Hochwürden Lou Sheldon hatte viele hispanische, afroamerikanische und asiatische Priester fundamentalistischer Glaubensrichtung davon überzeugt, daß Lesben und Schwule ihnen ihren Status als anerkannte Minderheiten wegnehmen wollten und daß sie, um sich zu schützen, politischen Druck auf das Parlament von Kalifornien ausüben müßten, damit AB 101, der Gesetzesantrag für lesbische und schwule Bürgerrechte, verhindert wurde. Um gegen Sheldon anzugehen, hatten sich mehrere Führer der afroamerikanischen Gemeinde, die AB 101 unterstützen wollten, mit Cleve Jones auf die Treppe des State Building gestellt. ACT UP verfolgte natürlich eine andere Taktik. Sie schickten Mr. Sheldon einen Haufen Dung. Es war Jesses dritter Geburtstag, und die Party sollte im »Märchenland« in Oakland gefeiert werden, dem ältesten Vergnügungspark für Kinder in ganz Amerika, wo niemand auf die Karussellsitze paßt, der größer ist als einen Meter zwanzig. Alle sollten sich am Großen Schuh treffen. Cheryl ging schon mal vor, um unsere Gäste zu begrüßen, aber Jesse wollte nicht aus dem Auto aussteigen. Er hatte Angst vorm Märchenland. Er befürchtete, daß er hineingehen und vielleicht nie wieder zurückkommen würde. Dann müße er mit den verlorenen Kindern für immer durch Nimmerland ziehen. Tinker Bell war launisch. Und was war mit dem Krokodil, das Käptn Hooks Arm gefressen hatte?
Ich öffnete den Kofferraum und hob vorsichtig den großen glasierten Rosinenkuchen heraus, der die Form eines Krokodils hatte. Ein mexikanischer Bäcker im Mission-Viertel hatte ihn für mich gebacken. Das Krokodil war ziemlich eindrucksvoll, mit gefährlich scharf aussehenden Eckzähnen und aufgesperrten Kiefern, die weiße Glasurzähne und eine große rote Geleezunge entblößten. Jesse erschauerte, als ich es ihm zeigte. »Ist es lebendig?« fragte er. »Nein, mein Schatz. Es ist ein Kuchen. Willst du ihn essen?« »Das Kroko essen?« klang es erstaunt. »Mm-hmmm«, sagte ich. »Das Kroko essen.« Er war nervös, aber er lächelte, als ich ihm eine Klaue abbrach. Er kaute darauf herum und schien mehr Selbstvertrauen zu fassen. Als er die Klaue herunterschluckte, fragte ich ihn: »Magst du jetzt ins Märchenland mitkommen? Mama Cher und die Kinder warten auf dich.« »Gib mir ein Stück von der Zunge«, kommandierte er, und nachdem er das verschluckt hatte, teilte er mit, daß er bereit fürs Märchenland sei. Während Jesse das Märchenland eroberte, feierte Jonathan mit seinem Bruder dessen Examen an der Uni Yale. Präsident George Bush war einer der Redner, also trug Jonathan sein Queer-Nation-T-Shirt. Es gab Hunderte von amerikanischen Fahnen auf Krawatten, Hutbändern und Reversnadeln der Besucher. Jonathans mittlerer Bruder bat ihn, die Rede des Präsidenten nicht zu unterbrechen, aber das konnte Jonathan ihm nicht versprechen. Plötzlich bemerkte er einen Freund von ACT UP, der ein Spruchband trug, und er watete durch die Menge zu ihm. Als George Bush seine Rede begann, erklomm Jonathan seinen Stuhl und hielt das ACT- UP -Spruchband hoch über seinen Kopf. »Laßt euch nichts gefallen! Schlagt zurück! Schlagt Aids!« rief er und wurde aufs Kinn geboxt, aber er fiel nicht vom Stuhl. Das Spruchband war immer noch oben, das allein zählte. Drei Reihen vor ihm saß ein fetter Ehemaliger, der seinen Stuhl nahm, ihn zusammenklappte und über seinem Kopf schwang, um Jonathan damit zu bewerfen. Die Gattin des Ehemaligen war entsetzt. »Liebling! Liebling! Beruhige dich doch, Liebling!« bettelte sie. Jonathan wußte, daß es leicht war, die Vororte zu erreichen, ja, sogar Hollywood, aber er hatte diesmal die Universitäten im Visier, vor allem die der renommierten Ivy League. Yale war eine der feindseligsten Umgebungen, in denen er je gewesen war. Sie reagierten sofort mit Gewalt, erklärte er mir später, weil sie als oberste Kaste der Gesellschaft nicht daran gewöhnt waren, daß ihr Status quo herausgefordert wurde. Das Zentrum der blaublütigen Kultur, wo die wahre Macht saß, stand nun ganz oben auf Jonathans Zielgruppenliste. Er hatte sich Harvey Milks Worte zu Herzen genommen: »Keiner wird euch Macht geben. Ihr müßt sie euch nehmen.« Als Jonathan nach Hause kam, beobachtete ich von seiner hinteren Veranda aus, wie er und Kurt im Garten mit Jesse Erdbeeren pflückten, und ich fragte mich, ob der Tag kommen würde, an dem wir einfach nur in Ruhe unser Leben leben durften. Ich hielt den Bericht vom Jugendamt in den Händen. Ich war allein, ich wollte allein sein. Langsam öffnete ich den Umschlag und las.
