Am Nachmittag wird es unerträglich schwül

... der Himmel bezieht sich bleigrau, doch das Gewitter läßt auf sich warten. Kein Lufthauch. Im Maulbeerbaum regt sich nichts. Auch die Nachbarinnen an der Hofmauer mögen nicht handarbeiten und nicht reden. Die Kinder sind weinerlich, streitsüchtig. Osman will allein in seinem Zimmer sein, etwas ganz Ungewöhnliches, denn sonst ist er vor dem Dunkelwerden schwer nach Hause zu bewegen. In den Zimmern wird es schon finster, es gibt auch keinen elektrischen Strom. Der wird bei Gewitter aus Sicherheitsgründen hier immer abgestellt. Nun blitzt es noch nicht mal, aber der Beamte hat wohl vorausschauend den Hauptschalter umgelegt, ehe er heimgegangen ist. Helga sucht einige Kerzen und die Taschenlampe hervor. Sie muß auf die Uhr schauen, wann es Zeit zum Fastenbrechen ist, denn die Stimme des Muezzin von der Moschee ist ohne Mikrophonverstärkung nur zu hören wenn man darauf lauscht. Ob sich der Rufer wohl bei nahendem Gewitter auf das Minarett traute? Während Mutter und Sohn am Abendbrottisch sitzen, legt draußen das Unwetter los, Blitzen und Donnern, das Brüllen des Windes. Der Maulbeerbaum wird gepeitscht und geschüttelt, vor dem Haus sammelt sich eine riesige Pfütze. Eine Zeitlang stehen die beiden am Flurfenster, dann will Osman vom Bett aus den Blitzen zuschauen, die fast pausenlos den Himmel erhellen. Den Abstand von Blitz und Schlag auszuzählen, ist nicht mehr möglich; wie soll man in dem Getobe feststellen, welcher Donner zu welcher der ständigen Entladungen gehört? Mal kracht es ganz nahe, dann ist wieder bloß Gegrummel zu hören. Der einzige Blitzableiter weit und breit befand sich auf dem Turm der Moschee, die Häuser vertrauten dem Schicksal. Einen Augenblick überlegt Helga, ob sie wichtige Papiere und das Geld in ein Köfferchen packen soll für den Ernstfall. Dann kommt ihr das kleinlich vor. Auch lenkt das Naheliegende von diesen Überlegungen ab. Durch die Tür, die aus der Küche nach draußen führt, wird Regen hereingedrückt. Da muß sie wischen, vor den Spalt einen Lappen legen und ihn ab und zu auswringen. Osman ist ins Land der Jäger und Hirsche hinübergewechselt. Der Geruch seines Schweißes hängt im Zimmer. Helga hat Zeit, ins Gewitter zu schauen, das seinen Höhepunkt inzwischen weiterverlegt hat. Die Luft ist frisch, der Regen rauscht gleichmäßig, wird nicht mehr so böig getrieben wie vorhin. Es wetterleuchtet. Für Sekunden erscheint der Himmel rot über dem Horizont, an den Rändern zum Dunkel gelb und grün. Kein Donner ist zu hören. Das weite Land. Die Dörfer unter dem Gewitter. Klopstock, Goethe, Trakl, Handke. Immer waren Gewitter eine Herausforderung gewesen, etwas über sie zu sagen. Im Bewußtsein, hier gar nicht mitreden zu können, versuchte Helga, ihre Gedanken anzuhalten. Alles von ihr Formulierbare erschien unangemessen lächerlich vor der Botschaft, die das Gewitter selbst mitzuteilen hatte. Also bloß fühlen und starren. Die stumme Mystikerin wurde schließlich so müde, daß sie nur noch nach dem Bett verlangte, fürs Nachtgebet reichte die Kraft nicht mehr. Und wartete denn »Gott«, der gerade Wolken schob und Millionen Volt dirigierte, auf ihr schlaftrunkenes Rezitieren?

Ein Regentag konnte so gemütlich sein. Ein Regentag mit Kind war noch viel länger als sonst. Draußen wurde es gar nicht richtig hell, ununterbrochen strömten die Wasser vom Himmel herunter, manchmal tröpfelte es bloß, dann wieder platschte und rauschte es stärker. Die Pfütze vor der Haustür war zum See geworden. Osman will das Fotoalbum anschauen, das mit seiner Geburt beginnt. Wie oft hat er das schon betrachtet, und sich immer wieder bei einzelnen Aufnahmen gewundert, daß er das sein soll. Oder spielte er der Mutter das Wundern vor, weil sie das einmal niedlich gefunden hatte? Besonders, wenn mehrere Kinder zusammen auf einem Bild waren, im Sandkasten, im Babyschwimmbad schien er sich nicht zu erkennen. Warum habe ich einen Schnuller im Mund? Wer füttert mich da? Kenne ich diese Frau? Osman will die Geschichten zu den Bildern. Er versucht sein Leben zu rekonstruieren. »Ist das der Papa? Was macht der da?« Ömer mißmutig beim Reparieren des Kinderwagens. Das war ein Pechtag gewesen. Spaziergang bei kaltem Wetter, das Kind quengelig, wollte nicht einschlafen im Wagen, der dann noch kaputtging. Ömer hatte es sogar übelgenommen, daß Helga ihn knipste beim Bemühen, das ständig rutschende Verdeck mit einem Wollfaden anzubinden. Andere Bilder zeigen einen lachenden Papa, der das größer werdende Söhnchen in immer neuen Variationen auf dem Arm, auf den Schultern, auf dem Rücken schleppt. Hinten im Fotoalbum ein ganzer Berg noch nicht eingeklebter Abzüge. Ja, die müssen wir mal ordnen. Chronologie des abgelebten Lebens. Geschichtsfälschung war jedes Foto in seinem Versuch, den breiten Strom der Ereignisse, das Geflecht der Beziehungen auf den zufällig, oder meistens absichtlich herausgeknipsten Moment zu reduzieren. »Schau, die Oma, als sie noch jung war. Da hatte sie sich gerade mit dem Opa verlobt,« Wie schön war die Mutter, rassig geradezu die schwarzen Locken und die ein wenig gebogene Nase. Der Vater, blond, ernst, den Kopf zu seiner Braut geneigt. Das Parteiabzeichen am Rockaufschlag war, seit Helga denken konnte, übermalt gewesen. Man sah es trotzdem. Welche Angst bloß immer die Bekehrten abhielt, zu ihrer Geschichte zu stehen.
Der Kater muß raus, maunzt an der Tür. Er zögert vor der Pfütze, tut, als wisse er nicht, wo er bei der Nässe überhaupt sein Geschäft erledigen soll. Helga zieht Stiefel an und trägt ihn zum Holzverschlag. Der Prophet Muhammed hatte angeblich den Ärmel seines Mantels abgeschnitten, um eine Katze nicht zu stören, die darauf schlief. Mama, lies mir vor. Ach, Osman, laß mich doch jetzt mal ein bißchen. Nur ein einziges Märchen, bitte. Also: Der Wolf und die sieben Geißlein. Das muß nach dem Vorlesen gespielt werden. Zuerst will das Kind ein Geißlein sein, nämlich das Jüngste, das sich im Uhrenkasten versteckt. Alle anderen Geißlein, sowie die alte Geiß und den Wolf verkörpert die Mutter. Osman fürchtet sich derart vor dem Untier, daß Helga ganz schnell das Schnauben, Grimassieren und die Gebärde des Zupackens zurücknimmt. Nicht daß der Wolf die Geißlein bedroht, ist schrecklich, sondern daß er offensichtlich auch die Mutter verwandelt hat. Das abgrundtiefe Grauen, wenn die vertrauteste Person sich als Untier enthüllt. Also das ganze Spiel von vorn. Osman ist der Wolf. Er darf das Maul fürchterlich aufreißen, brüllen, die armen Geißlein verschlingen. Jetzt hat alles seine Richtigkeit. Mitten drin schaut das Kind plötzlich aus dem Fenster: Spielkameraden patschen in der Pfütze, ohne Schuhe und mit hochgezogenen Hosen und Röckchen. Einen Schnupfen kalkulieren die Mütter wohl ein. Du darfst auch. Kleine Pause für Helga. Cellopause. Welche Musik hatte sie doch schon den ganzen Morgen »gehört«? Die Solo-Suiten von Bach. Kein Strom, kein Plattenspieler, folglich auch kein Casals. Helga traute sich an die beiden Bourreen, C-dur, c-moll, die waren noch in den Fingern und im Kopf, wenn auch nicht ohne Stocken. Und dann die Gigue, na ja, Bruchstücke. Sie hätte die Noten heraussuchen müssen, beginnen mit Prelude und Allemande, richtig wieder üben. Es war so depremierend, in allem den ungeheuren Abstand zwischen dem Ideal und dem, was sich davon verwirklichen ließ, zu sehen. Im Falle der Suiten blieb sie nun sogar hinter dem zurück, was sie einmal gekonnt hatte. Lauter Anfänge, halbe Sachen, die kaum berechtigten zu den schönsten Hoffnungen. War Mystikerin ein Beruf? »Tu doch nicht so, als könntest du wirklich Cellistin werden«, hatte der Vater gesagt.
Im Kühlschrank fängt das Fleisch an zu stinken. So muß die Hausfrau das, was noch einigermaßen in Ordnung ist, anbraten, den Rest bekommen draußen die Hunde und Katzen. Ob sich der Pudding hielt bis morgen? Die gefüllten Tomaten trägt sie zur Großmutter, die Ayses Kinder versorgt. Es stellt sich heraus, daß die Nachbarn ebenfalls zu viele verderbliche Vorräte haben. Ein Gürtel von Morast trennt von der Cingenesiedlung. Wie würden die Armen sich freuen über das gute Essen, das hier verkam. Bei Elmas hatte bestimmt der Regen oder sogar Schlamm die Küche überschwemmt. Osman soll nun hereinkommen, sich abtrocknen und wärmen lassen, föhnen ist ja nicht möglich. Also mal schnell ins Mamabett. Nein, du mußt noch nicht schlafen. Der Quirl bleibt natürlich nicht liegen, nutzt das breite Bett zu Purzelbäumen, erwärmt sich auf seine Art. Helga, von dem Getobe animiert, versucht ebenfalls einen Purzelbaum. Kopf runter und hoppla. Himmel, das geht, wenn auch nicht so flink. Es wird ihr schwindelig und lustig zugleich, wie bei einem Schwips. So ein Spaß! Mutter und Sohn tollen und lachen, kugeln sich auf dem Bett, werfen sich übereinander, ein Küßchen schnell dazwischen. Schließlich hält Helga keuchend inne. Genug für einen Menschen, der seit siebzehn Stunden fastet. Aber leicht fühlt sie sich und zum Witzemachen aufgelegt. Nieder mit der Schwerkraft, es lebe der Leichtsinn! Nach dem Abendbrot, wieder bei Kerzenbeleuchtung, geht das Kind gerne schlafen. Leise, stromlos, kommt der Ruf zum Nachtgebet. Welch ein Abenteuer, in der Dunkelheit durch Pfützen und Schlamm zum Teravi-Gebet zu stapfen, in Ömers Gummistiefeln und einem alten Regenmantel! Die Empore der Frauen gedrängt voll. Da war also anscheinend jeden Abend etwas los, nur ihr hatte keine Bescheid gesagt. Eine Gaslampe erhellt den vorderen Teil der Moschee. Der Hoca rezitiert die Gebete wieder einmal in rasender Geschwindigkeit, so als schafften ihm die Leute sonst die dreiunddreißig Verneigungen nicht. Warum denn auch kopfhängerisch und seufzend zum Gebet? Auf nieder, auf nieder, Allahu akbar. Ihr jungen Springerlein, Burschen und Mädchen, rührt euch zum Lobe Gottes. Nach vier Niederwerfungen jeweils können sie sich bei einem schönen Gesang ausruhen. Die Luft ist erstickend. Und kein Millimeter Abstand zu den dicken Hüften der Nachbarinnen. Helga hält durch, obwohl ihr der Schweiß nur so herunterströmt zwischen den Brüsten, unter den Armen, sich sammelt in der Poritze. Irgendwann ist es zu ende, und sie will noch ein paar Minuten andächtig verweilen. Was schimpfte denn da die Alte auf sie ein? »Du mit deinem kurzärmeligen Pulli, große Sünde.« Tatsächlich war Helga völlig gedankenlos zum Gebet gerannt, zwar gewaschen, aber nicht angezogen »wie es sich gehörte«.  Große Sünde, lachte sie der Oma ins Gesicht, du hast recht. Hier oben war kein Mann, der von ihren nackten Armen gereizt werden konnte, gleich würde sie den Mantel wieder drüberziehen, für den Weg. »Gott« mußte sie halt bitten, die Augen zuzumachen. Große Sünde. Hadiye hanim packte sie bei der Hand, bedeutete ihr, die Frau reden zu lassen. Aber allein heimgehen, das könne Helga im Dunkeln nun wirklich nicht. Wie sie denn hergekommen sei? Sie mußte wieder lachen. Zu Hause futterte sie bei Kerzenschein den Pudding auf.
Was war schlimmer, den Pudding verkommen zu lassen, oder sich vollzustopfen, obwohl sie satt war? Das müßte sie die Oma mal fragen, die über die »große Sünde« so gut Bescheid wußte. Helga war dermaßen aufgekratzt, daß sie nach zwei Stunden Schlaf wieder wach wurde. Sie liegt auf dem Rücken, vom schweren Gewicht eines Mannes wie festgenagelt, Ömer ist auf ihr, bewegt sich aber nicht, sondern läßt bloß seinen bleistiftdünnen, kinderkurzen Penis zwischen ihren geschlossenen Oberschenkeln bis zur Klitoris dringen, Spitze zu Spitze. Im Aufwachen versucht sie, die grauenhafte Gliederstarre abzuschütteln, ein Alpdrücken. Die Scheide ist weich und feucht. Mit dem Mittelfinger der rechten Hand taucht sie hinein, in Gedanken an den Mann. Sie lotet ihre Erregung aus, noch ist da nicht viel los. Nach ein paar Minuten Penetration und dem Gleitsaft des Samens wäre es ein leichtes für die Finger. Wie oft hatte sich das bei ihnen so abgespielt, daß er gleich reingegangen war, die halbe Vergewaltigung, welcher Mann wartet denn schon, daß die Frau von selber aufblüht. Aber sie konnte sich nicht beklagen, denn er zahlte die Eintrittskarte im Nachhinein; mit den Fingern oder der Zunge brachte er sie immer »soweit«.  Und eigentlich kam sie auf diese Weise auch schneller zum Höhepunkt, als wenn er sich an ihrer vorausgehenden Lust erst mal aufgeilte. Das war fad, der tote Ehemann als Wichsvorlage, die Erregung nahm eher wieder ab. Gar nichts denken ging auch nicht; bei ihr kam es nie bloß durch Kneten und Reiben an der richtigen Stelle. Ohne Film im Kopf kein Orgasmus.  Abrufbar waren die  bewährten Bilder: der runde Schulturm am Ende der Destouchesstraße in München, wie sie darauf zugeht, immer näher, — und die Mauer außen noch hinaufklettern bis zur Spitze. Oder die Verfolgungsjagd: im weißen Rüschenschürzchen läuft ein Mädchen über einen Hügel, stolpert, der Mann holt sie ein. Oder der Fick im Stehen, hinter ihr die Wand, so daß sie nicht ausweichen kann. Oder die alte Badefrau aus dem türkischen Bad; mit dem Seifenlappen fährt sie ihr zwischen die Schamlippen, wie Mama. Ja das bringts. O Hilfe, es kommt, Mutter, wie schrecklich. Ob sie einen Mann brauchte zum Orgasmus? Eigentlich eher nicht. Wie viele Fremde, wenigstens in der Vorstellung, waren denn nötig? Es sich jetzt noch einmal machen und dabei keinen anderen hereinziehen, nur sich selbst spüren und denken, dazu war sie trotz allem nicht in der Lage. Es hatte sich was mit der unbegrenzten Lustfähigkeit der Frau.
Draußen geht der Trommler vorbei, tatsächlich, schon zwei Uhr. Wer hat denn mitten in der Nacht den elektrischen Strom wieder eingeschaltet? Das Licht auf dem Flur brennt. Sie steht auf und beginnt das Ritual der Nacht mit einer Dusche. Ganzwaschung nach dem Geschlechtsverkehr war vorgeschrieben. Welche Vorschriften für das Vögeln mit Phantomen galten, wußte sie nicht. Der Koran sagte nichts über die Selbstbefriedigung. In der Morgenfrühe träumt sie, sie sei im Stiegenhauswo mehrere Treppen sich ineinander schlangen (wie auf einem surrealistischen Gemälde). Ihre Treppe, die bisher aufwärts geführt hat, neigt sich plötzlich nach unten und endet vor einer Wand. Aber als sie die Richtung ändert, geht es überraschenderweise doch weiter und zu einer Tür, wo sie schon in Empfang genommen und weitergezogen wird auf die Empore eines Konzertsaales. Dort singen die Klassenkameradinnen Mendelssohn. Helga findet ihren Pelzmantel hinderlich. Im Singen das Gefühl von Weite und Glück. Muß gerade da der dumme Kater sie aufwecken?

