, denn sie gaben ein düsteres Bild ab. Über das Klopfen des Hämmerchens hinweg hörte ich eine der Damen im Hintergrund ziemlich laut husten. Sie hustete weiter während des gesamten Verhörs. Später sagte eine ihrer Freundinnen laut: »Irma, nimm doch deine guten Hustenbonbons.«
Die Eröffnungsfragen waren die üblichen, nach meinem Namen, Geburtsort, Beruf und den Titeln meiner Theaterstücke. Es dauerte aber nicht lange, bis sie zu dem vorstießen, was sie wirklich interessierte: meine Zeit in Hollywood, für welche Filmgesellschaften ich gearbeitet hätte, wann das genau gewesen sei. Dabei betonten sie rätselhafterweise das Jahr 1957. (Ich dachte erst, sie zielten auf meine Zeit in Spanien, aber ich irrte mich.)
Ob ich einen Schriftsteller namens Martin Berkeley kennengelernt hätte? (Ich kannte und kenne bis heute keinen Martin Berkeley, wenngleich Hammett mir später erzählte, dass ich einmal beim Lunch mit sechzehn oder siebzehn Leuten am selben Tisch mit ihm in der alten Metro-Goldwyn-Mayer-Kantine gesessen hätte.) Auf diese Frage, sagte ich, müsse ich die Antwort verweigern. Mr. Tavenner sagte, er möchte mich noch einmal fragen, ob ich im Sommer 1957 im Ausland gewesen sei. Ich bejahte diese Frage, erklärte, dass ich vor meiner Abreise nach Kuropa mehrere Wochen in New York gewesen sei, und bereitete mich auf das vor, was folgen sollte: Martin Berkeley, einer der redseligsten Zeugen des Ausschusses in Bezug auf Hollywood, würde gleich dazubestellt werden. Mr. Tavenner las Berkeleys Aussage vor. Vielleicht sollte ich sie zitieren, die unbedeutenden Einzelheiten sind fein formuliert, selbst die über seinen »alten Freund Hammett«, den er in Wirklichkeit auch nur flüchtig kannte.
MR. TAVENNER: Ich möchte gern, dass Sie dem Ausschluss berichten, wann und wo die Hollywood-Sektion der Kommunistischen Partei gegründet wurde.
MR. BERKELEY: Nun ja, Sir, durch einen sehr eigenartigen Zufall wurde die Sektion in meinem Haus gegründet... Im Juni 1957, Mitte Juni, fand die Versammlung in meinem Hause statt. Mein Haus wurde ausgewählt, weil ich ein großes Wohnzimmer und reichlich Parkmöglichkeit hatte ... Und es war eine sehr gute Versammlung. Viele Beamte der Stadtverwaltung beehrten uns mit ihrer Gegenwart, und die Stimmung war großartig... Also, außer Jerome und den anderen, die ich schon erwähnt habe, und ich halte es nicht für sinnvoll, dass ich die Liste immer wieder von neuem durchgehe ... außerdem war Harry Carlisle anwesend, der jetzt gerade ausgewiesen werden soll, wofür ich sehr dankbar bin. Nachdem Stanley Lawrence alles vorhandene Geld der Partei gestohlen hatte und als eine Art Wiedergutmachung nach Spanien gegangen und dort gefallen war, hatte man Harry Carlisle hergeschickt, um marxistische Kurse abzuhalten... Dann war noch Donald Ogden Stewart bei der Versammlung. Sein Name schreibt sich Donald Ogden S-t-e-w-a-r-t, Dorothy Parker, ebenfalls Schriftstellerin. Ihr Ehemann Allen Campbell, C-a-m-p-b-e-l-l; mein alter Freund Dashiell Hammett, der jetzt wegen seiner Umtriebe in New York im Gefängnis sitzt; die ganz vorzügliche Theaterautorin Lillian Hellman...
Und so weiter.
Als dieser Unsinn beendet war, fragte Mr. Tavenner mich, ob das wahr sei. Ich antwortete, ich wolle mich auf meinen Brief beziehen, den ich geschickt hätte, und ich möchte den Ausschuss ersuchen, mein Angebot in diesem Brief nochmals zu erwägen.
MR. TAVENNER: Mit anderen Worten, Sie bitten den Ausschuss, Ihnen keine Fragen in Bezug auf die Umtriebe anderer Personen in der Kommunistischen Partei zu stellen?
Ich antwortete, das hätte ich nicht gesagt.
Mr. Wood warf ein, Mr. Tavenner sollte zur Vervollständigung des Protokolls den Briefwechsel zwischen mir und dem Ausschuss hinzufügen. Als Mr. Tavenner das gemacht hatte, sprang Rauh auf, ergriff einen Stapel Vervielfältigungen meines Briefes und verteilte die Kopien an die Presse. Ich war verblüfft darüber - ich hatte nicht gewusst, dass er Kopien angefertigt hatte -, aber ich merkte, dass Rauh einen sehr zufriedenen Eindruck machte.
Mr. Tavenner war fassungslos, viel mehr, als es die Aufzeichnung meines Verhörs vermittelt. Rauh erklärte, dass Mr. Tavenner selbst die Briefe zu Protokoll genommen habe, und deshalb wäre er der Ansicht, dass die Verteilung der Kopien rechtmäßig sei. So höflich sich die Worte der beiden in der Aufzeichnung lesen, so wenig höflich klangen sie mündlich. Ich bin überzeugt, dass der Gerichtsstenograph in diesem Abschnitt der Niederschrift, wie auch in verschiedenen anderen Abschnitten - bestimmt aber bei Hammetts späteren Aussagen vor dem Senatsausschuss für innere Sicherheit -, entweder einen Teil des Gesagten nicht mitbekam oder später einfügte oder dass die Dokumente teilweise redigiert wurden. Nachdem ich viele Proben der Arbeit von Gerichtsstenographen gelesen habe, muss ich sagen, dass ich noch nie eine absolut genaue Niederschrift gesehen habe.
Mr. Wood erklärte Mr. Tavenner, dass es nicht »so aussehen dürfe, als handle der Ausschuss mit der Zeugin aus, worüber sie aussagen wolle oder nicht«, und dass er es deshalb für besser hielte, wenn beide Briefe laut vorgelesen würden.
