Warte nur immer auf mich

Sie kamen zu Tausenden, per Bus und Privatjet, per Taxi und romantische Fähre über die eisige Bucht, und alle fragten sie sich: Was wird die Mitternachtsüberraschung wohl sein? Sie schlangen sich in weiße Laken, aus denen sie Togen modelliert hatten. Sie traten vorsichtig auf die Straße, in Yves-Saint-Laurent-Chiffon, in gepanzerten Tuniken aus genietetem Metall mit Nerzverzierung, in Valentino-Kleidern und Armani-Abendanzügen. In der Luft schwebte der Duft von Dreiwettertaft und Elizabeth Taylors Parfüm »Passion«. Außerdem waren anwesend pochierter Lachs, Lamm blutig, Trüffeln à la Black and White und Austern in ihrer halben Schale. Ein uniformierter Chauffeur hielt den Schlag eines weißen Rolls Royce auf und verbeugte sich leicht aus der Hüfte, als ein Paar auf den Bürgersteig trat: ein schwarzer Mann in weißem Dinnerjackett, der sich umdrehte und seiner Begleiterin die Hand hinstreckte, einer weißen Frau in schwarzem Seidenkleid. Arm in Arm betraten sie das Opernhaus. Dies war entschieden keine Demo von Queer Nation. Es war der Black-and-White-Ball, der aufwendigste Spendenbeschaffungsempfang, die größte Straßenfete des Landes, und zum ersten Mal seit langem gingen Leute in San Francisco für etwas anderes auf die Straße als eine Protestaktion.
Ich hielt Cheryls Hand, als wir unter einer riesigen verspiegelten Glaskugel hindurchschritten, die von einem Kran herabhing, der genauso hoch war wie ein Hollywood-Scheinwerfer. Ich war nervös, aber wir hatten ja Cleve und Gilbert dabei. Ich hatte ganz vergessen, wie wunderschön Cheryl war, hatte mich so weit von ihr und Jesse entfernt. Während ich draußen in der Welt unterwegs war, um für das Recht, sie zu lieben, zu kämpfen, war zwischen uns eine Mauer entstanden.
Die schnell wandernden, unglaublich hellen Lichter der Verfolger über uns rissen ein Zickzack in den Nachthimmel am Civic Center. Wir erreichten den Grünen Saal des War Memorial Building, wo Richterin Donna Hitchens eingeschworen worden war, während sich draußen, unter walzertanzenden Hubschraubern, eine massive Antikriegsdemo durch die Stadt wälzte. Jetzt stand ich mit Cheryl, Cleve und Gilbert auf dem Balkon, um das Ergebnis von Gilberts Handarbeiten zu bewundern. Die schwarzweißen Fahnen mit dem walzertanzenden Paar flatterten in der steifen Brise. Gilbert sah glänzend aus in seinem weißen Sweatshirt von THE GAP mit den zweitausend, von Hand angenähten Straßsteinchen, und er war in Ekstase. Hunderte von Stunden hatte er auf seiner Singer im Dream Center an diesen Fahnen genäht, und sie waren vollkommen. Dieses Jahr kam er zum erstenmal nicht im Fummel; er stellte fest, daß er genausoviel Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, wenn er keine Gesellschaftsdame spielte oder parodierte. Dieses Jahr durfte er auch zum erstenmal bequeme Schuhe tragen statt Pumps, obwohl er darauf beharrte, er liebe Stöckel.
Cleve konnte an Mode absolut nichts finden und fühlte sich wie ein Pinguin. Er machte sich auf die Suche nach der Austernbar, wo er glücklicher sein würde, das wußte er, und seine Diamantstecker im Ohr blitzten beim Gehen. Cleve fühlte sich fehl am Platz bei diesem höchst heterosexuellen Ereignis, in dieser höchst heterosexuellen Kleidung. Ich bemerkte, wie ihm ein paar junge Mädchen nachschauten, die ihn nicht als Schwulen erkannten.
Jede Illusion, wir wären womöglich zwei »normale« Paare, verflüchtigte sich sofort, wenn ich mit Cheryl allein war; wir schlenderten Hand in Hand durch die farbenlose Welt des Balls. Es war voll, es war noch früh, kaum jemand achtete auf die anderen. Vorherrschend war die Atmosphäre eines Wettstreits exotischer Aasgeier um die besten Leckerbissen.
Ich hatte ein mulmiges Gefühl dabei, mit Cheryl Hand in Hand durch diese Welt zu gehen, aber ich wollte ihr das nicht nehmen. Cheryl sah atemberaubend aus in ihrem schulterfreien Kleid von Saks, mit ihren baumelnden Ohrringen und ihren langen schwarzen Handschuhen. Ich hatte sie nicht so strahlen sehen, seit sie entdeckt hatte, daß sie schwanger war. Und doch kam sie mir manchmal vor wie ein fernes Bild. Vielleicht war es dieses Übermaß an Schwarz und Weiß, als wäre das Innere meiner Videokamera plötzlich zum Leben erwacht.
Ich hatte beschlossen, aus diesem Abend eine Aktion der Sichtbarkeit zu machen und die Privilegien der Heterosexuellen zu ignorieren, die dieser Ball repräsentierte. Eins stand fest, außer uns gab es kein zweites identifizierbares Lesbenpaar an diesem Abend, aber das war nicht Cheryls Beweggrund, dort hinzugehen. Sie war da, weil sie mich liebte, und sie hatte schon immer auf den Black-and-White-Ball gehen wollen. Sie wollte sich amüsieren, tanzen und andere, versäumte Gelegenheiten nachholen. In vieler Hinsicht war Cheryl, die nicht als Kämpferin auf die Straße ging, viel freier als die meisten Aktivisten. Wir spazierten draußen von einem Tanzsaal zum anderen, alles war optisch durch Gilberts Fahnen und Tausende schwarz-weißer Ballons miteinander verbunden, und ich hielt herausfordernd Cheryls Hand. Doch mit der Zeit schob ihr Vergnügen daran sacht meine Ängste und Vorurteile beiseite, und bald machte auch mir die außergewöhnliche Dekoration der Stadt, das spielerische Element an allem Spaß.
Die Davies-Konzerthalle sah aus, als hätte sie ein Dalmatinerfetischist entworfen. Große schwarze Flecken markierten die Treppe zur Tanzfläche, wo umwerfende Paare Sambas und geschmackvoll verfeinerte Lambadas zur Musik des Tanzorchesters aufs Parkett legten. Draußen vor dem Civic Center war ein weißes Zelt mit zwei Spitzen über dem Bassin errichtet worden; das Wasser hatte man abgelassen und die so entstandene, versenkte Tanzfläche mit schwarz gefärbtem Kunstrasen ausgelegt. Dort tummelte sich ein jüngeres Publikum. Im Auditorium des Civic Center wurden die Gesichter einzelner Musiker und Tänzer, die sich auf der Bühne befanden, auf einen von oben herabhängenden, spiegelnden Ball mit einem Durchmesser von neun Metern projiziert.