Es normalisiert sich alles an diesem Tag, der Kühlschrank kühlt wieder, das Regenwasser verläuft sich, Ayse wird aus dem Krankenhaus entlassen. Nachmittags scheint die Sonne, als sei nichts gewesen. Aber das stimmt nicht: noch ist der »See« da, auf dem die Kinder Schiffchen fahren lassen. Als das langweilig wird, schleppen sie eimerweise Sand von einer nahen Baustelle herbei, bauen einen Staudammn. Schließlich bleibt eine Schlammpfütze übrig; Osman kommt von selbst, die verdreckte, nasse Hose zu wechseln. Ein Tag, an dem nichts geschieht, das zu erzählen sich lohnte. Essen machen, aufräumen, Geschirr spülen, einen Knopf annähen, der Plausch mit den Nachbarinnen, dem Kind den Hintern abwischen, beten. Jahrelang hatte Helga zu unterscheiden gelernt, Geistiges als wichtig Materielles gering zu achten. Der Haushalt, das tägliche Einerlei waren niedrig, Lesen zum Beispiel und Cellospielen aber groß. Jetzt mußte sie wieder umlernen. Alles war eins, insofern als der »Logos« es liebte, sich nicht bloß in der Meditation zu offenbaren, — ach, wenn es nur so gewesen wäre, aber gerade da passierte wie aus himmlischer Bosheit überhaupt nichts. Nicht etwa, daß sie beim Suppekochen eine Erleuchtung gehabt hätte. Es schien ihr nur so, daß wenn der weltliche Heilige, Muhammed, sie etwas lehren wollte, es dieses war: es gab keine Trennung zwischen irdisch und himmlisch, zwischen politisch und fromm, Geist und Materie, sondern alles durchdrang sich.
Sie verstand nun die Spiritualität des Propheten so, daß diese alles umfaßt hatte: denken, empfinden, lieben, handeln, Kleines und Großes, visionäre Entrückung und Bezaubertsein von schönen Frauen, Güte zu den Kindern und Schuhereparieren, die Planung von Feldzügen, das Hinnehmen von Spott und Verehrung (beides reichlich), die Einsamkeit im Gebet. Überwindung der Einseitigkeit. Um dies zu verstehen, brauchte es die langsamen Tage, an denen nichts geschah. Nacht. Der Trommler sammelt wieder. Jetzt ist es der richtige. Sie erkennt ihn an seinem Rhythmus, drei feste Schläge, dann ein Wirbel. Dieses Mal versteht Helga sein Lied:

  • Ramazan kommt und geht vorbei.
    Es sind noch sechs Tage bis zum Fest.
    Zucker von Mevlana.[11]
    So wie ich an deiner Tür warte,
    so warten die Engel auf dich vor dem Paradies.