Als Mr. Tavenner vorlas, entstand ein Gerede, das ich nicht verstehen konnte, eine Art Rascheln auf den Presseplätzen. Danach fragte Mr. Tavenner mich, ob ich die von Berkeley beschriebene Versammlung besucht hätte. In meinem ganzen Leben ist mir kaum wieder etwas so schwergefallen wie das Verschlucken der Worte: »Ich kenne diesen Mann nicht, und wenn Sie ein wenig nachgeforscht und Zeit und Ort verglichen hätten, wüssten Sie, dass ich bei der von ihm erwähnten Versammlung gar nicht gewesen sein kann.« Stattdessen sagte ich: »Auf diese Frage muss ich die Antwort verweigern.« Das »muss«    in diesem Satz schien Mr. Wood zu ärgern - es würde ihn wieder und wieder ärgern - und er berichtigte mich: »Sie können die Antwort verweigern. Die Frage ist gestellt, verweigern Sie die Antwort?«
Aber Mr. Woods Berichtigung, die Gereiztheit in seiner Stimme, das alles machte mich nervös, und ich begann meine rechte Hand zu bewegen, als hätte ich plötzlich ein Tick bekommen, den ich nicht mehr stoppen konnte. Ich sagte    mir, wenn schon ein einzelnes Wort ihn irritierte, würden nun bald die Beleidigungen anfangen. Deshalb setzte ich mich gerade und aufrecht hin, hielt mit der linken meine rechte Hand fest in der Hoffnung, es würde nützen. Doch ich spürte die Schweißtropfen auf meinem Gesicht und meinen Armen und wusste, dass gleich etwas geschehen würde, dass ich mich nicht mehr beherrschen könnte. Da erinnerte ich mich an den Vorschlag mit der Toilette, drehte mich zu Joe um und sah ihn an. Aber die Uhr zeigte mir, dass wir erst sechzehn Minuten tagten, und falls das Schlimmste noch bevorstand, sollte ich lieber noch eine Weile aushalten.    j
Ob ich Mitglied der Kommunistischen Partei sei, gewesen sei, in welchem Jahr ich ausgetreten sei? Wie ich solche Leute wie Martin Berkeley belasten könne, wenn ich zugäbe, dass ich sie kenne, und so weiter. Manchmal konnte ich der Argumentation nicht folgen, manchmal verstand ich ganz gut, dass ich mich mit der Verweigerung der Antwort auf Fragen nach einer Mitgliedschaft in der Partei selbst belastete, indem ich diese frühere Mitgliedschaft dadurch scheinbar eingestand.
Doch mitten in einer der Fragen nach meiner Vergangenheit  passierte  etwas  so  Bemerkenswertes,  dass  ich bis zum heutigen Tag überzeugt bin, dass der unbekannte Herr, der das Wort ergriff, einen großen Einfluss auf den Rest meines Lebens ausgeübt hat. Über mindestens drei oder vier Minuten hinweg war eine Stimme von den Presseplätzen lauter als zu hören gewesen als die anderen. (Inzwischen hatten die Presseleute wohl meinen Brief an den Ausschuss zu Ende gelesen und diskutierten darüber miteinander.) Die laute Stimme erhielt Antwort von einer weniger lauten Stimme, aber man konnte kein Wort verstehen. Plötzlich hörte man sehr deutlich: »Gott sei Dank hat endlich mal jemand den Mut dazu aufgebracht.«
Es ist unklug, irgendeinen Augenblick als den besten seines Lebens zu bezeichnen, dazu ist man zu vergesslich; aber ich glaube immer noch, dass die Worte jener unbekannten Stimme mich retteten. (Ich war ganz sicher gewesen, dass nicht nur die ältlichen Damen im Räume mich ablehnten, sondern dass auch die Presse mir nicht wohlgesonnen sei.) Wood klopfte mit seinem Hämmerchen und erklärte wütend: »Wenn das noch einmal passiert, werde ich die Presse aus dem Sitzungssaal entfernen lassen.«
»Tun Sie das nur, Sir!« erwiderte dieselbe Stimme.
Mr. Wood redete über seine Schulter mit jemandem, der dann zu den Presseplätzen hinüberging, aber mehr geschah nicht. Bis zum heutigen Tag kenne ich nicht den Namen des Mannes, der gesprochen hat, aber noch Monate später, fast jeden Tag, wünschte ich mir, ich könnte ihm erklären, was ich Mr. Wood am liebsten gesagt hätte: »Es gibt in diesem Land keine kommunistische Bedrohung, und das wissen Sie. Sie haben Feiglinge zu Lügnern gemacht, eine erbärmliche Sache, und Sie haben mich dazu gebracht, einen Brief zu schreiben, in dem ich Ihre Macht anerkannt  habe.  Ich hätte in Ihren Sitzungssaal gehen, meinen Namen und meine Adresse angeben und wieder weggehen sollen.« Vielen hat mein Verhalten vor dem Ausschuss gefallen, mir selbst jedoch nicht besonders, und wenn ich nicht Angst vor den Ratten und allerlei anderem im Gefängnis gehabt hätte... So bildet man sich Tapferkeit ein, wenn alles vorüber ist - Tapferkeit vom sicheren Ort aus betrachtet.
Im Sitzungssaal hörte ich Mr. Wood sagen: »Mister Walter wünscht der Zeugin keine weiteren Fragen mehr zu stellen. Gibt es einen Grund, warum die Anwesenheit der Zeugin vor dem Ausschuss weiterhin notwendig ist?«
Mr. Tavenner antwortete: »Nein, Sir.«
Mein Verhör war zu Ende, nach einer Stunde und sieben Minuten. Ich glaube, mir ging gar nicht gleich auf, dass es beendet war, doch Joe flüsterte so laut und überschwäng-lich in mein Ohr, dass ich von dem Geräusch aufschreckte.
»Steh'n Sie auf! Steh'n Sie auf!«, sagte er. »Verschwinden Sie sofort von hier! Pollitt wird Sie begleiten. Bleiben Sie auf keinen Fall stehen und beantworten Sie niemandem irgendwelche Fragen! Laufen Sie nicht, aber gehen Sie so schnell Sie können, und schütteln Sie nur den Kopf und gehen Sie weiter, wenn jemand an Sie herantritt.«
Vor mir liegt ein vor kurzem geschriebener Brief von Daniel Pollitt, der jetzt ein bekannter Professor der Rechtswissenschaft an der Universität von North Carolina ist. Über unsere Flucht aus dem Gebäude, meinen schnellsten Lauf, seit ich als Kind zu spät zur Schule rannte, schreibt er nichts. Aber er erinnert sich, dass wir in ein Restaurant gegangen sind, um einen Scotch zu trinken, dem ein zweiter und dritter folgten, und auf Joe warteten, der nicht kam, und dass er sich den Kopf zerbrach, wie er mit nur einem Dollar fünfzig in der Tasche die Rechnung bezahlen sollte.