Cheryl und ich tanzten überall. Ich war entspannt und verliebt, mitten in einer Menschenmenge aus tausend Kellnern und dreizehntausend Gästen, schaufelte händeweise von den hundertsechzigtausend sonderangefertigten schwarzen und weißen Gummibärchen in mich rein, probierte die Krabbenpasteten mit Jalapeno-Sauce und Ceviche mit eingelegten Mangos und Röstorangen.
Zwischendurch sahen wir eine überdrehte, volltrunkene junge Dame, die sich für die San-Francisco-Version einer Fahrradrikscha begeisterte. »Guck mal, die Ruckscha! Die Ruckscha!« quiekte sie verzückt ihrem Freund zu, der uns hilflose Blicke zuwarf, peinlichst berührt. Dann kam ein Mann auf Stelzen und im Frack vorbei, mit den längsten schwarzen Hosen der Welt, und er lüftete seinen Zylinder zum Gruß. Die geräumigen Marmorhallen des Opernhauses, wo wir Gilbert wieder treffen wollten, waren dekoriert mit schwarzen und weißen, falschen Säulen, sehr avantgardistisch. Bevor wir den eigentlichen Zuschauerraum betraten, knabberten wir noch schnell an schokoladenüberzogenen Erdbeeren. Die Atmosphäre drinnen war einzigartig, selbst im Vergleich mit den anderen Tanzsälen des Balls. Gilbert erwartete uns, zusammen mit einer Freundin namens Adrienne. Mitten auf der Bühne befand sich das San Francisco Symphony Orchestra und spielte die schönsten Walzer,
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während Frauen in Abendkleidern und Männer im Frack um die Musiker herum schwebten. Die Streicher erklangen, jede Note brillant in der nahezu perfekten Akustik des Hauses. Es war das Eleganteste, was es in San Francisco gab, und ich fühlte mich sehr verwundbar.
Es war eine Sache, zusammen Rock'n Roll zu tanzen, und eine ganz andere, Cheryl in einer so romantischen Stimmung in meine Arme zu nehmen. Gilbert und Adrienne führten uns zu dem Treppchen, über das die Tänzer leicht auf die Bühne steigen konnten. Meine Hände waren heiß und feucht, ich fühlte mich unbehaglich, aber Cheryl sah aus, als könnte sie es kaum erwarten. Ich nahm ihre Hand. Einen Moment lang standen wir an der Seite, und Cheryl sah mich an. An ihrem Handgelenk steckte der kleine Gardenienstrauß, den ich ihr geschenkt hatte. Sie wartete, daß ich das Startzeichen gab, aber ich zögerte.
»Was ist denn?« fragte sie. Ich merkte, daß sie befürchtete, ich würde mich nicht unter diese Tanzenden begeben.
»Darf ich bitten?« sagte ich, und stolz hob sie ihr Kinn, als wir uns zu den »normalen« Paaren auf der Bühne des Opernhauses gesellten. Gilbert und Adrienne wirbelten an uns vorbei, und er sah aus wie die sprichwörtliche Katze, die gerade einen Teller Milch leergeschleckt hat. Cheryl und ich drehten uns im Walzertakt um die Orchestermusiker herum, die die »Frühlingsstimmen« von Strauß spielten. Viele unter ihnen begannen uns zu beobachten, ein kleines Lächeln spielte um ihre Lippen, während sie unmerklich im Rhythmus ihrer Musik hin- und herschaukelten. Es war ein sehr merkwürdiges Gefühl. Alle zwei Minuten segelte ein Paar der High Society an uns vorbei, die Gettys oder die Schwabs, die Swigs oder die Pelosis, sie lächelten und nickten und schwebten wieder von dannen, als wäre es das Allernatürlichste auf der Welt, daß zwei Frauen in Abendkleidern unter ihnen waren und Walzer tanzten.
Bald hatte uns eine Traube Fotografen entdeckt, und einer drängte sich vor einen Kollegen, um ein besseres Bild von uns zu bekommen, aber inzwischen fühlte ich mich schon sicher. Cheryl sah nur in meine Augen, und nach ein paar Minuten stellte ich meinen Radar ab. Es bestand absolut keine Gefahr. Ich tanzte mit meiner Liebsten auf dem Ball, sonst nichts.
»Manchmal kam es mir vor, als wärst du sehr weit weg«, flüsterte Cheryl, »aber ich will dir sagen, wie stolz ich auf dich bin.«
Eins zwo drei. Eins zwo drei. Drehen zwo drei. Drehen zwo drei.
»Du willst doch nicht von mir weg, oder?« fragte sie.
Ich blieb auf der Opernhausbühne stehen, das Symphonieorchester spielte weiter, und ich gab ihr einen Kuß auf die Lippen. Wir verließen die Tanzfläche Hand in Hand, im Foyer standen die Ladies der High Society in ihren Zehntausend-Dollar-Kleidern und spielten mit schwarzweißen Jo-Jos, und wir mußten lachen. Draußen auf der Straße kicherten wir über die Tierschützer, die gegen die Pelze der Gesellschaftsdamen protestierten und ihnen mit ihren Transparenten von einem Saal zum nächsten folgten. Um Mitternacht wurden die Marschkapellen, Tanzpaare und Rollschuhläufer eingerahmt von einem roten, weißen und blauen Feuerwerk, das über dem Rathaus explodierte, während die Cal Band dazu »Born in the USA« spielte. Das war die Mitternachtsüberraschung, und ich war glücklich, in San Francisco zu leben. Ich vergaß auch nicht, ein schwarzweißes Jo-Jo für Jesse mitzunehmen, der mir vor ein paar Tagen feierlich mitgeteilt hatte: »Du kannst vielleicht nicht fliegen, Mama Phyllis, aber du kannst tanzen.«

Am folgenden Dienstag bekam ich den lang erwarteten Telefonanruf von der mit der Adoption betrauten Sozialarbeiterin Priscilla Judkins. Sie teilte mir mit, daß der erste Hausbesuch übermorgen um vierzehn Uhr stattfinden würde. Nur Jesse und ich sollten anwesend sein, damit sie »unsere Interaktion« beobachten konnte. Ich hatte schon so lange darauf gewartet, daß mir gar nicht mehr bewußt war, wie real das ganze Verfahren war. Meine Besorgnis, die ich hinter meinem Aktivismus verborgen hatte, schlug wieder durch, und die Angst beherrschte mich fast völlig. Ich konnte nichts essen und kaum schlafen.