»Der Minderjährige ist nicht zur Adoption freigegeben, und das Jugendamt empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Der Minderjährige hat eine gleichermaßen gute Bindung an beide Frauen und betrachtet beide als seine Mütter. Die leibliche Mutter möchte der Adoption zustimmen, ihre elterlichen Rechte zugleich aber behalten. Das Jugendamt ist nicht der Ansicht, daß diese Adoption dem Wohl des Minderjährigen dient, und empfiehlt die Ablehnung des Antrags, denn dem Wohl des Minderjährigen würde ein Heranwachsen in einer sicheren, stabilen Beziehung zwischen Eltern und Kindern dienen, wie sie von der gesetzlichen Ehe gefördert wird. Die Antragstellerin und ihre lesbische Partnerin haben fünfeinhalb Jahre lang in einer stabilen, monogamen, eheähnlichen Beziehung gelebt... Er wirkt aufgeweckt, lebhaft und ausgeglichen... Seine Lehrerin gibt in ihrem Empfehlungsschreiben an, daß der junge ausgeglichen ist und gut versorgt wirkt... Eine normale, liebevolle elterliche Beziehung besteht zwischen der Antragstellerin und dem Kind. Das Jugendamt ist jedoch nicht der Ansicht, daß diese Adoption dem Wohl des Minderjährigen dient und empfiehlt die Ablehnung des Antrags, denn dem Wohl des Minderjährigen würde ein Heranwachsen in einer sicheren, stabilen Beziehung zwischen Eltern und Kindern dienen, wie sie von der gesetzlichen Ehe gefördert wird. In Anbetracht der vorausgehenden Sachverhalte empfiehlt das Jugendamt, den Adoptionsantrag abzulehnen.«
So etwas wird als positive Ablehnung bezeichnet, was bedeutet, daß das Jugendamt die endgültige Entscheidung dem Richter überläßt. Es ist das beste Resultat, das sich erzielen läßt, aber demütigend war es trotzdem. Es bestätigte, mit welcher Geringschätzung der Staat nicht nur meine Beziehung zu Jesse, sondern auch zu Cheryl betrachtete. Der Schmerz ist etwas Verblüffendes, selbst wenn er nicht überraschend kommt; wenn er tief genug geht, ist es nicht länger Schmerz, sondern ein ungewöhnliches und entsetzliches Abenteuer, das dich entweder zerstört oder so stark macht, daß nichts dich mehr verletzen kann. Im Fernsehen sah ich einen Film über eine heterosexuelle Familie in den Ferien; er machte mich rasend vor Wut. Der Zorn linderte den Schmerz. Er half mir, aufzustehen, zu meinem Wagen zu gehen und zum Queer-Nation-Treffen ins Frauenhaus zu fahren, wo ich eine Ansage machte: »Ich habe gerade erfahren, daß mein Adoptionsantrag offiziell abgelehnt ist. Ich will keine Aktion machen. Ich denke, es wird sich alles fügen. Aber ich will eines sagen, laut und deutlich: >Ich bin hier. Ich bin queer. Ich bin seine Mutter, gewöhnt euch dran.<« Annette legte ihre Hand auf meinen Arm, und ich stand eine Weile mit Pam, Jonathan und Kurt, Tanya, John und Mark im Saal, der Partisanenavantgarde der militanten Homosexuellen. Als ich das Gebäude verließ, entdeckte ich, daß jemand die Windschutzscheibe meines Autos eingeschlagen hatte. Es war wie im Traum, oder vielmehr, so mußte ich es einfach nehmen. Wir waren gewarnt worden, wir sollten die Treffen am besten paarweise verlassen, es hatte schon Angriffe gegeben, Leute waren verfolgt, gejagt, geschlagen worden. Ich hatte keine Ahnung, ob mich jemand gesehen hatte, als ich das Frauenhaus betrat, oder ob das Zerschlagen der Scheibe reiner Zufall war. Es dauerte sehr lange, das Glas zu entfernen, Splitter für Splitter. Windschutzscheiben werden so produziert, daß sie nicht in große Scherben auseinanderbrechen, aber als ich