Er wurde gerettet, schreibt er, von einem meiner Freunde aus dem Außenministerium, der sich zu uns setzte und die Rechnung beglich. Doch laut meines Tagebuchs hat er jenen Tag mit einem anderen ein paar Wochen davor verwechselt. Denn an diesem Tag kam Rauh nach dem Verhör direkt zu uns, küsste mich, klopfte Pollitt mehrmals auf die Schulter, bestellte uns Sandwiches und sagte zu mir: »Wir haben es geschafft.«
»Was haben wir geschafft? Ich verstehe nicht, wieso es so schnell vorüber war.«
Rauh erwiderte, er wisse nicht genau, ob ihnen vielleicht ein Verfahrensfehler unterlaufen sei, indem sie meinen Brief in das Protokoll aufnehmen ließen, aber zum ersten Mal seien sie in die Enge getrieben worden, und vielleicht wollten sie sich aus dieser Position nicht auf eine weitere Auseinandersetzung einlassen. Sie könnten mich erneut vorladen, aber dazu müssten sie einen neuen Grund finden. So hätte er mich letzten Endes doch nicht ins Gefängnis gebracht, und alles wäre gut gegangen.[9]
Während ich mein Sandwich aß, murmelte ich immer wieder vor mich hin: »Meine Güte, meine Güte«, viel zu müde, um zu begreifen, was er sagte. Und dann waren wir wieder in Joes Büro, wo Joe alle möglichen Leute anrief, und jemand telefonierte mit Arthur Krock von der New York Times, der erklärte, er habe meine Einstellung bewundert und glaube, wir würden den Artikel wohlwollend finden. Die Presseberichte waren in der Tat im Allgemeinen sehr positiv, und fünf Tage später schrieb Murray Kempten in der Washington Post einen Artikel mit dem Titel >Porträt einer Dame<, der mir gut gefiel.
Ich rief Hammett an und ließ ihm ausrichten, ich würde zum Abendessen zu Hause sein. Ich wollte jetzt nicht mit ihm sprechen, ihm auch nicht andeuten, dass ich Recht gehabt und er sich geirrt hatte, denn natürlich hatte ich nicht Recht gehabt, wenn das bedeutet, dass man nicht gesagt hat, was man eigentlich hätte sagen wollen; und die Tatsache allein, dass ich ohne Gerichtsverhandlung davongekommen war, bewies noch lange nicht, dass ich Recht gehabt hatte.
Am späten Nachmittag nahm ich ein Flugzeug nach New York. Ich fühlte mich gut, bis ich nach dem Start anfing, mich zu übergeben. Während ich mir das Gesicht wusch, fiel mir mein Kindermädchen Sophronia ein, wie sie zur Köchin oder irgendjemand anderem, bei dem sie ihre Geschichten über mich loswerden konnte, sagte: »Das Kind hat einfach keinen Magen. Ganz gleich, wovon ihr wie schlecht ist, sie kann sich nicht übergeben. Sie versucht's, ich versuch ihr zu helfen, aber es geht einfach nicht.«
Doch an jenem Abend und an den nächsten beiden Tagen ging es sehr wohl. Von diesen beiden Tagen ist mir nur wenig in Erinnerung, ich weiß nur noch, dass ich ständig durstig und müde war und mir sagte: »Jetzt rufst du keinen mehr an. Du wartest, bis sie dich anrufen. Das Leben hat sich geändert.«
Das Leben hatte sich tatsächlich geändert, und es gab viele Leute, die mich nicht mehr anriefen. Andere dagegen, einige Freunde und ein paar flüchtige Bekannte luden mich ostentativ zum Abendessen ein oder schrieben mir Briefe. Das war sehr nett, denn ich wusste, dass einige von ihnen sich wegen der Folgen ihrer Bekanntschaft mit mir Sorgen machen mussten.
Aber das Durcheinander jener Jahre, das schon vor meinem Kongressauftritt begonnen hatte und noch lange danach andauern sollte, forderte einen hohen Preis. Mein Glaube an den Liberalismus war zum größten Teil zerstört. Ich vermute, ich habe mir dafür einen privaten Ersatz geschaffen, den man wohl Anständigkeit nennt. Und doch konnten gewisse Verbindungen Eicht getrennt werden, vielleicht weil diese liberalen Beziehungen seit dreißig Jahren bestanden hatten, und das ist eine lange Zeit. Mein Problem war absolut nichts Besonderes, es gehört zu unserer Gegenwart; aber es ist schmerzlich für jemanden, der seinem Wesen nach einen Liberalismus nicht mehr akzeptieren kann, der wiederum keinen Radikalismus akzeptiert. Man sitzt unbequem auf einem zu bequemen Kissen. Viele von uns springen heutzutage von einem Stuhl zum anderen und landen doch immer nur dazwischen. Die kreative amerikanische Welt ist anderen Ländern nicht nur ebenbürtig, sondern in der Begabung sogar in mancher Hinsicht überlegen, aber sie hat ihre Führungsrolle nicht angenommen, kein Wort einer neuen Lehre, niedergeschrieben in einem Land, das nach Glauben schreit und, weil es keinen findet, zu viele Menschen hervorbringt, die seltsame und sinnlose Gewalt ausüben.
Doch es gab noch weitere schwere Prüfungen in jenem Jahr 1952: Unser Alltag sollte sich gewaltig ändern. Wir hätten eigentlich genügend Geld für ein paar Jahre haben sollen, nun aber besaßen wir keins mehr, und dies sollte, unterbrochen von gelegentlichen unerwarteten Glücksfällen, auch noch eine ganze Weile so bleiben. Ich hatte das schon vorausgesehen, als ich die Vorladung erhielt. Und es lag wie gesagt auf der Hand, dass die Farm verkauft werden musste. Ich wusste, dass man mich jetzt keine Filmdrehbücher mehr schreiben lassen würde und das Theater so unsicher blieb wie eh und je. Zudem war ich sehr langsam und brauchte gewöhnlich zwei Jahre, um ein Stück zu schreiben. Hammetts Radio-, Fernseh-und Buchhonorare waren für immer verloren. Ich hätte die Farm in kleine Parzellen aufteilen und ein Vermögen daraus machen können. Ich hätte das vorliegende Angebot vielleicht auch angenommen, wenn Hammett nicht gesagt hätte: »Nein, das möchte ich auf keinen Fall. Sollen doch die anderen das Land verhunzen. Warum lassen wir beide es nicht, wie es ist?« Eine edle Haltung, die ich teile, und deren Befolgung ich seither trotzdem ständig bereue. Wesentlicher noch als der Verkauf der Farm war - auch wenn dies sicherlich der schmerzlichste Verlust war -, dass eine Periode meines Lebens zu Ende gegangen war. Ich wusste, je schneller ich einen Schlussstrich zog, umso leichter würde mir die veränderte Lebensweise fallen. Vielleicht trauerte Hammett über den Verkauf der Farm noch mehr als ich; aber man kann den jeweiligen Schmerz nicht miteinander vergleichen - über den Verlust eines geliebten Landstücks, das man eigenhändig bearbeitet hat, und eines Hauses, das wie maßgeschneidert gepasst hat, weil man es zweckdienlich eingerichtet hatte in dem Glauben, man würde für immer darin wohnen bleiben.