Bei der Vorbereitung des Besuchs ging ich methodisch vor. Jede Haushaltsarbeit brachte Erinnerungen an die Zeit von Jesses Geburt zurück, seine Ankunft hier, meine beharrliche Ablehnung, ihn taufen zu lassen, ganz gleich in welcher Religion, aber vor allem nicht in einer, die Teufelsaustreibungen erwähnte. Mir fiel ein, wie ich überall im Haus weiße Nelken aufgestellt hatte. Wie Cheryl ihn gehalten hatte, als er vier Tage alt war, bei der kleinen Feier im Kerzenlicht, die ihn in der Welt und ganz besonders in unserem Haus willkommen heißen sollte. Und wie er mich angeschaut und gelächelt und nach der weißen Blume gegriffen hatte.
Es läutete an der Tür, als ich gerade das Waschbecken im Bad mit Ata schrubbte. Ich ging zur Vorderseite des Hauses und zog den Vorhang beiseite. Aus dem ersten Stock sah ich unten auf dem Bürgersteig, daß sie wieder da waren, eine kleine Meute Zeugen Jehovas, die uns anscheinend einfach nicht in Ruhe lassen konnten. Diesmal waren es drei, Handtaschen überm Arm, Wachtturm-Hefte in Bereitschaft. Sie hatten mich schon mehrfach retten wollen, und ich hatte ihnen erklärt, WIR SIND LESBEN UND WOLLEN, DASS SIE GEHEN UND UNSERE FAMILIE IN RUHE LASSEN. Das funktionierte nicht. Diesmal waren Jesse und Cheryl nicht da, also konnte ich tun, was ich wollte. Ich schob das Fenster auf und schaute hinunter auf die inzwischen bekannten Gesichter der Frauen, die sich - wieder mal - vorgenommen hatten, mich zu bekehren. Bevor sie etwas sagen konnten, erhob ich meine Arme in einer Geste wie ich sie mal beim Fernsehprediger Jimmy Swaggart gesehen hatte. Ich rief den Himmel an und flehte zum Allmächtigen, er möge diese armen Lebewesen von Satan befreien, der ihr Wesen vergiftet hatte. Und dann ausreichend aufgebläht vom Heiligen Geist, zeigte ich mit dem Finger auf sie und schrie mit meiner besten Jehova-Stimme runter: »Ich befehle dir, o Satan, weiche von diesen Frauen. Ich treibe dich aus. Hinaus, du verfluchtes Ungeheuer, das den einen nennet böse und den andern gut den einen Dämon und den andern Engel, das Familien angreift, trennet und zerstört. Hinweg mit dir, Teufel! Weiche, Satan!« Ich machte eine Pause. Die Zeugen Jehovas waren wütend, aber endlich, endlich sprachlos. »Vielen Dank, Jesus«, endigte ich, knallte das Fenster wieder zu und kehrte in mein Badezimmer zurück, um mich dem Becken zu widmen
Ich zitterte und war dankbar, daß Cheryl unterwegs war, denn sie haßte Szenen zutiefst, aber ich wußte einfach nicht, was ich mit diesen Frauen sonst tun sollte. Den Kirchenfrauen den Teufel auszutreiben war aber vermutlich keine gute Vorbereitung darauf, vom Staat Kalifornien emotional geprüft zu werden.
An dem Abend war ich zu nervös, um zu Hause zu bleiben, und ich nahm Jesse mit auf eine Autofahrt. Unterwegs spielte ich die Kassette von Disneys Peter Pan. Wir sangen mit beim Lied über das Krokodil, das Hooks Arm frißt, nachdem Peter ihn abgeschnitten und ihm zugeworfen hat. Jesse verfolgte das Lied gern mit einem Schnalzen seiner Zunge, um das Tickgeräusch des Ticktackweckers zu imitieren, den das Krokodil verschluckt hat, das Tickgeräusch, vor dem Käptn Hook eine Heidenangst hat.
Während Jesse tickte, spürte ich, wie meine strategischen Hirnsegmente einrasteten und den Hausbesuch des nächsten Tages vorbereiteten. Ich war ruhig und ging systematisch vor, aber ich wußte, nahe der Oberfläche war eine unglaubliche Energiequelle, die unter Kontrolle bleiben mußte. Ich mußte sehr, sehr nett sein. Höflich. Versöhnlich. Mit anderen Worten, nicht ganz das, was inzwischen aus mir geworden war. Ich mußte absolut darauf achten, keine Teufel auszutreiben.
In dieser Nacht war San Francisco traumhaft, sensationell. Der Nebel hatte sich gelichtet, der Himmel war dunkelblau mit einem Streifen Pink, der sich über der Golden Gate Bridge bildete. Die Transamerica-Pyramide war ein eckiges, verlängertes ägyptisches Auge, das in den Himmel stach, und die Schatten des Blaus gingen an der Spitze des Gebäudes von Blau zu Tintenfarben über. Ich steuerte Nob Hill hinunter, an der Grace Cathedral vorbei, und Jesse und ich konnten den Nebel sehen, der langsam und dunstig hereinrollte, doch er war dünn und zerfasert, schleifte wie das zerrissene Leinenkleid einer Frau, bis er schließlich eine Gazedecke bildete, die die bergan fahrende Straßenbahn einhüllte.

Jesse war im Kindergarten. Ich sollte ihn abholen und nach Hause bringen, bevor Priscilla Judkins kam. Cheryl und ich kämmten die Zimmer durch und räumten Sachen hin und her. Wir steckten die hellgrünen Armbänder, die Eintrittszeichen für den Black-and-White-Ball, in eine Schublade, falls Mrs. Judkins sie für irgendein Sexspielzeug hielt. In den Wandschrank meines Arbeitszimmers kam alles, was uns irgendwie fragwürdig erschien. Ich hatte eine Studie gelesen, in der verglichen wurde, welche geschlechtsbezogenen Spielsachen lesbische bzw. heterosexuelle Mütter kauften. Baby Mary, Jesses Babypuppe, kam in den Wandschrank. Ich rief meine Mutter in Massachusetts an und fragte sie, ob ich mit Baby Mary jetzt anfinge überzureagieren. Sie befahl: »Ab in den Wandschrank!« Meine Eltern waren hellauf begeistert, daß sie, falls die Adoption durchkam, Jesses gesetzliche Großeltern wurden, und meine Mutter wollte nicht, daß ich irgendein Risiko einging.