die Stückchen aufhob, merkte ich: Es schnitt doch noch, so tief, daß Blut kam. Ich erhielt den Termin für die Anhörung zur Adoption und beschloß, ein bißchen Nervosität abzuarbeiten, indem ich eine traditionelle lesbische Familien-Adoptions-Party plante. Wenn die Adoption abgelehnt wurde, würde ich die Party zu einer Aktion machen. Die Anhörung sollte vor dem Familiengericht im Rathaus stattfinden; ich übergab persönlich Bürgermeister Agnos einen Brief, erzählte ihm, was im Gange war, und bat ihn, meine Familie und meine Freunde nach dem Gerichtstermin in seinem Büro zu begrüßen. Falls irgend etwas schiefging, würde ich ihn bitten, eine Stellungnahme abzugeben. Langsam fühlte ich mich besser. Etwas zu unternehmen baute die Angst ab. Schmerzen ohne Selbstmitleid und Panik durchzustehen gibt Kraft. Eine telefonische Nachricht kam vom Büro des Bürgermeisters: Er würde auf jeden Fall am 29. da sein. Da ging kein Weg dran vorbei. Es war Samstag, zwei Tage vor dem Gerichtstermin, und ich bekam einen Anruf von dem Aktivisten Everett Denman, der regelmäßig die Tätigkeit der Fernsehprediger und der fundamentalistischen Politorganisationen in Sacramento verfolgte. Inzwischen attackierten die Fundamentalisten jeden Tag von neuem, und ihre Heftigkeit erinnerte an Anita Bryant und John Briggs. Wann und wie hatten sie soviel Einfluß auf politische Komitees und Ausschüsse bekommen? Ein Dr. Cameron, der zum Beraterstab des Kongreßabgeordneten William Dannemeyer gehörte, erläuterte über Radio: »Homosexuelle sollten kastriert werden. Homosexuellen Frauen sollte ein zwei Zentimeter großes Loch durch die Nasenscheidewand gebohrt werden.« Viele unserer heterosexuellen liberalen Freunde und nicht wenige Lesben und Schwule rieten den Aktivisten, nichts auf solche Extremisten zu geben, das sei doch nur ein Haufen Irrer ohne wirkliche Macht. Everett Denman hatte allerdings etwas, das mich interessieren würde, wie er meinte: eine bestimmte Videokassette von Pat Robertsons »700 Club«, einer Show zur Spendenbeschaffung, die sich als religiöse Andachtsübertragung ausgab. Schwerter krachten zu Beginn der Show, die Worte SPIRITUELLER KRIEG erschienen, gefolgt von den beiden »Pressemodels« der radikalen Rechten, Pat Robertson und seiner Helfershelferin Sheila. Sie erläuterten, alle guten Christen müßten in den Krieg gegen die großen satanischen Kräfte des Bösen ziehen, die überall in der Welt entfesselt seien. Als Beweis für die Existenz dieser bösen Geister zeigten sie ein Video von der Christopher Street Day-Parade und von der GHOST-Demonstration gegen die Gebetskrieger, die an Halloween nach San Francisco gekommen waren, um der lesbisch-schwulen Gemeinde den Teufel auszutreiben. In beiden Videos trat Gilbert Baker als Pink Jesus auf. Sie spielten seine Bewegungen in Zeitlupe ab, damit er schlangenhafter wirkte. Dann hielten sie ein Kinderbuch hoch, in ihren Augen der absolute Beleg für die Strategie der militanten Homosexuellen und ihre Absicht, Kinder zu bösen Zwecken zu rekrutieren, und zwar als Resultat ihrer Besessenheit nicht durch Feld-, Wald- und Wiesendämonen, sondern durch Teufel der höchsten Ränge. Sie schlugen das Buch für die Zuschauer auf und zeigten eine Zeichnung von zwei Frauen, die ein kleines Mädchen an der Hand hielten. »Das ist tatsächlich für kleine Kinder gedacht«, sagte Pat Robertson, Ex-Kandidat für die Präsidentschaft der USA. »Widerlich«, sagte Sheila. Jeder sollte vor diesem Buch auf der Hut sein und es schleunigst aus den Buchhandlungen verschwinden lassen, sollte es jemals auftauchen. Natürlich war es ein Exemplar von Lesléa Newmans Buch Heather hat zwei Mamis, das auch Jesse besaß. Der Kreuzzug der Rechten streckte seine Hände nach meinem Kind aus. Pat Robertson warf keinen Blick auf die Worte, die auf der Seite standen, aber wenn er das getan hätte, wäre er auf diese Sätze gestoßen: »Jede Familie ist etwas Besonderes. Das Wichtigste an einer Familie ist, daß sich alle Menschen darin liebhaben.