Doch fünf Tage bevor wir auszogen, geschah etwas so Außergewöhnliches, dass es den Schmerz in etwas anderes, etwas Gutes übergehen ließ - ein Geschenk, das mich glauben ließ, das Glück würde vielleicht doch nicht für immer verloren sein, und die vergangenen Schicksalsschläge würden eines Tages vielleicht sogar unbedeutend erscheinen.
Wir hatten immer Hirsche auf unserem Land gehabt, und bevor im Bezirk Westchester ihr Abschuss generell verboten wurde, brachte Hammett immer das uns zugesprochene Kontingent zur Strecke. So verfügten wir über herrliches Wildbret den ganzen Winter hindurch. Ab und zu stand ich während eines Winterspaziergangs mitten im Wald, oder auf einem Reitweg, plötzlich einem Hirsch oder einer Hirschkuh mit einjährigen Kälbern gegenüber. Oftmals, wenn ich ein leises, fernes Rascheln hörte, kauerte ich mich auf der Stelle tief ins Unterholz und wartete, mitunter lange Zeit, um mit dem Anblick eines Hirschs aus nächster Nähe belohnt zu werden. Hirsche sind für mich die anmutigsten Lebewesen überhaupt, und ich muss wohl eine ziemlich lächerliche Figur gemacht haben, als ich einmal, tief in einer Schneewehe stehend, die Arme einer Hirschkuh entgegenstreckte und vor Enttäuschung in Tränen ausbrach, als sie erschrocken in hohen Sätzen flüchtete.
Zwei Jahre bevor wir die Farm verkauften, noch ehe die ganzen Sorgen begannen, hatte ich eine große Rasenfläche bis zu einer schmalen Allee mit Obstbäumen erweitert, in der Absicht, ein kleines Waldstück dahinter zu roden und einzuzäunen, um daraus einen privaten kleinen Wildpark zu machen. Ich hatte mir vorgenommen, meine Hirsche dann nur an solchen Tagen zu besuchen, an denen ich hart genug gearbeitet oder auf andere Weise ihren Anblick verdient hatte. Doch als die Farm verkauft werden musste, hatte ich bisher nur das Waldstück gerodet.
Die Farm wurde von einem liebenswürdigen Ehepaar gekauft - wir hatten eine Menge seltsame Angebote von Männern mit reichlich Bargeld, die Pläne für Parzellierungen schon in der Tasche hatte, abgelehnt -, und unsere Abmachung mit den Käufern lautete, dass wir innerhalb eines Monats ausziehen würden. Der härteste Teil der Arbeit war geschafft: Die Traktoren, Boote, Farmgeräte und die Tiere hatten wir verkauft oder verschenkt.
Fünf Tage bevor die Möbelpacker kommen sollten, befand ich mich im Obergeschoss und packte ein paar Sachen in meinem Schlafzimmer zusammen, das direkt über einem hübschen Arbeitsraum lag, den ich vor längerer Zeit für mich eingerichtet hatte. Vor dem Arbeitszimmer lag eine große Terrasse mit Blick auf die Reihe Obstbäume und den unvollendeten Wildpark, der niemals fertig werden sollte, auf einer Seite begrenzt von einem wunderschönen Steingarten, den ein längst verstorbener Fachmann angelegt hatte, bevor wir das Haus kauften.
Hammett kam an den Fuß der Treppe und rief flüsternd: »Komm herunter! Aber sei ganz leise. Wenn du dich den letzten Stufen näherst, bück dich sehr tief, damit du nicht von außen durchs Fenster zu sehen bist.« Seine Stimme klang aufgeregt und glücklich, und als ich die Treppe hinuntereilte, sah ich ihn neben den großen Fenstern stehen. Mit einer Handbewegung bedeutete er mir, mich zu ducken. Die Stufen nach dem Treppenabsatz bewegte ich mich auf allen Vieren hinunter, kroch durch das Zimmer zu ihm, und er zog mich langsam hoch. Vor mir eröffnete sich der herrlichste Anblick meines Lebens, so überwältigend, so unglaublich, dass ich unterdrückte Laute der Rührung auszustoßen begann, bis Hammett mir die Hand auf den Mund legte.
Über die breite Landstraße vom See näherten sich langsam mindestens zwanzig Hirsche und vereinigten sich mit einer größeren Gruppe, die über den kürzeren Weg durch die Obstbäume lief. Sie alle, kleine und große, heller und dunkler gefärbte, bewegten sich ohne Scheu und blieben ab und zu stehen, um an den zarten Maiknospen zu knabbern. Acht von ihnen waren dicht an die Terrasse herangekommen und blickten am Haus hinauf, ohne Neugier, eher als wäre es eine andere Art Baum. Dann trennte sich eine Gruppe von ihnen und ging an der Terrasse vorbei in den Steingarten hinauf, wo sie so herrliche Dinge zu fressen fanden, dass sechs oder sieben andere sich ihnen anschlossen. Alle zusammen, die Parade von der Seestraße, die Hirsche von der Obstbaumallee und die anderen im Steingarten zählten gewiss vierzig oder fünfzig Hirsche mit ihren Kälbern; und sie bewegten sich sorglos, wie das wohl nur wenige Menschen je haben sehen dürfen, nicht einmal wie gewohnt auf der Hut, um bei ungewohnten Geräuschen oder Gerüchen zu tlüchten. Etwa nach einer Stunde wechselten Hammett und ich den Platz. Nochmals einige Zeit später kroch er über den Fußboden, häufte etliche Kissen auf einen kleinen Stuhl und schob ihn mir in geeigneter Entfernung vom Fenster zum Sitzen hin. Ich erinnere mich, dass ich da auf die Uhr geschaut habe: Es war ein paar Minuten nach vier. Die Zeiger wiesen auf einige Minuten nach sechs, als die Hirsche abzuziehen begannen, in kleinen Familiengruppen, einige in Richtung der Hauptstraße, um wieder zurück zum Steingarten zu laufen, andere zu einem kleinen Kiefernwäldchen, die meisten aber gingen, wie sie gekommen waren, über die Landstraße zum See. Vier letzte Nachzügler zauderten noch, um einen kleinen Hartriegelstrauch direkt neben der Terrasse zu untersuchen, aber einer unserer Hunde bellte in seinem entfernten Zwinger, und die Hirsche flüchteten in den Wald. Weder Hammett noch ich hatten während der Stunden, in denen wir die Hirsche beobachteten, ein Wort gesprochen, nur ich gab ab und zu einen Laut von mir, und er lachte dann und tätschelte mir den Kopf.