Wir beschlossen, daß Jesses Jungenpuppe Buddy draußen bleiben durfte, aber Baby Mary blieb nicht lange einsam. Sie bekam Gesellschaft von einem lustigen Bild, das eine Mutter zeigte, die ihren kleinen Jungen mit Spaghetti aus einer Bratpfanne fütterte. Einige Spaghetti sind auf den Boden gefallen, und ein kleines Hündchen frißt sie auf. Die Mutter trägt eine weiße Schürze, die mit Spaghettisoße bekleckert ist. Der Titel des Posters lautet »Jackson Pollocks Mutter«. Ich glaube, der Subtext besagt, daß der wahre Künstler sogar über seine Mutter triumphiert, aber wenn man den Witz nicht kapierte, sah es aus wie Kindesvernachlässigung oder Schlimmeres. Ab in den Wandschrank damit. Ich betrachtete das Marilyn-Monroe-Bild an der Küchenwand. Man sah nur ihr Gesicht und die Hände, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Marilyn kam runter. Als ich sie wegschloß, protestierte Cheryl.
»Sie sieht so gesund aus«, meinte sie.
»Für uns sieht sie gesund aus, aber es handelt sich immer noch um Marilyn Monroe, und meine Mutter hat gesagt: >Ist's zweifelhaft, wird's weggeschaffte«
Es gab ein Problem: Wenn Priscilla Judkins kam, würde sie die ganzen Haken an den Wänden sehen und vage Umrisse, wo jahrelang Bilder und Poster gehangen hatten. Ich fing an, auch die Haken aus der Wand zu drehen, aber Cheryl meinte, davon würden kleine Löcher zurückbleiben, und das sähe dann noch schlimmer aus.
Zeitungsartikel über Basic Instinct lagen überall in meinem Arbeitszimmer herum. Obendrauf die Schlagzeile aus der Regenbogenpresse: WÜTENDE HOMOS VERFOLGEN DOUGLAS BEI DREHARBEITEN ZU SEXMORDFILM. Ab in den Wandschrank damit.
Cheryl entfernte ein paar von Jesses Fingermalereien, die wir an die Kühlschranktür gehängt hatten, weil er soviel Schwarz benutzte. Mrs. Judkins könnte meinen, er wäre depressiv. Wir wußten, daß er Schwarz einfach mochte, aber warum etwas riskieren?
»Das da ist eher dunkelblau. Laß das dran«, meinte ich.
»Ich sage dir, es gibt eine Menge dunkler Farben«, beharrte Cheryl.
»Du hast recht. Nimm es runter. Ist's zweifelhaft, wird's weggeschafft.«
Das war sicher nicht besonders radikalaktivistisch von mir, von wegen »vor eurer Nase«. Der Rat meiner Mutter und aller anderen Leute, die ich kannte, lautete: Nur keine Argumente liefern.
»Wenn man dir sagt, du sollst keine Argumente liefern«, stellte Cheryl fest, »dann könnte man genau so gut versuchen, die Gezeiten aufzuhalten.« Plötzlich wurde sie ganz ernst. »Du schockierst die Leute gerne, und diesen Charakterfehler mußt du auf der Stelle ablegen. Du mußt lernen, dein Gegenüber gern zu langweilen. Dann geht sie nach einer Stunde und wartet nicht noch auf Zugaben.«
Andere quälten mich mit ihrem Sinn für Humor. Mein Freund Michael LeBoff rief an, um seinen Besuch anzukündigen, während Mrs. Judkins da war. Er würde dann einen BH über seiner Motorradjacke tragen. Pam Bates fragte, ob ich noch Queer-Nation-Aufkleber für die Kühlschranktür brauchte.
Dann war da ein Loch in der Wohnzimmerwand, wo wir einen alten Gasofen abmontiert hatten. Cheryl überklebte das Loch.
»Stell dir vor, Jesse bleibt während des Hausbesuchs darin stecken«, meinte sie.
»Wahrscheinlich wird ihn das Klebeband schrecklich interessieren, und er wird die ganze Zeit versuchen, es abzureißen«, antwortete ich.
Ich ertappte mich dabei, wie ich mein Heizkissen betrachtete und mich fragte, ob es wohl irgendeine negative Konnotation an sich hatte. Ich konnte mich nicht entscheiden. Ist's zweifelhaft...
Die Zeitschrift Rolling Stone. Weg damit! Ich räumte die Räucherstäbchen weg. Sie könnte denken, wir gehörten zu einer Sekte. O Gott! Das Buch, das ich zu Gilberts Geburtstag gekauft hatte! Es hieß »Jesses Traumkleid« und handelte von einem kleinen Jungen, der ein Kleid aus einem Regenbogen tragen und darin tanzen will...
»Das muß auch weg«, stellte ich fest.
»Da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte Cheryl und sah sich um. »Haben wir eigentlich irgendwelche Bilder von Männern?«
Ich suchte das Haus ab. Die Abbildung auf ihrem Wandkalender zeigte Serge Diaghilew, den großen russischen Ballettimpresario, der Nijinsky entdeckt hatte und zufällig homosexuell war.
Wir bogen uns vor Lachen.
»Wir hatten mal ein Bild von Mutter Teresa.« Langsam erholte ich mich. »Soll ich das suchen und aufhängen?«
»Zu dick aufgetragen«, meinte Cheryl nachdenklich. Dann blieb ihr Blick an einem besonders problematischen Objekt hängen.
»Das Ouija-Brett!« rief sie entsetzt. Das war eine Alphabettafel für spiritistische Sitzungen.
»Das benutze ich doch nur als Tablett«, murmelte ich defensiv, doch Cheryl überging das. Ab in den Schrank.
Cheryl sammelte Papiere vom Küchentisch ein.
»Nein, laß das liegen«, sagte ich. Ich meinte die Bekanntmachungen der unitaristischen Kirche, wo Cheryl Elf- und Zwölfjährige in der Sonntagsschule unterrichtete.
Die Goldfische gingen in Ordnung, beschlossen wir, obwohl ein kleiner Unterwasserbuddha im Glas hockte.
Cheryl durchsuchte Jesses Schublade und fand etwas, das für sie einem rauchenden Colt gleichkam: »Spielkarten!« Auf ihrem Gesicht lag ein moralischer, ja fundamentalistischer Zug.
»Spielkarten! Niemals!« tönte ich, halb spöttisch. Währenddessen konzentrierte ich mich darauf, die Spielzeugkaffeekanne mit Kaffeeservice wegzuräumen. Entschieden femme. Aber die kleine Ärztetasche, die war gut.
»Haben wir irgendwelche Waffen?« überlegte Cheryl ernst.
»Mist. Keine Knarre, nichts«, antwortete ich. »Aber, du weißt schon, dieses kleine... wie heißen die? Dieses Action Toy? Dieses blaue Teil? Das legen wir ganz deutlich sichtbar hin. Dieses blaue Männchen.«
»Blaues Männchen?«
»Den Törsomann.«
»Torsomann«, sagte sie. »Natürlich!« (Jesse hatte aus irgendeinem Grunde immer die Arme von der Figur abgerissen.)
Mir fiel auf, daß Cheryl die Spielkarten in einer Chivas-Regal-Tüte unterbrachte.