« Der »700 Club« wird in vierundvierzig Ländern ausgestrahlt und behauptet, »sechs Millionen Menschen hätten sich im letzten Jahr für Christus entschieden.« Ich sorgte mich zu Tode. Ich hegte die vielleicht absurde Angst, daß der Familienrichter an diesem Wochenende den »700 Club« sehen und sich, genau vor meiner Adoptionsanhörung, für Pat Robertsons Version von Christus »entscheiden« könnte. Ich hatte Robertson früher für einen bloßen Scharlatan gehalten, und ich hätte das auch immer noch geglaubt, wäre da nicht meine Arbeit für Queer Nation gewesen. Inzwischen kannte ich die Macht der Medien, vor allem des Fernsehens, und wußte, daß die radikale Rechte seit Jahren das Fernsehen für ihre Zwecke benutzte, seit den Zeiten von Jerry Falwell und der Moralischen Mehrheit. Und noch hatte keiner von uns, ob hetero oder homo, demokratisch oder moderat republikanisch, eine Ahnung davon, wie weit Pat Robertson in unserer Gesellschaft tatsächlich kommen sollte: daß er 1992 bei einer Feier auf dem Parteikongreß der Republikaner in der Loge des Vizepräsidenten neben Marilyn Quayle saß, daß unter den Bildern, die die Republikaner übertragen würden, auch ein strahlender Jerry Falwell und Pat Buchanan waren, daß Vizepräsident Dan Quayle bei seinen Pressekonferenzen und Interviews ausdrücklich betonte, Familien wie die meine seien auf Unmoral gegründet, daß Lou Sheldon, dieser Kulminationspunkt des Hasses, ein Ehrengast und Ratgeber beim republikanischen Wahlkampf von 1992 war. R.I. Rushdoony, Berater von Lou Sheldon und seiner Koalition der Traditionellen Werte, hatte gemeinsam mit diesem erfolgreich den kalifornischen Gesetzesantrag für lesbische und schwule Bürgerrechte blockiert. Mr. Rushdoony sagte zum Thema Homosexualität: »Immer wenn eine Gesellschaft sich weigert, eine nötige Todesstrafe einzuführen, verhängt Gott die Todesstrafe über diese Gesellschaft. Jeder Staat und jede Gesellschaft hat also die Wahl: entweder diejenigen zum Tode zu verurteilen, die zu sterben verdienen, oder selbst zu sterben.« Pat Buchanan, Vertreter der Republikanischen Partei in der CNN-Diskussionsrunde »Crossfire«, unterstützte diese Erklärung eines Glaubenskrieges in Amerika und belegte das mit den Worten der »militanten homosexuellen Person«, die auf dem Parteikongreß der Demokraten geäußert hatte, Bill Clinton befürworte die Bürgerrechte der Lesben und Schwulen mehr als jeder bisherige Präsidentschaftskandidat der USA. Diese »Person« war Stadträtin Roberta Achtenberg gewesen. Offenbar kannte Mr. Buchanan Jonathan Katz noch nicht. Am Sonntagmorgen war ich unglaublich aufgeregt. Ich brachte alle um mich herum zum Wahnsinn, nichts konnte mich beruhigen. Jesse machte ein Nickerchen, Cheryl ging nach draußen, um an den Buchsbaumbüschen Unkraut zu jäten, die sie unter die großen Bäume vor unserem Haus, gleich am Bürgersteig, gepflanzt hatte. Ich sah ihr vom Fenster aus zu. Ich wußte, wie schwer es gewesen war, mit mir