Beim Hinreichen des Geldes fragt Helga, ob der Mann einem Derwisch-Orden angehöre, was dieser bejaht. Oder hat er sie gar nicht verstanden und nur aus Höflichkeit und Schrecken (eine Frau spricht ihn an, mitten in der Nacht) ja gesagt? Warum ist das Helga so wichtig? Während der Trommler bei den Nachbarn die Scheiben zum Erzittern bringt, liest sie die Legende nach, wie Husain ibn Mansur al-Halladsch, ihr Liebling unter den Mystikern, seine Schüler in der Wüste mit buntem Zuckerzeug bewirtet. Der Meister hatte so lange von »Süßigkeiten« geredet, bis die Zuhörer Lust darauf bekamen. Statt sie über den Unterschied von himmlischer und irdischer Süßigkeit zu belehren, erfüllte er ihren Wunsch und gab ihnen farbiges Halwa zu essen. Offensichtlich war er überzeugt, daß eins für das andere stehen konnte. Trotz allem empfand es Helga so, daß in diesen letzten Tagen vor dem Fest die betriebsamen Vorbereitungen ihrem verstärkten Bemühen um Verinnerlichung widersprachen. Für einen Halladsch wäre da möglicherweise kein Widerspruch gewesen, wohl aber für sie, die das Ineinander der Ebenen erst mühsam zu verstehen suchte. Die Nachbarinnen erklärten der Doktorfrau, daß sie einen Vorrat an Kuchen zu backen habe, denn es kämen ja Gäste. Und viele Gäste bedeuteten Ehre. Auch müsse noch einmal gründlich Hausputz gehalten, außerdem kleine Geschenke für die Kinder bereitgelegt werden, etwa Taschentücher oder Geldmünzen, auch Bonbons, denn alle Kinder gingen am Bayram herum — eigentlich nicht zum Sammeln, sondern um die Hände der Erwachsenen zu küssen und »Frohes Fest« zu wünschen —, aber für die Kinder stünde doch das Sammeln im Vordergrund.
Das Wetter ist wieder heiß. Angenehm spendet der Maulbeerbaum vor dem Haus Schatten. So ist es am erträglichsten im Flur bei offener Haustür, freilich mit einer Gardine davor gegen die Fliegen. Die zahnstummelige Großmutter holt sich den versprochenen Hosenstoff und die Sadaka-ul-fitr. Fatma abla bekommt als Zuschuß zum Bayramlik einen dreifachen Lohn, waschen soll sie morgen noch einmal. Dann erscheint Elmas, um mitzuteilen, daß das Geld alle sei. Sie habe Kleider und Schuhe für die Kinder gekauft und sich selbst zwei Spritzen gegen Rheumatismus geben lassen. »Der Doktor hat auch Honorar verlangt.« Und das erzählt sie Helga, die ihr doch, wer weiß wie oft, gesagt hat, im Krankenhaus würden die Armen kostenlos behandelt. Entweder lügt sie, oder sie hat sich mit dem, für ihre Verhältnisse, großen Haufen Geld wie eine Königin gefühlt und dementsprechend ausgegeben. Helga ist ein bißchen böse. Was wurde nun mit der Elektrifizierung? Konnte der Mensch nicht verzichten auf die schnelle Wunscherfüllung zugunsten eines größeren Wertes in der Zukunft? Deutsche Mittelstandsethik contra alte Bettlerweisheit: was man hat, das hat man. Soll sie sich das Fest vermiesen nur wegen einer höchst ungewissen Aussicht auf den Stromanschluß? Die Cingene fängt an zu arbeiten. Natürlich gibt es zu putzen, sogar gründlich. Und das Loch vor dem Haus muß auszementiert werden. Elmas kennt eine Baustelle, wo gerade Zement angerührt wird, schleppt zwei Eimer voll herbei, eifrig, eifrig. Die Doktorfrau soll nicht schlecht von ihr denken. Sie habe es nicht übers Herz gebracht, die Kinder an Bayram in Lumpen laufen zu lassen. Helga verstand: da war zuallererst eine Mutter, die ihren Kindern Diskriminierung und äußersten Verzicht ersparen wollte. Solche Entscheidungen wurden von ihr ja gar nicht verlangt. Sie gab vom Eigenen, daß sie es spürte, wahrhaftig — Bayramlik für sie selbst war finanziell nicht mehr drin —, aber wirkliche Not entstand so doch nicht, der Grundbedarf war gesichert, und mehr als das. Elmas hat schnell und sauber gearbeitet, schwört, sie würde jeden Tag wie eine Sklavin schuften, ohne einen Pfennig zu verlangen. Und ist doch nicht eher zufriedenals bis sie Tee und Obst und wieder einen kleinen Betrag bekommen hat, Helgas letztes Kleingeld. Und wie immer, wenn die Geduld der Wohltäterin nahe am Zerspringen ist, fällt dem Edelsteinchen etwas derart Herziges ein, daß Helga sich schämt, ihm nicht das Hemd vom Leibe gegeben zu haben. Heute kommt zufällig der Eisverkäufer vorbei, Osman fordert »sein Eis«, die Mutter verweigert es unter Hinweis auf das fehlende Kleingeld, wohl aber auch demonstrativ (so total habe ich mich verausgabt) — da drückt die Cingene mit nobler Geste dem Kind die zwei Münzen für das Eis in die Hand, das sie ihren Kindern nie kaufen würde, und ist tatsächlich die Siegerin in dieser Szene. »Osman, paß auf, wir haben zementiert.« Die feuchte Stelle ist mit einem Strick abgegrenzt, vor dem Gartentor prangt ein Schild. Ab und zu muß der Zement begossen werden, damit er nicht zu schnell trocknet und platzt — Rat von Hadiye hanim. Helga hat ständig ein Auge drauf. Vorsicht, Mädchen, schau, wo du hintrittst. Kannst du denn nicht lesen? Dafür ist es zu spät, ein Fuß steckt im Weichen, und durch Helgas Geschrei verwirrt, trampelt Ayses Älteste nun mit dem anderen Fuß noch hinein. Ja, müßt ihr denn alles kaputtmachen! Keine Achtung vor dem Eigentum anderer! Reicht es nicht, daß unser Garten und Osmans Spielsachen frei zur Verfügung stehen, daß jeder sich Holz aus unserem Verschlag nimmt zum Basteln, daß ihr Krach macht, wenn ich mich hinlege! Kann man nicht auf das kleinste bißchen Rücksicht hoffen! Nachbarinnen, vom Geschrei angezogen. Was hat das Kind denn getan? Streichen wir den Zement halt noch mal glatt. Es bleibt aber eine krumpelige Oberfläche, wie eben alles hier, unschön, geflickt, schlampig.
Helga kann es selbst nicht fassen, was da angesichts des lausigen Zements alles in ihr hochkommt. Die Wut frißt von der Kehle bis zu den Eingeweiden. Sie hat Halsweh und ein irrsinniges Hungergefühl. Gleichzeitig schämt sie sich, nicht bloß, aber auch, weil die Nachbarinnen nun von ihr enttäuscht sind. Sie hatte die Beherrschung verloren bei einem Nichts. Der Pfropfen war abgesprungen wie von einer gärenden Flasche, und heraus kamen Kleinlichkeit, Besitzgier, Verständnislosigkeit für die Kinder. Wenn das so war! Kurz vorher war sie noch stolz gewesen, daß es ihr wirklich nichts ausmachte, zu Bayram kein neues Kleid kaufen zu können. Nun war alles, was sie an geistiger Disziplin schon erreicht zu haben glaubte, kaputt und umsonst. Entsetzen über sich selbst, Scham und ein ganz schlimmes Körpergefühl: Schwindel, Zittern, Kälte. Sie mußte sich hinlegen. Die Katze fiel ihr wieder ein — warum diese Erinnerung jetzt? — hier im Kleiderschrank hatte sie gesessen, ein struppiges Vieh, das sich aus den Abfallhaufen ernährte und das sonst viel zu scheu gewesen wäre, ins Haus zu kommen, wenn nicht ein besonderer Grund bestanden hätte, einen weichen Schlupfwinkel zu suchen. Zufällig hatte an diesem Tag die Tür des Kleiderschranks offengestanden und, natürlich, das Fenster. Es war ja Frühling gewesen, voriges Jahr. Was will das Biest im Kleiderschrank? Gehst du raus da, alles wird ja schmutzig! In die Ecke gedrängt war sie fast verdeckt gewesen unter den herabhängenden Kleidern und — Frechheit — hatte sich doch den blauen Wollrock runtergerissen zum Draufhocken. Ja, willst du wohl raus ksch, ksch! Die Schwarzgraue reagierte keineswegs auf Scheuchen, was Helga unheimlich wurde. Sollte die Tollwut sich so äußern? Vor dem Besen ging das bedrängte Tier zuerst in Verteidigungsstellung auf die Hinterfüße, fauchend und Pfoten zeigend, entwich dann aber blitzschnell mit einem Riesensprung unter Zurücklassung eines feuchten Fellhäufchens. Als Helga das eben geborene Junge sah, hätte sie sich schlagen mögen ob ihrer Blindheit. Daß sie die Anzeichen nicht bemerkt hatte! Signale waren ihr zugegangen — daran erinnerte sich ihr Gefühl nun wohl —, wie die in manche Filme eingeschnittenen Werbefotografien, die das Auge nicht registrierte, weil sie zu schnell vorbeiflitzten, die aber doch aufs Unbewußte wirkten.
Helga hatte die Signale abgewehrt wie etwas Störendes. Freilich behauptete das Bewußtsein mit aufrechter Stimme: »Das habe ich nicht gewollt.« Dann aber mußte es sich fragen lassen, was es denn sonst gewollt hatte. Den Kleiderschrank retten um jeden Preis, vor einer Katze, deren Darinsitzen als Bedrohung empfunden wurde. Einen Zementflicken retten vor einem Kind, dessen Fußtritt die heile Welt zerstörte. Sie hatte erwartet, daß die Katzenmutter das fiepende Kleine suchen kommen würde, bloß traute sie sich wohl nicht leicht noch einmal in den Kleiderschrank. Helga hatte es deshalb auf dem Rock, der von Blut und Schleim sowieso verdorben war, in den Holzverschlag getragen. Und siehe, nach einer Viertelstunde war die Alte hineingeschossen und mit dem Kind im Maul wieder davon. Das war damals noch einmal gut ausgegangen. Heute aber? Osman setzte sich für ein paar Minuten ans Bett. Sie würde nicht mehr aufstehen, nie mehr, es hatte alles keinen Sinn. Sie war unfähig zum Guten. Und mußte sich nun selbst bestrafen und den Sohn, der irgendwie mit schuld hatte, daß der Geduldsfaden gerissen war. Gleichzeitig erwartete sie von dem Kind die Erlösung, wenigstens einen kleinen Trost, daß sie so böse doch nicht sei, trotz allem die liebste Mutter. Ach, wenn das Kind das doch verstanden hätte.

Wie konnte sie es — viel später — wagen, den Koran aufzuschlagen. Und ganz unmöglich war es, etwa dort weiterzulesen, wo sie gestern in aller »Unschuld« aufgehört hatte. Allenfalls wo sich das Buch von selbst öffnete wie ein Orakel, das sie annehmen mußte. Die 93. Sure:

  • »Beim Morgen und bei der Nacht, wenn alles still ist. Dein Herr hat dir nicht den Abschied gegeben und verabscheut dich nicht.«

Das war ja umwerfend. Helga kamen die Tränen.

  • »Hat er dich nicht als Waise gefunden und dir Aufnahme gewährt, dich auf dem Irrweg gefunden und rechtgeleitet, dich bedürftig gefunden und reich gemacht?  Gegen die Waise sollst du deshalb nicht gewalttätig sein, und den Bettler sollst du nicht anfahren. Aber erzähle von der Gnade deines Herrn!«