»Wo hast du die denn her?« rief ich. »Wir trinken doch überhaupt nicht!«
Auf Jesses Zimmertür klebte ein kleines Schild: EIN KIND WIRD NICHT JEMAND. EIN KIND IST JEMAND. Das war gut. Das Bild vom Sternenbaby. Cheryls Kinderbild vom Beaglewelpen. Ich ging Jesses Bücher durch. Da konnte alles mögliche dabei sein. Die Parade der Kuscheltiere. Das war okay. Die kleine Raupe Nimmersatt. Das stand wahrscheinlich in jedem zweiten Kinderzimmer in Amerika. Onkel Nachos Hut, auf englisch und spanisch. Das war gut. Onkel Nachos Hut wurde deutlich sichtbar hingestellt. Peter der Hase war in Ordnung. Der kleine Bär war nicht schlecht. Dann kam ich zu Madeline. Hmmm. Bei Madeline wußte ich nicht so recht. Sie kam in den Schrank. Man weiß ja nie. Gute Nacht, Mond. So was war immer gut. Tuut der kleine Zug. Rosie und die Pferdediebe. Keine Ahnung. Rosie wurde mit Madeline begraben.
Jesse hatte eine kleine Regenbogenfahne auf seinem Schreibtisch stehen, in die er seine Stofftiere schlang, wenn er sie ins Bett brachte.
»Was meinst du, Cheryl?«
»Ist's zweifelhaft, wird's weggeschafft«, urteilte sie. Das mußte ich vor Gilbert geheimhalten.
Dann gab es eine Valentinstagskarte von meinen Eltern an der Wand, mit Shirley Temple drauf. Jesse mochte ihre Steptanzkünste besonders und eiferte ihr nach. Sorry, Shirley. Weg damit. Ich tat es nicht gerne, aber seine rot-weißen Lieblingsschuhe, die »Märchenschuhe«, wie er sie nannte, mußten auch weg. Unsere lesbische Freundin Jenny Curley, die früher bei der Kinderwohlfahrt war, nannte sie nur seine »Mädchenschuhe«.
Und schließlich lag noch ein Buch auf dem Stapel: Heather hat zwei Mamis. Es ist die Geschichte eines lesbischen Paares, das beschließt, durch Insemination ein Kind zu bekommen. Es ist sehr sorgfältig und liebevoll geschrieben. Dieses Buch würde ich um keinen Preis verstecken. Als ich Jesse zum ersten mal daraus vorlas, war er mucksmäuschenstill und hing an den Worten und Bildern, die die Geschichte von Heather, Mama Kate und Mama Jane erzählen. Die Botschaft des Buches lautet, daß jede Familie etwas Besonderes ist und daß es am meisten darauf ankommt, daß sich alle in der Familie lieb haben.
Ich warf einen letzten Blick auf sein Zimmer. Es war zu spät, irgend etwas wegen der kleinen goldenen Vögel auf der Tapete zu unternehmen.
Noch einmal ging ich das ganze Haus durch. Alles, das nach politischem Engagement roch, mußte natürlich weg. Zum Beispiel die Sticker mit WAS VERURSACHT HETEROSEXUALITÄT? Bürgermeister Agnos hatte sie ganz toll gefunden, aber trotzdem, ab in eine Schublade.
Ich beschloß, daß das Rimbaudportrait, das J. mir hinterlassen hatte, an der Wand blieb, aber die Schlafmasken mußten weg. Ein Besucher hatte sie mal für Sexutensilien gehalten. Auch der ganze New-Age-Plunder kam in den Schrank, die Steine und Bergkristalle und Selbstbestätigungskassetten und vor allem die eingestaubten, feministischen Tarotkarten.
Fungizidcreme. Bloß die Fungizidcreme loswerden. Ein Bolo Tie. Zu männlich. Weg mit diesem Cowboyschlips. Ohrringe, die aus Kreuzen bestanden. Hmmm. Konnten für antichristlich und pro-Madonna gehalten werden. Lieber auch weg. Notturno für den König von Neapel von Edmund White. Aber schnell in den Schrank.
Die selbstgestrickte lila Wolldecke. Ich hielt sie in der Hand. Sie war ziemlich schlecht gestrickt, aber Cheryl hatte sie für Jesse gemacht, als sie im Bett bleiben mußte, damit er in ihr wachsen konnte. Und als sie ihn mit nach Hause nehmen durfte, hatte sie ihn in diese Decke gewickelt. Die lila Decke blieb da. Es war mir egal, daß das keine »Jungenfarbe« war.
»Cheryl, die wird doch diese Papiere nicht durchsehen, oder?«
»Dafür würde sie wohl einen Durchsuchungsbefehl brauchen, Phyllis.« Cheryl hatte ein Pokerface aufgesetzt, aber dann lächelte sie. Ich holte tief Luft und sagte mir: »Öde, Phyllis. Sei öde. Die schiere Langeweile.«
Ich schaute mich um und stellte fest, daß ich mich noch nie so über den Anblick einer Bart-Simpson-Puppe gefreut hatte. Ich warf sie auf den Teppich im Wohnzimmer, damit sie den »Eben noch damit gespielt«-Look kriegte.
Als nächstes machte ich mich noch einmal daran, zu saugen und staubzuwischen. Ich wurde den Gedanken nicht los, daß ich Wendy war, die den Frühjahrsputz für Peter Pan machte. Cheryl fand einen Zauberstab von Jesses Tante Nivedita, in dem Glitterfetzen in Pink und Silber schwammen. Ab in den Schrank, und gleich hinter das Tibetanische Buch der Großen Befreiung, das es irgendwie zwischen die Sofakissen geschafft hatte. Jetzt kriegten wir die Schranktüren kaum noch zu, und es war absolut nichts mehr übrig, das noch geputzt werden konnte.
Cheryl vollendete eine sorgfältige Inszenierung von Weiblichkeit auf einem Tisch. Da lagen liebevoll ausgestellt all unsere Accessoires für den Black-and-White-Ball: schwarzweiße falsche Perlenarmbänder, Lacklederhandtasche, Ohrringe, Lippenstift, Parfümpröbchen. Ich konnte sie genau so gut jetzt fragen. Ich mußte die Worte schnell herausbringen, bevor mich der Mut verließ.
»Du, Cheryl. Bist du dir sicher, daß du möchtest, daß ich Jesse adoptiere?«
»Ja«, sagte sie, ohne eine Sekunde zu zögern, und ihre Stimme war laut und klar. Es war mir so verdammt wichtig. »Natürlich.« Dann umarmte sie mich und ging zur Arbeit.