Wir aßen auch zu Abend, ohne miteinander zu reden. Später ging ich noch einmal zu ihm in sein Zimmer. Er saß da und starrte die Wand an, zwei Bücher lagen neben ihm.
»Das war ein schönes Erlebnis. Wer uns das wohl geschickt hat?«
Er lächelte und wandte sein Gesicht von mir ab. »Schau«, sagte ich, »fahr zurück nach New York. Was jetzt noch zu packen ist, kann ich in den letzten Tagen auch allein erledigen. Ich fühle mich wieder einigermaßen.«
Er gab keine Antwort, und ich packte weiter. Am nächsten Vormittag stand er lange Zeit am Terrassenfenster und ging dann hinaus in den Wald, wie er das so viele Jahre getan hatte, mit einem belegten Brot in der Tasche. An diesem Abend fragte er: »Wirst du wirklich allein mit den Möbelpackern fertig?«
»Ja«, antwortete ich. »Wir sollten uns nicht gemeinsam von diesem Ort verabschieden. Das würde es nur noch schlimmer für uns beide machen.«
Er fuhr am nächsten Morgen. Kitty, die Bensons und ich setzten das Sortieren und Packen fort. Kitty war es, die
mich daran erinnerte, dass wir an den Dachboden überhaupt noch nicht gedacht hatten. Ich war ein wenig verärgert, als ich die Leiter zum Dachboden hinaufgeklettert war und feststellen musste, dass Hammett ihn viele Jahre lang als Versteck für seine verrückten und kostspieligen Apparate und Spielzeuge genutzt hatte, die er so liebte und doch immer bald wieder vergaß: Da lagen hundert Fuß Telefondraht; ein gewaltiges, noch ungeöffnetes Paket, aus dem sich ein Schlauchboot herausschälte; ein sorgfältig aufgestelltes Schachspiel, das nie gebraucht worden war; ein kleiner Kühlkasten, der offensichtlich ausprobiert worden, aber jetzt zerbrochen war; zwei Anzüge aus Pferdeleder für die Jagd an sehr kalten Tagen; eine Spielzeugeisenbahn, erstaunlicherweise an den Sohn eines Freundes adressiert, ohne jemals abgeschickt zu werden; zwei teure Wurfangelruten nebst Rollen (zusätzlich zu den vieren, die schon in Gebrauch waren und unten standen); eine mehrbändige Spengler-Ausgabe in Deutsch, was Hammett gar nicht lesen konnte; zwei Paar Pelzpantoffeln mit meinem Namen auf dem Karton; eine noch unbenutzte Ausziehleiter und eine Menge weiterer Kleinkram, den ich nicht zuordnen konnte. Den Telefondraht als das unerfindlichste Stück in dem ganzen Durcheinander schickte ich ihm per Post nach New York, wo das ungeöffnete Paket noch mindestens ein Jahr lang in einer Ecke herumstand und von uns beiden nie wieder erwähnt wurde.
Die Möbelpacker sollten früh an einem Montagmorgen kommen. Am Sonntagnachmittag rief Henry Wallace an und lud mich zu einem Abschiedsabendbrot mit ihm und seiner Frau Ilo ein. Ich kannte Wallace sehr gut, war ich doch eine derjenigen, die seinen dritten Anlauf zur Nominierung als Präsidentschaftskandidat seiner Partei im Jahre 1948 unterstützt hatten[10],  auch mit Geldbeiträgen, und das zu einer Zeit, als ich mir eigentlich gar nichts leisten konnte. Außerdem hatte ich ihn auf seinen Wahlreisen begleitet. Im Laufe der Monate wurde mir immer klarer, dass ich mich da auf eine dumme Sache eingelassen hatte. Zwar betrachtete ich eine dritte Partei in diesem Land für notwendig - und tue es immer noch -, aber ich hielt es für keine gute Idee, alle Kräfte auf die Präsidentschaftskampagne zu konzentrieren. Ich hatte gedacht, wir würden uns auf Distrikte, Stadtviertel oder sogar die nächste Nachbarschaft konzentrieren und langsam von unten etwas für die Zukunft aufbauen, statt soviel Energie und Geld, praktisch alles, auf einen Mann zu setzen, über den ich viele Zweifel hegte. Diese Zweifel hatten nichts mit meiner Sympathie für Wallace zu tun: Sein seltenes, ausgefallenes Wissen -bemerkenswert in seiner oft praktischen Anwendbarkeit, manchmal verschroben in seinem Mystizismus - interessierte mich. Er hatte ernstzunehmende Ansichten über den Zustand Amerikas, sprach offen über seine Befürchtungen bezüglich der Zukunft des Landes, aber gleichzeitig war offensichtlich, dass die Konflikte in Wallaces Wesen wie auch die eigenartigen Abschweifungen seines Geistes von Roosevelts mächtiger Hand fest im Zaum gehalten wurden.
An jenem Sonntag im Juni 1952, dem Tag vor meinem Auszug, war die Progressive Party bereits zerfallen. Wallace und ich waren Freunde geblieben, teilweise wohl, weil ich vor ein paar Jahren bereit gewesen war, eine ansehnliche Summe Geld auf sein Lieblingsprojekt zu setzen: die Kreuzung der roten Rhode-Island-Henne mit dem weißen Leghorn-Haushuhn in dem Versuch, eine gute Legehenne zu erzeugen, die gleichzeitig ein gutes Fleischhuhn ist. Doch diese Kreuzung hatte, im Gegensatz zu seinen zahlreichen brillanten Versuchen mit Mais, keinen Erfolg. Wallace hatte sich verbittert von der Progressive Party abgewandt und soll allen Leuten erzählt haben, ich sei die einzige Person, der er in Zusammenhang mit dieser Partei je getraut habe. (Ich bin nicht sicher, ob er das wirklich gesagt hat, denn es hätte nicht zu ihm gepasst.)