Wie das paßte! (Vom »Herrn« vielleicht abgesehen.) Sie las den Text noch einmal. Hier wurden keine Schuldgefühle gemacht, kein Erlöserblut mußte fließen für ihre Sünden. Also endlich Schluß mit der Selbstzerfleischung— die doch ein Gutteil verletzter Eitelkeit war. Sie war ja aufgenommen.  Und dieses Aufgenommensein sollte sie an die Bettler weitergeben. Eine sozusagen existentielle Begründung für die Güte zu den Armen.
Mit der Taschenlampe ging sie vor die Haustür, um den Zement zu begucken. Huckelig, körnig die Oberfläche nicht perfekt. Wie sich das angeschriene Kind wohl gefühlt hatte? Angeschrien zu werden war es gewöhnt, das passierte alle Tage. »Du taugst nichts, bist ungeschickt, bringst mich ins Grab«, hörte es ständig von der eigenen Mutter. Und nun auch von der Doktorfrau, da mußte es wohl stimmen. Das tat Helga nun leid.
Im Traum wurden ihr das Rückenmark und die Eierstöcke punktiert, eine gelbe Flüssigkeit abgesaugt. Ohne Betäubung tat das schrecklich weh. »Das macht die Kirche«, sagte eine Stimme. Beim Erwachen war sie in stinkenden Schweiß gebadet. Noch immer keine Blutung. Der Bauch spannte. Leichtes Kopfweh, das sich nach dem Suhur-Frühstück verlor.
Vor dem Fest muß noch einmal gewaschen werden, findet Fatma abla. Ihr Erscheinen allein ist schon ein Trost, die breite Figur, ihr verschmitztes Lächeln, ihre Zuversicht, daß sie mit Gottes Hilfe die Arbeit schaffen und überhaupt sich alles zum Guten wenden werde. Da fühlt Helga sich aufgehoben. Das Holzfeuer im Badeofen brennt, sogar Wasser fließt nach von der Pumpstation. Auch die Spitzenhändlerin ist schon früh auf, bekommt diesmal ihren Lohn für die Borden und einen Brief an die Behörde in Deutschland, die die Verfolgung des abgesprungenen Mannes aufnehmen soll. Nicht unter den Augen von Fatma abla, sondern mal schnell im Wohnzimmer will Nebiye die Doktorfrau sprechen: sie habe sich alles überlegt, sie möchte nach Deutschland. Leicht wäre es, wenn ihr Mann den Nachzug beantragte (als Familienzusammenführung), aber der habe das schon früher abgelehnt, ehe er verschwand. Nun habe sie sich einen Plan ausgedacht. Wenn  die   Deutsche das nächste Mal in ihre Heimat flöge, und das sei ja sicher bald, dann solle sie so gut sein und Nebiye als ihre Dienerin mitnehmen, mehr verlange sie nicht. Ein Rechtsanwalt habe ihr versichert, daß diese Art der illegalen Einreise keine Gefahr für den deutschen Schlepper bringe. Wie kam die Cingene nur darauf, mit dem Rechtsanwalt zu argumentieren? Machte entschieden einen guten Eindruck. Auch die Flugkarte sei kein Problem, die ganze Familie wollte zusammenlegen.
Helga war verwirrt. Was für Hoffnungen knüpften sich da an sie. Schnell versprechen und es dann doch nicht tun, wäre wahrscheinlich die einfachste Art gewesen, diese Sache von sich abzuschieben. Statt dessen suchte sie nach Argumenten, weshalb das nicht ginge — denn sie wollte nicht. Der Grund waren beileibe keine rechtlichen Bedenken, der Bruch der Gesetze etwa; sie fürchtete Unbequemlichkeiten für sich, und daß sie dann noch in Deutschland für Nebiye die Verantwortung hatte. Was muß diese Frau hier wegwollen! Stellt sich in Deutschland alles so einfach vor, glaubt ans Paradies, leichtes Geldverdienen, Konsum, einen Freund vielleicht, Leben halt! Freilich, welches Recht hatte sie selbst, ihr die Hoffnung auf Verbesserung ihrer Situation auszureden, ihren Traum verfehlt zu finden, von vorneherein. Jagte doch jede ihrer Vorstellung von Glück nach. »Mal sehen«, sagte Helga und meinte: ich nehm dich bestimmt nicht mit. Und dann müsse sie jetzt los, habe eine Verabredung mit einem Geschäftsmann, Nebiye solle entschuldigen.
Verabredung stimmte nicht ganz — sie hatte sich für heute früh halt vorgenommen, den Geschäftsmann um den Betrag zur Elektrifizierung von Elmas Häuschen anzugehen —, aber es hörte sich doch dringender an. Das machten ja alle so, wenn sie loskommen wollten von einem unangenehmen Besucher, bloß sie empfand es als Lüge. Ach nein, auch die andere hatte sie durchschaut, das sagte ihr Blick bei dem fast wortlosen Abschied. Verachtung lag in diesem Blick, so wenigstens deutete ihn Helga. Sie sah ja selbst genau, wie falsch sie spielte. Und nun der Bittgang zu dem Kaufmann. Auch da würde eine Inszenierung notwendig sein, denn mit schlichter Wahrhaftigkeit wäre kein Geld zu gewinnen. Zuerst mal die Verkleidung: Seidenkostüm, weil das »anständige« lange Ärmel hatte, Perlenkette, Kopftuch und Strümpfe trotz der Hitze, — das heißt also, dezent damenhaft und, nach der Vorstellung der Leute hier, »islamisch«.  Sie würde es schlau anfangen: nicht die Not hervorkehren, wie das die Cingene immer taten, sondern dem Geschäftsmann die Gelegenheit geben, einer Dame einen Gefallen zu tun und sich dabei nobel zu fühlen. Mehmet bey ist in seinem Laden, Haushalts- und Elektrogeräte. Wie immer sitzen ein paar Männer zur Gesellschaft dabei, es tat sich im Ramazan in dieser Branche geschäftlich nicht viel. Während der Händler für die Frau seines alten Freundes einen Mokka bestellt, in der stillschweigenden Annahme, sie faste nicht, verabschieden sich die anderen Männer diskret, es ist fast peinlich. Aber Helga rückt ohne Umschweife mit ihrem Anliegen heraus. Mehmet bey lacht: »Das habe ich schon gehört, wie ihr euch um die Cingene kümmert, dein Mann hat denen ja ein ganzes Begräbnis bezahlt.« Helga erklärt, daß es sich bloß um die reinen Beerdigungskosten für das Kind einer Witwe gehandelt habe, und für eben diese Witwe, die sie also schon lange kenne, bitte sie jetzt. »So, lange? Und wie kennst du sie denn?« Der Geschäftsmann zeigt deutlich, daß er die ganze Sache für eine Kaprize hält. Na gut, dieses eine Mal. Der Handwerker, der den Anschluß macht, soll die Rechnung schicken. Geld würde er keiner Cingene in die Hand geben. Das war ja glatt gegangen. Helga bedankt sich, nicht zu überschwenglich, eben so, daß man merken konnte, sie identifizierte sich nicht mit der Bettlerin, in deren Namen sie bettelte.
Der von der Stadt mit den Neuanschlüssen betraute Elektriker hat seine Werkstatt am Heimweg. Als sie dort über den Auftrag verhandelt, wird ihr nebenbei vorgerechnet, daß die behördliche Zulassung noch einmal so viel kosten würde wie die Installation selbst. Himmel! Es müßte also mindestens noch ein Geldgeber gefunden werden. Trotzdem kann die Arbeit beginnen. Elmas wird jubeln.
Osman hat auf der Straße gespielt mit Ayses Kindern! Die verziehen sich stumm, als sich die Schreierin von gestern zeigt. Komm doch mal her. Das Mädchen nähert sich zögernd, scheu. Wollen wir uns vertragen? Mißtrauen. Ich habe dich angefahren, es tut mir leid. Bonbons für alle Kinder lösen bloß bei Osman Freude aus, die anderen werten das wohl als Bestechungsversuch. Die Mienen bleiben unbewegt. Helga drängt sich nicht auf. Da ist nicht mehr viel zu retten, allein hat sie das ja auch nicht angerichtet, nur instinktsicher den Sündenbock herausgespürt, der die Strafe seit je auf sich zieht. Und statt den Kreis zu durchbrechen, hat sie sich eingereiht. Das kann kein Bonbon gutmachen. Fatma abla hängt das Bunte auf die Leine. Bei so warmem Wetter wird alles in zwei Stunden trocken sein. Der Sohn verfolgt die Mutter mit einem Comic-Heftchen, ob da nicht »Allah« drauf sei? Das Cover zeigt eine dämonische Fratze mit gerunzelter Stirn und glühenden Augen, angsterregend, darunter ganz klein gezeichnete Menschlein. Eine Art Science-Fiction-Kitsch. Dem Kind nun erklären, daß Allah kein brutales Gesicht habe, daß er auch kein »Geist« sei (worunter es sich ein Gespenst vorstellt). Was ist er aber dann? (Wenn man schon »er« sagt.) Denk dir das Schönste. »Baden gehen und deutsches Eis.« Also, das wäre für dich das Paradies, und noch schöner ist Allah.

Heute fastet auch Gül wieder einmal. »Weißt du denn nicht, es ist Kadir-Nacht, leilat-ul-kadir die Nacht der Bestimmung. Die siebenundzwanzigste Nacht des Ramazan, in der der Koran herabgesandt wurde.« Selbst ihr Mann, der Polizist, der nie betet, angeblich vom Glauben gar nichts hält, erwartet an diesem Abend ein Festessen und wird danach im Fernsehen die Übertragung aus einer großen Moschee anschauen, ergriffen wie ein Kind, sagt Gül, selbst wehmütig. Erinnerungen an geweihte Nächte. Helga weiß gar nicht, wie sie ihrem Osman da eine Feier bereiten soll, sie hat noch nie bewußt Kadir miterlebt. Es sei eigentlich nur die nächtliche Koranlesung, sagen die anderen. Bräuche? Kennt man hier nicht. Um von der Gnade dieser Nacht ein Zipfelchen zu erhaschen, macht Helga sich und das Kind für die Moschee fertig. Aber es wird eine Enttäuschung. Nicht bloß voll ist der Gebetsraum, nein, sogar bis auf die Stufen hinaus, die zum Hof führen und von wo aus weder etwas zu sehen noch zu hören ist, hocken Männer. Kein Gedanke daran, zur Empore der Frauen vorzudringen, die wahrscheinlich ebenso überfüllt ist. Zwar schickt niemand die Deutsche weg — man sieht an ihr vorbei — aber es ist unmöglich, hierzubleiben. Osman ist sauer. Er hat sich so etwas wie Weihnachten bei der Oma vorgestellt. Auf die Moschee ist er gar nicht so scharf gewesen, aber daß es irgend etwas gibt, Kerzen, Gesang, vielleicht Geschenke. Die Mutter improvisiert ihm am Bett eine Bescherung mit Musikkassette, Kaugummis, einer längeren Gutenachtgeschichte. Auch Helga war erwartungsvoll: heute mußte etwas kommen. Nach dem Gebet blieb sie lange auf dem Teppich sitzen. Las die 97. Sure nach:

  • »Wir haben ihn (d. h. den Koran) in der Nacht der Bestimmung hinabgesandt. Aber wie kannst du wissen, was die Nacht der Bestimmung ist? Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate. Die Engel und der Geist kommen in ihr mit der Erlaubnis ihres Herrn hinab, lauter Logoswesen. Sie ist voller Heil, bis die Morgenröte aufgeht.«

Geistwesen waren da — nicht zu spüren, aber zu wissen. Alles war durchdrungen und erfüllt vom Logos. Neindie Frau war nicht verrückt geworden, hatte keine Erscheinungen, keine Gefühlserhebungen, sah nicht mystische Ringe oder feurige Gestalten in der Luft. Aber sie war sicher: Der Koran war dem Kosmos eingeschrieben, seit jener Nacht, seit Urzeiten. Und die Menschheit als ganze hatte die Bestimmung, das höhere Leben zu erreichen. Dieser übergreifende Zusammenhang umschloß auch Helga mit ihrer Aufgabe und ihrem Bemühen um Läuterung, das einerseits unerläßlich war, und andererseits im Konkreten so lächerlich punktuell, akribisch, narzißtisch wirkte angesichts der universalen Schau. — Einen weisen Menschen neben sich haben, Schwestern und Brüder, eine Gemeinschaft. Sie wollte ja nicht allein eintreten in die Pforten zum neuen Sein. Wie gut wäre es deshalb, den Weg gemeinsam zu gehen, unterwegs schon das Ziel zu erreichen: die unendliche Liebe. Kadir-Nacht. Helga kam sich vor wie eine Blinde, die zum erstenmal nicht bloß berichten hört vom Meer, sondern es selbst erfährt. Zwar, sehen konnte sie es immer noch nicht, aber spüren, riechen, schmecken. Es brauste rhythmisch spülte die Brandung um die Füße, tastend ging sie tiefer hinein, unsicher auf den wegrollenden glitschigen Steinen. Die Flut stieg kalt über die Hüften und dann hoben und warfen sie die gewaltigen Wasser. Endlich Zutrauen, sie wurde ja getragen und gewiegt. Bis sie — das Maul voll Salzwasser — nach Atem und Grund schnappte. Harmlos waren diese Gewalten nicht, und richtig zu schwimmen wagte sie keinesfalls. Späterhin würde jedes Badewässerchen ans Meer erinnern, das saugende, tragende, wogende. Die Sehnsucht hatte die Blinde mit den Sehenden gleich, die sein Farbenspiel rühmten, seine Weite, die im Himmel verschwand, das einschläfernde Heranrollen der Wellenberge, die Einladung einsamer Strände, das Segeln und Zustoßen der weißen Vögel.
Helga wollte sehend werden. Tatsächlich war die Lockung des Meeres schon größer als die Angst.