Ich holte Jesse aus dem Kindergarten ab, aber ich war zu früh dran. Also fuhr ich ins Cafe Commons, auf einen Bagel mit Käse. Ich fand einen Parkplatz vor dem Laden, wo ich das Adoptionsformular kopiert und die Frau die Blätter in die Maschine gesteckt hatte und ich zusehen mußte, wie sie das erste Blatt in Streifen riß. Ich blickte durch das Schaufenster und sah sie. Sie arbeitete noch dort. »Es ist schwer, wenn man um ein Kind kämpft«, hatte sie gesagt.

Jesse verkündete, er sei müde und wolle sich hinlegen. Wahrscheinlich würde er gegen Ende des Hausbesuchs von Priscilla Judkins aufwachen, und ich würde ihm ein Eis ans Bett bringen, das sorgte immer für gute Laune bei ihm. Ich hatte alles wieder und wieder überprüft. Streng musterte ich mein Spiegelbild, um sicher zu sein, daß jedes Haar richtig lag. Befriedigt wanderte mein Blick nach unten, und ich sah, daß sich beim Zuziehen des Reißverschlusses meiner geschmackvollen Damenhosen
eine blaue Socke darin verfangen hatte. Ich war entsetzt. Es war nicht zu fassen. Ich hatte geglaubt, alles sei perfekt, und da hing diese lange blaue Socke in meinem Reißverschluß, die Zehen nach unten. Wenn ich diese Riesensocke an der lächerlichsten aller denkbaren Stellen übersehen hatte, was war mir dann noch alles entgangen?
Ich hörte ein Motorengeräusch in der Nähe, aber der Wagen hielt nicht an. Da beschloß ich, aufs Geratewohl etwas in Zen für Anfänger herumzulesen, und zwar laut. »Wenn du du selbst wirst, wirst du Zen. Wenn du du bist, siehst du die Dinge, wie sie wirklich sind. Du wirst eins mit deiner Umgebung.« Ich prustete los. »Lieber Gott, bitte laß mich nichts dergleichen sagen«, betete ich. Dann merkte ich, daß ich Selbstgespräche führte.
Ich schaute auf die Straße und sah eine Frau, die einen kleinen weißen Kastenwagen fuhr. Sie fuhr den Hügel hinauf und wendete. Dann hielt sie vor unserem Haus. Ich mußte sie hereinlassen, diese Fremde, die nichts von uns wußte, und ihr die Geschichte meines Lebens erzählen. Ich mußte beweisen, daß ich Jesses Mutter war.
Sie klingelte, und ich versuchte, zu einer Fernsehansagerinnen-Version meiner selbst zu werden. In aller Vollkommenheit schwebte ich die Treppe hinunter, öffnete die Tür und bat sie herein. Als sie schon halb oben war, fiel mir ein, sie zu fragen: »Sie sind doch Priscilla Judkins, nicht wahr?«
Sie hielt inne und musterte mich ausdruckslos. Sie hatte etwa meine Größe und sah völlig normal aus, eine Frau in den späten Vierzigern, frühen Fünfzigern vielleicht.
»Wer soll ich denn sonst sein?« fragte sie. Sie wirkte ausnehmend interessiert daran, wie ich aussah. So diskret wie möglich lugte ich auf meinen Reißverschluß. Ja, die Socke war weg.
Sie steuerte das Wohnzimmer an und setzte sich auf die Couch. Ich war nervös und bot ihr Tee an. Ein paar Minuten lang betrachtete sie mich mit leerem Gesichtsausdruck, während das Wasser kochte, und dann fingen die Fragen an. Wann ich gewußt hätte, daß ich lesbisch sei? Ich wußte nicht, ob sie meinte, wann ich zum ersten Mal eine Frau besonders geliebt hätte oder wann ich zum ersten Mal Sex mit einer Frau hatte. Mir war immer klar gewesen, daß ich lesbisch war, seit meiner frühen Jugend, aber es hatte Jahre gedauert, bevor es zum Sex kam. Meine ersten sexuellen Erfahrungen hatte ich übrigens mit Männern gemacht, aber das schien sie nicht zu interessieren. Dann versteifte sie sich auf Fragen nach Jesses Spender und seinen männlichen Vorbildern. Im nächsten Monat sei Vatertag, sagte sie und verstummte. Ich erzählte ihr von der engen Beziehung zwischen Jesse und meinem Vater.
»Er schickt seinem Großvater eine Karte«, sagte ich.
»Aber das ist doch Ihr Vater, nicht seiner. Ich finde, Sie sollten Jesse eine Vatertagskarte schreiben lassen und sie an den Anwalt schicken, der Namen und Adresse seines Spenders hat, damit er die Karte bekommt.«
Ich kriegte Kopfschmerzen. Jesse hatte nicht die Spur eines Verlassenheitstraumas. Er hatte zwei Eltern, und die hatte er immer gehabt. Sein Spender war nichts anderes als das, ein Spender. Ich konnte dazu nicht schweigen. Und wenn sie zu anderen Paaren ging und ihnen so etwas erzählte? Es war so dumm und konnte so destruktiv wirken.
»Mein Vater wird Jesse anrufen. Mein Vater liebt Jesse«, erklärte ich ihr. »Wenn er eine Karte an einen Unbekannten schickt, könnte der Spender dadurch zu einem Mythos für ihn werden und ein Gefühl der Erwartung und Enttäuschung, ja der Zurückweisung in ihm hervorrufen. Jesse ist niemals zurückgewiesen worden. Niemand hat ihn verlassen. Mein Vater wird ihn anrufen. Er liebt ihn.«
Priscilla machte eine Pause und dachte nach. »Ich habe eine Idee«, sagte sie schließlich.
Ich konnte es kaum erwarten.
»Sie sollten sich mit dem Anwalt in Verbindung setzen und ein Foto seines Vaters schicken lassen, das Sie Jesse geben können.«
Es war nicht zu fassen. »Wenn Jesse achtzehn ist, kann er seinen Spender kontaktieren«, sagte ich. »Und sollte er vorher irgendwelche ernsthaften Probleme haben, die mit der Person seines Spenders zusammenhängen, werde ich den Anwalt anrufen und den Spender bitten lassen, sich mit Jesse zu treffen.«
»Aber Sie sollten sich das Foto schicken lassen«, beharrte sie. »Das ist sehr wichtig.«
»Sehr interessant«, antwortete ich. »Wir werden darüber nachdenken.« Inzwischen breiteten sich die Kopfschmerzen aus, und ein Druck wie von einer Metallklammer legte sich um meine Schläfen.
»Wie hat Ihre Familie darauf reagiert, daß Sie lesbisch sind?«
»Sie fanden es wunderbar«, antwortete ich, der Inbegriff der Aufrichtigkeit. »Besonders mein Vater.«
»Wie ungewöhnlich!« rief sie aus. Keine Frage, ich trug ziemlich dick auf, aber das tat sie auch.