zusammenzuleben, und daß meine Wut ihre Auswirkungen auf unser Leben hatte. Und da sah ich sie wieder kommen, die drei Zeuginnen Jehovas mit den Handtaschen am Arm und dem Wachtturm in der Hand. Was mußte ich noch tun, um sie loszuwerden? Ihnen den Teufel eintreiben? Ich war so wütend, daß meine Hände zitterten, als ich unter Mühen das Fenster öffnete. Ich konnte mir schon richtig vorstellen, wie Cheryl in eine erregte Diskussion mit ihnen geriet, und wollte sie davor bewahren. Als ich das Fenster endlich auf hatte, hörte ich Cheryl mit süßer Stimme flöten: »O ja, ich glaube an Gott. Ist Gott nicht wundervoll? Ich bin eine unitaristische Universalistin. Ich unterrichte in der Sonntagsschule. Gott ist Liebe, nicht wahr? Reine Liebe.« Den Damen wurde es etwas unbehaglich, ich sagte nichts. Cheryl stand auf »Reine Liebe«, wiederholte sie. Die Kirchenfrauen umklammerten Handtaschen und Wachtturm, als Cheryl einen Schritt auf sie zu machte, das Gartenwerkzeug baumelte seitlich in ihrer Hand. »Sie sehen durstig aus«, sagte Cheryl. »So furchtbar durstig. Sie können sicher alle ein Glas Wasser gut vertragen. Lassen Sie mich Ihnen ein Glas Wasser holen.« »O nein nein«, sagten die Kirchenfrauen. »Wir möchten Ihnen keine Umstände machen.« Sie fühlten sich sehr unwohl, und ich begriff, daß sie Angst vor Cheryl hatten, die sie ins Haus einlud und wiederholte, wie furchtbar furchtbar durstig sie aussähen, und ob sie nicht mit hereinkommen und gemeinsam über Gottes Liebe sprechen wollten? Cheryls Stimme war weich und besänftigend.
Die Kirchenfrauen wichen buchstäblich vor ihr zurück, Stück um Stück die Straße hinauf, lehnten höflich ihre großzügige Einladung auf ein Glas Wasser ab und würden bestimmt nie wiederkommen, aus Angst vor der schmeichelnden Zunge des Teufels, der versuchte, sie zum Unglauben zu bekehren. Indem sie ihre Arme ausbreitete und sie willkommen hieß, wie es im übrigen ja auch ihre Glaubensrichtung lehrte, hatte Cheryl geschafft, was mir mit keinem meiner konfrontativen Theatertricks gelungen war. Manchmal schließt »mit allen Mitteln« auch Liebe ein. Cheryl ging an ihr Unkrautjäten zurück, machte weiter, wo sie unterbrochen hatte, und ich schloß leise das Fenster. Am Abend, als ich ins Schlafzimmer kam, las sie ein gebundenes Buch, das ich noch nie gesehen hatte. »Komm zu mir unter die Decke«, sagte sie. Die Anhörung sollte am nächsten Morgen sein, und ich war so nervös, daß ich kaum stillsitzen konnte, aber ich wollte es versuchen. »Was liest du da?« fragte ich. »Das ist Amy Vanderbilts Umfassendes Buch der Etikette in der Ausgabe von 1952«, sagte sie. Vielleicht hatte Cheryl nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Da wirst du nichts drin finden, was für uns zutrifft«, fauchte ich. Meine Zickigkeit ging allmählich auch mir auf die Nerven, aber ich konnte nichts dagegen tun. »Du irrst dich«, sagte Cheryl. »Ach ja, wirklich?« Ich verbiß mich verbiestert in die Tatsache, daß nun auch noch Amy Vanderbilts Umfassendes Buch der Etikette in meinem Bett lag. Cheryl zeigte sich ungerührt. »Guck mal hier, Phyllis«, sagte sie, und ich zwang mich dazu, die Stelle zu lesen, auf die sie zeigte. Da stand ein kurzer Absatz über die Adoption von Kindern und wie man die Bekanntmachung angemessen vorbereitete. »Wie sollen wir es denn machen?« fragte sie. Ich brach in Tränen aus, und Cheryl hielt mich in ihren Armen. Ich wußte nicht, ob sie verstand, was in mir vorging, aber sie hielt trotzdem zu mir.