Als Wallace damals Washington verließ (noch vor Bildung der Progressive Party), kaufte er eine Farm, nur eine knappe halbe Stunde von der meinen entfernt. Wir begegneten einander zuerst nur als Nachbarn und dann natürlich sehr oft während der großen Zeit der Progressive Party - nie zusammen mit Hammett, der jedes Mal den Raum verließ, wenn Wallace hereinkam - und dann, nach der Wahlkampagne der Partei, immer seltener. Ich war besorgt wegen der recht sonderbaren Erklärungen, die Wallace hinterher abgab: Sie waren von verdächtiger Arglosigkeit in Bezug auf das Geschehene und hatten einen unangenehm schmollenden Ton.
Im Frühherbst 1948, am Tag einer abendlichen Massenversammlung, aßen wir zu viert oder fünft Mittag. Nach dem Essen schlug Wallace mir vor, einen Spaziergang mit ihm zu machen. (Einer von uns blieb übrigens nach einem solchen Essen immer zurück, um das Trinkgeld des Kellners aufzustocken. Henry gab nie mehr als fünf Prozent, und es hatte schon einige peinliche Szenen deswegen gegeben.) Nachdem wir eine Weile spazieren gegangen waren, fragte er mich, ob es wahr sei, dass viele Leute, und zwar wichtige Leute in der Progressive Party, Kommunisten seien. Diese Frage überraschte mich so sehr, dass ich lachte und erwiderte, ganz gewiss sei das wahr.
»Dann stimmt also«, fragte er, »was man so sagt?«
»Ja«, antwortete ich. »Ich dachte, das müssten Sie gewusst haben. Sie machen die ganze Drecksarbeit im Büro, und ein guter Teil der schlechten Ratschläge, die Sie bekommen, stammt von den höheren Rängen. Ich glaube nicht, dass sie gefährlich sind, sie sind einfach stur.«
»Ich verstehe«, sagte er, und damit war das Gespräch beendet.
Doch etliche Wochen später bemerkte ich bei einer Art Strategiebesprechung, dass er unruhig und besorgt wirkte; die Kommunisten im Raum - vielleicht vier von den zehn Anwesenden - drängten allzu hartnäckig und ziemlich sinnlos auf Annahme einer Entschließung, an deren Einzelheiten ich mich nicht mehr erinnere, die ich aber nicht billigte. Ich hatte jetzt erkannt, dass meine ständigen Beschwörungen, Energie und Geld von der Präsidentschaftskampagne abzuziehen, für immer sinnlos geworden waren. Statt in eine aufgebauschte, aussichtslose nationale Kampagne hätte man - in der Hoffnung auf eine bescheidene, aber solide Zukunft - in den Aufbau kleiner Gruppen im ganzen Land investieren sollen. Ich wusste, dass ich die Auseinandersetzung verloren hatte, nicht nur gegenüber Wallace, der das gesamte Geld und alle Anstrengungen für seine Präsidentschaftskampagne haben wollte, sondern auch gegenüber der kommunistischen Fraktion, die einen großen Einfluss auf die nicht-kommunistischen Gruppierungen ausübte.
An jenem Abend rief ich einen Freund an - ich wusste nicht, ob er Mitglied der Partei war oder ihr nur nahestand - und fragte ihn, ob er für mich ein Treffen mit den zwei oder drei Leuten arrangieren könnte, die er für die höchsten Funktionäre der Kommunistischen Partei hielt.
Zwei Tage später trafen wir uns am Nachmittag in der Wohnung meines Freundes. Drei Männer waren gekommen, alle hohe Funktionäre, denn ich kannte ihre Namen. Mein Freund ließ uns allein, und ich erklärte, dass meines Wissens sechs Kommunisten in der Progressive Party säßen, von denen zwei intelligent und flexibel, vier dagegen starrköpfig und unklug seien und an wenig mehr interessiert als daran, ihren Willen durchzusetzen.
»Ich glaube«, sagte ich, »ich verstehe Henry Wallace. Er widersetzt sich euren Leuten nicht, weil seine Zielsetzung zurzeit der ihren entspricht. Doch wenn er verliert, wird er euch zu den Sündenböcken machen, und ihr habt es nicht anders verdient. Ihr habt eine eigene Partei. Warum greift ihr in die Interna einer anderen Partei ein? Das ist eine ganz eindeutige und bewusste Einmischung, die schon deshalb aufhören sollte, weil sie fehlschlagen muss. Bitte denken Sie über meine Worte nach.«
Ich ging in ein anderes Zimmer, um mir etwas zu trinken zu holen und ihnen Zeit zu lassen, allein darüber zu sprechen. Als ich zurückkam, waren zwei von ihnen gegangen. Der Ranghöchste wartete auf mich.
»Wir halten das, was Sie gesagt haben, für vernünftig«, sagte er, »denn wir kennen die Leute, von denen Sie reden. Doch Sie haben die Vorstellung, die von vielen Menschen geteilt wird, dass die Kommunistische Partei unter der Diktatur einiger weniger Funktionäre steht. Die Wahrheit ist, dass wir keinerlei Kontrolle über jene Leute haben, die Sie für starrköpfig und unklug halten. Wir werden ihnen wiederholen, was Sie gesagt haben, und ich für meinen Teil werde erklären, dass ich mit Ihnen übereinstimme. Aber rechnen Sie nicht damit, dass sich dadurch etwas ändert.«
Ich weiß nicht, was er dann real gesagt oder getan hat, aber es änderte sich tatsächlich nichts, und nach unserem Misserfolg bei den Wahlen - wir konnten nicht einmal die Anzahl der Stimmen erzielen, die ich für möglich gehalten hatte -, zog Wallace sich in einer eigenartigen Gemütsverfassung zurück und begann nicht lange danach offen zu erklären, er hätte nichts von Kommunisten in der Progressive Party gewusst. Ich, die es ihm gesagt hatte, wusste also, dass er log; doch bei einem so komplizierten Wesen wie dem seinen besteht die Möglichkeit, dass er unsere Unterhaltung, weil sie zu dieser Zeit nicht in sein Konzept passte, auch einfach wieder vergessen hatte. Er war kein leicht zu verstehender Mensch.