»Ja. Wie finden Sie das? Sie sind auch sehr glücklich über die Adoption und daß sie jetzt seine gesetzlichen Großeltern werden.«
»Na ja«, meinte sie, »es gibt zwar Präzedenzfälle, aber ein Gesetz dazu gibt es nicht. Es gibt Präzedenzfälle in San Francisco.«
»Sehr interessant. Darüber werden wir nachdenken.«
»Warum glauben Sie, Ihre... Ihre...«
Sie suchte nach einem Wort.
»Ich weiß nicht, welches Wort ich benutzen soll«, sagte sie und schaute mich frustriert an.
Ich war sehr freundlich, ruhig, liebenswürdig. Zen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was sie mich fragen wollte. Ich versuchte, ihr zu helfen.
»Wenn Sie eine heterosexuelle Frau dasselbe fragen wollten, welches Wort würden Sie benutzen?«
Sie sah auf. »Ehe.«
»Beziehung«, sagte ich.
»Oh!« machte sie. »Nun, warum glauben Sie, Ihre Beziehung wird halten?«
»Stellen Sie Heterosexuellen diese Frage auch?« Ich konnte die Worte nicht wieder zurückholen.
»Ich hoffe, es klang nicht gräßlich«, meinte sie.
»Beweglichkeit. Das hält uns zusammen«, antwortete ich und stellte meine Fassung wieder her. »Beweglichkeit. Die Fähigkeit, gemeinsam große Veränderungen durchzumachen, wie zum Beispiel, ein Kind zu haben.«
»Sie sollten Jesses Bedürfnis nicht leugnen, sofort und lückenlos alles über seinen Vater zu erfahren. Sie sollten keine Tabus aufbauen.«
»Sehr interessant. Darüber werden wir nachdenken.«
»Was hat Sie an Cheryl als erstes angezogen?«
Ich wollte sagen: ihr Halloween-Kostüm einer Haremsdame, vor allem, wie sie es mit Fahrradschlauch-Stücken zusammenhielt. »Ihre Fröhlichkeit und ihr Mut.«
»Leben Sie in einer exklusiven Beziehung?«
»Was meinen Sie damit?«
»Das wissen Sie.«
»Ja, wir leben in einer exklusiven Beziehung.« Hätte sie das auch eine heterosexuelle Frau gefragt?
»Hatten Sie traumatische Erfahrungen bei Ihrem Coming-out?«
»Nein.« Unglaublich, daß ich das mit einem absolut ungerührten Gesicht herausbringen konnte.
»Warum haben Sie sich für einen anonymen Spender entschieden?«
»Ich wollte nicht das Risiko eingehen, vor Gericht gegen einen heterosexuellen weißen Mann um mein Kind kämpfen zu müssen.«
»Wie interessant! Darauf wäre ich nie gekommen! Normalerweise ist es, weil die Frau, die das Kind nicht geboren hat, sich von Männern bedroht fühlt. An eine Situation vor Gericht habe ich nie gedacht.«
Sie sah sich um, betrachtete die Bilderhaken an den Wänden.
»Weiß er, aus wessen Bauch er gekommen ist?«
»Das haben wir ihm gesagt, aber es interessiert ihn nicht besonders«, antwortete ich. »Er ist noch keine drei Jahre alt.«
»Sie können ihn nicht für immer abschirmen«, beharrte Mrs. Judkins.
»Nun, er geht in einen guten Kindergarten. Wenn sie das Lied vom >Bauer im Tal< singen, heißt die eine Zeile >Und der Bauer fand 'nen Partner.«
»Er wird nicht immer in eine Schule gehen, die >Partner< sagt«, fauchte sie.
»Aber sicher.«
»Das wird man ja sehen.«
»Allerdings.«
»Was werden Sie am Vatertag machen?«
War sie von ihrem Vater verlassen worden? Von ihrem Ehemann? Was sollte das?
»Wir werden den Tag des Mannes begehen«, sagte ich. »Einen Tag, an dem wir die Männer in unserem Leben feiern. Wir mögen Männer. Wirklich.«
Es war unverkennbar, daß sie an die Klischeelesbe aus Basic Instinct glaubte, die Männer haßt und fürchtet.
»Haben Sie Jesse erklärt, warum ich gekommen bin?«
»Ich habe ihm gesagt, eine Dame würde ihn gern kennenlernen, um zu sehen, wie es ihm gefalle, mit Mama Phyllis zusammenzuleben.«
»Haben Sie ihm denn gesagt, daß es um eine Adoption geht? Haben Sie ihn vorbereitet?«
»Er versteht das Wort nicht«, sagte ich. Sie begriff nicht, daß es keinen greifbaren Unterschied in seinem Leben geben würde, außer daß er durch meine Krankenversicherung mit abgedeckt war.
»Es ist eine sehr traumatische Erfahrung«, insistierte sie. »Die Kinder müssen in einen Gerichtssaal. Ins Rathaus. Das ist ein sehr großes Gebäude.«
»Er kennt große Gebäude.«
»Wecken Sie ihn bitte auf. Ich muß sehen, wie Sie beide miteinander umgehen.«
Ich weckte Jesse auf und brachte ihm ein Eis aus dem Kühlschrank mit.
»Hallo Jesse! Wie geht es dir?« Priscilla hatte eine laute Stimme, und sie beugte sich viel zu nah über sein Gesicht. Er rutschte auf meinem Schoß herum, bis er ihr den Rücken zudrehte, leckte sein Eis und schaute aus dem Fenster. Er hatte keine Lust zum Vortanzen. Dieses Kind, das in jeder Sekunde, die es nicht schlief, durch sein Leben plapperte, tanzte und hüpfte. Er lehnte seinen Kopf an meine Brust und aß sein Eis. Er beantwortete nicht eine Frage. Er nahm keinerlei Notiz von Priscilla Judkins' Anwesenheit.
»Nun«, sagte sie nach fünfzehn öden, öden Minuten. »Er ist schüchtern. Ich gehe jetzt. Ich werde mich gesondert mit Cheryl treffen, und dann komme ich noch einmal und treffe Sie alle drei zusammen. Sorgen Sie dafür, daß er wach ist, bevor ich komme.«
»Vielen Dank für Ihren Besuch«, sagte ich.
Sie stand auf und fragte: »Darf ich mich noch etwas umsehen, bevor ich gehe?«
»Aber selbstverständlich!« Bleib bloß von der Schranktür weg, von der einen, die leicht ausgebeult ist. Sie besichtigte jeden Raum, musterte die Tische, die Telefone, die Wände, an denen so gar nichts hing. Jesse rührte sich nicht, aber zweimal schnalzte er mit der Zunge, es klang täuschend ähnlich nach einem Wecker in einem Krokodilbauch. Ich ließ Priscilla nicht aus den Augen.