Am Morgen des 29. Juli um neun Uhr erschienen Cheryl, Jesse und ich zusammen mit Abby Abinanti vor dem Vormundschaftsgericht im Rathaus. Außerdem hatten wir zwei Freunde dabei, unsere Nachbarin Terry und Michael LeBoff. Sie waren beide nervös, Cheryl aber wirkte vollkommen ruhig. Als wir im Gerichtssaal saßen, lehnte sich Michael zu mir herüber und sagte: »Also ihr glaubt, es geht alles in Ordnung, ja?« Terry hörte ihn fragen und spitzte die Ohren, um meine Antwort zu hören. Cheryl starrte einfach nur geradeaus, die Augen fest auf die geschlossene Tür zum Richterzimmer geheftet. Ich versicherte Michael und Terry, daß alles in Ordnung gehen würde, aber richtig sicher war ich nicht. Wir wurden ins Richterzimmer gerufen, und ich folgte Abby, Jesse an der Hand. Cheryl und unsere Freunde kamen hinterdrein. Die Richterin saß hinter ihrem Schreibtisch und trug die schwarze Robe der Macht. Zuerst betrachtete sie mich eindringlich, dann Jesse. »Der adoptierende Elternteil wird jetzt den Schwur ablegen«, sagte sie. »Erheben Sie bitte Ihre rechte Hand«, sagte der Gerichtsdiener, und ich kam der Aufforderung nach. Jesse sah zu mir auf, hob seine Hand auch und schaute dann den Gerichtsdiener an. Die Richterin verzog keine Miene. »Wollen Sie feierlich schwören, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr Ihnen Gott helfe?« »Ja«, sagte ich. Wir alle gaben unsere vollständigen Namen für die Akten an. Abby und ich saßen vor der Richterin, Cheryl und unsere Freunde hinter uns. Als ich mich beim Hinsetzen umdrehte, sah ich, wie Cheryl die Tränen niederkämpfte, und da wußte ich, daß sie alles verstand.
Jesse beharrte darauf, auf meinem Schoß zu sitzen. Er nahm meine Hand in seine beiden Hände und schaute mit ungeteilter Aufmerksamkeit die Richterin an, sein kleiner Rücken kerzengerade. Er schien sich größer und eindrucksvoller machen zu wollen. Er trug seine Hosenträger und seine rote Krawatte mit den blauen Punkten, auf die er besonders stolz ist. Die Richterin sah Jesse einen Augenblick lang an. Er hob sein Kinn und zog meine Hand an seine Brust. Die Richterin sagte: »Ich glaube, es ist nicht nötig, diesem Kind irgendwelche Fragen zu stellen.« Das Geräusch der Protokollführerin war zu hören, die jedes Wort auf ihrer Maschine mitschrieb, doch dann brach das Klicken ab. Das Schweigen konnte sie genausowenig festhalten wie mein immer schneller schlagendes Herz. »Ich möchte, daß in den Akten festgehalten wird«, sagte die Richterin, »daß ich den Zusatzbericht des Jugendamtes gelesen habe. Das Jugendamt empfiehlt, den Adoptionsantrag abzulehnen, offenbar weil das Kind in eine Familie adoptiert werden soll, die aus zwei lesbischen EIternteilen besteht. Ich habe die Absicht, der Adoption zuzustimmen, da ich meine, diese Adoption dient ganz und gar dem Wohl des Kindes.« Mein Atem hatte fast ausgesetzt. Es war so einfach, was die Richterin sagte, und zugleich war es das Machtvollste, was je ein Mensch zu mir gesagt hatte. Die Richterin fragte mich: »Sie wollen also dieses Kind adoptieren und es in jeder Hinsicht als Ihr eigenes gesetzliches Kind behandeln, damit es alle Rechte eines leiblichen Kindes genießt, als wäre es Ihr eigenes, das Erbrecht eingeschlossen?« »Ja.« »Der Antrag auf Annahme des Kindes wird hiermit bewilligt. Der Minderjährige ist nun das Adoptivkind der Antragstellerin und wird in jeder Hinsicht als ihr gesetzliches Kind betrachtet und behandelt. Sie soll gegenüber dem Kind und das Kind ihr gegenüber die gesetzliche Beziehung von Elternteil und Kind erfüllen. Jeder der beiden wird alle Rechte genießen und allen Pflichten unterliegen, die zwischen Eltern und leiblichen Kindern herrschen.« Es war wie ein Traum, als die Worte aus dem Mund der Richterin kamen. Er war mein gesetzlicher Sohn. Ich war seine gesetzliche Mutter. »Nunmehr werde ich den Beschluß unterzeichnen«, sagte die Richterin und kritzelte ihre Unterschrift auf das Papier. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie. Ich konnte nur flüstern: »Danke. Vielen Dank« und küßte Jesse auf den Kopf. Jetzt konnte ihn mir niemand mehr wegnehmen, falls Cheryl je etwas zustoßen sollte. Ich hätte den Schmerz nicht ausgehalten, ihn zu verlieren. Diese Angst hatte den Schatten zwischen uns geschaffen, aber der Schatten verschwand mit diesem einen besonderen Kuß, den ich bis zu diesem Moment aufgespart hatte.