Es ist heiß und das Wasser wieder einmal alle nach der Wäsche. Helga kocht Aprikosenmarmelade und träumt von einem herrlichen Frühstück: Marmelade, Ei, frischem Brot, viel Zeit, Helligkeit, Musik vielleicht. Nicht mehr diese halb verschlafenen Suhur-Mahlzeiten in der Nacht. Und danach ginge sie nicht mehr ins Bett, sondern in den Tag hinein setzten sich Fröhlichkeit und Energie fort. Mit ihrem Kind zusammen wollte sie das Frühstück feiern. Und es genießen, nachmittags im Park unter staubigen Bäumen Tee trinken zu gehen, weit laufen zu können. Bloß wohin? Hier gab es keine Ziele. Jetzt holte sie die Normalität schon fast wieder ein: waschen, putzen, backen, Kleiderrichten fraßen den Tag auf. Wenn nun das Leben genauso einrastete wie vor dem Ramazan, was hätte die Anstrengung des Fastens überhaupt für einen Sinn gehabt? Es gab Leute, die verschrieben sich einen Fasttag einmal im Monat, als Auffrischung sozusagen. Helga nahm sich nichts vor. Aber sie war fast sicher, den Ezan zum Morgengebet nicht mehr überhören zu können. Sie würde den Tag beginnen »im Innersten des Herzens«.  Und danach weiterschlafen bis zum hellen Frühstück. Die Marmelade duftete süß. Bei den Nachbarn reist Besuch an, die Tochter von Tante Zehra und Onkel Salih mit Mann und Söhnen, ein ganzes Auto voll. Gül dagegen rüstet sich, mit den Kindern zu ihrer Mutter zu fahren. Helga kriegt eine Ahnung von dem, was am Fest für sie bevorsteht: drei Tage lang Familienfeier, Witwen ausgeschlossen. Elmas, liebe Freundin,  wie gut,  daß ich wenigstens dich habe, sei willkommen. Sie konnte Elmas brauchen, schickte sie erst mal zum Wasserholen, noch mal. Und dann die große Überraschung: Es klappt mit dem Elektrischen. Drück mich nicht tot! Ein guter Mensch bezahlt die Installationen, nein, der Name wird nicht verraten. Und der Elektriker hat den Auftrag schon gekriegt, gleich nach dem Fest wird verlegt. Nach dem Fest soll auch die Feldarbeit in Arbeitskolonnen (Sonnenblumenpflänzchen verziehen, Rübenhacken) weitergehen. Der Werber, der die Leute zusammenholt, ist in der Cingenesiedlung gewesen, hat die Elmas aber nicht eingeschrieben, weil sie angeblich eine Belastung für die Truppe sei mit drei Kindern. Blieben denn nicht ein paar Frauen zuhause, die die Kinder derweil bewachen könnten? »Einzelne Großmütter schon, aber die werden mit meinen Wilden nicht fertig.« Fatma abla, die auf einen Sprung hereinschaut, steuert ihre Erfahrungen bei: Sie sei immer auswärts verdienen gegangen (ihr Mann war gelähmt). Als ihre beiden Kinder noch klein gewesen wären, hätte sie die bei der Schwester gelassen. Die Schwester hätte gekocht, dafür hätten sie sich das Geld geteilt. Solche Teamarbeit, die in der Familie funktionierte, könnte doch auch zwischen Nachbarinnen möglich sein. »Elmas, such dir eine Partnerin.« — »Da mischen sich die Männer ein«, sagt die. »Das Geld teilen! Also das kann ich mir nicht vorstellen, daß das jemand macht.« »Wie denkst du es dir denn? Betteln wie bisher?« »Wenn es hier halt eine Fabrik gäbe.« »Gibt es aber nicht. Sag mal, was du kannst.« »Wäsche waschen, putzen, Spitzen häkeln, hausieren —  aber das bringt bloß Ärger« — Feldarbeit also. Helga träumt den Frauen vor: Da existiert doch die Näherin Raziye, die soll weiße oder türkisfarbene oder lila Unterröcke nähen aus feinem Batist, und unten dran kommt eine handgehäkelte Spitze von Elmas, und vielleicht auch von Nebiye, wenn sie will. Zehn Röcke, hundert Röcke. Oder Sommerkleider mit einer Spitzenpasse, gehäkelten Trägern. Den Stoff kaufen wir im großen. Hadiye hanim entwirft einige Modelle, die kinderleicht zu schneidern sind. Von jedem Modell wird eine größere Menge hergestellt. Und dann suchen wir einen Markt. Hier in der Kleinstadt gibt es natürlich keinen Absatz, aber wetten, in den Urlaubsorten. Ab und zu müßte jemand mit dem Bus die drei Stunden weit fahren, ist das denn schlimm? Und genauso produzieren wir umhäkelte Gebetstücher oder Strickschuhe, oder sagt mal, was wir sonst noch können. Helga ist berauscht von ihren Vorstellungen, die beiden anderen lächeln wie zu einem Märchen. Ein bißchen Startkapital braucht es, um Stoff und Häkelgarn einkaufen zu können, möglicherweise noch eine Nähmaschine, vielleicht schlössen sich andere Frauen dem Werk an. Helga würde sammeln, betteln, nach Deutschland schreiben und hier die reichen Männer anzapfen. Es machte ihr nichts aus, zum Gespött zu werden, für verrückt oder schädlich gehalten zu werden. Sie dürstete nach Taten, lange genug war lediglich reflektiert und geredet worden. Etwas, das die Lage der armen Frauen grundlegend veränderte, mußte geschehen. Aber die beiden, die es anging, lachten nur, nahmen die Vorschläge der Doktorfrau offensichtlich nicht ernst. Wie sollte sie es anfangen, daß die Betroffenen ihre Bedürfnisse erkannten und, wenn schon die Ideen einer Fremden nicht zündeten, selbst ihre Projekte entwarfen? Helga, glücklich einen Anknüpfungspunkt zu finden, weist hin auf die gelebte Solidarität unter den Frauen. Ihr spart doch den Psychotherapeuten durch eure täglichen Gruppensitzungen, ihr steht euch bei Krankheiten und Geburten bei, ihr tauscht Kochrezepte und Häkelmuster aus, arbeitet auch zusammen, wenn große Dinge zu tun sind, zum Beispiel Hausputz, Baumwollezupfen, das Herstellen von Nudeln und Suppeneinlagen. Es braucht bloß noch einen Kopf, eine Frau mit Geschäftssinn, die Produkte entwirft und vermarktet, die eine Gruppe von Arbeitskräften mit Ideen versorgt und für lebenserhaltende Gewinne garantiert. »Wieso sagst du denn Frau?« ruft Fatma abla dazwischen. »Das kann nur ein Mann. Glaub mir, im Geschäftsleben haben die Männer das Sagen, und die Frauen können ihnen höchstens zuarbeiten.« — »Meinst du das wirklich? Sollte eine Frau nicht die Fähigkeit haben, ein Geschäft zu führen?« Helga versucht zu argumentieren, fühlt in sich die Frage, ob nicht sie diese leitende Frau sei. Plötzliches Erschrecken, Fluchtgedanken. Gleich würden die anderen sie auffordern, ihren Posten einzunehmen. Aber die beiden hören schon gar nicht mehr hin, sind bei einem Ratsch angekommen, der Geschichte von der Leiche, die statt Füßen einen Schlangenschwanz gehabt habe, neulich beim Grabausheben auf dem Friedhof vor der Stadt. Grauslich.
Sie wollte hier weg, wo alles voller Tod war. So abgelebt. Lange genug hatte sie gewühlt in den alten Geschichten. Die Vergangenheit ausgehalten und durchgelitten. Nun drohte Stagnation. Der Po war geheilt, Torheit wäre es, würde sie wieder zu kratzen anfangen. Wohin konnte sie gehen? Vielleicht nach Deutschland, berufstätig sein, und die Witwenpension Elmas überlassen.
Tatsächlich die nobelste Lösung, die zugleich das Gewissen beruhigte und sie selbst sehr wenig beanspruchte. Oder zu Scheich Nureddin — wo der bloß steckte? — eine Weile Jüngerin spielen, die Segenskraft des großen Mannes anzapfen, Geborgenheit spüren, die endlich gestillte, tiefe Sehnsucht. Und das unzweifelbar sauberste Motiv dabei: lernen, lernen. Nein, sie würde diesen Betrieb um den Guru nicht aushalten, die Rituale, und sich selber nicht als gehorsame Tochter des Vaters. Aber wer weiß, der Scheich schickte sie wahrscheinlich zurück an diesen Ort der Verbannung, der besser läuterte als jede künstlich geschaffene Läuterungssituation. Nur eine von allen Möglichkeiten schied aus, fürchtete Helga: »normal« zu werden und das Leben ein bißchen zu genießen an einem schönen Ort, zum Beispiel in dem nur drei Busstunden entfernten Urlaubszentrum am Meer. Es gab keine Befreiung von den Armen, nirgends in der Welt würde sie Elmas aus sich zu entfernen imstande sein. Angelockt von den Stimmen und den Schuhen vor der Tür erscheint Hadiye hanim. Wie schön kühl sitzt ihr im Flur. Als sie aber die Cingene erblickt, hält nur gut Zureden von Seiten der Doktorfrau sie davon ab, sofort wieder zu gehen.
Vorsichtig deutet Helga ihre Idee von der Sommerkleider- und Unterröcke-Gemeinschaftsproduktion an, für die Hadiye als Zuschneiderin vorgesehen wäre. Sie reagiert wie bei einem gelungenen Witz, lacht und klopft Helga auf die Schulter. Laß mal, du träumst. — Natürlich, was soll sie sich engagieren für die verhaßten Cingene? Die Frauen stehen auf. Jede hat plötzlich einen Topf mit Essen auf dem Feuer. Na dann, besuch du mich auch gelegentlich. Einer nur scheint sie heute ernstzunehmen, das ist Emanuel Osman, das Kind mit den zwei Vornamen. Er will, weils so schön war, wieder Purzelbaum schlagen im Bett, ach bitte. Helga hat nichts dagegen, daß er sich austobt, bloß sie, sie selbst kann nicht mittun, so kurz nach dem Abendbrot, versteh doch, mir kommt das Essen wieder raus, wenn ich jetzt kopfstehe. Der Sohn beißt die Mutter ins Knie, halb Ärger, halb Übermut, nicht feste, es kitzelt so komisch, daß sie aufjuchzt, da macht er es gleich nochmal. Sie dreht ihm den Kopf weg, das Kind will raufen, na prima, dann wälzen wir uns, sie hält ihm die Arme fest, du siehst ja, ich bin stärker. Der Kleine liegt unten. Daß er ihr ins Gesicht spucken würde, damit hat sie nicht gerechnet, eine Ladung warme Spucke direkt in den offenen Mund. Was glaubst du, wenn ich dich vollspucke? Mach doch, mach doch! Igittigitt! Er bleibt nichts schuldig. Spucken ist fast wie Küssen, ein bißchen aufregender höchstens, weil unbestimmt ist, wohin die Entladung trifft. Mensch hör auf, ich bin schon ganz naß. Ich hör bloß auf, wenn ich noch an deinem Busen nuckeln darf. Immer diese Bedingungen ganz wie Ömer. Da kommt Milch raus, und aus der anderen Brust Coca Cola, behauptet das Kind. Freilich, eine Frau hat viele Quellen, zapfst du die eine an, fließen auch die anderen. So süß das für dich ist, so süß ist es für mich, du mein einziger Mann. Was der Sohn empfindet, weiß Helga nicht zu entscheiden. Ob da alles klar getrennt bleibt: Regression zum Nuckelbaby (erlaubt) oder Erotik mit der Mutter (unerlaubt). Er ist klein und nicht verpflichtet zur Analyse, wohl aber sie. Auch wenns noch so schön kribbelt und zieht bis in den Schoß, der dich empfangen hat, das Kind soll nicht herhalten für die Einsamkeiten und Frustrationen der Mutter. Ganz zart löst sie ihn von der Brust, bettet ihn in sein Nest, deckt ihn zu. Hörst du das Wasser rieseln in der Leitung? Morgen kannst du wieder dein Wännchen im Garten haben.
Und jetzt hol ich das Cello und spiel dir ein paar Abendlieder, Schlafe mein Prinzchen, Guter Mond, und Wer hat die schönsten Schäfchen. — Ach, keine Babylieder, Mama, höchstens diese Cingene-Tanzmusik, wenns überhaupt sein muß. Klingt nicht sehr begeistert. Cellospielen zur Ablenkung, welch ein Mißbrauch; freilich hat sie selbst das vorgeschlagen. Nun wird aber doch nachdrücklich der Hochzeitstanz gefordert, wie ihn hier bei ländlichen Festen in der Dreiermusikantengruppe die Klarinette spielt. Lang ausgehaltene Töne, dann plötzlich Glissandi, pentatonische Reihen, endlose Wiederholungen derselben Figur. Es klingt ein bißchen schief, was Helga da improvisiert. Osman klatscht den Rhythmus dazu. Und hat plötzlich genug. Du kannst das nicht richtig, das Cello rumpelt. Er dreht sich auf die Einschlafseite. Sein heller Haarschopf leuchtet in der Dämmerung vom Kissen. Die Mutter bleibt sitzen auf der Bettkante das Cello zwischen den Knien. Dieses kleine Wesen da — wie müde muß es gewesen sein, daß jetzt schon tiefe Atemzüge kamen —, machte ihr das Geschenk seiner Anwesenheit und Liebe. Ein Mensch, der zu ihr gehörte. Über den sie jedoch nicht verfügen wollte. Ihn lassen aber nicht allein lassen. Mutter sein, nicht als Herrschaft— aber auch nicht als diese Sklaverei, die sie sich selbst oft daraus machte.
Daß sie im Moment des Glücks immer den dunklen Gegenpol reflektieren mußte. Immer die Gefahr und das Fehlverhalten bedenken, wenn — so selten — etwas glückhaft war. Ihr Gebet, daß er nicht allzu belastet sein möge durch sie. Ihr Dank, daß es ihn gab, Paradiesvogel, Gottesblume. Ihr Segen, daß er erfüllt werden möge mit der Fülle. Ganz behutsam trägt sie das Cello zum Kasten im Wohnzimmer, bettet es hinein wie ein Kind. Und dann geht sie noch mal zu Osman, lauscht im Dunkeln auf seinen Atem, saugt den Geruch seines Körpers ein und versagt es sich, ihn zu küssen, als könne ihn das stören.