»Was war das für ein Geräusch?«
»Ich habe nichts gehört«, sagte ich. Jesse vergrub sein Gesicht in meiner Brust und versteckte ein kleines Lächeln.
»Nun«, sagte Priscilla Judkins, als sie durch war, »ich melde mich.«
»Nochmals vielen Dank, daß Sie gekommen sind. Wir haben uns sehr gefreut.«
Jesse und ich setzten uns aufs Sofa. Priscilla fand die Tür allein. Wir lauschten darauf, wie ihr Wagen ansprang und wegfuhr. Sie hatte nicht eine Frage danach gestellt, wie ich mich Jesse gegenüber als Mutter verhielt. Jesse setzte sich auf und lächelte. Dann ging er in Cheryls und mein Schlafzimmer und hüpfte auf dem Bett herum, so doll er konnte.
»Ich liebe dich, Mama Phyllis! Ich liebe dich!« rief er. Ich kletterte aufs Bett, hielt seine beiden kleinen Hände, und wir sprangen zusammen.
»Ich dich auch, Jesse. Ich liebe dich auch.«
Eine große Krähe flog vor dem Schlafzimmerfenster her und ließ einen lauten Schrei los. Wir hielten augenblicklich inne und gingen hin, um sie besser zu sehen. Der Lautstärke nach zu urteilen, mußte es eine riesengroße Krähe sein, und da saß sie, so groß wie ein Rabe, und ihr Schrei hatte viele Variationen, voll komplexer Befehle. Sie breitete die Flügel aus und erhob sich einen Augenblick lang auf der Telefonleitung. Alle anderen Vögel zogen sich zurück. Sie kontrollierte das Territorium, eindeutig. Ihr Ruf brach ab, echote vor dem sich verdüsternden grauen Himmel. Es schien wirklich, als gäbe sie Befehle, und ich fragte mich, was sie wohl befahl. Wir öffneten das Fenster, um noch genauer hinzuschauen. Da wurde die Krähe still und ließ sich in Ruhe von uns bewundern. Jetzt waren alle anderen Vögel fort und hatten sie allein auf der Telefonleitung hocken lassen.
»Das ist Peter«, flüsterte Jesse ehrerbietig.
»Was meinst du, mein Schatz?«
»Du weißt doch. Das ist Peter. Wir haben ihn erwartet, Wendy.«
Jesse nahm die Anwesenheit der Krähe als ein besonderes Zeichen für uns. Er strahlte aus tiefstem Herzen, und mir fiel die Stelle aus Sir James' Peter Pari wieder ein: »Warte nur immer auf mich, dann hörst du mich eines Nachts krähen.« Ich legte meine Arme um Jesse. Ich hatte noch nie jemanden so geliebt wie dieses Kind, und immer noch stand ein Schatten zwischen uns.

Das war am 15. Mai gewesen. Im Museum für Asiatische Kunst in San Francisco begannen die tibetanischen Buddhistenmönche mit ihrem zweiten Mandala der Weisheit und des Mitgefühls, plazierten jedes farbige Sandkorn sorgfältig und eigenhändig. Doch in Sacramento lief etwas anderes ab. Hochwürden Lou Sheldon von der Koalition der Traditionellen Werte startete, gemeinsam mit dem Kongreßabgeordneten William Dannemeyer, eine Kampagne für die Änderung der Verfassung des Staates Kalifornien, wodurch jedes Gesetz, das lesbische und schwule Bürgerrechte garantierte oder unterstützte, für verfassungswidrig erklärt werden sollte. Sie wollten einen besonderen Paragraphen, der explizit die Elternschaft zweier Partner gleichen Geschlechts verbot; als Gründe dafür führten sie moralische Verwahrlosung sowie Belästigung und Mißhandlung von Kindern an. Das Ganze sollte unter dem Namen »Antrag zum Schutz der Familie« bekannt werden.
Am 29. Mai saß Priscilla Judkins an unserem Küchentisch. Es war ihr zweiter Hausbesuch, und während sie mit Cheryl und mir redete, war Jesse mit seinem Spielzeug im Wohnzimmer beschäftigt. Er hämmerte wild entschlossen auf seinen Baukastenteilen aus Plastik herum. Er wollte einfach nicht mit Priscilla reden.
»So«, machte Priscilla. »Und was werden Sie tun, wenn Sie plötzlich diesen großen jungen Mann im Haus haben?«
»In ein größeres Haus ziehen«, sagte ich.
Priscilla schwieg.
»Und wenn er anfängt auszugehen, was machen Sie dann?«
Ich wurde langsam böse. »Er ist drei!«
»Aber Sie müssen auch darüber nachdenken«, beharrte sie.
»Er kann ausgehen, mit wem er will«, sagte ich scharf.
»Laß mich darauf antworten«, sagte Cheryl mit ihrer ruhigsten Stimme. Ich stand auf, verschränkte die Arme und lehnte mich an die Spüle.
»Wenn Jesse alt genug ist auszugehen«, sagte Cheryl, »dann hoffe ich, daß es kein Aids mehr gibt. Wir werden ihm alles Nötige über Safe Sex beibringen, und daß er jeden Menschen, mit dem er ausgeht, mit Respekt behandeln soll.«
Priscilla Judkins richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Rufen Sie Jesse in die Küche.« Ich gehorchte. Sie beugte sich aus ihrem Stuhl wieder vor, auf ihn zu. Sie überrollte ihn, ich merkte es genau. Aus irgendeinem Grund sprach sie lauter, wenn sie mit ihm sprach.
»Jesse!« sagte sie. »Jesse!« Er ging auf sie zu, zögerte und blieb zwischen ihr und mir stehen. »Wer ist das?« fragte sie und zeigte mit übertriebener Geste auf mich. »Wer ist das?«
Er beugte sich leicht zu ihr, legte sein blondes Köpfchen auf die Seite. Was um alles in der Welt wollte sie? Er folgte ihrem zeigenden Finger und sah mich an, dann wieder sie.
»Wer ist das? Wer ist das?« wiederholte sie.
Er ging näher an sie heran als zuvor. Sie beugte sich nach vorn, er beugte sich nach vorn. Ihre Gesichter waren ungefähr dreißig Zentimeter auseinander. Da schrie er: »Mama Phyllis!« Er wartete einen Moment um zu sehen, ob sie es kapiert hatte, dann richtete er sich wieder auf und ging zurück ins Wohnzimmer. Damit war seine Beschäftigung mit ihr beendet. Cheryl senkte den Kopf, um ihr Lachen zu unterdrücken.
Jesses Ruf war laut und unerwartet gewesen, und Priscilla war ganz verdattert. »Was hat er gesagt?« fragte sie. »Was hat er gesagt?«
Ich lächelte und antwortete ganz ruhig: »Mama Phyllis<. Er hat gesagt: »Mama Phyllis<