Draußen, vor dem Gerichtssaal, fragte ich Abby, ob sie glaube, daß eines Tages die Adoptionsanträge lesbischer Paare nicht mehr automatisch abgelehnt würden. Sie lächelte traurig. »Deine Frage ist schwierig, weil es von der Politik abhängt«, sagte sie. »Wie geht es weiter? Ich bin mir nicht sicher. Wir sind in der Mitte eines Flusses, und manchmal ist es schwer zu sagen, in welche Richtung er fließt.« Manchmal ist es schwer, mit Abby zu reden, weil sie dir immer die Wahrheit sagt.
Ich hielt Cheryls und Jesses Hand, und gemeinsam gingen wir mit unseren Freunden in das Büro von Bürgermeister Agnos einen Stock tiefer, und er begrüßte uns alle herzlich. Er hatte den offiziellen Fotografen der Stadt bestellt, und Jesse wurde fotografiert, wie er auf dem Bürgermeisterstuhl saß, während Agnos neben ihm in der Hocke saß. Jesse durfte auch den Baseball des Bürgermeisters und seinen Zauberstab aus Kristall anfassen. Ja, allerdings. Der Bürgermeister von San Francisco hatte einen Zauberstab auf seinem Schreibtisch stehen, und dahinter befand sich auf einem polierten Messingständer die Flagge der Stadt, darauf ein Phönix, der sich aus der Asche seiner Zerstörung erhebt. Die schwarzgoldene Flagge, die Gilbert Baker in der Amtszeit von Dianne Feinstein entworfen hatte. Der Phönix schwebt über einer zusammengebundenen Rolle mit den spanischeri Worten ORO EN PAZ; HIERRO EN GUERRA: Gold im Frieden, Eisen im Krieg. Wir verließen das Büro des Bürgermeisters und standen alle drei oben an der Treppe, die in der Rotunde nach unten führt. Harvey Milk hatte gesagt, wir sollten immer die große Treppe nehmen, immer sichtbar sein, und heute würden wir genau das tun, heute ganz besonders. Jesse ließ seinen Blick durch die Eingangshalle schweifen, und ich merkte, er fühlte sich stark. Ich hegte eine Hoffnung für ihn: Wenn er in das richtige Alter kam, so wünschte ich mir, sollte er immer wissen, wann er kämpfen und wann er sich zurücknehmen mußte; das ist die Weisheit des großen Kämpfers und der Weg zum Frieden. »Ich bin Käptn Pan«, sagte er und schaute sich den goldenen Kopf des röhrenden Löwen im schmiedeeisernen Geländer genauer an. »Und ich bin Mama Phyllis«, sagte ich. »Das weiß ich«, sagte Jesse. »Das haben wir immer gewußt«, sagte Cheryl. Am nächsten Morgen ging ich in eine kleine Grünanlage in der Larkin Street, oberhalb vom Ghirardelli Square und dem Fisherman's Wharf. Touristen verirren sich selten hierher, wenn sie nicht drüber stolpern. Von hier aus hat man einen wunderschönen Blick über die San Francisco Bay und auf die Golden Gate Bridge. Ich suchte nach einem ganz besonderen Ort, über den ich eines Tages gestolpert war. Das hatte sich kurz nach J.s Tod zugetragen, als Anita Bryant Geld für »Rehabilitationslager« sammelte, in die unter der Herrschaft von »Rettet unsere Kinder« alle Lesben und Schwulen gesteckt werden sollten, es war, als John Briggs zu seiner Hexenjagd auf lesbische und schwule Lehrer aufrief und auf alle heterosexuellen Kollegen, die fanden, sie sollten ihre Jobs behalten. Ich war stundenlang gelaufen, meilenweit, jeden Tag, und zu der Zeit hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich eines Tages Mutter sein würde. Und ich hoffe, daß jede lesbische, jeder schwule Heranwachsende, die oder der an Selbstmord denkt, sich eines klarmacht: Die Dinge können sich verändern, und was unmöglich scheint, kann Wirklichkeit werden. Der Himmel wurde langsam dunkel, eine Nebelwand zog heran, und nur die massiven, doch eleganten Stützpfeiler der Golden Gate Bridge waren zu sehen. Da fand ich, was ich gesucht hatte und was, wie der heilige Franziskus sagt, mich gesucht hatte. Ich hatte befürchtet, jemand hätte es zerstört oder mit Graffiti beschmiert, aber es war noch da, perfekt, wie in meiner Erinnerung.