Sie mußte einen Geldgeber finden, der für Elmas den elektrischen Anschluß bezahlte, genauer gesagt, die Genehmigungskosten bei der Stadtverwaltung. Helga hatte sich vorgenommen, den Oberhoca anzugehen, ob da nicht aus Spendengeldern etwas locker zu machen sei. Das Kind verzichtet aufs Mitkommen, wenn es nur sein Wasserwännchen im Garten aufgestellt kriegt. Gut. Allein würde sie schneller zurück sein. Kein Geziehe, kein Stehenbleiben bei jedem Kiosk wegen Keks und Kaugummi, keine Angst auch, der Junge könnte ihr bei dem gestrengen Herrn durch Blödsinn und Gehampel zur Unzeit die Tour verpatzen. Sie war aufgeregt. Würde man mit ihr als Frau überhaupt reden? Der Weg ist nicht weit und jetzt um zehn Uhr in der Frühe noch nicht heiß. Im Büro des Hoca hocken drei alte Männer, so wie hier überall in den Geschäften irgendwelche Leute herumhocken, die einfach die Zeit abwarten und dem einen, der vielleicht arbeitet, bei der Arbeit zuschauen. Die Männer erheben sich beim Anblick der Dame und verlassen das Zimmer. Mit einer weltläufigen Handbewegung lädt der Hoca sie zum Sitzen ein. Keine Spur von Verlegenheit, eher Belustigung, die sich in einem Aufblitzen der Augen verrät. Höfliche Fragen zum Ergehen des Kindes und wie sie zurechtkomme im fremden Land allein. Der Geistliche, den Helga nie zuvor gesehen hat, scheint sie zu kennen oder jedenfalls bestens über sie informiert zu sein. Vor Jahren sei er einmal drei Wochen in Deutschland gewesen, ein paar Redewendungen sind noch hängengeblieben, müssen ausprobiert werden, Guten Tag, wie geht es Ihnen?
Mit welchem Anliegen sie gekommen ist, bringt Helga nach zehn Minuten Geplauder wie eine Ungehörigkeit vor. Im Angesicht der braunen kunststoffbeschichteten Schreibtischplatte, auf der der Hoca einen Terminkalender und einen Kugelschreiberbehälter mit Stift ständig zurechtrückt, so daß sie hinschauen muß, — wo soll sie sonst hinschauen, auf den schwarzweißgesprenkelten Steinfußboden etwa? Oder zum Stahlschrank in der Ecke? Das Bild des Staatsgründers an der Wand? — Im Angesicht dieser Trostlosigkeit schildert sie die Hütten der Armen, ohne Wasser, ohne Elektrizität, beschreibt das Elmas-Häuschen, als wäre es ihr eigenes, fleht um Abhilfe mit Worten, wie sie sie von den Cingene so oft gehört hat, spürt, wie ihr die Tränen kommen. Das ist keine Inszenierung. Der Hoca hat aufmerksam zugehört, zeigt sich nicht erstaunt, daß die Doktorswitwe sich derart für die Cingene engagiert, fragt bloß sachlich, zu welcher Moschee die Siedlung gehöre. Schon scheint ihr, man wolle die Sache an den zuständigen Unterpfarrer abschieben. Aber nein, sie hat ganz verkehrte Vorstellungen. Die wenigen Spenden, die überhaupt eingingen — »was   glauben   Sie, die Reichen überlassen ihr Geld gar nicht uns, sondern leiten es unmittelbar dem von ihnen geförderten guten Zweck zu« —, die wenigen Spenden also seien für die Ausbildung des Nachwuchses bestimmt, für arme Buben, die gerne Hoca werden möchten. Wir schicken alles ins Internat nach E. Helga sei ganz und gar an der falschen Adresse. Wenn sie sich jedoch gerne unterhalten möchte, die Frau des Hoca lasse jederzeit bitten. Danke. So höflich wurden diese Ungeheuerlichkeiten vorgebracht, daß Helga sie akzeptierte im ersten Moment. Sich verabschieden ließ. Das schmale, dunkle Treppchen zur Straße herunterstolperte. Unbestimmt enttäuscht.
Die Organisation verfügte über nichts, war selber arm. Und ohne Phantasie, wie das kahle Büro. An ihrem bitteren Gefühl in der Kehle spürte Helga, daß sie, über das Finanzielle hinaus, etwas für sich erwartet hatte. Von dieser islamischen Institution gerade. Hilfe, einen Rückhalt. Aber hier wurde der Mangel verwaltet, statt der Fülle.
Daß sie sich das noch einmal antat nach dem Abschied von der Kirche vor Jahren. So sinnlos, sich von einer Institution etwas zu erhoffen, so albern, gegen sie zu kämpfen. Um was? Um die Freiheit von den Schranken, die sie sich selbst errichtete. Nicht die Institution war das Ärgernis, sondern sie, die sie die grenzenlose Freiheit vor dem Absoluten nicht ertrug. Deshalb wäre das Problem auch nicht mit einem neuerlichen Austritt gelöst. Sie hatte sich in Verdacht, das Institutionelle sogar zu brauchen. Ja freilich, welchen Spaß machte Ketzerei, wenn es keine Orthodoxie gab? Ach was, Ketzerei, sie hatte eine Wut, das war alles.
Wo  war  sie hingeraten? Helga hatte sich verlaufen, war vor dem Haus des Oberhoca in die falsche Gasse abgebogen und nun in diese Straße geraten, die hinter den Schlachtereien herführte, ein wüstes Gebiet, eine Cingenegegend. So konnte man auch nach Hause gelangen bloß auf einem Umweg. Der Umweg führte bei denen vorbei, für die sie sich aufregte. Irgendwo hier hauste Raziye. Die ungepflasterte Straße zwischen den hellblau getünchten Hütten. Zwei Fahrrillen, tief eingegraben, ansonsten Staub. Die Schuhe waren sofort von graubraunem Mehl überzogen. Zwischen den Häuschen viel freier Platz. Wäsche trocknete, Kinder schrien und rannten über die Abfallhalden. Die Stadtverwaltung holte hier keinen Müll ab, offensichtlich. Von einem Haufen geplatzter Wassermelonen stieg eine Fliegenwolke auf. Zwei Mädchen durchsuchten den Müll nach Plastiktütenstopften in einen Sack, was sie fanden, auch Fetzen. Wer dafür wohl noch etwas bezahlte?
Die Pleite beim Oberhoca bewies gar nichts. Es war ein Einzelfall. Irgendwo auf der Welt wurden von Muslimen Millionen gespendet; nicht nur Ölmilliarden. Bloß für die Armen hier war niemand zuständig, niemand außer der Fremden, die mühsam durch den Staub stöckelte und unter Seidenbluse und Kopftuch zu schwitzen begann. Dabei wünschte sie nichts so sehnlich, als es möge sich erweisen, daß auch an diesem verlassenen Ort der »Islam« nicht ein rückwärtsgewandtes, verknöchertes System sei, dem es hauptsächlich um seine Selbsterhaltung ging, sondern eine lebendige Antwort auf das tatsächlich Vorhandene, in diesem Fall die schreiende Ungerechtigkeit. Der Prophet Muhammed hätte sich nicht hinter dem Schreibtisch verschanzt und auf Nachwuchsausbildung   herausgeredet.   Armer  Prophet.   Zu   einem Verein war die »beste Gemeinschaft« heruntergekommen. War das Ganze denn eine Geldfrage? Wohl eher doch eine Frage des Mutes, sich entgegen der Meinung der meisten für die verachtete Minderheit einzusetzen. Ihre Haare unter dem Kopftuch waren klatschnaß. Verflixt, vor wem verschleiere ich mich denn. Schluß mit der Maskerade, ihr Herren im Himmel und auf Erden! Sie riß sich das Tuch vom Kopf, warf es demonstrativ in den Staub, dann tat ihr das schöne Ding doch leid und sie hob es auf, aber nicht wieder umbinden, damit war endgültig Schluß. Vor einem niedrigen Gebäude mit einer Holzveranda war ein Tanzbär angebunden, der hatte gerade frei. Ein Junge saß auf der Veranda, kauend, und warf dem Bären Brotstückchen zu. Hier war Raziyes Hütte. Zwischen zwei Häuschen hindurch gelangte man in einen Hinterhof. Helga erkannte den Zugang an der ständigen Schlammpfütze; da sammelte sich wohl Abwasser, oder ein Rohr war geplatzt. Bloß nicht abstürzen von dem Balancierbrett in die stinkende Matsche.
Raziye steht auf der Türschwelle, ist sichtlich erfreut und verlegen zugleich. Sie hätte schon kommen wollen zu der Doktorfrau und ihr alles sagen. Helga wird in die Hütte gezogen, auf ein Sitzkissen gedrückt. Sie hat sofort gesehen, daß die Nähmaschine weg ist. Geklaut ist sie! Geklaut. Diese Schweine! Raziye heult. Ja, wer denn? Warum sperrst du denn nicht die Tür zu? Wer nimmt denn den Ärmsten noch ihr Arbeitsgerät? Raziye schluchzt stärker. Sie kann sich denken, wer's gewesen ist. Ihr Mann hat eine Masse Schulden hinterlassen, monatelang anschreiben lassen beim Krämer. Der Kerl hat mir schon oft gedroht, daß er mir die Bude ausräumt, wenn ich nicht zahle. Die Höhe der Schulden vermag Raziye nicht genau anzugeben, ist sich aber sicher, daß die Summe mehr als den Wert der Nähmaschine ausmacht. Helgas erste Reaktion: den Krämer anzeigen. Dann kriegte sie vielleicht, ganz vielleicht die Maschine wieder, wenn sie noch da war, beziehungsweise wenn der Betreffende sie überhaupt hatte mitgehen lassen, — und hatte dafür die Schulden am Hals.
Es war ihr, als bekäme sie nicht die ganze Wahrheit gesagt. Vielleicht schonte Raziye sie ja, indem sie eine weniger brutale, weniger primitive Version erzählte eine, die die Außenstehende noch am ehesten akzeptieren konnte. Bloß war auf dieser Basis Hilfe nicht möglich. Ganz abgesehen davon, daß Helga keine Vorstellung hatte, wie sie der Cingene-Männerwelt entgegentreten sollte. Alles ging schief heute. Das kleine Zimmer ist dämmerig, die Fenster sind mit Zeitungspapier verklebt. Fliegen schwirren im Raum, kriechen über die Wände, das Bett (das einzige Möbel). Es klopft. Drei Nachbarinnen drängen herein, wollen dem Besuch die Hände küssen. Glückliche Raziye, sie hat eine Wohltäterin gefunden. In den Augen steht: hilf uns auch. Wie denn? Wenn alle Projekte scheitern. So augenfällig scheitern, daß sie einsehen muß: es hat keinen Zweck. »Inshallah«, wenn Allah es will, seufzt Helga als Antwort auf die unausgesprochenen Bitten. Sie muß heim zu ihrem Kind, das nun schon so lange im Badewännchen plantscht, wer weiß, was es angestellt hat. Wir werden eine Lösung finden, Raziye, notfalls kommst du zu mir und lernst elektrisch nähen. Helga ging langsam. Ihr Weg, der von der Staubstraße rechts abbog, lag voller Stolpersteine. Die Hindernisse bewirkten, daß sie den Schritt noch mehr verlangsamte. Das war es: Verlangsamung, um die Signale nicht zu übergehen.
Eine grauschwarz getigerte Katze auf der Gartenmauer, lauernd, zum Sprung bereit, die Augen zu Schlitzen verengt. Neben dem Abfallhaufen darunter hockte eine rote, noch größere, unbeweglich bis auf den buschigen Schwanz, der den Boden peitschte. Was hatten die beiden miteinander vor? Als die Frau näherkam, flüchteten sie sich scheu hinter die Mauer. Die Katzen waren in all dem Unrat Königinnen geblieben, verfolgte, abgemagerte Königinnen, die das unergründliche Leuchten der Augen bewahrt hatten und die Herrlichkeit der Bewegungen.
Hier war das Cingenegebiet zuende, das sah sie sofort an den weiß, statt blau getünchten Häusern. Keine zerbrochenen Fensterscheiben mehr. Die Wäsche auf der Leine nicht hauptsächlich aus Lumpen bestehend. Kinder ohne Schuhe aber auch hier. Außen an den Fenstern vielfach Pflanzen in Blechbüchsen (anstelle des Tontopfs, der ja etwas kostete). Fast immer waren die Blüten rot und feurig, Fleißige Lieschen über und über, Geranien, dazu morgenländische Schönheiten, die Helga nicht zu benennen wußte. Und das alles prangte in Tee- und Ölbüchsen mit den Firmenaufschriften in grellen Reklamefarben, oder in abgeplatzten, rostigen Büchsenveteranen. An der Wegbiegung zeigt sich der Krämerladen, wo Helga gewöhnlich einkauft. Nicht mehr weit nach Hause. Langsam weiterstöckeln. Und schauen. Die Lösung war nicht so patent, wie gehofft, sondern umfassender. Drum waren alle Pläne geplatzt, und sie mußte von vorne anfangen.