Am Sonntagabend vor jenem Montag, an dem ich die Farm verlassen musste, war ich sehr müde und hatte keine große Lust, die halbstündige Autofahrt zum Haus von Wallace auf mich zu nehmen. Doch die Einladung zum Abendbrot hatte etwas Rührendes, sie drückte wohl den Wunsch aus mir seine Freundschaft zu beweisen. Als ich ankam, bot Ilo Wallace einen hübschen Anblick auf der Veranda. Sie erklärte, Henry sei draußen und stelle irgendetwas mit den Gladiolen an, würde aber bald wieder zurück sein. Wallace kreuzte Gladiolen, und mir fiel Hammetts Bemerkung ein, er solle lieber die Pflanzen und andere Dinge in Ruhe lassen und sich selber kreuzen. Ilo war eine schöne Frau, im Laufe der Jahre etwas füllig geworden, und eine recht rätselhafte Dame. Sie hatte mir von Zeit zu Zeit Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählt. Eine davon gefiel mir, wenn auch noch so viele taktvolle und schließlich auch taktlose Fragen nicht klären konnten, ob sie die Komik in ihrer Erzählung erkannt hatte oder lediglich etwas berichtete, was sie in Erinnerung behalten, aber nie beunruhigt hatte. Sie erzählte mir, dass Henrys Vater, der unter den Präsidenten Harding und Coolidge Landwirtschaftsminister gewesen war, ihnen zur Hochzeit einen neuen Ford geschenkt hatte. Sie und Henry kamen nach der Trauung aus der Kirche, und Henry freute sich so sehr über den neuen Wagen, dass er Küsse und Gratulanten ignorierte, sich in das Auto setzte und losfuhr. Man hielt das für eigenartig, aber die Leute dachten, er würde den Wagen nur auf seine Bequemlichkeit hin für sie ausprobieren, bis erst eine und dann noch eine halbe Stunde verging. Am späten Nachmittag kam er endlich zurück und rief vom Fahrersitz aus: »Steig ein, Ilo, ich hatte dich ganz vergessen.«
Sie lächelte nicht, während sie diese Geschichte erzählte, aber sie zeigte auch keinen Groll, und ich musste annehmen, dass wohl nie ein tieferes Gefühl ihr Leben beherrscht oder überhaupt darin Eingang gefunden hatte.
Wir schwatzten an jenem Sonntagabend über Nichtigkeiten, bis Henry erschien und Ilo sagte, dass die Köchin in Ferien sei und deshalb sie selbst uns etwas kochen würde.
Ich hätte dringend etwas zu trinken gebraucht, wusste aber, dass das ausgeschlossen war. Die Unterhaltung zwischen Henry und mir war mühsam und belanglos, wie das immer zwischen Leuten ist, die gern Dinge sagen möchten, über die sie aber beschlossen haben zu schweigen. Schließlich kündigte Ilo das Abendessen an. Die Wallace-Farm war eine Eierfarm, und Ilos Abendessen bestand für Henry aus zwei verlorenen Eiern auf je einem halben Weizenschrotbrötchen, ein grässlicher Anblick, der noch beleidigender durch nur je ein verlorenes Ei auf einem halben Weizenschrotbrötchen für Ilo und mich wirkte. Der Anblick dieses knauserigen, unhöflichen Abendessens brachte mich dazu zu sagen, dass ich bereits gegessen hätte. Ich wartete, bis sie gegessen hatten, was bei einem solchen Essen nicht lange dauerte, und während Ilo ungerührt aß - was kann schon eine Frau berühren, die verlorene Eier auf Weizenschrotbrötchen packt? -, hatte Henry offenbar mein Missfallen bemerkt. Als ich mich zum Gehen erhob, sagte er, er hätte ein Geschenk für mich. Das war ein so ungewöhnliches Ereignis, dass ich staunend in die Dunkelheit starrte, während er ein gewaltiges Paket im Kofferraum meines Wagens verstaute. Wir schüttelten uns alle die Hände und sagten, wir müssten uns bald einmal wiedersehen.
Gegen Mittag des folgenden Tages, ich beaufsichtigte gerade die Leute der Spedition, die meine Möbel aus dem Haus trugen, fiel mir das Geschenk im Kofferraum ein. Benson und ich öffneten ihn und fanden einen Sack mit fünfzig Pfund Dünger - ein ziemlich unpraktisches Geschenk für jemand, der gerade seine Farm hat aufgeben müssen, und insgesamt kein sehr geschmackvolles Geschenk für eine Frau. Ich habe Wallace nie wiedergesehen, glaube aber nicht, dass die verlorenen Eier oder der Dünger viel damit zu tun hatten.
Jener Montag war kein glücklicher Tag. Die Leute holten die Sachen und Tiere, die sie gekauft hatte: die Milchkühe, die Enten, die Hühner, die elf kleinen Pudel, die landwirtschaftlichen Maschinen, die Boote, die feinen Schlachtmesser und Schlachtbänke, die vier schönen Angusrinder, die Konserven- und Wurstmaschinen, all die Hunderte von Einzelstücken, die eine gut funktionierende Farm ausmachen. Ich wusste an jenem Tag, dass ich nie wieder dergleichen besitzen würde. Aber gleichzeitig sagte ich mir auch, dass ich mich glücklich schätzen dürfte, diese Dinge überhaupt einmal besessen zu haben, und genau dies empfinde ich auch heute noch, so viele Jahre danach. Geldverlust kann einem nehmen, was man gern hat und worin man gute Arbeit leistet; doch was mich angeht, bin ich heute sicher, dass ich ohne den ganzen Arger, zu lange an einem Ort, in einer Schablone gesteckt hätte. Ich bin immer noch voller Zorn, dass korrupte und ungerechte Menschen dafür gesorgt haben, dass ich den einzigen Ort verkaufen musste, der wie für mich gemacht gewesen ist; aber das hat mit meinem jetzigen Leben nicht mehr viel zu tun, denn es gab und gibt heute andere Orte, die ihren Zweck erfüllen. Wenn ich auf der Farm geblieben wäre, hätte die Arbeit mich schneller altern lassen. Es gibt nicht viele Orte, Zeiten oder Szenen, an die man in völlig ungetrübtem Vergnügen zurückdenken kann. Die Leute, die für uns gearbeitet haben, müssen genauso empfinden, denn immer noch senden wir uns jedes Jahr zu Weihnachten Geschenke. Trotzdem kommen wir nie zusammen, weil wohl jeder von uns das melancholische Gespräch über die schöne Vergangenheit fürchtet. Benson, mein Verwalter, ist gestorben, aber seine Frau lebt noch und hat einen guten Sohn großgezogen. Wann immer ich mit ihr spreche, habe ich das Bild ihres dicken, fröhlichen kleinen Jungen vor Augen, wie er mit Hammett auf der Terrasse sitzt, der, ein verbitterter Ex-Katholik, dem Jungen seinen Katechismus abhört und mit Einfühlungsvermögen den Sinn des Gottesdienstes erklärt.