In einer kleinen Lichtung oben auf dem Hügel gab es einen Stein, in den ein Gedicht gemeißelt worden war, ein Gedicht über San Francisco von dem lang verstorbenen Dichter George Sterling:
Ist die Dunkelheit auch kalt und dicht,
des Seenebels Berührung ist ganz licht.
Mehr noch streicheln dich das Glück
und der Schmerz, der darin eingeschrieben;
Sanftheit, das ist wohl dein Meisterstück,
o du kühle, graue Stadt der Liebe!LieberJesse,
manchmal ist es schwer, auf eine sehr öffentliche Weise von privaten Dingen zu sprechen, und ich hoffe, es macht Dir nichts aus - wenn Du erwachsen bist - daß ich über Dich geschrieben habe. Aber weißt Du, es gibt sechs Millionen Kinder in unserem Land, die lesbische Mütter haben, und die meisten haben nicht so viel Glück wie wir in unserer Familie. Viele dieser Mütter können nicht darüber sprechen, daß sie lesbisch sind, sonst werden ihnen ihre Kinder weggenommen. Und viele dieser Kinder schämen sich ihrer Mütter, wenn sie es erfahren, weil sie als einziges zu hören bekommen: Lesbischsein ist etwas Schlechtes. Es ist sehr schwer, sich anzuhören, daß der Mensch, den du am meisten liebst, schlecht sei, auch wenn es gar nicht stimmt. Ich hoffe, wenn Du älter bist und all das durchlebst, was jeder andere Junge auch durchlebt, wenn Du Dein Zuhause verläßt, um selbständig zu sein, wirst Du Dich immer an eines erinnern: Wir lieben Dich bedingungslos, egal was passiert, für immer. Vor ein paar Monaten habe ich von Dir etwas gelernt, das ich nie vergessen werde. Du hattest Windpocken wie all Deine Spielkameraden, und überall am Körper hattest Du juckende Stellen. Du hast gekratzt und gekratzt, und Mama Cher und ich hatten Angst, daß Narben zurückbleiben könnten, deshalb haben wir Dir Handschuhe angezogen und Dir ein Kleiebad gemacht, damit das Jucken vielleicht aufhört, aber nichts, rein gar nichts konnte Dir helfen. Es ging Dir richtig schlecht von dem Jucken, und als ich Deine Hände von Deiner Haut weghielt, wurdest Du so böse, daß Du Dich losgerissen hast und in Dein Zimmer gerannt bist.
Gleich darauf bist Du allerdings wieder in die Küche gekommen, und Du hattest Deinen Nimmerland-Hut auf, den Mama Cher für Dich gemacht hat. Ich sagte. - »Jesse. Wie geht es dir?« Und Du hast geantwortet: »Ich bin nicht Jesse. Ich bin Peter Pan.« Du warst ganz herausfordernd und hast Dich auf die volle Länge Deiner 90 Zentimeter gereckt. Also fragte ich: »Und, Peter, wie geht es deinen Windpocken?« Da hast Du mir mitgeteilt, geduldig, aber bestimmt: »Peter Pan hat keine Windpocken.« Du hast Dein Pappschwert geholt und Dich der ernsten Beschäftigung gewidmet, Nirmmerland im Wohnzimmerzu spielen, und die ganze Zeit, als Du Peter Pan warst, hat es nicht gejuckt. Kein bißchen. Wenn Du heranwächst und herausfindest, daß Deine Familie in Wirklichkeit ein bißchen anders ist als die meisten anderen Familien, dann wirst Du, hoffe ich, Deine Gabe der Phantasie nicht verlieren, die Dir eine Tür zu einer anderen Welt öffnet, die Dir erlaubt, zu jeder Zeit über alles hinauszugehen und neue Orte zu erfinden, die sicher sind. Dein Talent ist so mächtig, daß Du sogar andere Menschen mit Dir nehmen kannst. Am Ende von Peter Pan wollen, wie Du weißt, die Kinder der Darlings nach Hause, und sie wissen ganz sicher, daß ihre Mutter das Fenster für sie offengelassen hat, damit sie direkt ins Kinderzimmer fliegen können. Peter ist sich da nicht ganz so sicher.
Wie Du Dich vielleicht erinnerst, hält er Mütter für ganz schön überschätzt. Deswegen möchte ich Dich bitten, daß Du Peter sagst, falls er Dich fragt, daß Mama Cher und ich immer das Fenster offenlassen werden. Immer.
Deine Mama Phyllis