Die Schreckensnacht zum 29. Ramazan. Wie kam Elmas dazu, einem Mann die Telefonnummer zu verraten? Einem Betrunkenen offensichtlich, der über den Satz: »Ich will mal was fragen: Die Elmas arbeitet doch bei Ihnen...« nicht hinausgelangt war. Den Satz hatte er wiederholt, bis Helga aufgelegt hatte. Was wollte der? Herauskriegen, wie allein und hilflos die Doktorfrau war? Sie hatte sich nach dem Anruf ein Beil neben das Bett gelegt, vorsichtshalber, und doch fast nicht geschlafen. »Elmas, wer war das? Weshalb gibst du fremden Männern meine Telefonnummer? Ich will das nicht haben. Ich schmeiß dich endgültig raus, wenn du so was machst.« Die Cingene klopft am anderen Morgen in aller Frühe. Helga, noch im Nachthemd, überfällt sie mit Vorwürfen, läßt sie nicht zu Wort kommen, da gibt es einfach keine Entschuldigung. Hadiye hanim, die gerade vom Brotholen kommt und Zeugin wird, wie die Deutsche eine Cingene anschreit, meint helfen zu müssen: »Mach, daß du wegkommst.« Ist aber doch neugierig genug zu fragen, worum es überhaupt geht. Und nun kapiert auch Helga: der Schwager der Elmas, Mann ihrer Schwester, ist schon seit Tagen um sie herumgeschlichen, um sie zu verführen, und, wie die Elmas behauptet, auf den Strich zu schicken. In höchster Not habe sie zum Beweis der Rechtschaffenheit gesagt, sie arbeite bei der Doktorfrau. Und das habe der Kerl dann überprüfen wollen. »Wenn der nicht abhaut, dann holen wir die Polizei« darin sind sich die Frauen einig. »Warum hast du mir das nicht früher erzählt, Elmas?« »Es war mir peinlich, und ich wollte dich nicht hereinziehen in die Geschichte« Hadiye hanim als Vermittlerin. Der Cingene rät sie tatsächlich die Polizeistreife zu rufen. Und mit Helga macht sie ein telefonisches Notsignal aus, im Falle, es käme zu einem nächtlichen Überfall. »Aber daran ist ja nicht zu denken. Das galt gar nicht dir.« So langsam fingen die Frauen an, füreinander zu denken. Freilich ging es nicht ohne Männermacht. Dabei war das Verkehrte nicht, Hadiye hanims Söhne oder den Polizeibeamten einzubeziehen, — verkehrt war der Einsatz der alten Machtmittel: Gewalt und die Drohung mit Gewalt.
Und nun wurde es höchste Zeit zum Koran; die letzte heutige Lesung wollte Helga doch nicht verpassen. (Es war üblich, durch fleißiges Vorauslesen den letzten Tag vor dem Fest, also morgen, freizuhalten.) In der Wohnung ist keineswegs al!es besetzt, wie Helga befürchtet. Sie, die so lange geschwänzt hat, weiß nicht, daß der Beginn der Andacht um eine Stunde verlegt worden ist. Ungewohnt und angenehm der weiche Polstersessel. Da würden mal nicht die Füße einschlafen wie beim Hocken auf dem Boden. Langsam füllen sich die Sofas, Sessel und Stühle in den drei Zimmern. Frauen strömen herein, lassen sich seufzend nieder, auch am Boden nun schon wieder dicht an dicht. Wärme breitet sich aus. Die üblichen Plaudereien unterbleiben heute - alle begrüßen sich, schweigen aber dann. Feierlich. Worauf richtet sich die Erwartung?
Der Hoca ist pünktlich. Macht sich ohne Umschweife ans Rezitieren. Liest kein bißchen langsamer als sonst. Trotzdem war es Helga plötzlich, als träte sie aus einem dunklen Flur in einen hellen, geschmückten Raum. Sie verstand nämlich den Text; es waren die kurzen Suren am Ende des Korans, die sie auswendig wußte, weil diese bei den täglichen Gebeten verwendet wurden. Klanggestalt, Schriftbild und Sinn bildeten endlich eine Einheit, die Hieroglyphe entschlüsselte sich. Welche Wonne! »Wir haben dir die Fülle gegeben.«
Viel zu schnell war die Lesung heute zuende. Die nachfolgende Predigt bestätigte alle Vorurteile, das heißt Helgas Vorurteile gegenüber dem, was sie von Predigten gemeinhin erwartete; und die Vorurteile gegenüber dem jungen Hoca speziell. Immerhin nahm die Ermahnungam Fest die Armen zu bedenken, doch einigen Raum ein. — Die Fürbitten wie sonst. Als der Geistliche gegangen ist, mögen sich die Frauen nicht trennen, obwohl es drückend heiß ist und der Schweiß auf den Gesichtern perlt. Lieder werden vorgetragen, Litaneien, in die alle respondierend einfallen können. Schließlich Getuschel. Eine Sängerin wird gedrängt, doch ein bestimmtes Lied zum besten zu geben und singt schließlich die Ballade vom sterbenden Krieger, der aus der Ferne von seiner Mutter den Segen erbittet. In mehr als zehn Strophen wiederholt sich diese Klage an die Mutter, ihn doch ja nicht ohne Segen sterben zu lassen. Moritat, nahe am Kitsch gebaut?
Eine Frau fängt an zu zittern, zu schluchzen, die Augen gehen über. Sie hält sich krampfhaft das Taschentuch vor den Mund, kann trotzdem das Schreien nicht verstopfen. Andere stürzen zu ihr hin, suchen den Ausbruch einzudämmen mit Streicheln und Einreiben von Rosenwasser. Helga kennt diese Eruptionen. So weint eine, wenn ein großer Schmerz sich endlich Bahn bricht. Sie erfährt, vor drei Monaten ist der 14jährige Sohn dieser Frau von einem rückwärts fahrenden Traktor überrollt worden. Viele wischen sich die Augen, manche bringen eigenes Leid zur Sprache. Es bilden sich kleinere Gruppen. Langsam leeren sich die Räume. Schon heute ein »gesegnetes Fest« und »möge Gott deine Gebete annehmen«. Die Umarmungen drücken aus, daß etwas gemeinsam geschafft ist, ein schweres, tapferes Werk, das Aushalten in der Wüste.