Absatz 12

Notizen aus einem Tagebuch
vom 10. Mai 1952

Ich habe Marc Blitzstein angerufen, und wir haben uns in der Russischen Teestube getroffen. Ich berichtete ihm, dass ich in einer Woche oder zehn Tagen vor dem Ausschuss erscheinen müsse, und bat ihn, keinem etwas davon zu erzählen. Ihm gegenüber erwähnte ich es, weil es bedeutete, dass ich nicht den Text für Regina[11] bei der Konzertaufführung am l.Juni lesen konnte. Ich hätte es ihm eigentlich früher sagen müssen, aber wenn ich Marc auch sehr gerne habe und gut mit ihm befreundet bin, mag ich ihm doch in gewissen Zeiten nicht zuhören. Ich erwartete einen Vortrag, welcher Art auch immer, deshalb versuchte ich ihm zuvorzukommen, indem ich gleich hinzufügte, Lennie würde die Lesung genauso gut übernehmen können, vielleicht sogar besser. Blitzstein starrte mich eine Weile lang an und sagte dann: »Wir können dich nicht absetzen, und du kannst dich auch nicht selber absetzen. Wir würden alle wie Feiglinge dastehen.« Ich antwortete, vielleicht sei ich einer, ich könnte den Gedanken nicht ertragen, vom Publikum ausgezischt zu werden, und genau das würde sicher geschehen. Er erwiderte: »Ich glaube nicht, dass sie dich auszischen werden, und wenn doch, werde ich es nicht dulden. Ich würde auf die Bühne treten und sagen, dass meine Musik für solche Leute nicht gespielt wird, und dann würden wir ihnen ihr Eintrittsgeld zurückgeben und sie nach Hause schicken.«
Ich lachte, weil ich schon im Ohr hatte, wie er das sagte. Als wir auseinandergingen, sagte er: »Du musst dir jetzt um wichtigere Dinge Sorgen machen. Vergiss das Konzert, wir werden den Dingen ins Auge sehen, wenn es so weit ist.«
Aus einem Tagebucheintrag
vom 2. Juni
Gestern Abend habe ich also mein für den Ausschuss bestimmtes Balmainkleid angezogen. Marc war schon vor mir da, wir waren beide sehr früh gekommen. Er sagte, das Foyer sei schon voll, das Haus wäre ausverkauft, und fragte, ob meines Wissens Stehplätze erlaubt seien. Ich antwortete, vor lauter Lampenfieber wüsste ich überhaupt nichts mehr. Auch er schien besorgt, denn er rannte hinter der Bühne auf und ab und nickte mir im Vorbeilaufen zu. Die Kulissenschieber fächelten sich Luft zu, denn es war ein heißer Abend. Ich aber fror und war in viel schlechterer Verfassung als an dem Tag, an dem ich vor dem Ausschuss erscheinen musste. Vor dem Publikum habe ich schon immer Angst gehabt. Eine Stimme fragte mich, ob ich einen Drink haben wolle. Ich drehte mich um und sah einen großen Iren mit rotem Haar. Als ich bejahte, nahm er die rechte Hand hinter dem Rücken hervor und hielt mir das größte Glas Bourbon hin, das ich je gesehen hatte. Ich kippte ihn zu rasch hinunter, und er brachte mir einen Hocker und ein Glas Wasser. Dann verschwand er. Dafür kam Marc wieder vorbei. Der Alkohol machte die Sache noch schlimmer. Jetzt zitterte ich wirklich, und beim Herumrutschen auf dem Hocker holte ich mir an einem der Holzbeine auch noch eine Laufmasche. Der junge Rotschopf tauchte erneut auf und sagte mir, dass ich mich für meinen Auftritt auf der falschen Bühnenseite befinde. Wir gingen hinüber, und ich stolperte dabei über ein Kabel.
Er sagte: »Sie brauchen noch  einen Drink. Einer ist schlecht für den Magen.«
Auf der anderen Seite nahm der Rotschopf seinen Platz an dem Beleuchterpult ein, rief jemanden etwas zu, und ein paar Augenblicke später wurde mir ein zweites Glas Bourbon gereicht. Ich zögerte, aber der Rotschopf meinte: »Etwas Besseres gibt es nicht.« Ich trank es zur Hälfte aus, sah den Vorhang hochgehen und erinnerte mich daran, dass ich als erste auf die Bühne musste. Ich kam nicht von meinem Hocker hoch. Der Rotschopf sagte: »Gehen Sie raus! Schnell!«
Ich drehte mich zu ihm um, wahrscheinlich schon voll im Blickfeld des Publikums auf der rechten Seite, und sagte: »Ich würde es nicht sagen, wenn ich nicht betrunken wäre, aber wenn Sie noch nicht verheiratet sind, hoffe ich, dass Sie mich berücksichtigen.«
Er lachte und sagte: »Los, auf die Bühne!«
Ich überquerte die Bühne bis zur Hälfte und starrte dabei unverwandt geradeaus, während ich etwas vor mich hin murmelte, was ich vergessen habe, ein Gebet vielleicht. Plötzlich ertönte donnernder Applaus, der mich so unerwartet traf, dass ich erschrocken und überrascht stehenblieb, so plötzlich und ruckartig, dass die ersten Reihen zu lachen begannen. Dann erhob sich das Publikum applaudierend, und ich stand ihm gegenüber, keiner Bewegung fähig. Eine Sekunde lang glaubte ich, der Applaus sei für die Musiker bestimmt, aber die waren auch aufgestanden, und Marc erzählte mir später, dass ich mich umgeschaut hätte auf der Suche nach dem, dem der Applaus gelte. Dann hörte ich Marcs Stimme von irgendwo sagen: »Um Himmels willen, geh zu deinem Hocker!« Ich hätte am liebsten losgeweint, gelangte aber irgendwie auf meinen Hocker, öffnete mein Manuskript und war überrascht über die ruhigen Worte, die aus meinem Mund kamen über Foxes und was Marc daraus in Regina gemacht hatte. Gewöhnlich lese ich zu schnell, aber diesmal war es genau richtig, langsam und gleichmäßig. Am Schluss des ersten Teils meiner Erzählung begann das Singen - ich hatte die Sänger nicht einmal auf die Bühne kommen hören -, und als niemand mehr zu mir schaute, langte ich nach einem Taschentuch in meiner Rocktasche, fand aber keins. Jemand zu meiner Rechten machte ein Geräusch, und ich sah, dass der Rotschopf über die Hinterbühne auf meine Seite gekommen war und mir aus den Kulissen zuwinkte, ganz in meiner Nähe. Ich stand auf, obwohl ich mich eigentlich nicht von meinem Hocker hätte rühren sollen. Aber er kam mir jetzt wie der beste Freund vor, den ich je hatte und dem ich zu folgen hatte. Er drückte mir eine halbvolle Flasche Ginger Ale und einen Pappbecher in die Hand und sagte: »Es ist Bourbon. Nehmen Sie's mit.«