Dieses war also die letzte Nacht, in der sie der Trommler oder der Wecker oder der Ruf von der Moschee aus dem Schlaf reißen konnte. Das Beil legte Helga wieder unter das Bett, auch das Telefon mußte ins Schlafzimmer umgestöpselt werden. Vorsichtsmaßnahmen, die ihr fast überflüssig erschienen, — wie ein Festhalten an einem Mißverständnis, nachdem es schon aufgeklärt war. Es weckte sie dann gegen zwei Uhr ein Traum. Sie war in der »Todesabteilung« eines Krankenhauses, das heißt, dort stand zwar ihr Bett, aber sie selbst trieb sich in der Vorhalle herum, setzte sich vor einen großen Spiegel und ließ sich Locken legen von einer kleinen schwarzhaarigen Frau, mollig, zärtlich, slawisch der Typ der Lebedame. Die sagte zu ihr: »Ich bin dein anderes Ich. Vor zwölf Jahren hatte ich auch Krebs aber das ist alles Quatsch.« Dann ging Helga durch einen Neubau und hörte den Satz: »Todesgedanken ständig im Hintergrund darf nur haben, wer amTanzkurs teilnimmt.« Da hatte sie lachen müssen und war aufgewacht, aufgestanden.
Schwarz ist die Nacht, um so deutlicher blitzen die Sterne. Die Nachbarhäuser schlafen, eine einzige Straßenlaterne brennt unten bei der Moschee. Vor dem Himmel der Maulbeerbaum, zu erkennen als zartes Wehen der Blätter. Monis nigra, Heilpflanze. Was die Alten nicht alles mit Sirupus mororum, den in Zucker eingedickten Früchten, kuriert haben wollten, Pestilenz, Schwarzfluß, schweren Athem... Das hat sie erst kürzlich in einem Pflanzenbuch entdeckt. Von der Heilwirkung der Blätter ist nichts bekannt. Wie auch immer: die jahrelange Folter des Pojuckens hat aufgehört. Dieses Wunder kann allerdings auch das Fasten bewirkt haben. Dank. Das schlaue Biologiebuch verriet nebenbei: der Fruchtstand der Maulbeere ist ein »Verband von Einzelfrüchten eines jeden weiblichen Blütenstandes, vereinigt durch die bei der Reife fleischig werdenden Perianthblätter.« Also ganz und gar nicht die Entsprechung zu Embryo oder Krebsgeschwulst, im Gegenteil. So sehr hatte die Furcht ihr das Bild der Wirklichkeit verzerrt. Allerdings eine sinnreiche Verzerrung, weil anschaulich gewordene Todesangst.
Der Tod war noch da, war ein Teil des Weges ins Leben. Irgendwann würden die Augen aufgehen und ein Verwandlungsprozeß ans Ende gelangt sein. Mein Tod gehört zu mir und ich zum Leben ewiglich. Alles war ein Übergang. Wie der Koran sagte: »Du läßt die Nacht übergehen in den Tag, und den Tag in die Nacht. Du bringst das Lebendige aus dem Toten hervor, und das Tote aus dem Lebendigen.«[12]
Es gab kein »Dort« im Sinne von »Nachher«, sondern eine einzige große Wirklichkeit; sie konnte im sogenannten Leben hinüberschreiten oder im sogenannten Tod. Das war nicht der Unterschied. Es fehlten die Worte, das Ineinander der Gegensätzlichkeiten auszudrücken, denn unsere Sprache hielt bloß Dualitäten bereit: Tod — Leben, Diesseits — Jenseits, Zeit — Ewigkeit. Wie, wenn eines im anderen war? Wie, wenn bloß das Organ fehltedas zu erfassen? Je länger Helga draußen vor dem Haus stand, um so lichter wurde das Dunkel. Deutlich zu erkennen die Stufen vom Eingang hinunter, die Gartenmauer, der Baum, die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Nebenan hustete Onkel Salih, dann wurde dort Licht gemacht. Freilich, es ging ja auf drei Uhr zu. Wo Ömer war, da würde auch sie sein, obwohl sie nicht erwartete, ihm als Person zu begegnen. Aber ihm verbunden sein, das wollte sie auf »ewig«, Ömer war ihr Mensch, ein ihr zugedachter Mensch (wie auch das Kind, — bloß hatte es nicht so lange gedauert, bis sie das kapierte), und der Tod hatte diese Verbindung nicht zerrissen, sondern deutlicher gemacht. Hatte nicht damals schon der Scheich gesagt...? Sie fand die vermutete Aufzeichnung im Heftchen nicht dafür aber auf der letzten Seite eine Bleistiftnotiz, flüchtig hingekritzelt:

  • »al-rahman, al-rahim« abgel. von »rahma« Mutterschoß
    »Allah« gramm. fem. Endung -ah.

Was sollte das? Al-rahman, al-rahim waren die ständig im Gebet und bei Stoßseufzern ausgesprochenen wichtigsten Attribute Allahs, die in der Übersetzung mit »Barmherziger und Gnädiger« angegeben waren. Aber »Mutterschoß« bedeutete viel mehr als diese feudalen Abstrakta. Helga schloß die Augen; das war ja, was sie gesucht hatte:

Leben, Wärme, Geburt
Das schlagende Herz
Der tiefe Celloton

Die purpurne Woge. »Allah gramm. fem. Endung -ah«, brachte noch eine Bestätigung. Sie hatte es ja geahnt: kein »Herr« im Himmel. Allah war grammatikalisch weiblich. Freilich auch keine »Göttin«, diese Folgerung verboten die sonstigen Satz- und Sinnzusammenhänge. Wie hatte sie diese Notiz derart verdrängen können, einfach nicht zur Kenntnis nehmen all die Jahre? Weil sie nicht danach gefragt hatte, es ihr nicht so wichtig (!) gewesen war bisher, weil sie »geglaubt« hatte, was alle sagten, statt genau hinzuschauen. Helga lachte auf. Dieser Kampf wochenlang um »Ihn«, gegen »Ihn«, und nun das! Am liebsten hätte sie ihr Kind geweckt, um mit ihm zu toben, Purzelbäume zu schlagen. Entfernt die Trommel. Großväterchen Trommler war heute spät dran, der verschlief auch mal. Ab morgen war wieder Ruhe, die Nacht auch für ihn zum Schlafen da. Es wurde Zeit fürs Frühstück und die Gebetswaschung. Bismillah al-rahman, al-rahim. Der letzte Fastentag begann.
Die Nachbarinnen bringen Schmalzküchlein; in jedem Haus werden die heute gebacken, bloß im Doktorhaus nicht, weil Helga das Rezept — nach Hadiye hanim ein einfacher Brotteig — nicht kennt. Sie revanchiert sich mit Nußkuchen, und am Nachmittag verteilt sie an die Kinder auch von dem ständig wachsenden Krapfenberg, den sie mit Osman niemals schaffen würde. Der letzte Fastentag war ganz leicht. So wenig spürte sie die Enthaltung, das sie unbewußt die Hand mit einem Küchlein zum Mund führte und sich erst bei dem erstaunten Blick des Sohnes erinnerte: heute noch nicht. Das Festessen ist bereit, als Elmas kommt. Die erhält einen großen Topf voll gefüllte Tomaten und Paprikadazu Kuchen und einen kleinen Geldbetrag. »Davon soll ich die Feiertage über auskommen?« So unverschämt es sich anhört, sie hat natürlich recht. Es sind drei kleine Mäuler zu füttern, und Helga mit Sohn würde sich derweilen wesentlich mehr genehmigen. Sie gibt also noch einmal, so daß nun die Mittel schwesterlich geteilt sind.
»Da werde ich morgen mit den Kindern kommen, um die Hände der Abla (große Schwester) zu küssen.« Welche Ehre: Helga war zur Verwandten der Armen und Ausgestoßenen erwählt worden. Sie fragte sich, ob sie dafür selbst schon arm genug geworden war. Müßige Frage — die Armen hatten gewählt. Mit überwältigender Mehrheit. Meine Dame, nehmen Sie die Wahl an? Erwartungsvolle Stille im Auditorium. Bedenkzeit wurde nicht gewährt. Jetzt oder nie. — Einverstanden, haltet mich fest.
Elmas erzählt ihren Traum: sie sei an Helgas Hand durch die Luft geflogen, beide hätten sie lange weiße Kleider angehabt. »Auch in der anderen Welt gehören wir zusammen.« Du bist ganz schön schlau, Elmas, packst mich an meinen schwachen Stellen, der schwesterlichen und der mystischen, und dabei sehe ich eigentlich ein, daß ich teilen muß, aus keinem anderen Grund, als weil du nichts hast, während ich habe. »Was sagst du, Fernsehapparat? Kleine Schwester, du bist verrückt. Noch wissen wir nicht, wo das Geld fürs Elektrische herkommen soll.« »Du schaffst das schon«, flüstert Elmas und umarmt die andere. Plötzlich müssen sie beide lachen, richtig feste lachen. Du bist verrückt, wiederholt Helga unter Tränen. Sie würde es nicht fünf Minuten aushalten, dieser Cingene Schwester zu sein.
Zum Abendezan ist Osman heute pünktlich, will schnell essen und dann »was unternehmen«.  Die Väter der Nachbarskinder gaben anscheinend das Vorbild dazu. Wer verlangte denn von dem vaterlosen Kind, auf diese Freude zu verzichten? Also los, in die Stadt. Als die Mutter vorher noch mal auf die Toilette geht, sieht sie das Blut in der Hose. Ganz ohne Schmerzen, ohne Ziehen ist die Regel gekommen. Gerade recht. Das war kein Malheur, sondern gehörte zu der großen Entspannung dieses Fastenendes.
Draußen eine blasse, magere Mondsichel im Abenddämmerhimmel. Ein einziger heller Stern. Wir gehen Eis essen, abgemacht! Die Straßen sind belebt von Familien und Männergruppen, Autos fahren hupend spazieren. Es war Helga schleierhaft, wie sie das Fest überstehen sollte, das so offensichtlich Sache der Familien war. Aber nun tat sie ja schon etwas, das sie als Frau allein »eigentlich« nicht konnte: abends fortgehen - sogar ohne Kopftuch. Neben ihr das Alibikind, hüpfend, immer wieder ihre Hand ergreifend. »Ich bin froh, daß du jetzt wieder normal bist.«
Zuckerfest. Eisfreude. Die Freude der Kinder. Helga fand, das Eis hier schmeckte nach Süßstoff und Mehl. Vielleicht Einbildung, jedenfalls für ihre Zunge kein Genuß. Auf dem Heimweg gehen die beiden langsam, betrachten die Sterne. Ein bißchen will die Mutter den Sohn auch lehren: Venus, Polarstern, großer Wagen. Weshalb denn Bär? Sie waren sich nie sicher, ob sie denselben Stern meinten. Und das wurde dann anstrengend. Aber die Entfernungen! Lichtjahre. »Diese Pünktchen da sollen Sonnen sein? Glaube ich nicht.« »Was ist zwischen den Sternen?« »Schau, da fällt ein Stern runter. Du kannst dir etwas wünschen.«

Dann kommt noch ein später Gast. Vor der Haustür miau. Eine Katze begehrt Einlaß, eine zierlich weiße mit roten und grauen Flecken. Auch für dich gibt es Fleischfüllung aus den Tomaten und einen Fingerhut voll Milch. Der Kater ist von Osmans Bett aufgestanden und schaut interessiert zu, wie eine Fremde von seinem Teller leckt. Daß er die Eindringlingin gar nicht anfaucht wie üblich, will Helga schon als Zeichen hereinbrechenden Paradiesesfriedens deuten. Aber es ist etwas anderes. Wie die Katze sich reibt am Küchenschrank und an den Beinen der Frau, wie sie maunzt und schnurrt und um den Kater herumschleicht — sie war rollig, nicht hungrig. Es gab noch andere Schmerzen auf der Welt. Geht raus alle beide, und treibts nicht zu schlimm. Die kleine Weißbunte und der schwarze Katerjüngling verschwinden im dunklen Garten. Helga zündet sich vor dem Haus eine Zigarette an.